Illetrismus - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 09 Apr 2024 06:18:26 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Illetrismus - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Reformspektakel als Geschäftsmodell https://condorcet.ch/2024/04/reformspektakel-als-geschaeftsmodell/ https://condorcet.ch/2024/04/reformspektakel-als-geschaeftsmodell/#comments Tue, 09 Apr 2024 06:18:26 +0000 https://condorcet.ch/?p=16436

Im neuen Inform, der Verbandszeitung des Baselllandschaftlichen Lehrerinnen- und Lehrervereins, setzt sich Verbandspräsident und Condordet-Autor Philipp Loretz mit der alarmistischen Rhetorik und den Forderungen von "intrinsic" und Co. auseinander. Er kommt zu einem niederschmetternden Befund.

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«Die Schweiz ist das schlechteste Land der Welt», «ein überholtes Lernverständnis aus der industriellen Zeit erzeugt Frust und schlechte Leistung», «das Gleichschritt-Marsch-System zerstört das Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen».

So tönt derzeit die medial kolportierte alarmistische Krisenbewirtschaftung von Herausforderungen im Bildungswesen. Umtriebige Bildungs«experten» und gewiefte Geschäftemacher kämpfen gar für eine «radikale Bildungsrevolution». Mit ihrem martialisch-exaltierten Wording suggerieren sie, das gegenwärtige Schulsystem lasse lediglich verantwortungslose Lernwege zu – jenseits von Würde und Eigenmotivation. Starker Tobak, der von Felix Schmutz [1] oder Carl Bossard [2] dekonstruiert wird.

Erproben Sie Ihr Schulmodell doch über einen längeren Zeitraum an 10 verschiedenen Standorten in der Schweiz und lassen Sie es von unabhängigen Forschern im Vergleich zu 10 «traditionellen» Schulen mit Tests in Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen, Geschichte, Biologie und Physik evaluieren.

Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1,Präsident des lvb: Mehr Demut, meine lieben Bildungsrevolutionäre.

Unbestritten: Auf den grassierenden Illetrismus, den überfrachteten Lehrplan 21, den quantitativen und qualitativen Lehrpersonenmangel braucht es griffige, nachhaltige Antworten. Das hat die umfassende LVB-Mitgliederbefragung zu den Belastungsfaktoren im Lehrberuf eindrücklich gezeigt. Im Gegensatz zur seriösen Erhebung und sorgfältigen Auswertung des LVB setzen die Reformturbos auf pseudowissenschaftliches Spiegelfechten mittels selektiv ausgewählter, tendenziöser und mitunter abenteuerlich interpretierter Studien, u.a. konzipiert von einer Tochterfirma des US- Milliardenkonzerns Marsh & McLennan Companies.

Wer profitiert? Die üblichen Verdächtigen reiben sich die Hände, allen voran VR/KI-Firmen und private Anbieter heilsversprechender Weiterbildungen, denn die grösstmögliche Individualisierung vor Bildschirmen ist Teil der Konzepte. Prominent vertreten: Bildungsmanager der Stiftung Mercator, Geschäftsleitungsmitglieder des Schulleiterverbandes Schweiz (VSLCH) und Hochschul-Exponenten, die u.a. im Beirat des Privatunternehmens «intrinsic» sitzen. Dieses baut dank der Finanzspritzen seines Netzwerks Parallelstrukturen in der Lehrerbildung weiter aus und kann die öffentlichen Schulen wegen des anhaltenden Lehrpersonenmangels ungehindert mit seinen zweifelhaften Konzepten infiltrieren.

Vor dem Hintergrund der wohl einmaligen Integrationsleistung des Schweizer Bildungssystems, der 23 Medaillen der Schweizer Berufs-Champions an den WorldSkills Competitions 2022 in Shanghai oder der rekordtiefen Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Raum lege ich den ungemein sendungsbewussten Bildungsrevolutionären ans Herz, sich etwas mehr in Demut zu üben, die «Push-To-Talk- Taste» loszulassen und stattdessen die Auswirkungen der Grossreformen der letzten 20 Jahre zuerst genau unter die Lupe zu nehmen. Bessere Französischkenntnisse dank Frühfranzösisch? Mehr Wissen und Können dank des Lehrplans 21? Höhere Sek II-Abschlussquoten dank mehr Inklusion? Bessere Lehrerbildung dank Akademisierung der Pädagogischen Hochschulen? Welche überschwänglichen Versprechungen wurden tatsächlich Realität?

Die Verantwortungsträger aus Politik und Wirtschaft sind gut beraten, sich von den eindimensionalen Worthülsen der Kampagnenführer nicht Sand in die Augen streuen zu lassen.

Der Sturm-und-Drang-Fraktion der Schulreformer unterbreite ich folgenden Vorschlag: Erproben Sie Ihr Schulmodell doch über einen längeren Zeitraum an 10 verschiedenen Standorten in der Schweiz und lassen Sie es von unabhängigen Forschern im Vergleich zu 10 «traditionellen» Schulen mit Tests in Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen, Geschichte, Biologie und Physik evaluieren. Melden Sie sich erst wieder nach Abschluss der Evaluation, anstatt einmal mehr aufs Geratewohl ein Medikament ohne Wirksamkeitsnachweis auf den Bildungsmarkt zu werfen und den Beipackzettel mit den Nebenwirkungen zu unterschlagen. In der Arzneimittelforschung ist ein solches Vorgehen verboten. Zuwiderhandlungen werden mit Berufsverbot geahndet.

 

Eindimnsionale Worthülsen

Die Verantwortungsträger aus Politik und Wirtschaft sind gut beraten, sich von den eindimensionalen Worthülsen der Kampagnenführer nicht Sand in die Augen streuen zu lassen. Für ein funktionierendes Bildungssystem und eine erfolgreiche Integration unserer Jugend in den Arbeitsmarkt brauchen wir ganz bestimmt keine angloamerikanischen Verhältnisse mit Privatschulen für die Reichen und Restschulen für die weniger Begüterten, sondern eine starke, humanistisch wie leistungsorientiert geprägte öffentliche Volksschule für alle.

[1] Felix Schmutz, Der Vorstand des VSLCH bemüht sich um Schulrevolution
[2] Carl Bossard, Wer steuert eigentlich das Bildungsboot?
Philipp Loretz, Reformspektakel als Geschäftsmodell (publiziert in der Aprilausgabe der Verbandszeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB)

 

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Das Unbehagen am Lesen steigt. Schule muss aktiv werden https://condorcet.ch/2024/04/das-unbehagen-am-lesen-steigt-schule-muss-aktiv-werden/ https://condorcet.ch/2024/04/das-unbehagen-am-lesen-steigt-schule-muss-aktiv-werden/#comments Sat, 06 Apr 2024 15:28:43 +0000 https://condorcet.ch/?p=16431 Ein Viertel aller 15-Jährigen kann nur ungenügend lesen. Nicht dass die Jugendlichen Analphabeten wären: Das Kernproblem mangelnder Lesekompetenz liegt beim Verstehen.

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25 Prozent der 15-Jährigen in der Schweiz können nur ungenügend lesen, das diagnostiziert die Pisa-Studie 2022. Jeder vierte Schulabsolvent ist nach neun Schuljahren nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Er vermag das Geschriebene zwar zu entziffern, versteht aber das Gelesene im Gesamtkontext nicht. Das ist besorgniserregend. Lesen bleibt der Schlüssel fürs Lernen und für die Teilhabe an der Welt – und an unserer Demokratie.

Condorcet-Autor Carl Bossard: Gefordert ist ein intensives, kontinuierliches Training

Neue Sprachbarrieren

Das Kernproblem mangelnder Lesekompetenz liegt beim Verstehen. Warum? Konzentrierte Lektüre wird seltener, das intensive Lesen nimmt ab. Usanz ist heute das Lesen von Whatsapp-Nachrichten und das flüchtige Scannen von Kurztexten. Das gehört zum Leben junger Leute, ebenso Social-Media-Kanäle wie Tiktok. Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones. Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen.

Dass vieles so leicht zu haben ist, zeitigt Folgen. Wer kurze Wege gewohnt ist, reagiert unwirsch auf längere, oder anders gesagt: Die Welt der nicht alltäglichen Sprache, des differenzierenden Diskurses ist für manche Schülerinnen und Schüler darum eine unvertraute Gegend geworden. Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird für sie zur Schwerarbeit, die Aufgabe einer nuancierten Versprachlichung zur subjektiven Zumutung. So öffnen sich neue Sprachbarrieren. Das Unbehagen am Lesen steigt.

Umso mehr müsste die Schule hier Gegensteuer geben und die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten mit den Fast-Food-Informationen herausholen. Sie müsste ihnen als Brückenbauerin andere (Lese-)Welten einsichtig machen und sie darin trainieren. Mit bewusst gewähltem Anspruch. Gefordert ist ein intensives, kontinuierliches Training in wohldosierten sprachlichen Fremdheiten – die Lehrerin als Fremdenführerin! Die Freude am Lesen kommt mit dem Können. Es ist eine Überbrückungsarbeit zwischen den Schülerhorizonten und dem elementaren Bildungsauftrag der Schule. Hier liegt eine ihrer ganz wichtigen Aufgaben. Auch demokratiepolitisch. Lesekompetenzen und Formen des Lesens sind keine Relikte eines analogen Zeitalters.

Das bedeutet für Lehrpersonen einen spürbaren Zuwachs an Anstrengung, bleibt aber als Aufgabe und didaktische Pflicht.

Nicht Zusätzliches an Inhalten wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität. Das bedeutet für Lehrpersonen einen spürbaren Zuwachs an Anstrengung, bleibt aber als Aufgabe und didaktische Pflicht. Sie geht weit über das reine Entziffern von Texten hinaus. Es ist ein bewusstes Hinführen zum Erkennen und Verstehen.

Es ist eine einfache Proportionenrechnung: Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Beides lässt sich nicht gleichzeitig maximieren.

Es fehlt die Zeit

Dieser Auftrag braucht Zeit. Doch sie fehlt. An der Schule muss zu vieles gleichzeitig erarbeitet werden: Deutsch, Frühenglisch, Frühfranzösisch, die ganze Integration und anderes mehr. Es ist eine einfache Proportionenrechnung: Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Beides lässt sich nicht gleichzeitig maximieren. Die Lehrpersonen kommen mit den Schülerinnen und Schülern deutlich weniger zum Üben. Auch flüssiges und verstehendes Lesen will automatisiert sein. Aus der Gedächtnispsychologie wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt auch für die grundlegende Kulturtechnik des Lesens.

Konzentriertes Lesen oder «Deep Reading», wie es die Leseforschung nennt, muss geduldig gelehrt, intensiv und auch gemeinsam geübt und reflektiert werden.

Konzentriertes Lesen oder «Deep Reading», wie es die Leseforschung nennt, muss geduldig gelehrt, intensiv und auch gemeinsam geübt und reflektiert werden. Aus Sicht der Wissenschaft zuerst mit analogen und erst dann mit digitalen Medien. Dazu schreibt Klaus Zierer, Erziehungswissenschafter und Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: «Wir brauchen eine Renaissance der Lektüre, eine Renaissance des Leseunterrichts, und zwar im Kern des Curriculums, mit Lektürestunden in jeder Schulart und in jedem Schulfach.» Es ist das alte Postulat: «Get the fundamentals right, the rest will follow.» Auf die guten Grundlagen kommt es an.

Carl Bossard ist ehemaliger Direktor der Kantonsschule Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug.

In: NZZ 05. April 2024, S. 18.

 

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Notendebatte ist deplaziert und geht an den reellen Problemen vorbei https://condorcet.ch/2024/03/notendebatte-ist-deplaziert-und-geht-an-den-reellen-problemen-vorbei/ https://condorcet.ch/2024/03/notendebatte-ist-deplaziert-und-geht-an-den-reellen-problemen-vorbei/#respond Sun, 03 Mar 2024 19:05:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=16075

Nach den wochenlangen Wunschprosa-Debatten der Noten- und Selektionsabschaffer, meldet sich die GLP-Nationalrätin Katja Christ und erinnert an die wirklichen Baustellen unseres Schulsystems.

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Die Kritik an den Schulnoten beruht auf falschen Annahmen. Noten sind keine objektiven Aussagen über das fachliche Können wie der geeichte Wert eines Intelligenzquotienten. Noten sind Messlatten, die laufend den Lernerfolg im jeweiligen Unterricht dokumentieren. Sie hängen ab vom Grad der Mitarbeit, der Anstrengungsbereitschaft und der Begabung. Die Bereitschaft, sich anzustrengen, kann im Jugendalter immer wieder stark variieren.

Katja Christ, Nationalrätin der GLP, Basel-Stadt, Mitglied der Bildungskommission: Aufhören mit diesen praxisfernen Forderungen.

Zeugnisnoten sind Durchschnittswerte. Sie bilden ab, was im Laufe eines Semesters oder Jahres im Unterricht geleistet wurde. Wenn Lehrbetriebe das objektive Können eines Jugendlichen für einen spezifischen Beruf kennen wollen, müssen sie dies selbst überprüfen. Noten sind eine einfache, schnelle Rückmeldung an die Schülerinnen und Schüler, wie gut sie etwas in den vergangenen Lektionen gelernt und begriffen haben, nicht mehr und nicht weniger.

Reformvorschläge sollten praxisnah und umsetzbar sein und die täglichen Herausforderungen des Unterrichts nicht noch zusätzlich belasten. Es ist Zeit, Nebenschauplätze zu verlassen und die Energie in konstruktive und nachhaltige Lösungsvorschläge zu investieren.

* Katja Christ ist GLP-Nationalrätin und Mitglied der Bildungskommission.

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Es braucht Lehrer und Lehrerinnen, die eine Leidenschaft fürs Lesen haben https://condorcet.ch/2024/01/es-braucht-lehrer-und-lehrerinnen-die-eine-leidenschaft-fuers-lesen-haben/ https://condorcet.ch/2024/01/es-braucht-lehrer-und-lehrerinnen-die-eine-leidenschaft-fuers-lesen-haben/#comments Tue, 30 Jan 2024 16:39:48 +0000 https://condorcet.ch/?p=15832

Die Veröffentlichung der PISA-Resultate, die – wieder einmal – offengelegt hat, dass rund ein Viertel unserer Schülerinnen und Schüler nach der obligatorischen Schulzeit einfachste Texte nicht verstehen kann, also als Illetristen die Schule verlassen, hat eine Flut von Artikeln und Kommentaren ausgelöst. Gefragt sind dabei vor allem Einschätzungen von Bildungsforschern, Journalistinnen, PH-Dozenten oder Verbandsfunktionären. Höchste Zeit, einmal eine Person aus der Praxis zu Worte kommen zu lassen. Yasemin Dinekli, Redaktionsmitglied und Präsidentin des Condorcet-Trägervereins, hat sich mit der ehemaligen Schulleiterin aus Biel, Ruth Wiederkehr, unterhalten. Ruth Wiederkehr arbeitete bis letzten Sommer im Oberstufenzentrum Mett-Bözingen in Biel. In dieser Schule sitzen Real- und Sekundarschüler und Schülerinnen ausser in den Niveau-Fächern in derselben Klasse. Im Deutschunterricht bleiben sie zusammen.

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Yasemin Dinekli, Mittelschullehrerin, Präsidentin des Trägervereins des Condorcet-Blogs, stellte die Fragen.
Ruth Wiederkehr, Schulleiterin bis letzten Sommer 2023: Es ist ein Knochenjob.

Condorcet

Frau Wiederkehr, wie interpretieren Sie die letzten PISA-Resultate?

Ich denke, sie bilden die Realität ab. Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler ist nach 8 Schuljahren nicht in der Lage einen einfachen Text zu verstehen, darunter auch  Sekundarschüler oder Schülerinnen.

Und was ist Ihrer Meinung nach die Ursache?

Es gibt nicht die Ursache. Die Situation ist komplex. Bereits die erste Pisa Studie von 2001 zeigte, dass die Schulen in Sachen Leseverstehen etwas ändern müssen.

Und wie habt ihr als Schule darauf reagiert?

Wir begannen kurz nach der ersten Pisa-Studie mit der Unterstützung von zwei Lese-Spezialistinnen, die ich anlässlich einer Weiterbildung kennengelernt hatte, am Thema Leseverstehen zu arbeiten. Zu Beginn waren das einzelne Projekte, die wir mit der ganzen Schule durchführten. Dazu gehörten auch Diskussionsrunden über gelesene Jugendbücher innerhalb des Kollegiums. Die zwei Lese-Spezialistinnen führten mehrere Fortbildungen mit dem ganzen Kollegium durch, also nicht nur mit den Deutschlehrpersonen. Später stellten wir sie dann im Rahmen der Lektionen im Angebot der Schule für einige Lektionen fest an. Sie erarbeiteten unser Lese-Konzept, das wir im Laufe der Jahre immer weiterentwickelten.

Gibt es neben der Weiterbildung und der Erarbeitung eines Lesekonzeptes weitere wichtige Voraussetzungen, die eine Verbesserung der Lesekompetenzen der Jugendlichen fördern?

Zunächst einmal braucht es Deutschlehrpersonen, die Leser und Leserinnen sind, also eine Leidenschaft fürs Lesen haben, so dass sie ihre Begeisterung weitergeben können. Sie müssen auch bereit sein, immer wieder neue Jugendbücher zu lesen, so dass sie selber auf dem neusten Stand sind, was Kinder- und Jugendbücher angeht.

Und die hattet ihr?

Ich denke ja. Die gemeinsame Arbeit mit den zwei Lese-Spezialistinnen half sicher viel. Wir suchten immer wieder nach spannenden, interessanten Texten, Kurzgeschichten, Büchern, Gedichten, die die jungen Leute packen, mit denen sie sich identifizieren können. Dabei haben uns die zwei Lese-Spezialistinnen während vieler Jahre sehr unterstützt, indem sie uns informierten, uns auf gute und geeignete Bücher hinwiesen, für uns Projekte entwickelten.

Es muss den Lehrpersonen der Oberstufe bewusst sein, dass es in jeder Klasse solche Jugendlichen hat und dass sie im Laufe der ersten 6 Schuljahre gelernt haben, ihr Problem zu kaschieren.

Das leuchtet mir ein, ist aber meiner Meinung nach noch keine Garantie, dass am Ende der Schulzeit 25% der Schülerinnen und Schüler immer noch nicht richtig lesen und schreiben können.

Das ist ein sehr wichtiger Hinweis. Vor 20 Jahren war es der Schulleitung und den Lehrpersonen noch nicht bewusst, dass wir in der 7. Klasse mehrere Schülerinnen und Schüler haben, die zu dieser Gruppe gehören. Oft entdeckten wir das Problem, wenn überhaupt, erst Mitte der 8. oder sogar erst in der 9. Klasse. Es muss den Lehrpersonen der Oberstufe bewusst sein, dass es in jeder Klasse solche Jugendlichen hat und dass sie im Laufe der ersten 6 Schuljahre gelernt haben, ihr Problem zu kaschieren. Wir begannen mit Hilfe von Lesescreenings, Antolin oder anderen offiziellen Tests, uns einen Überblick über die Lesefertigkeit, d.h. das Leseverstehen der Schülerinnen und Schüler zu verschaffen. Nur so kann gezielt mit den Leseschwachen gearbeitet werden.

Aber dann muss sich ja eine Lehrperson auf genau diese Jugendlichen konzentrieren, wie soll sie das mit einer Klasse von 20 und mehr schaffen?

Stimmt, das geht nicht. Um gezielt mit den Leseschwachen an ihren Defiziten arbeiten zu können, ist es unabdingbar, dass zwei Lehrpersonen während des Deutschunterrichts in der Klasse sind. Sie müssen beide die Schülerinnen und Schüler und ihre Stärken und Schwächen kennen.

Mit Vorteil befasst sich eine der Lehrpersonen regelmässig während zwei Wochenlektionen mit den leseschwachen SuS und arbeitet in kleinen Gruppen am Leseverstehen.

Also Teamteaching?

Ja, ein Teamteaching, in dem beide Lehrpersonen eingebunden sind, sich mit ihrer Arbeit identifizieren und sich zu gleichen Teilen einsetzen!

Mit Vorteil befasst sich eine der Lehrpersonen regelmässig während zwei Wochenlektionen mit den Leseschwachen und arbeitet in kleinen Gruppen am Leseverstehen. Die Lehrperson muss wissen, dass Vorlesen und Leseverstehen zwei unterschiedliche Kompetenzen sind. Diese Gruppe arbeitet mit Texten und Büchern, die ihren Lesefähigkeiten und ihrem Alter entsprechen. Der Weg geht von einfachen zu anspruchsvolleren Texten. Die andere Lehrperson kann in dieser Zeit z.B. mit dem Rest der Klasse an einer Klassenlektüre arbeiten. Sie muss ein für diese Klasse passendes Jugendbuch zur Hand haben.

Gibt es noch etwas, was Sie als wichtig erachten?

Es hilft sehr, wenn die Schülerinen und Schüler regelmässig, am besten wöchentlich, kurze Texte schreiben, Tagebucheinträge, Texte zu vorgegebenen Themen etc. Die Texte müssen sofort von den Lehrpersonen korrigiert und zurückgegeben werden. Auch das schafft eine einzelne Lehrperson nicht. Die Jugendlichen müssen ihre Texte korrigiert und überarbeitet ins Reine schreiben und zusammen mit dem neuen Text wiederum abgeben. Damit dies funktioniert, ist es von Vorteil, dass vor dem Abgabetermin eine Aufgaben- oder SOL-Lektion stattfindet, so dass die Lehrpersonen immer alle Texte zum vorgegebenen Termin erhalten. So wird nicht nur das Schreiben, Festhalten von eigenen Gedanken etc. verbessert, sondern nebenbei auch die Rechtschreibung.

Das ist ein enormer Aufwand

In der Tat, es ist Knochenarbeit, aber sie bringt etwas. Nichts ist so wirksam wie der Erfolg.

Das Lesekonzept muss sich über den gesamten Zyklus erstrecken und die Termine müssen für alle verbindlich sein.

Und noch eine Frage: Verfügt Ihre Schule über eine eigene Bibliothek?

Ja, und zwar über eine, die auf dem neusten Stand ist. Wir kaufen ungefähr dreimal pro Jahr neue Jugendbücher und es finden regelmässig Lektionen in der Bibliothek statt. Die Lernenden können selbständig Bücher auswählen, d.h., sie wissen, wie sie Bücher, die sie persönlich interessieren, in der Bibliothek finden: Cover, Klappentexte lesen, Rückseite lesen, Seite 99 lesen. Gefällt ein Buch nicht, wird es sofort zurückgebracht und ein neues ausgewählt. Die Lehrperson muss die Schülerinnen und Schüler beraten können. Ferienlektüren sind Pflicht. Klassen- oder Gruppengespräche zu Büchern und Texten finden immer wieder in der Bibliothek statt.

Wir kaufen ungefähr dreimal pro Jahr neue Jugendbücher und es finden regelmässig Lektionen in der Bibliothek statt.

Und da machen wirklich alle Deutschlehrpersonen engagiert mit?

Es braucht immer wieder Überzeugungsarbeit und jährlich mindestens eine gemeinsame Sitzung mit jedem Jahrgangsteam Deutsch, die die oder der Verantwortliche für das Lesekonzept leitet. Hier geht es auch um Anpassungen, Mitsprache, Rückmeldungen, Einbinden der neuen Lehrpersonen. Die Schulleitung muss voll hinter dem Konzept stehen und dafür sorgen, dass es weitergeführt wird, sonst funktioniert es nicht. Am besten ist es natürlich, wenn ein Schulleitungsmitglied selber Deutschlehrperson ist und auch noch unterrichtet. Und noch etwas Wichtiges: Das Lesekonzept muss sich über den gesamten Zyklus erstrecken und die Termine müssen für alle verbindlich sein.

Wie bei den Schülerinnen und Schülern ist es auch bei den Lehrpersonen, es sind nicht immer alle gleich gut drauf oder haben manchmal andere Prioritäten.

Gab oder gibt es keinen Widerstand aus dem Kollegium?

Nicht so direkt. Natürlich hat es Lehrpersonen, die nicht immer alles ganz genau so wie vorgesehen durchführen. Aber das gehört dazu, da muss man manchmal auch wegsehen können. Wie bei den Schülerinnen und Schülern ist es auch bei den Lehrpersonen, es sind nicht immer alle gleich gut drauf oder haben manchmal andere Prioritäten. Sie müssen aber schon wissen, was sie mindestens erfüllen müssen.

Gibt es weitere Kernpunkte in eurem Konzept?

Wir führen jedes Jahr mit der ganzen Schule einen Lesewettbewerb durch, den man als Klasse bestehen muss. In der 8. und in der 9. Klasse finden literarische Gespräche statt, die Jugendlichen führen ab der 7. Klasse ein Lesejournal, wir lesen ihnen auch Bücher vor etc. Ab und zu organisieren wir Dichterlesungen oder Literaturnächte oder es lasen zu bestimmten Zeitpunkten alle Lehrpersonen während ihres Unterrichts einen Abschnitt aus ihrem gegenwärtigen Lieblingsbuch vor, was auch zu interessanten Diskussionen und Gesprächen mit den Klassen führte. Das zeigte auch allen, dass die Lehrpersonen selber Lesende sind.

Da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.

Ob wir mit unserem Lesekonzept Erfolg haben? Mindestens die Zahlen sagen ja. Aus den 63% schwachen oder unterdurchschnittlichen Leseleistungen wurden Ende der 9. Klasse noch 28,7%, jedoch nur noch 4.5% davon waren schwach.

Und? Habt ihr Erfolg? Überprüft ihr das?

Ende des 9. Schuljahres führen wir nochmals mit allen ein Lesescreening durch. Und da sieht man jeweils die Fortschritte. Ich erhielt von den Lehrpersonen die Resultate ihrer Klasse und hielt das Ganze in einer Tabelle fest. Da sieht man übrigens auch, dass sich in den letzten Jahren die Lesekompetenz der neuen Siebtklässler kontinuierlich verschlechtert hat, d.h. Schülerinnen und Schüler mit schwachen und unterdurchschnittlichen Leistungen nahmen von Jahr zu Jahr zu. So waren im Jahr 2020 63.5 % aller Schülerinnen und Schüler der neuen siebten Klassen schwach oder unterdurchschnittlich und drei Jahre später waren es bereits 72 %.

Ob wir mit unserem Lesekonzept Erfolg haben? Mindestens die Zahlen sagen ja. Aus den 63% schwachen oder unterdurchschnittlichen Leseleistungen wurden Ende der 9. Klasse noch 28,7%, jedoch nur noch 4.5% davon waren schwach.

Wie steht es übrigens mit der «verpönten» Grammatik und der Rechtschreibung? Wie sehen Sie deren Bedeutung?

Die Arbeit daran darf nicht vergessen werden. Solide grammatikalische Kenntnisse helfen den Schülerinnen und Schülern, vor allem den fremdsprachigen, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Auch Diktate ergeben gegenwärtig wieder Sinn. Und noch etwas: Das vielkritisierte «Wörter Lernen» in den Fremdsprachen hilft, und zwar nicht nur den fremdsprachigen Kindern, den Wortschatz zu erweitern.

Was erachten Sie eher als nicht wirkungsvoll?

Texte schreiben hilft. Aber sie müssen sofort korrigiert und ins Reine geschrieben werden.

Ich beobachtete immer wieder, wie Lehrpersonen in ihren Klassen vorfabrizierte Lese-Verstehen-Tests durchführten. Ich denke, dass man damit vor allem das Vorwissen der Einzelnen überprüft, doch dass damit keine Verbesserung der Lesekompetenz stattfindet.

Gibt es noch etwas, was Sie an dieser Stelle sagen möchten?

Ja, dass es sehr wichtig ist, dass sich Lehrpersonen für ihre Schüler und Schülerinnen interessieren, bei den vorherigen Lehrpersonen nachfragen, den Problemen wirklich auf den Grund gehen. Je mehr Erfolg die Jugendlichen haben, desto mehr Freude entwickeln sie. Es ist zum Teil wirklich wie bei Knospen, die aufgehen. Einer von meinen ehemalig sehr schwachen Lesern hat letzthin das Anwalt Patent bestanden.

Die umfangreiche Beschreibung unseres Lesekonzepts für die Oberstufe finden Sie übrigens auf der Homepage des OSZ Mett-Bözingen in Biel (www.OSZMB.ch) unter der Rubrik «Leseförderung», dann «Lesekick». Hier finden Sie alle Unterlagen und können sich bei Fragen an die Schulleitung wenden.

Ich danke Ihnen für das Gespräch

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Lesemisere – es braucht eine sorgfältige Analyse https://condorcet.ch/2023/12/lesemisere-es-braucht-eine-sorgfaeltige-analyse/ https://condorcet.ch/2023/12/lesemisere-es-braucht-eine-sorgfaeltige-analyse/#respond Mon, 11 Dec 2023 10:13:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=15449

Es sei – so die Autorin Eliane Perret - hinlänglich bekannt, dass heute eine grosse Anzahl von ihnen nicht über ausreichende Lese- und Schreibkompetenzen verfügen, um den privaten und beruflichen Alltag selbstständig und befriedigend gestalten zu können. Wir bringen Ihnen ihre unaufgeregte Analyse.

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Die PISA-Studie, wie immer man sie auch qualitativ bewerten mag, hat es wiederum gezeigt: Die Lesefertigkeit der Schweizer Jugendlichen nehmen stetig ab. In unserer Gesellschaft ist man unzählige Male am Tag mit Schrift und Text konfrontiert. Wer nur mit Mühe eine Text entziffern kann und kaum oder gar nicht versteht, was drin steht, ist nicht nur in seinem Lebensalltag und -zielen eingeschränkt, sondern auch in seiner Selbsteinschätzung ein wertvoller und gleichwertiger Mensch zu sein zutiefst betroffen.

Bereits um die Jahrtausendwende war der Anteil von Jugendlichen mit sehr schwachen Lesefähigkeiten mit 12 Prozent Besorgnis erregend. 2014 zählte man im Bundesamt für Statistik (BfS) 800’000 betroffene Menschen und befürchtete eine Zunahme in den nächsten Jahren. Den seither getroffenen Massnahmen lagen offensichtlich eine unsorgfältige Analyse und fehlgeleitete Massnahmen zugrunde – auch jetzt!

Einmal mehr: der Föderalismus

Wie nicht anders zu erwarten, kam der Föderalismus wieder auf die Anklagebank und es wurde nach einheitlichen, «von oben» diktierten Massnahmen gerufen. Eine Strategie hin zum Zentralismus, die mit und seit der Volksabstimmung 2006 zum Bildungsartikel verfolgt wird. Abgesehen davon, dass die Leselernmethoden und auch der Leseunterricht nicht an den Kantonsgrenzen wechseln und mit der Einführung des Lehrplans 21 sowieso angeglichen wurde, ist die noch verbliebene Kantonshoheit im Bildungsbereich nach wie vor ein Garant dafür, dass auf die Gegebenheiten und Bedürfnisse der jeweiligen Kantone ausgerichtet und schnell und gezielt Massnahmen ergriffen werden könnten.

Psychologin und Heilpädagogin Eliane Perret: “Eine Verbesserung ist nicht in Sicht.”

Migrantenkinder – schon aber

Eine weitere Erklärung richtet den Fokus auf die zunehmende Zahl von Kindern, die nicht Deutsch als Erstsprache haben. Natürlich steht damit ein pädagogisches Problem an, denn sie brauchen fundierte Deutschkenntnisse und nicht Fragmente verschiedener Sprachen. Das war lange Zeit durch speziell dafür eingerichtete Klassen gegeben, in denen Kinder, die neu in unser Land kamen, einen gründlichen, aufbauenden Unterricht in der neuen Sprache hatten. Heute müssen sich die meisten von ihnen von Anfang an mit einigen Stunden zusätzlichem Deutschunterricht in einer Regelklasse zurechtfinden, was für sie einen Mangel an Chancengerechtigkeit und eine Belastung für die Schulklasse bedeutet. Diese Argumentation übersieht aber auch die mangelnden Deutschkenntnisse auch bei den Kindern, die hier aufwachsen und Deutsch als Erstsprache lernen.

Es fehlen anregende Lernprozesse

Weiter hört man auch, dass die Heterogenität in den Klassen die Ursache des Problems sei. Als Lösung wird differenzierender Unterricht vorgeschlagen. Das negiert die Realität der heutigen Klassen, denn individualisierendes Lernen ist in den meisten Schulzimmern schon lange Realität. Hintergrund sind entsprechende Theorien oder besser Ideologien, erzwungen durch die sogenannte Integration aller Kinder in der Regelklasse – und ist gerade eine der Ursachen der Lesemisere. Wenn Kinder vereinzelt ihre Lernprogramme abarbeiten sollen, so verhindert gerade dies einen sprachlich anregenden Lernprozess. Es fehlen die Modellwirkung sprachgewandter Kinder und ein Übungsfeld des gemeinsamen, anregenden Gesprächs und Lesens – kurz das Lernen von- und miteinander, entscheidend für einen gelingenden Lese- und Sprachlernprozess.

Denkblockaden in der Analyse

Wenn tatsächlich eine Lösung der Lesemisere gefunden werden soll, dann müssten bestimmte Denkblockaden überwunden werden. Eine davon ist die Unantastbarkeit des digitalen Lernens. Schwedens Bildungsbehörden hatten vor einiger Zeit den Mut, Forschungsergebnisse ihres renommierten Karolinska-Forschungsinstitutes ernst zu nehmen und die bisher als Unterrichtsmittel üblichen digitalen Geräte, allen voran die Tablets, aus den Schulzimmern der Primarschüler zu entfernen und zu Schulbüchern zurückzukehren. Das fand in unseren Medien und offensichtlich auch bei unseren Bildungspolitikern wenig Gehör. Sie blieben beim längst überholten Argument, damit die Kinder auf die Welt von morgen vorbereiten zu wollen.

Die Lesemethoden unter die Lupe nehmen

Um die Lesemisere in der Schweiz zu beheben, müssten auch heisse Eisen angefasst werden: Vernachlässigt wurde bisher, dass Leseschwächen und -störungen oft verursacht sind durch untaugliche, mittlerweile im Ausland teilweise verbotene Methoden, mit denen sich Kinder falsche Lernstrategien und Fehler aneignen, die später nur noch schwer zu korrigieren sind. Viele Jugendliche, die heute die PISA-Tests machten, mussten noch mit Jürg Reichens Methode «Lesen durch Schreiben» lesen lernen, ähnliche Methoden sind auch heute noch üblich.

Kein weiterer Zuckerguss

Die nächste PISA-Untersuchung kommt bestimmt. Über deren Sinn und vor allem bildungspolitische Zielsetzung endlich zu diskutieren, wäre das eine. Sicher aber werden die Resultate nicht besser werden, wenn die «heissen Eisen» nicht angepackt werden.

 

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Schweiz: Jeder Vierte, jede Vierte kann nicht lesen. Deutschland: So schlecht wie noch nie! https://condorcet.ch/2023/12/schweiz-jeder-vierte-jede-vierte-kann-nicht-lesen-deutschland-so-schlecht-wie-noch-nie/ https://condorcet.ch/2023/12/schweiz-jeder-vierte-jede-vierte-kann-nicht-lesen-deutschland-so-schlecht-wie-noch-nie/#comments Tue, 05 Dec 2023 15:02:53 +0000 https://condorcet.ch/?p=15422

Die internationale Vergleichsstudie zeigt: Schweizer Schülerinnen und Schüler legen zwar in Naturwissenschaften zu, beim Lesen aber haben sich die Ergebnisse im Vergleich zu früher verschlechtert. Ebenso im Fach Mathematik. Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz hat für den Condorcet-Blog einen ersten Kommentar verfasst. Weitere werden folgen.

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Die Schweiz hat bei PISA insgesamt schlechter abgeschnitten als vor vier Jahren, aber die meisten andern europäischen Länder sackten noch mehr ab als wir. Deshalb liegen wir jetzt knapp über dem OECD-Schnitt. Das gibt dem LCH und natürlich Frau RR Steiner einen Grund, um von sehr guten Leistungen unserer Schüler zu sprechen.

Gastautor Hanspeter Amstutz, Starke Schule Zürich: 25% Illetristen, so kann es nicht weitergehen.

Die anhaltende Katastrophe, dass ein Viertel unserer Schüler über keine genügenden Lesefähigkeiten verfügt, wird dann etwas kleinlaut nachgeschoben. Hier muss man entschlossen nachhaken und feststellen, dass es beim Lesen nicht besser, sondern noch schlechter geworden   ist. Für uns ist das ein Skandal, der unseren selbsternannten Bildungs-Steuerleuten bei der EDK und an den Hochschulen ein schlechtes Zeugnis ausstellt.

Spannend sind jetzt die Reaktionen aus Deutschland, wo der Absturz dramatisch ist. Neben den unbestrittenen Belastungen durch eine starke Einwanderung werden der Lehrermangel und die ungenügende Digitalisierung der Schulen erwähnt. Mir fehlt dabei ein ganz zentraler Punkt: Die unseligen neuen Lernkonzepte mit Lehrerinnen als Coachs und dem ganzen selbstorganisierten Lernen. Das Dogma des Lehrers als Begleiter hat in den deutschen Schulen meiner Meinung nach bereits sehr viel mehr Schaden angerichtet als bei uns. Es kommt uns zugut, dass wir manche weltläufige Dummheit erst mit Verspätung machen oder sogar verpassen.

Schwierig wird es für alle, die behaupten, mit viel mehr Geld könne man unser Bildungssystem stark verbessern. Das eher arme Estland muss mit sehr viel weniger finanzieller Unterstützung auskommen und liegt dennoch deutlich vor der Schweiz. Das müsste auch in linken Kreisen und beim LCH einmal zur Kenntnis genommen werden. Bei der EDK wird jetzt vermutlich wieder so getan, als würde man sich der Leseschwäche eines Viertels unserer Jugend voll annehmen. Sicher gibt es ein paar sinnvolle Aktionen wie Aufwertung der Schülerbibliotheken und gezielte Förderprogramme für fremdsprachige Kinder.

Aber sobald es um die speditive Beseitigung der Dauerbaustellen an unserer Schule geht, nimmt der Tatendrang der EDK-Steuercrew rapid ab. Die Primarschulen schlagen sich weiter mit einem ineffizienten Dreisprachenkonzept herum und finden für die Wiedereinführung von Kleinklassen kein Gehör, obwohl diese einen Beitrag zur Reduktion der Heterogenität in den Regelklassen leisten würden. Es fehlt der Wille zu einer Entrümpelung des völlig überladenen Lehrplans und der Mut zu einer Konzentration auf wesentliche Bildungsinhalte. Dem Lehrermangel steht man ziemlich ratlos gegenüber und für die Stärkung der Rolle der Klassenlehrkräfte wird zu wenig getan. Doch mit dem üblichen Beschönigen und Aussitzen von Problemen kommen wir nicht weiter. Es gilt jetzt, die schwerwiegenden Folgen der Leseschwäche eines Viertels unserer Schulabgänger den Leuten vor Augen zu führen und sich mit aller Kraft an die Behebung der offenen Baustellen zu machen.

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Bildung und Demokratiefähigkeit https://condorcet.ch/2022/12/bildung-und-demokratiefaehigkeit/ https://condorcet.ch/2022/12/bildung-und-demokratiefaehigkeit/#comments Thu, 01 Dec 2022 20:23:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=12500

Demokratie braucht gebildete Bürgerinnen und Bürger. Das war der Schlachtruf der Helvetik. Sie revolutionierte das Bildungswesen. Gefragt war Lesekompetenz. Heute nimmt sie bei den Jugendlichen wieder ab. Eine Gefahr für unsere Demokratie?, fragt Concorcet-Autor Carl Bossard.

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Condorcet-Autor Carl Bossard

Eine Studie der Universität Zürich gibt zu denken: Fast 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung konsultieren keine Nachrichten über Politik. Das ist für unsere direkte Demokratie ein Alarmsignal. Nachrichten oder „News“, wie sie heute heissen, lesen junge Erwachsene im Alter zwischen 19 und 24 Jahren nur noch während rund sieben Minuten – dies via Smartphone und im Tages-Durchschnitt gemessen. Wer Social-Media-Kanäle wie Instagramm oder TikTok benutzt, greife kaum auf journalistische Texte und publizistische Inhalte zurück. Das sei problematisch, heisst es im «Jahrbuch Qualität der Medien».[i]

Mehr Staatskundeunterricht gefordert 

Die Nachrichten-Abstinenz nimmt spürbar zu. Die Studie spricht von Deprivation oder von Mangelversorgung. Das hat Folgen. «News-Deprivierte», wie die Forscher es nennen, also uninformierte Staatsbürgerinnen und -bürger, beteiligen sich deutlich weniger an Abstimmungen und Wahlen.[ii] Es ist die brisante Frage politischer Teilhabe. Dass sie im Berner Bundeshaus Besorgnis auslöst, überrascht nicht. Gesellschaftliche Debatten und politische Prozesse brauchen informierte Bürgerinnen und interessierte Bürger.

Mindestens 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule nach neun Jahren als funktionale Analphabeten oder Illiteraten. Die Bildungspolitik schweigt.

Die Politik reagiert. Und sie reagiert in gewohnter Manier. Man fordert von der Schule «mehr und verstärkten Staatskundeunterricht».[iii] Erneut sollen es Lehrerinnen und Lehrer richten. Wie wenn die Bildungspolitik die Schulen während der letzten Jahre inhaltlich nicht entgrenzt und sie ins fachliche Vielerlei gedrängt hätte. Jedes gesellschaftlich relevante Problem wurde flugs zu einem curricularen Inhalt umformuliert und in den Unterricht getragen – vom Frühfranzösisch bis zur Integration. Es ist immer die Addition, die helfen soll: diesmal mehr Medienkunde und mehr Staatskunde! Ein Problem geht dabei vergessen: die schwindende Lesekompetenz vieler junger Leute. Sie ist ein verdrängtes Faktum.

Schweizer Schüler: schwach im Lesen

Die Lesefreude nimmt bei den Jugendlichen ab – ebenso wie die Leseleistung generell. Seit Jahren sinkt sie. Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelt damit unter dem Durchschnitt und klar hinter Nachbar Deutschland! Die Gruppe derer, die einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Textteilen nicht herstellen können, wuchs auf 24 Prozent. Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verständig lesen, diagnostiziert die PISA-Studie. Er ist nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Er vermag das Geschriebene zwar zu entziffern, versteht aber das Gelesene im Gesamtkontext nicht. Und dies im Land mit den höchsten Kosten pro Schüler![iv] Das ist besorgniserregend.

Wir wissen es seit Jahren: Mindestens 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule nach neun Jahren als funktionale Analphabeten oder Illiteraten. Die Bildungspolitik schweigt. Das Systemversagen im teuersten Bildungssystem der Welt scheint sie nicht zu stören. Dabei gehört Lesen zu den Kernkompetenzen eines jeden. Sie bleibt der Schlüssel fürs Lernen und die Teilhabe an der Welt – und unserer Demokratie.

Konzentriertes Lesen, Bild: zVg

Wenn Verstehen zur Schwerstarbeit wird

Das Kernproblem der mangelnden Lesekompetenz nicht weniger junger Menschen liegt beim Verstehen. Konzentrierte Lektüre wird seltener, das «Deep Reading» nimmt ab. Usanz ist heute das Lesen von WhatsApp-Nachtrichten und von flüchtig gescannten Kurztexten. Das gehört zum Leben junger Leute. Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones. Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen. Dazu kommt, dass diese elektronischen Geräte – anders als gedruckte Bücher – kaum materielle Orientierung im Text ermöglichen. Dies schmälert das kognitive Weiterkommen und führt zu Verstehens- wie auch zu Akzeptanzproblemen.

Nicht «mehr und Zusätzliches» wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität.

Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird so für manche Schülerinnen und Schüler zur Schwerstarbeit und die Aufgabe einer differenzierten Versprachlichung zur subjektiven Zumutung. So öffnen sich neue Sprachbarrieren. Umso mehr müsste die Schule hier Gegensteuer geben und die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten herausholen und ihnen als Brückenbauerin andere (Lese-)Welten einsichtig machen. Dies nicht zuletzt im Interesse von Kindern, die aus sozial eher schwächeren Familien kommen und es schwerer haben. Hier liegt eine der ganz wichtigen Aufgaben der Schule. Auch in demokratiepolitischer Hinsicht.

Sich vor Desinformation schützen

Nicht «mehr und Zusätzliches» wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität. Das bedeutet für Lehrpersonen einen erheblichen Zuwachs an Anstrengung, bleibt aber als Aufgabe und didaktische Pflicht.

Nur ein gebildetes Volk kann demokratisch mitbestimmen.

Unwidersprochen bleibt auch die Tatsache: «Nur wer in konzentrierter Lektüre verschiedene Lesarten eines Textes erkennen und miteinander abgleichen kann, wer Widersprüche in ihm erkennt oder Widersprüche zum eigenen Wissen und den eigenen Überzeugungen, der schützt sich selbst wirkungsvoll vor den vielfachen Versuchen alltäglicher Desinformation.»[v] Das aber setzt Lesefähigkeit voraus.

Vom Wert des Lesens

Philipp Stapfer, erster Bildungsminister der Helvetischen Republik: Nur ein gebildetes Volk kann demokratisch mitbestimmen

Wir wissen um den Zusammenhang zwischen Bildung, Wirtschaftsleistung und Wohlfahrt. Der amerikanische Bildungsökonom Eric Hanushek und sein deutscher Kollege Ludger Wössmann weisen seit Jahren darauf hin.[vi] Diesen Bezug gibt es auch zwischen Bildungsniveau und Demokratiefähigkeit. Das wusste auch die helvetische Regierung von 1798.

Nur ein gebildetes Volk kann demokratisch mitbestimmen. Davon waren die politischen Pioniere um 1800 überzeugt; dafür kämpften sie: Jedes Kind sollte lesen und schreiben können. Der helvetische Bildungsminister Philipp Albert Stapfer (1766-1840) gab dem Auf- und Ausbau der Schulen darum höchste Priorität. Die Helvetik (1798-1803) kannte den Wert des Lesens und einer gut ausgebildeten Lesefähigkeit – dass dieser Wert auch heute noch intensiv gepflegt werden muss, geht im digitalen Zeitalter leicht vergessen.

 

 

 

[i] Jahrbuch Qualität der Medien (2022). Zunahme der News-Deprivation mit negativen Folgen für den demokratischen Prozess.Hrsg. vom Fög. Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich, S. 1.

[ii] Ebda, S. 4.

[iii] Vgl. Rafael von Matt, Interesse an Informations-Journalismus schwindet. Echo der Zeit vom 24.10.2022.

[iv] SKBF (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 73.

[v] Fridtjof Küchemann, Eine Frage gesellschaftlicher Teilhabe, in: FAZ, 24.10.2022, S. 1.

[vi] Vgl. u.a. Ludger Wössmann (2009), Wirksame Bildungsinvestitionen. Was unzureichende Bildung kostet. Eine Berechnung der Folgekosten durch entgangenes Wirtschaftswachstum. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

 

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Noten sind wissenschaftlich gesehen untauglich https://condorcet.ch/2022/02/noten-sind-wissenschaftlich-gesehen-untauglich/ https://condorcet.ch/2022/02/noten-sind-wissenschaftlich-gesehen-untauglich/#comments Wed, 09 Feb 2022 08:21:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=10520

Hans Joss hat in seinem Leben viel geleistet und er ist ein Kämpfer für die schwächeren Schülerinnen und Schüler. Seit Jahren weist Hans Joss auf den eigentlichen Bildungsskandal in unserem Lande hin, dass nämlich 20% der Schulabgänger die Schule als Illetristen verlassen. Nun hat der Sozialdemokrat, der auch schon einige Male für unseren Blog Beiträge verfasst hat, zusammen mit Erika Reichenbach ein Buch herausgegeben. Zu diesem Anlass führte die Berner Zeitung mit den beiden ein Interview, das wir hier gerne aufschalten.

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BUND: Frau Reichenbach, Herr Joss, in Ihrem Buch kritisieren Sie, dass zu viele junge Erwachsene am Ende Ihrer Schullaufbahn das Gefühl haben, sie seien dumm. Was läuft schief?

Erika Reichenbach: Das Problem beginnt bereits in Kindergarten und Elternhaus. Nicht alle haben die gleichen Startchancen. Manche Kinder kennen den Erfolgscode, wissen wie sie sich durchsetzen können und ihre Ziele erreichen.

Unterschiedliche Startchancen sind nun mal eine Realität.

Erika Reichenbach: Das ist so. Als Lehrperson kann ich diese Realität aber verstärken, indem ich mich mehr den Stärkeren zuwende. Da besteht das Risiko, dass ein weniger privilegiertes Kind zum Schluss kommt:«Ich bin dumm und deshalb mag man mich nicht.» Es geht um die Unversehrtheit eines guten Selbstwertgefühls.

Erika Reichenbach (77) ist ausgebildete Kindergärtnerin, Erwachsenenbildnerin und Beraterin. Sie arbeitete auch in der Aus- und Weiterbildung. Zudem war sie 25 Jahre lang in der Berner Bildungspolitik tätig. Bis vor Kurzem machte sie noch Stellvertretungen an Kindergärten.

 

 

 

In Finnland sind lediglich fünf Prozent der Schulabgängerinnen und -gängern davon betroffen

Herr Joss, Sie finden es vor allem skandalös, dass rund 20 Prozent aller Jugendlichen bei Schulaustritt nur ungenügend lesen und schreiben können. Aber vielleicht haben nun mal nicht alle das Potenzial dazu.

Hans Joss: In Finnland sind lediglich fünf Prozent der Schulabgängerinnen und -gängern davon betroffen. Wir können uns also deutlich verbessern.

Wie?

Hans Joss: In Finnland gelten drei Grundsätze: Jedes Kind ist wichtig. Kein Kind darf beschämt werden. Kein Kind soll auf der Strecke bleiben. Das Schweizerische Volksschulsystem kennt diese Grundsätze nicht. Obschon sie unmissverständlich im Schulauftrag entthalten sind.


Hans Joss (79) arbeitete als Seklehrer im Monbijou, als wissenschaftlicher Leiter bei der Lehrerinnen – und Lehrerfortbildung sowie als Dozent an der Pädagogischen Hochschule Bern.

Nach seiner Pensionierung engagierte er sich unter anderem als Präsident des Vereins Lesen und Schreiben für Erwachsene.

 

Heute stellen doch auch in der Schweiz keine Lehrerinnen und Lehrer mehr Kinder bloss.

Hans Joss: Das Schweizerische Schulsystem muss Leistungen mit Noten beurteilen. Das geht nicht ohne Beschämungen, besonders gegenüber Schwächeren.

Wie könnte man es besser machen?

Hans Joss: Zukunftsweisend finde ich das sogenannte Modell 4, das an den Stadtberner Schulstandorten Lorraine und Munzinger sowie in Twann angewendet wird. Diese Schulen arbeiten vor allem mit innerer Differenzierung. Das heisst, sie fördern das einzelne Kind optimal und vergleichen kein Kind mit dem andern.

 Erika Reichenbach: Ich habe mich über Jahre als Mitglied des Berufsverbands im Grossen Rat dafür eingesetzt, dass die Berner Erziehungsdirektion Integration ermöglicht anstatt auf Selektion zu setzen. Das Problem ist, dass es im Kanton Bern momentan ein riesiges Flickwerk von Massnahmen gibt: Kinder verlassen für einzelne Stunden die Klasse, werden in Logopädie unterrichtet, erhalten Förderung wegen Legasthenie oder Dyskalkulie. Manche Kinder entwickeln sogar Verhaltensauffälligkeiten, weil sie die vielen Wechsel überfordern.

Ich fände es ideal, wenn die Politik pro Klasse 150 Stellenprozente gewähren würde.

Was ist Ihr Vorschlag?

Erika Reichenbach: Ich fände es ideal, wenn die Politik pro Klasse 150 Stellenprozente gewähren würde. Dann hätten die Lehrpersonen mehr Zeit, um auf verschiedene Lernstände einzugehen und es gäbe weniger Unruhe in den Klassen.

Irgendwann kommt doch trotzdem die Selektion. Es können nicht alle Medizin studieren.

Hans Joss: Wir wissen alle, dass es Bereiche gibt, in denen wir nicht so gut sind wie andere.  Aber wenn uns von aussen zugeschrieben wird, wohin wir gehören – in die Real oder in die Sek – dann ist das schwierig zu ertragen. Nach der achten oder neunten Klasse können die meisten Jugendlichen ihr Potenzial sehr gut einschätzen.

Was halten Sie von Noten, um Leistungen zu beurteilen?

Hans Joss: Noten sind wissenschaftlich gesehen ein untaugliches Mittel, das wurde mehrfach belegt. Dennoch verwenden es Schulen weiterhin. Dabei verlassen sich nicht einmal Lehrmeisterinnen und Lehrmeister auf Zeugnisse. Wichtiger ist ihnen der Eindruck, den sie beim Schnuppern eines potenziellen Lehrlings erhalten.

Trotzdem: Noten geben ein unmittelbares Feedback. Kinder und Jugendliche wissen gerne, wo sie stehen.

Erika Reichenbach: Ja, bereits 4-Jährige machen untereinander Wettkämpfe, um zu sehen, wer schneller ist. Das ist okay, aber der Lehrer oder die Lehrerin soll im frühen Alter keine Zuordnung machen wie zum Beispiel “Du bist halt der Langsamste”.

Hans Joss: Die Lehrpersonen sollten die Haltung vertreten: «Wir haben Freude an allen. Wenn jemand etwas sehr gut kann, freuen wir uns mit ihm oder mit ihr. Wenn jemand Mühe hat, helfen wir.»

 

«Schule hinterlässt Spuren» betrachtet das Schweizer Schulsystem aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln: Schülerinnen und Lehrer, Schulleitungen und Berufsleute aus dem gesamten schulischen Umfeld kommen zu Wort. Sie schildern neben wenigen guten viele schlechte Erfahrungen. Daraus destillieren die Autoren Hans Joss und Erika Reichenbach ihre nachvollziehbaren Kritikpunkte am heutigen System.

 

Hans Joss und Erika Reichenbach: «Schule hinterlässt Spuren. Würde ist antastbar», Novum-Verlag 2021, 130 S., ca. 24 Fr. 

 

 

Dieses Interview erschien im Bund und in der Bernerzeitung: https://www.bernerzeitung.ch/noten-sind-untauglich-593092505237 20.11.21

 

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Condorcet-Autor Alain Pichard zu Gast bei Markus Somm: Mit Bildung kann man heute viel Geld verdienen! https://condorcet.ch/2022/01/condorcet-autor-alain-pichard-zu-gast-bei-markus-somm-mit-bildung-kann-man-heute-viel-geld-verdienen/ https://condorcet.ch/2022/01/condorcet-autor-alain-pichard-zu-gast-bei-markus-somm-mit-bildung-kann-man-heute-viel-geld-verdienen/#respond Mon, 03 Jan 2022 09:39:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=10257

Am 29. Dezember wurde im Nebelspalter ein Interview mit unserem Condorcet-Autor Alain Pichard aufgeschaltet. Die beiden Herren unterhielten sich über die Passivität der Lehrpersonen, die Rolle der Lehrerverbände, über den Illetrismus, die Kompetenzorientierung und viele weitere umstrittene Bildungsthemen. Wir wünschen eine anregende Hörsession.

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Spracherwerb und Analphabetismus-Prävention https://condorcet.ch/2021/07/spracherwerb-und-analphabetismus-praevention/ https://condorcet.ch/2021/07/spracherwerb-und-analphabetismus-praevention/#respond Sun, 25 Jul 2021 07:30:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=8997

Der Spracherwerb der Schriftsprache (Lesen und Schreiben) in der Schule findet als wichtigste Voraussetzung jeglichen Lernens im 1. Primarschuljahr statt. Was läuft schief, dass es seit 2012 mit den Lesefähigkeiten der Schulabgänger signifikant bergab geht? Peter Aebersold geht dieser Frage nach.

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Entwicklung im Elternhaus

Wer die Ursachen der Entwicklungsrückstände und Defizite beim Lesenlernen verstehen möchte, muss die Entwicklung des Spracherwerbs von Anfang an kennen. Das gilt ebenso für jene, die statistische Auswertungen auf diesem Gebiet interpretieren wollen.

Der Mensch kommt als physiologische «Frühgeburt» auf die Welt (Adolf Portmann). Als sekundärer «Nesthocker» ist er auf den «sozialen Uterus» der Familie angewiesen, um überleben zu können. Er ist nicht «vorprogrammiert» und deshalb in seiner Entwicklung offen, um alles lernen zu können als ein «ewig Werdender». Dazu sind immer stärker spezialisierte kommunikative Fähigkeiten für eine gelingende Interaktion mit seinen Bezugspersonen lebenswichtig.

Auf den «sozialen Uterus» der Familie angewiesen

Die ersten Voraussetzungen dazu erfolgen in den ersten sechs Lebensmonaten, wenn sich aus den stimulierten Nervenzellen Synapsen bilden. Lebt der Säugling zum Beispiel in einer Umgebung (China), die das «R» nicht spricht, so wird er später im Leben das «R» nicht als solches erkennen können, wenn er es hört. Damit sich das Kleinkind getraut, die Umwelt zu erkunden, braucht es eine sichere Beziehung als Basis (Bindungstheorie), auf die es sich verlassen kann. In den ersten drei Lebensjahren, den lernintensivsten des Menschenlebens, lernt es nicht nur gehen und sprechen usw., sondern unbewusst entwickelt es einen psychischen Kompass für den Umgang mit anderen Menschen. Diese sogenannten Sozialkompetenzen sind mit etwa vier Jahren als Teil des Charakters oder der Persönlichkeit ausgebildet.

Die Biographieforschung zum funktionalen Analphabetismus zeigt, dass die Betroffenen häufig aus Familien stammen, in denen zur Unterstützung schulischer Probleme keine zielführenden Handlungsmuster zur Verfügung stehen, und die dennoch keine Lerntherapie in Anspruch nehmen.

Einen wichtigen Einfluss auf Motivation und Interesse für das Lesenlernen hat die Begegnung mit der Schrift: Sieht das Kind, wie Geschwister, andere Kinder, Eltern oder andere Erwachsene lesen? Die Biographieforschung zum funktionalen Analphabetismus zeigt, dass die Betroffenen häufig aus Familien stammen, in denen zur Unterstützung schulischer Probleme keine zielführenden Handlungsmuster zur Verfügung stehen, und die dennoch keine Lerntherapie in Anspruch nehmen. Das Kind beherrscht mit vier bis fünf Jahren mündlich die Grundlagen der Muttersprache: Es kennt die relevanten Laute und kann sie aussprechen, es verfügt über einen Wortschatz, mit dem es sich über seinen Alltag austauschen kann, und es kann weitgehend korrekte Sätze bilden. Diese Fähigkeiten in der mündlichen Sprache bilden den Grundstein für das Erlernen der Schriftsprache.

Könner setzen ihre Fertigkeit problemlos ein, und sie müssen sich kaum Rechenschaft geben, unter welchen Bedingungen und mit welchen Prozessen sie diese erworben haben.

Eine Mehrheit der Kinder erwirbt die Lesefertigkeit problemlos.

Entwicklung in der Schule

Der Schriftspracherwerb in der Schule ist nicht der Anfang, sondern der Höhepunkt des Spracherwerbs. Beim Schuleintritt sind die wichtigsten Entwicklungsschritte normalerweise abgeschlossen, so dass die erworbenen kognitiven und sozialen Kompetenzen im grösseren sozialen Rahmen der Schule für die gemeinsame Erarbeitung des kulturellen Erbes der Menschheit angewendet werden können.

Eine Mehrheit der Kinder erwirbt die Lesefertigkeit problemlos und oft auch wie von selbst. Eine Minderheit der Schüler bewältigt das Leselernen nur mangelhaft. Könner setzen ihre Fertigkeit problemlos ein und sie müssen sich kaum Rechenschaft geben, unter welchen Bedingungen und mit welchen Prozessen sie diese erworben haben. Da vom Lehrer erwartet wird, dass er alle Schüler fördert und mitnimmt, sind vor allem für Unterstufenlehrer die genauen Kenntnisse über die Abläufe beim Lesenlernen eine notwendige Voraussetzung, um diesen Erwartungen gerecht werden zu können.

„Wenige Menschen machen sich eine Vorstellung davon, welche komplexen Zusammenhänge sich hinter dem Sprechen [und dem Lesen- und Schreiben-Können] verbergen. Das vermeintlich Natürliche und Selbstverständliche des Sprechens entpuppt sich bald als eine Erscheinungsform des Verhaltens, die – falls man die Vorgänge verstehen will – profunde Kenntnisse der Verarbeitungs- und Steuerungsabläufe voraussetzt“. (Hardi Fischer, Professor am Institut für Verhaltensforschung an der ETH, Zürich im Geleitwort zur „Systematischen Logopädie“ 1985)

Voraussetzungen für das Lesenlernen

Zu den Voraussetzungen für das Lesenlernen zählen eine altersgemässe Entwicklung der Sinnesorgane, altersgemässes Sprechen, Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit, Wiedererkennen und Abrufen, Sinnentnahme, emotionale Faktoren sowie Allgemeinwissen. Dass beim Lesen derart viele Teilfertigkeiten und Kenntniskomponenten unterschieden werden, ist sich der geübte Leser der Muttersprache nicht bewusst:

Altersgemässe deutsche Sprachkenntnisse samt Wortschatz sind die Vorbedingung zum erfolgreichen Lesenlernen.

Mottier-Test: bestimmt bereits beim Sprechenlernen, wieviel Sprachklang behalten und wiedergegeben werden kann.

Die Merkfähigkeit (Mottier-Test) bestimmt bereits beim Sprechenlernen, wieviel Sprachklang behalten und wiedergegeben werden kann. Der Verstehensprozess ist an die Erlebniswelt gebunden und führt zur Bedeutung, ob gesprochen oder geschrieben. Durch Wiederholung kann die Merkfähigkeit verbessert werden. Die durch Übung erreichte automatische Verarbeitung entlastet das Gedächtnis.

Die Aufmerksamkeit ist an die Sinne gebunden.

Eine automatische Leseverarbeitung ist dann erreicht, wenn einige oder wenige Buchstaben ausreichen, den gesprochenen Klang und dessen Semantik zu erfassen. So werden nur noch wenige oder keine kognitiven Ressourcen in Anspruch genommen. Geübtes Lesen geht am besten bei gleich bleibendem Schriftbild. Durch Grossschreibung, Kursivschrift, Unterstreichung oder wenn ein Wort kompliziert oder neu ist“, kann der automatische optische Wahrnehmungsprozess gestört werden.

Beim Wiedererkennen der Information eines neu angebotenen Stimulus braucht nur die wahrgenommene mit der gespeicherten Information verglichen zu werden, wobei akustische, morphologische oder semantische Auslöser eine Rolle spielen. Störungen beim Abruf können z.B. durch akustisch ähnliche Wörter verursacht werden.

Wortschatz- und Leseverständnistests zeigen erfahrungsgemäss eine hohe Korrelation.

Die Kenntnisse über Buchstaben- und Wortkombinationen, über Textstrukturen usw. sowie die Allgemeinbildung erleichtern die Sinnentnahme. Die so mögliche Beschleunigung des Tempos der Worterkennung wird allgemein als ausschlaggebend für die Verbesserung der Lesefertigkeit betrachtet. Wortschatz- und Leseverständnistests zeigen erfahrungsgemäss eine hohe Korrelation. Sprachliche und nichtsprachliche Komponenten beeinflussen sich gegenseitig, da Verstehen ein schöpferischer, konstruktiver Vorgang ist, der immer über die in der Äusserung selbst kodierte Information hinausgeht. Sprachliches Verstehen ist immer auch das Verstehen von Nicht-Sprachlichem.

Das Lesefähigkeit ist direkt abhängig vom erteilten Unterricht

Interesse und Motivation (emotionale Faktoren) beeinflussen das Leseverständnis und sogar Faktoren der Lesbarkeit eines Textes. Wer gerne liest, liest auch freiwillig häufiger und wird dadurch geübter. Geringes Interesse für den Text, die Erwartung eines anschliessenden Tests und Angstgefühle haben eine oberflächliche Textverarbeitung zur Folge.

Das Lesefähigkeit ist direkt abhängig vom erteilten Unterricht. Auch Kinder, die von sich aus Lesen lernen, haben erfasst, dass zu den sichtbaren Zeichen gesprochene Laute zugeordnet werden. Sie haben nachgefragt oder man hat sie darauf aufmerksam gemacht.

Erst durch den mündlichen Austausch verbessert sich der Wortschatz, der schriftliche Ausdruck wie die Rechtschreibung verbessert sich allein durch Schreiben.

Vorkenntnisse über den Gegenstand, die die Lesenden mitbringen, bilden ebenso wie die sprachlichen Fertigkeiten eine Vorbedingung zum Textverständnis.

LESEABLAUF

Das Lesen erfolgt in drei Stufen

Auf der Vorstufe erkennen die Kinder erste Symbole und Wortbilder. Erste Wortbilder sind etwa der eigene Name oder Schriftzüge wie MIGROS. Auf dieser Stufe liest das Kind noch keine Buchstaben, es erkennt aber Wörter als Bilder wieder.

Das beginnende Lesen beinhaltet die Aneignung der Lesetechnik. Diese besteht aus zwei Teilschritten: Zunächst benennt (lautiert) und verbindet das Kind einzelne Buchstaben (Rekodieren). Dann sucht das Kind nach der Wortbedeutung (Dekodieren).

Beim fortgeschrittenen Lesen liest das Kind zunehmend längere Einheiten wie Sätze und Texte. Dafür braucht es neben der Bedeutung der Wörter auch grammatisches Wissen und muss verschiedene Informationen miteinander verbinden können.

Der Lesesetzkasten wird immer noch gebraucht

Geschriebene Wörter können wie gesprochene Wörter in Silben aufgegliedert werden. Kurze Buchstabensequenzen mit Lücken dazwischen unterstützen das rasche optische Erfassen. Graphische Mittel wie Lücken, Grossschreibung, können das optische Erfassen erleichtern. Zuviel Zusatzzeichen als sogenannte Lesehilfen im Anfangsunterricht erschweren eher den Lernprozess, der sich in einem ersten Durchgang zunächst auf die Buchstaben ausrichtet. Bildliche Darstellungen können das Erinnern und Verstehen unterstützen.

Ebenso können Merksätze eine Gedächtnishilfe sein. Die Abfolge eines Textstückes auswendig zu wissen, unterstützt das Wiedererkennen geschriebener Wörter oder täuscht Lesen-Können vor. Die vergessene Lautung einzelner Buchstaben kann so wiedergefunden werden. Singen unterstützt das sprachliche Behalten und sich Erinnern. Das Aufzählen oder Aufschreiben des Abcs stützt das Erinnern. Jeder Buchstabe und jeder Laut hat seinen bestimmten Platz in einer Reihenfolge (Piaget).

Die Gedächtnisleistungen von „Geschriebenes sehen, Gesprochenes hören, behalten und spüren“ bilden in ihren Kombinationen einen wesentlichen Anteil beim Lesen-Können. Stehen die genauen, präzisen Sinneseindrücke nur vage oder nicht mehr zur Verfügung, wird mit dem allgemeinen Wissen und mit Logik oder mit sprachlichen Automatismen mutmasslich kompensiert.

Was heisst das für den Erstleseunterricht?

Für Unterrichtende, die Lesen unterrichten, ist es wichtig, dass sie sich mit dem Grundproblemen beim Lesen auseinandersetzen. Zudem müssen sie sich mit der Methode des von ihnen gewählten Erstlesebuchs vertraut machen.

Die Zeiteinheiten ergeben sich aus Erfahrungswerten, die auf einen Durchschnitt gebracht werden können. Abweichungen einerseits für schnelleres Lesenlernen bei einigen Kindern und andererseits zusätzliche Zeit für das Erarbeiten des Leseprozesses bei anderen sind einzurechnen.

Das Lernziel ist für alle Lernenden das gleiche:

  1. Die Buchstaben unterscheiden können
  2. Die dafür vorgesehenen Laute zuordnen können
  3. Das Alphabet aufsagen können
  4. Gesehene Buchstaben lautierend zu Wörtern verbinden können
  5. Wörter wissen
  6. Lesen können

Im ersten Durchgang geht es um das Entziffern des „Codes“, als nächstes um das Anwenden desselben mittels vertrautem Inhalt bis hin zum fliessenden Lesen.

Von einem Erstlesebuch unabhängige Kontrollmöglichkeiten in regelmässigen Zeitabständen sollen die Unterrichtenden unterstützen, die Lernsituation der einzelnen Kinder zu erfassen.

Dass die meisten Schüler mit den neuen Methoden zurechtkamen, spricht nicht für diese Methoden, sondern für die Schüler. Den schwachen Schülern haben sie nicht wie erwartet geholfen.

Präventionsbemühungen

Erzielt für die schwächeren Schüler einen negativen Effekt.

Ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden gutgemeinte neue Methoden eingeführt, die den Schülern das Lesenlernen erleichtern sollten. Tatsächlich wurden die als schwieriger taxierten Teile (ABC auswendig lernen, buchstabieren) einfach nach hinten geschoben, so dass sie später nachgeholt werden müssen. Dass die meisten Schüler mit den neuen Methoden zurechtkamen, spricht nicht für diese Methoden, sondern für die Schüler. Den schwachen Schülern haben sie nicht wie erwartet geholfen. Hingegen hat die «Methode Reichen» mit dem «Lesen nach Gehör», bei denen den Schülern erlaubt wird, selbst Worte zu erfinden, bei den schwachen Schüler den negativen Effekt, dass sie falsch Gelerntes umlernen müssen, was für sie – wenn überhaupt – nur mit grossem Aufwand möglich ist.

Zur Förderung von Kindern mit Entwicklungsrückständen beim mündlichen Spracherwerb, mit anderer Muttersprache usw. wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Heilpädagogen geführte, möglichst homogene Kleinklassen mit wenig Kindern eingeführt. Dazu gehörten Sonderschulen mit verschiedenen Niveaus, Kleinklassen für Verhaltensauffällige, Einführungsklassen für Fremdsprachige, eine zweijährige erste Klasse für langsame Lerner, die Sekundarschule C als Kleinklasse, Sprachheilkindergärten usw. In den Regelschulen wurden homogene, leistungsfähige Klassen gebildet, Kinder, die das Klassenziel nicht erreichten, erhielten die Möglichkeit, eine Klasse zu repetieren. Die Lehrer- und Kindergärtnerinnenausbildung wurde in separaten Seminaren auf die jeweilige Praxis ausgerichtet und spezielle heilpädagogische Ausbildungsstätten geschaffen. Zur Behebung von Sprachstörungen bei Schülern wurden Logopäden und Logopädinnen ausgebildet.

Kinder, die in die Schweiz kamen und kein Deutsch sprachen, konnten sich in einer spezifischen Klasse die Sprache und weitere Kenntnisse für die Schule aneignen. Bei einem Teil dieser Kinder genügte diese Vorbereitung nicht und sie wurden deshalb in Kleinklassen weiterhin gefördert und bekamen, wenn nötig, zusätzlich Logopädie. Alle diese Massnahmen halfen, die Chancengleichheit zu gewährleisten.

Integration und Abbau der Kleinklassen

Auch mit der kantonalen Schulhoheit gab es in den meisten Kantonen vergleichbare Angebote für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen. Trotzdem verabschiedete die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz das Sonderpädagogik-Konkordat per 1. Januar 2011, bei denen sich die beigetretenen Kantone verpflichten mussten, Kinder mit Behinderungen in die sogenannten Regelschule (wie sie seitdem genannt wird) «vorrangig» zu integrieren, obwohl das Behindertengleichstellungsgesetz vom 13. Dezember 2002 den Kantonen den Vorbehalt machte, es sollte nur, „soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient», durchgeführt werden (Art. 20, Abs. 2). Aufgrund dieses gesetzlichen Vorbehalts hätten die speziellen Kleinklassen nicht abgeschafft werden dürfen.

Der Schweizerische Lehrerverein LCH hatte das Sonderpädagogik-Konkordat der EDK von 2007 nur mit Vorbehalten unterstützt.

Illetrismus: Knapp die Hälfte der Schüler erreichen nur die beiden untersten Stufen.
Bild: Coop-Zeitung

Der Schweizerische Lehrerverein LCH hatte das Sonderpädagogik-Konkordat der EDK von 2007 nur mit Vorbehalten unterstützt. Er vertrat die Position, dass eine vermutlich stark unterschätzte Gruppe von Kindern und Jugendlichen, namentlich im Sprachbereich oder in Mathematik, nicht eine „allgemeine Heilpädagogik“ in der Regelklasse bräuchten, sondern eine spezialisierte, fachdidaktisch fundierte Förderung. Es gebe solche Ansätze mit der Logopädie und der Dyskalkulietherapie schon länger, diese seien aber meist auf die Frühförderung konzentriert.

Schulabgänger als funktionale Analphabeten

Seit 2012 nimmt die Lesefähigkeiten der Schulabgänger stetig ab. Mittlerweile liegt die Schweiz unterhalb des OECD-Durchschnitts von 75 Ländern. Bei Pisa 2018 erreichten 24 Prozent der Schulabgänger bloss die unterste von sechs Kompetenzstufen. Sie verstehen die wörtliche Bedeutung von Sätzen oder die Hauptaussage von Texten nicht. Knapp die Hälfte der Schülerinnen und Schüler erreichen nur die beiden untersten Stufen. Die Beherrschung der deutschen Sprache in Wort und Schrift ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Schulkarriere und das Fundament einer beruflichen Zukunft und einer prosperierenden, international wettbewerbsfähigen Volkswirtschaft.

Peter Aebersold

Quellen:

Adolf Portmann – Schweiz: Die Sonderstellung des Menschen(-kindes)

Barbara Müller Gächter: Lirum larum Löffelstiel: Erstlesefibeln der deutschsprachigen Schweiz im 20. Jahrhundert. Moflar, Heerbrugg 2005, Universität Zürich, Dissertation bei Prof. Dr. Jürgen Oelkers, Zürich 2006.

 

 

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