Integration - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 21 Apr 2024 15:34:39 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Integration - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Piesacken https://condorcet.ch/2024/04/piesacken/ https://condorcet.ch/2024/04/piesacken/#comments Fri, 19 Apr 2024 11:12:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=16511

Satire ist Humor, der die Geduld verloren hat. Dies sagte nicht nur Tucholsky, dieser Ansicht ist auch der Progymnasiallehrer und frühere LVB-Präsident Roger von Wartburg. Zum Lachen! Aber nicht nur.

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Nach der Publikation der Ergebnisse des Pisa-Tests von 2022, die für Schweizer Schülerinnen und Schüler einen Abwärtstrend ausweisen, hat die EDK umgehend reagiert und das Projekt «Hopp Schwiiz» ins Leben gerufen, mit dem Ziel, bei der nächsten Durchführung der Pisa-Erhebungen besser dazustehen. Dem LVB wurden Unterlagen der wissenschaftlichen Projektleitung «Tecnocratica» zugespielt, die an dieser Stelle exklusiv auszugsweise veröffentlicht werden:

Roger von Wartburg, Lehrer am Progymnasium, ehemaliger Präsident des lvb: Nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

Fremdsprachen

Vorab möchte die wissenschaftliche Projektleitung festhalten, dass die EDK bereits im Jahr 2000, nach Bekanntwerden der Resultate des allerersten Pisa-Tests, höchst vorausschauende Massnahmen in die Wege geleitet hat, um dem Ungenügen des schweizerischen Bildungssystems beizukommen. Und dies sogar in Bereichen, die Pisa gar nicht testet, wie etwa den Fremdsprachen. So ein Vorgehen beweist die visionäre Tatkraft der Schweizer Bildungspolitik. Explizit zu nennen ist das EDK-Sprachenkonzept, welches zum Modell «3/5» (Passepartout) führte, demgemäss die erste Fremdsprache im dritten und die zweite Fremdsprache im fünften Primarschuljahr einzusetzen hat.

Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt vor, das bestehende Modell auf ein «1/3/5» auszuweiten. Konkret soll neu ab dem ersten Primarschuljahr Rätoromanisch gelernt werden. Wie eine Studie der Pädagogischen Höchstschule Nordsüdostwestschweiz (PH NSOWCH) mit Verweis auf die Hirnforschung zeigt, sind Erstklässler*innen besonders dafür geeignet, vom Aussterben bedrohte Sprachen zu lernen.

Die PH NSOWCH hat bereits damit begonnen, Avatare zu entwickeln, mit deren Hilfe die Erstklässler*innen dereinst im Cyberspace Rätoromanisch erlernen werden. Die Kinder werden wählen können zwischen Fadri, Bigna, Curdin, Ladina und Ursin, wobei sämtliche Avatare genderfluid ausgestaltet sind. Für das Pilotprojekt «Rumantsch First!» haben sich schon 284 Schulen aus der Deutschschweiz angemeldet – ein überwältigendes Bekenntnis zur mehrsprachigen Schweiz!

Digitalität

Das zuvor umrissene Projekt des Rätoromanisch-Lernens im Cyberspace ist Ausdruck eines umfassenden Verständnisses von Schule als Lernort, der sich in die Kultur der Digitalität des 21. Jahrhunderts einfügt. Die wissenschaftliche Projektleitung plädiert vorbehaltlos für das Beschreiten dieses Wegs, damit sich schulisches Lernen auch für die Generation Alpha und spätere Generationen noch sinnvoll anfühlen kann. Die Gegenwart ist digital, die Zukunft ist digitaler. Wer Kinder und Jugendliche verantwortungsbewusst fitmachen will für diese Zukunft, der bekennt sich zur schulischen Digitalität!

Ungeahnte Möglichkeiten!

Aktuell laufen in verschiedenen Kantonen Bestrebungen, den Unterricht stärker zu digitalisieren. Nach Einschätzung der wissenschaftlichen Projektleitung gehen diese Bemühungen jedoch zu wenig weit – so werden etwa der Kindergarten und die Unterstufe in digitaler Hinsicht an vielen Orten noch viel zu stiefmütterlich behandelt – und es fehlt an einem koordinierten Vorgehen. Zu diesem Zweck fordert die wissenschaftliche Begleitgruppe die Schaffung einer nationalen Taskforce «Digitalität jetzt!». Erste Sondierungsgespräche mit den international anerkannten Koryphäen Mick Rosoft, Will Applegates, Marc Ator und Bert Elsmann haben bereits stattgefunden. Ebenfalls mit an Bord sind das Institut für marktorientierte Bildungsökonomie der HSG sowie Economiesuisse.

Nicht unterschlagen werden darf in diesem Kontext die ökologische Komponente: Mit der flächendeckenden Implementierung digitaler Unterrichts- und Lehrkonzepte kann aus der Vision der «papierlosen Schule» schon bald Realität werden!

Die wissenschaftliche Projektleitung favorisiert ohnehin ein grundsätzliches Abrücken vom Konzept der «Schule vor Ort». Stattdessen soll die Schule der Zukunft gänzlich online stattfinden. Die wegfallenden Kosten für teure Schulbauten können in die digitale Infrastruktur investiert werden. Und als zusätzlicher Benefit würde die Anzahl Verkehrsunfälle mit Kindern drastisch gesenkt. Die wissenschaftliche Projektleitung hat hierzu eine Machbarkeitsstudie bei der Schmähdagogischen Hochschule Mittelland in Auftrag gegeben.

Inklusion international

Die wissenschaftliche Projektleitung anerkennt wohlwollend, dass in der Schweiz die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten, Lernstörungen oder anderen Ausprägungen besonderen Bildungsbedarfs in Regelklassen im letzten Jahrzehnt vorangetrieben wurde. Als weiterführendes Kapitel dieser beispiellosen Erfolgsgeschichte empfiehlt die wissenschaftliche Projektleitung eine Kontextualisierung des Inklusionsgedankens mit den Resultaten der Pisa-Tests.

Damit sie sich verständigen können, stellt die EDK entsprechende KI-Tools zur Verfügung. Für das Pilotprojekt «Inklusion international» haben sich innert weniger Wochen 837 Deutschschweizer Schulen angemeldet. Die schulische Zukunft ist nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

OECD-Schlusslichter der Pisa-Erhebungen 2022 sind Mexiko, Costa Rica und Kolumbien. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt vor, dass jede Schweizer Schulklasse jeweils ein Kind aus den drei genannten Ländern online am Unterricht der Schweizer Klasse teilnehmen lässt. Ein beschleunigtes Abrücken vom schulischen Unterricht vor Ort, wie es weiter oben ausgeführt wurde, würde dieses revolutionäre Konzept begünstigen.

Die Schweizer Lehrpersonen werden den Unterricht künftig mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus Mexiko, Costa Rica und Kolumbien gemeinsam vor- und nachbereiten. Damit sie sich verständigen können, stellt die EDK entsprechende KI-Tools zur Verfügung. Für das Pilotprojekt «Inklusion international» haben sich innert weniger Wochen 837 Deutschschweizer Schulen angemeldet. Die schulische Zukunft ist nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

Ausbildung

Seit Beginn dieses Jahrhunderts haben in der Schweiz – endlich! – die sehr wissenschaftlichen Pädagogischen Hochschulen die gänzlich unwissenschaftlichen Lehrerseminare abgelöst. Dennoch ortet die wissenschaftliche Projektleitung auch hier zusätzlichen Optimierungsbedarf, denn noch immer – wenn auch in stetig weiter sinkender Anzahl – gibt es unter den Dozent*innen Exponent*innen mit einem ausgeprägt berufspraktischen Hintergrund, die den Studierenden unwissenschaftlich rezepthafte Unterrichtskonzepte nahelegen. Dies stellt einen Affront gegenüber der ausdrücklich wissenschaftlichen Ausrichtung dieser Institutionen dar!

Die wissenschaftliche Projektleitung rät aus Qualitäts- und Professionalisierungsgründen dringend dazu, solche Dozent*innen schnellstmöglich aus ihren Funktionen zu entfernen. Eine zukunftsgerichtete Erziehungswissenschaft hält sich nicht mit überholten Konzeptionen auf, sondern baut allein auf moderne Forschungsmethoden und -ergebnisse. Wer nicht mit der Zeit gehen mag, der hat zeitnah zu gehen! Damit sich Dozent*innen gänzlich vorurteils- und prägungsfrei ihrer wichtigen wissenschaftlichen Aufgabe widmen können, empfiehlt die Projektleitung überdies eine bevorzugte Anstellung von Wissenschaftler*innen, die mit dem dualen schweizerischen Bildungswesen wenig bis gar nicht vertraut sind.

Wie die neuesten Pisa-Ergebnisse zeigen, vermag der unter Federführung der Dadagogischen Hochschulen wissenschaftlich hervorragend ausgearbeitete Lehrplan 21 den aktuellsten Entwicklungen nicht mehr vollumfänglich zu genügen. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt daher die Schaffung eines Lehrplans 22 vor.

Lehrplan 22

Wie die neuesten Pisa-Ergebnisse zeigen, vermag der unter Federführung der Dadagogischen Hochschulen wissenschaftlich hervorragend ausgearbeitete Lehrplan 21 den aktuellsten Entwicklungen nicht mehr vollumfänglich zu genügen. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt daher die Schaffung eines Lehrplans 22 vor. Eine Mitwirkung der Berufspraxis ist nicht erforderlich, vielmehr gilt es, der Expertise der Wissenschaftler*innen bei der Erarbeitung des Lehrplans zur vollständigen Entfaltung zu verhelfen.

Da sich zum Leidwesen der wissenschaftlichen Projektleitung in absehbarer Zeit das Konzept einer Maturität für alle Jugendlichen in der Schweiz politisch kaum realisieren lässt, ist es aus Gründen der Chancengerechtigkeit unabdingbar, sämtliche Lehrgegenstände der Tertiärstufe in die Lehrpläne der Volksschule zu integrieren – je früher, desto besser! Dementsprechend werden sich im Lehrplan 22 zusätzlich Kompetenzbereiche wie Quantennanophysik, Artificial General Intelligence und Pharmakoepidemiologie finden lassen.

Eine Vorstudie der Gagadogischen Tiefschule Hintermond kommt zum Schluss, dass der Lehrplan 22 zur Erreichung der genannten Ziele einen ungefähren Umfang von 47’300 Seiten, 36’800 Kompetenzen und 455’820 Kompetenzstufen erfordert. Die wissenschaftliche Projektleitung beantragt der EDK, eine entsprechende Projektstruktur aufbauen zu dürfen.

Für die wissenschaftliche Projektleitung:

  • Prof. Dr. Dr. Turmina von Elfenbein, Titularprofessorin am trinationalen Zentrum für Bildungshomöopathie
  • Prof. Dr. Dr. Dr. Jérôme-Alain Voudou, Zukunftsforscher am Institut für vergleichende Schulethnologie

 

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Eine Bilanz nach 25 Jahren Schulreformen https://condorcet.ch/2024/04/eine-bilanz-nach-25-jahren-schulreformen/ https://condorcet.ch/2024/04/eine-bilanz-nach-25-jahren-schulreformen/#comments Thu, 18 Apr 2024 06:51:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=16506

Fünf zentrale Reformvorhaben stellt Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz bezüglich ihrer Wirkung auf die jüngere Schulentwicklung auf den Prüfstand. Die mit vielen Vorschusslorbeeren versehenen Reformschritte sind mit der Ankündigung geschaffen worden, sie würden die Schulqualität entscheidend verbessern. Sie dürfen daher auch an diesem hohen Anspruch gemessen werden.

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  1. Bildungssteuerung aufgrund von Lernstandserhebungen

“Durch ein Top-down-Bildungsmonitoring kann die Schulqualität kontinuierlich gesteigert werden.”

Bildungsversprechen:

Durch regelmässige Lernstandserhebungen in systematisch ausgewählten Schulen werden in zentralen Fächern die Leistungen der Schülerinnen und Schüler ermittelt. Die EDK und die Pädagogischen Hochschulen verschaffen sich durch diese auf wissenschaftlicher Basis erhobenen Messungen einen Überblick über den Erfolg des Unterrichts in den einzelnen Fächern. Werden Mängel festgestellt, sollen durch gezielte Steuerungsmassnahmen die Resultate verbessert werden.

Gastautor Hanspeter Amstutz

Bilanz:  Es herrscht in der EDK grosse Ratlosigkeit, wie die festgestellten Mängel behoben werden könnten.

Den Lernstand einer Klasse festzustellen ist zwar aufwändig, aber keine Hexerei. Ganz anders sieht es aus, wenn die festgestellten Mängel behoben werden sollten. Schon in der ersten PISA-Studie wurde festgestellt, dass die Lesefähigkeiten unserer Schulabgänger nur mittelmässig waren. Die konzeptlosen Steuerungsmassnahmen blieben wirkungslos und die Grundkenntnisse im Deutsch wurden gar noch schlechter. Das Top-down-Prinzip erweist sich als Misserfolg, wenn Schulentwicklung nicht in enger Zusammenarbeit mit den Schulpraktikern erfolgt und deren dringende Forderung nach einer Konzentration aufs Wesentliche weiter missachtet wird.

Lösungsansatz:

Nach eingehender Befragung der Lehrpersonen Ballast aus dem Bildungs-Wunschprogramm abwerfen und sich auf wesentliche Bildungsziele einigen.

 

  1. Frühes Sprachenlernen als ein Schlüssel zum Schulerfolg

“Das frühe Lernen zweier Fremdsprachen verschafft den Kindern einen erheblichen Startvorteil.”

Bildungsversprechen:

Kinder lernen Sprachen leichter als Erwachsene. Mit einer modernen Mehrsprachendidaktik und spielerischen Lernformen können problemlos zwei Fremdsprachen nebeneinander gelernt werden. Mit einem Schwergewicht auf den kommunikativen Fähigkeiten statt auf der Grammatik stehen Fremdsprachen allen Kindern offen. Diese werden so rechtzeitig auf die Anforderungen einer globalisierten Welt vorbereitet.

Bilanz:  Das Konzept einer frühen Dreisprachigkeit ist kein Erfolgsmodell und hinterlässt zu viele Verlierer.

Karikatur von Alain Pichard nach Idee von r.alf

Die Behauptung, dass die meisten Primarschüler mit nur zwei oder drei Wochenlektionen eine Fremdsprache durch das Eintauchen in ein Sprachbad (Immersion) spielerisch lernen würden, ist völlig falsch. Immersion gelingt nur, wenn Kinder täglich in vielen Situation mit einer Fremdsprache in Berührung kommen. Gescheitert ist auch die propagierte Mehrsprachendidaktik, die in einigen Lehrmitteln zu einem eigentlichen Unterrichtsdebakel geführt hat.

Immersion gelingt nur, wenn Kinder täglich in vielen Situation mit einer Fremdsprache in Berührung kommen.

Völlig ungenügend sind auch die Resultate des Frühfranzösisch, wo bis zu zwei Drittel einer Klasse die elementarsten Bildungsziele nicht erreichen. Dieser Misserfolg dämpft die Freude vieler Schüler am Sprachenlernen und führt in manchen Fällen bis zum Schulverdruss. Der Aufwand für das Lernen der Frühfremdsprachen geht teils auf Kosten wertvoller Übungszeit im Deutsch, wo immer grössere Defizite festgestellt werden.

Lösungsansatz:

Eine Fremdsprache in der Primarschule genügt!

  1. Der Lehrplan als verlässlicher Bildungskompass

“Der Lehrplan 21 ist ein Bildungskompass, der als Schweizer Rahmenlehrplan verbindliche Bildungsziele festlegt.”

Bildungsversprechen:

Der neue Lehrplan erleichtert die Mobilität, indem innerhalb vereinheitlichter Schulstrukturen (drei einheitliche Bildungszyklen) in allen Kantonen dieselben Bildungsziele gelten. Mit einem verbindlichen Konzept aus Grundanforderungen und erweiterten Kompetenzzielen soll sichergestellt werden, dass die Qualität der Volksschulbildung gewährleistet und gut überprüfbar ist.

Bilanz:  Der Lehrplan erfüllt seine Funktion als Bildungskompass nur unzureichend.

Das Jahrhundertwerk des neuen Lehrplans führt weit über seinen Grundauftrag der Harmonisierung der Bildungsziele hinaus. Mit seinen oft kompliziert formulierten Kompetenzzielen und seiner Überfülle an Möglichkeiten wirkt er unübersichtlich und erschwert eine Konzentration auf wesentliche Bildungsinhalte.

Der Grundsatz, dass im neuen Lehrplan Kompetenzen gegenüber Inhalten eindeutig Vorrang haben, ist in vielen Fällen fragwürdig.

Ein Lehrplan, der den Anspruch erhebt, ein nützlicher Bildungskompass für Lehrpersonen zu sein, erfüllt seinen Zweck nicht, wenn er kaum einmal konsultiert wird.

Der Grundsatz, dass im neuen Lehrplan Kompetenzen gegenüber Inhalten eindeutig Vorrang haben, ist in vielen Fällen fragwürdig. So ist es wenig hilfreich, wenn beispielsweise im Geschichtsunterricht bestimmte politische Kompetenzen an mehr oder weniger beliebigen Inhalten erworben werden können. Lehrpersonen und Schüler möchten in erster Linie wissen, welche konkreten Bildungsinhalte im Zentrum des Unterrichts stehen.

Lösungsansatz:

Ein Lehrplan in Kurzform mit verbindlichen Bildungsinhalten als Ergänzung zur aktuellen Vollausgabe wäre für die Schulpraxis sehr hilfreich.

  1. Integration aller Schüler in Regelklassen

“Alle Kinder haben das Recht, in einer Regelklasse unterrichtet zu werden.”

Bildungsversprechen:

Keine Schülerin und kein Schüler soll in irgendeiner Form von seinen Mitschülern ausgegrenzt werden. Die Separation in Kleinklassen ist deshalb kein geeignetes Mittel, um Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten oder Lerndefiziten zu fördern. Klassenlehrpersonen werden von Heilpädagoginnen unterstützt, damit in Regelklassen integrierte schwierige Schüler professionell betreut werden können.

Bilanz: Das dogmatisch aufgegleiste Integrations-Konzept hat den Praxistest nicht bestanden und ist finanziell ein Fass ohne Boden.

Kinder und Jugendliche mit Teilleistungsschwächen oder kognitiven Einschränkungen belasten eine Klasse in der Regel weit weniger als Schüler mit aggressiven Verhaltensauffälligkeiten. Wo einzelne Schüler hingegen immer wieder den Unterricht durch ihr auffälliges Verhalten massiv stören, wird konzentriertes Arbeiten in der Klasse stark beeinträchtigt. Lehrpersonen beklagen sich zu Recht, dass sie in diesen Fällen zu viel pädagogische Energie auf Einzelne aufwenden müssen. Die versprochene Unterstützung durch Fachkräfte ist meist ungenügend, da die Heilpädagoginnen nur wenige Stunden in den ihnen zugeteilten Klassen verbringen können.

Solange Lösungen mit Klein- oder Förderklassen kategorisch abgelehnt werden, wird sich die Diskussion weiter im Kreis drehen.

Die in den Bildungsstäben dogmatische vertretene Ansicht, Kleinklassen seien keine gleichwertigen Alternativen zu einer integrierten Schulung, erschweren pragmatische Lösungen. Die meistgenannte Forderung, die Zahl der Heilpädagoginnen sei massiv zu erhöhen, ist in der aktuellen Personalsituation nicht realistisch und droht finanziell zu einem Fass ohne Boden zu werden. Solange Lösungen mit Klein- oder Förderklassen kategorisch abgelehnt werden, wird sich die Diskussion weiter im Kreis drehen.

Lösungsansatz:

Eine separative Förderung soll gleichberechtigt neben dem aktuellen Integrationsmodell stehen und darf finanziell für die Schulen kein Nachteil sein.

  1. Lehrpersonen sollen primär als Lerncoachs wirken

“Der Frontalunterricht ist abzulösen durch didaktische Konzepte, in welchen die Lehrpersonen als Lerncoachs die Jugendlichen begleiten.”

Bildungsversprechen:

Moderne Lernkonzepte basieren auf Lernlandschaften und digitalen Lernprogrammen, die ein weitgehend selbständiges Lernen mit unterschiedlichen Bildungszielen ermöglichen. Digitale Programme vereinfachen die Organisation eines stark individualisierten Unterrichts und entlasten die Lehrpersonen im Bereich des Sprach- und Rechentrainings.

In didaktisch anregenden Lernlandschaften sollen die Jugendlichen in individuellem Lerntempo selbständig Wege finden, um wichtige Bildungsziele zu erreichen. Dabei stehen ihnen die Lehrpersonen als kompetente Begleitpersonen zur Seite. Frontalunterricht kann den individuellen Bedürfnissen der Jugendlichen kaum gerecht und soll deshalb stark eingeschränkt werden.

Bilanz:  Die generelle Verunglimpfung des Frontalunterrichts durch führende didaktische Zentren war ein Rohrkrepierer.

Wissenschaftlich ist die Abwertung der direkten Instruktion (genannt Frontalunterricht) in keiner Weise haltbar. Die Erwartung, Lehrkräfte könnten in der Funktion als unterstützende Lernbegleiter von Jugendlichen weit mehr bewirken als bei gemeinsamen Einführungen im Klassenverband, hat sich als illusorisch erwiesen. Spätestens seit der bekannten Hattie-Studie weiss man, dass ein von einer kompetenten Lehrkraft geführter gemeinsamer Unterricht sehr effizient sein kann.

Für die meisten Schüler ist eine sorgfältige direkte Instruktion in Verbund mit angeleiteten gemeinsamen Übungsphasen von zentraler Bedeutung für den Lernerfolg.

Zu viele Jugendliche scheitern am Anspruch eines zielgerichteten eigenverantwortlichen Lernens, da sie noch nicht über die dazu notwendige Selbstdisziplin verfügen. Für die meisten Schüler ist eine sorgfältige direkte Instruktion in Verbund mit angeleiteten gemeinsamen Übungsphasen von zentraler Bedeutung für den Lernerfolg. Lehrpersonen müssen frei entscheiden können, welche Lernformen in bestimmen Situationen am geeignetsten sind. Leider haben Druckversuche im methodischen Bereich in den letzten Jahren zugenommen und eine erhebliche Unsicherheit in Lehrerkreisen ausgelöst. So wurde mit dem favorisierten neuen Rollenbild und detaillierten methodischen Vorgaben die pädagogische Gestaltungsfreiheit der Lehrpersonen zum Schaden der Volksschule erheblich beeinträchtigt.

Lösungsansatz:

Lehrpersonen benötigen Rückenstärkung durch eine volle Garantie der Methodenfreiheit und dürfen nicht in die Rolle des Lerncoachs gedrängt werden.

 

Versuch einer Gesamtbilanz der Reformen

Die mit hohen Erwartungen verknüpften fünf grossen Reformvorhaben wurden ihrem Anspruch, einen entscheidenden Schritt vorwärts zur Schulentwicklung zu leisten, nicht oder höchstens teilweise gerecht. Zu vieles wurde gross angekündigt, aber nur wenig davon erreicht. Zwar gibt es zu dieser Aussage wenig konkrete Daten, die direkte Auswirkungen der fünf Reformen auf die Schulleistungen belegen könnten. Aber entsprechende Befragungen der Lehrerverbände bei ihren Mitgliedern lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die grossen Reformbaustellen sind bestens bekannt und führen im Schulalltag immer wieder zu heftigen Diskussionen über die getroffenen bildungspolitischen Zielsetzungen.

Zu vieles wurde gross angekündigt, aber nur wenig davon erreicht.

 

Bedenklich an der ganzen Sache ist, dass die EDK bisher keinen ihrer grossen Reformschritte einer systematischen Überprüfung unterstellt hat. Einige der Reformen liegen schon ein paar Jahre zurück, so dass eine gründliche Bilanz längst hätte erwartet werden können. Zwar gibt es Lernstandserhebungen in mehreren Fächern, die gewisse Rückschlüsse auf die Wirkung der Reformvorhaben ermöglichen. Aber die Reformen an und für sich waren nie Gegenstand einer gründlichen Analyse, wie man dies bei einem wissenschaftlich begleiteten Grossprojekt erwarten könnte. Besonders umstrittene Reformen wie das Dreisprachenkonzept der Primarschule oder die schulische Integration wurden von der EDK gar wie Tabuzonen behandelt. Statt sich einer offenen Diskussion zu stellen, verteidigte man sich unter Zuhilfenahme starrer Dogmen oder übte recht massiven politischen Druck aus.

Die Schulqualität kann nur gefördert werden, wenn die Bilanz der eingeleiteten Reformen positiv ausfällt.

Die vorliegende Bilanz ist in keiner Weise ein Versuch, das Rad der Geschichte in der Pädagogik zurückzudrehen. Unsere Volksschule muss sich den aktuellen Herausforderungen stellen und sich weiterentwickeln. Aber die Schulqualität kann nur gefördert werden, wenn die Bilanz der eingeleiteten Reformen positiv ausfällt. Ist diese zwiespältig oder gar negativ, besteht berechtigter Grund zur Sorge, dass unsere nach wie vor erstaunlich robuste Volksschule ernsthaften Schaden nimmt. Um dies zu verhindern, braucht es jetzt eine gründliche Analyse der Schulentwicklung der letzten 25 Jahre und eine stärker an der Schulpraxis orientierte Bildungspolitik.

 

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Szenen einer leidenschaftlichen Podiumsdiskussion https://condorcet.ch/2024/04/szenen-einer-leidenschaftlichen-podiumsdiskussion/ https://condorcet.ch/2024/04/szenen-einer-leidenschaftlichen-podiumsdiskussion/#comments Mon, 15 Apr 2024 06:36:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=16486

«Die Starke Volksschule Zürich hat am letzten Donnerstag in Zürich ein Podium organisiert, auf dem leidenschaftlich zum Thema integrative Schule gestritten worden; dies im Lichte einer kantonalen Initiative zur Wiedereinführung von Förderklassen. Die Gegnerinnen der Vorlage gaben zwar zu, dass das System die «normalen» Kinder am Lernen hindert, von Förderklassen wollen sie trotzdem nichts wissen. Das Publikum sah es anders. Die neue Condorcet-Autorin, Claudia Wirz, berichtet.

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Das allgemeine Unbehagen über die Entwicklung der Volksschule ist gross. Immer mehr finanzielle Ressourcen werden in die Schule gesteckt, während die Leistungsüberprüfungen immer schlechtere – oder wie es Podiumsteilnehmer und Condorcet-Autor Roland Stark nannte – lausigere Resultate zu Tage fördern. Die integrative Schule, die auf internationalistischen Gerechtigkeitsvorstellungen beruht und vorgibt, dass alle Kinder in der Regelklasse unterrichtet werden sollen, sei am Anschlag, sagte die Zürcher FDP-Gemeinderätin, Schulleiterin und Condorcet-Autorin Yasmine Bourgeois in einer kurzen Einführung zum Podiumsanlass.

Claudia Wirz, freie Journalistin, seit April auch für den Condorcet-Blog schreibend.

Bourgeois ist Co-Präsidentin der  kantonalzürcherischen Volksinitiative , die eine Rückkehr zu den Förderklassen fordert. Die im Sammelstadium befindliche Vorlage will damit vor allem Ruhe ins Klassenzimmer bringen und die Lehrpersonen entlasten, auf dass diese sich wieder aufs Schule Geben konzentrieren können. Mit dem heutigen integrativen System werde man weder den Regelschülern noch den Verhaltensauffälligen oder Lernschwachen gerecht, sagte Bourgeois. Die Initiative will deshalb das Recht auf einen Platz in einer Förderklasse festschreiben. Die Förderklasse wiederum soll die Reintegration in die Regelklasse zum Ziel haben.

Integration vor Bildung

Die beiden Gegnerinnen der Initiative wollten davon nichts wissen. Ursula Sintzel von der SP, Rechtsanwältin und Präsidentin der Kreisschulbehörde Letzi, beschrieb das Konzept Förderschule als «Abschiebung», was für die Betroffenen verletzend sei und der Willkür der Entscheider, insbesondere der Lehrpersonen, Tür und Tor öffne. Dem pflichtete die grüne Kantonsrätin und Soziologin Karin Fehr Thoma bei. Zudem warnte sie davor, die Kleinklassen zu idealisieren, ohne allerdings dafür Argumente zu liefern. Sie gab allerdings an, dass integrierte Kinder später erfolgreicher seien als solche aus Kleinklassen. Juristin Sitzel hält Förderklassen ausserdem für rechtswidrig. Sie widersprächen dem Gleichstellungsgebot.

Das Gleichstellungsgebot steht für Sintzel also offenbar über dem Bildungsauftrag der Schule. Sintzel gab nämlich indirekt zu, dass Verhaltensauffällige und Lernschwache die anderen Kinder am Lernen hindern.

Das Gleichstellungsgebot steht für Sintzel also offenbar über dem Bildungsauftrag der Schule. Sintzel gab nämlich indirekt zu, dass Verhaltensauffällige und Lernschwache die anderen Kinder am Lernen hindern. So glaubt sie nicht, dass eine Reintegration in die Regelklasse gelingen kann, weil die Regelklasse ohne die Störungen schneller vorankomme und die Förderklassenkinder so den Anschluss verpassten. Sintzel gab auch zu, dass die Konzentration der Kinder durch Störungen aller Art zunehmend leide. Sie rief deshalb dazu auf, den Unterricht einfach an die verminderte Konzentrationsfähigkeit der Kinder anzupassen.

Roland Stark, SP-Mitglied, Heilpädagoge: Gefängniswärter oder Pädagoge?

Roland Stark wiederum, ebenfalls SP-Mitglied und erfahrener Heilpädagoge, fand es verletzend, dass Förderklassen und deren Lehrpersonal mit Begrifflichkeiten wie «Abschiebung» und «Ausgrenzung» assoziiert werden. Manchmal komme es ihm vor, als werde er als Gefängniswärter gesehen und nicht als Pädagoge. Die Schaffung von Förderklassen hält er für pädagogisch dringend notwendig.

Volksschule als Problemverwaltungszone

Das Publikum, das sich beileibe nicht nur politisch mitte-rechts verortete, reagierte auf die oft halsstarrigen Positionen der Förderklassengegnerinnen grösstenteils mit Kopfschütteln. Ein mittlerweile pensionierter Lehrer warf Sintzel und Thoma vor, Schule nur noch als Ort der Problemverwaltung zu verstehen und nicht als Ort der Bildung. Über das Lesen, Schreiben und Rechnen hatten die beiden Förderklassengegnerinnen den ganzen Abend lang nämlich kein einziges Wort verloren. Eine als Heilpädagogin tätige dreifache Mutter konstatierte, wie froh sie darüber sei, dass sie ihren jüngsten Sohn dank eines Stipendiums nicht der Volksschule anvertrauen müsse, sondern an eine Privatschule schicken könne, die seine musischen Begabungen fördere. Eine erfahrene Berufsschullehrerin mahnte, dass Kinder und Jugendliche im geführten Unterricht am meisten lernten und Roland Stark meinte in der von NZZ-Redaktor Robin Schwarzenbach geführten Diskussion, dass die unselige Akademisierung des Lehrerberufs hinterfragt werden müsse.

Kein einziges Votum aus dem Publikum stützte die Argumentation von Sintzel und Thoma. Wäre an diesem Abend über die Initiative zur Einführung von Förderklassen abgestimmt worden, sie wäre haushoch, wenn nicht gar einstimmig angenommen worden.

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Reformspektakel als Geschäftsmodell https://condorcet.ch/2024/04/reformspektakel-als-geschaeftsmodell/ https://condorcet.ch/2024/04/reformspektakel-als-geschaeftsmodell/#comments Tue, 09 Apr 2024 06:18:26 +0000 https://condorcet.ch/?p=16436

Im neuen Inform, der Verbandszeitung des Baselllandschaftlichen Lehrerinnen- und Lehrervereins, setzt sich Verbandspräsident und Condordet-Autor Philipp Loretz mit der alarmistischen Rhetorik und den Forderungen von "intrinsic" und Co. auseinander. Er kommt zu einem niederschmetternden Befund.

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«Die Schweiz ist das schlechteste Land der Welt», «ein überholtes Lernverständnis aus der industriellen Zeit erzeugt Frust und schlechte Leistung», «das Gleichschritt-Marsch-System zerstört das Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen».

So tönt derzeit die medial kolportierte alarmistische Krisenbewirtschaftung von Herausforderungen im Bildungswesen. Umtriebige Bildungs«experten» und gewiefte Geschäftemacher kämpfen gar für eine «radikale Bildungsrevolution». Mit ihrem martialisch-exaltierten Wording suggerieren sie, das gegenwärtige Schulsystem lasse lediglich verantwortungslose Lernwege zu – jenseits von Würde und Eigenmotivation. Starker Tobak, der von Felix Schmutz [1] oder Carl Bossard [2] dekonstruiert wird.

Erproben Sie Ihr Schulmodell doch über einen längeren Zeitraum an 10 verschiedenen Standorten in der Schweiz und lassen Sie es von unabhängigen Forschern im Vergleich zu 10 «traditionellen» Schulen mit Tests in Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen, Geschichte, Biologie und Physik evaluieren.

Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1,Präsident des lvb: Mehr Demut, meine lieben Bildungsrevolutionäre.

Unbestritten: Auf den grassierenden Illetrismus, den überfrachteten Lehrplan 21, den quantitativen und qualitativen Lehrpersonenmangel braucht es griffige, nachhaltige Antworten. Das hat die umfassende LVB-Mitgliederbefragung zu den Belastungsfaktoren im Lehrberuf eindrücklich gezeigt. Im Gegensatz zur seriösen Erhebung und sorgfältigen Auswertung des LVB setzen die Reformturbos auf pseudowissenschaftliches Spiegelfechten mittels selektiv ausgewählter, tendenziöser und mitunter abenteuerlich interpretierter Studien, u.a. konzipiert von einer Tochterfirma des US- Milliardenkonzerns Marsh & McLennan Companies.

Wer profitiert? Die üblichen Verdächtigen reiben sich die Hände, allen voran VR/KI-Firmen und private Anbieter heilsversprechender Weiterbildungen, denn die grösstmögliche Individualisierung vor Bildschirmen ist Teil der Konzepte. Prominent vertreten: Bildungsmanager der Stiftung Mercator, Geschäftsleitungsmitglieder des Schulleiterverbandes Schweiz (VSLCH) und Hochschul-Exponenten, die u.a. im Beirat des Privatunternehmens «intrinsic» sitzen. Dieses baut dank der Finanzspritzen seines Netzwerks Parallelstrukturen in der Lehrerbildung weiter aus und kann die öffentlichen Schulen wegen des anhaltenden Lehrpersonenmangels ungehindert mit seinen zweifelhaften Konzepten infiltrieren.

Vor dem Hintergrund der wohl einmaligen Integrationsleistung des Schweizer Bildungssystems, der 23 Medaillen der Schweizer Berufs-Champions an den WorldSkills Competitions 2022 in Shanghai oder der rekordtiefen Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Raum lege ich den ungemein sendungsbewussten Bildungsrevolutionären ans Herz, sich etwas mehr in Demut zu üben, die «Push-To-Talk- Taste» loszulassen und stattdessen die Auswirkungen der Grossreformen der letzten 20 Jahre zuerst genau unter die Lupe zu nehmen. Bessere Französischkenntnisse dank Frühfranzösisch? Mehr Wissen und Können dank des Lehrplans 21? Höhere Sek II-Abschlussquoten dank mehr Inklusion? Bessere Lehrerbildung dank Akademisierung der Pädagogischen Hochschulen? Welche überschwänglichen Versprechungen wurden tatsächlich Realität?

Die Verantwortungsträger aus Politik und Wirtschaft sind gut beraten, sich von den eindimensionalen Worthülsen der Kampagnenführer nicht Sand in die Augen streuen zu lassen.

Der Sturm-und-Drang-Fraktion der Schulreformer unterbreite ich folgenden Vorschlag: Erproben Sie Ihr Schulmodell doch über einen längeren Zeitraum an 10 verschiedenen Standorten in der Schweiz und lassen Sie es von unabhängigen Forschern im Vergleich zu 10 «traditionellen» Schulen mit Tests in Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen, Geschichte, Biologie und Physik evaluieren. Melden Sie sich erst wieder nach Abschluss der Evaluation, anstatt einmal mehr aufs Geratewohl ein Medikament ohne Wirksamkeitsnachweis auf den Bildungsmarkt zu werfen und den Beipackzettel mit den Nebenwirkungen zu unterschlagen. In der Arzneimittelforschung ist ein solches Vorgehen verboten. Zuwiderhandlungen werden mit Berufsverbot geahndet.

 

Eindimnsionale Worthülsen

Die Verantwortungsträger aus Politik und Wirtschaft sind gut beraten, sich von den eindimensionalen Worthülsen der Kampagnenführer nicht Sand in die Augen streuen zu lassen. Für ein funktionierendes Bildungssystem und eine erfolgreiche Integration unserer Jugend in den Arbeitsmarkt brauchen wir ganz bestimmt keine angloamerikanischen Verhältnisse mit Privatschulen für die Reichen und Restschulen für die weniger Begüterten, sondern eine starke, humanistisch wie leistungsorientiert geprägte öffentliche Volksschule für alle.

[1] Felix Schmutz, Der Vorstand des VSLCH bemüht sich um Schulrevolution
[2] Carl Bossard, Wer steuert eigentlich das Bildungsboot?
Philipp Loretz, Reformspektakel als Geschäftsmodell (publiziert in der Aprilausgabe der Verbandszeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB)

 

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Integration Ja, aber wie? Braucht es Förderklassen? https://condorcet.ch/2024/04/integration-ja-aber-wie-braucht-es-foerderklassen/ https://condorcet.ch/2024/04/integration-ja-aber-wie-braucht-es-foerderklassen/#comments Mon, 08 Apr 2024 17:31:29 +0000 https://condorcet.ch/?p=16438 Einen Anlass möchten wir Ihnen gerne ans Herz legen, nicht nur, weil zwei Condorcet-Autoren auf dem Podium stehen. Das Podium ist kontradiktorisch konzipert, was natürlich ganz im Sinn des Condorcet-Blogs ist.

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Liebe Musliminnen, liebe Muslime https://condorcet.ch/2024/01/liebe-musliminnen-liebe-muslime/ https://condorcet.ch/2024/01/liebe-musliminnen-liebe-muslime/#respond Fri, 12 Jan 2024 14:41:12 +0000 https://condorcet.ch/?p=15507

Condorcet-Autor Alain Pichard bezeichnet sich als Anwalt der Migrantenkinder. Aber, so betonte er stets, Integration sei keine Einbahnstrasse. In diesem Text verbeugt er sich aber vor der grossen Anpassungsleistung der Muslime in unserem Land. Sie bringen ihrer Heimat viel und sie sind die Mehrheit.

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Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Eine starke Gründungsmentalität.

Ich komme schon bei dieser Anrede ins Straucheln. Denn angenommen, ich lebte in einer muslimisch geprägten Umgebung und würde in einem Artikel mit «liebe Christen» angesprochen werden, würde ich mich als Konfessionsloser gar nicht erst angesprochen fühlen. So musste ich zum Beispiel zur Kenntnis nehmen, dass gemäss einer Studie, der Anteil der Konfessionslosen bei Ihnen höher liegt als bei den Christen. Wer hätte das gedacht?

Über 5000 Mitbürgerinnen und Mitbürger, die als Muslime bezeichnet werden, leben derzeit in Biel. Das sind 10%. Die Zusammensetzung dieser Population unterscheidet sich stark von der in Frankreich. Während unser westliches Nachbarland über 7 Millionen Menschen vorwiegend mit maghrebinischen Wurzeln aufweist, zählen wir in unserer Stadt wesentlich mehr Leute aus dem Balkan und der Türkei. Dieses Zusammenleben ist nicht spannungsfrei, aber weit von den Zuständen in den französischen Banlieues entfernt.

Die Beziehung zwischen uns beiden war nicht immer spannungsfrei. 2006 veröffentlichte ich mit drei Kollegen einen Artikel, in dem ich Sie daran erinnerte, dass die Integration keine Einbahnstrasse sei und den mangelnden Lernwillen zahlreicher Migrantenkinder beklagte. Anders als bei den Leuten, die sich Sorge um eine allfällige Überfremdung unseres Landes machen, ging es mir immer um die mir anvertrauten Kinder. Und ich sagte Ihren Kindern immer, dass sie mehr arbeiten müssten als ihre Schweizer Kameraden, das Los jeder Migration. Ein paar Jahre später deckte ich die Machenschaften des Islamrats auf, der Jugendliche aus Biel indoktrinierte und sie in sogenannte Koranschulen schickte, wo einige von ihnen für den Dschihad rekrutiert wurden. Im linken Milieu warf man mir eine Islamophobie vor. Die Informationen zu diesen Vorgängen erhielt ich aber von muslimischen Eltern von Betroffenen, die völlig verzweifelt waren. Und viele von Ihnen kamen später auf mich zu, um sich bei mir zu bedanken.

Anders als bei den Leuten, die sich Sorge um eine allfällige Überfremdung unseres Landes machen, ging es mir immer um die mir anvertrauten Kinder.

Egal ob Bosnier, Albaner, Pakistaner, Türken oder Kurden, die meisten Kinder und Eltern, mit denen ich zusammenarbeiten durfte, haben meine Anliegen verstanden. Während die Integrationsbehörden Ihnen die Umkehr aller Werte predigten, wonach bei einem Scheitern nicht Sie

Junge Muslime, die in der von unserem Autor gegründeten “Theaterzone Biel” mitwirkten.

sondern unser fremdenfeindlicher Staat die Verantwortung trägt, haben Sie erkannt, dass der Weg der Eigenverantwortung vielversprechender war. Sie haben mich an Ihre Feste und Hauseinweihungen eingeladen, Ihre Kinder haben in meinem Lehrlings- und Migrantentheater mitgewirkt und sind heute stolze Berufsleute.

Hüseyn stellte zum Beispiel sein Kebabrestaurant ohne zu zögern einer Orpunder Klasse zur Verfügung
Pajtime, die zusammen mit einer Jüdin die BESA-Ausstellung in Biel moderierte.

Wir sprechen viel über Integration, aber viel zu wenig über Selbstständigkeit. Ein Fehler, denn punkto Gründungsmentalität können wir viel von Ihnen lernen. Sie tragen erheblich zum Gründungsgeschehen in unserem Land bei. Hüseyn stellte zum Beispiel sein Kebabrestaurant ohne zu zögern einer Orpunder Klasse zur Verfügung, die eine Woche lang die harte Berufserfahrung im Gastronomiegewerbe kennenlernen durfte. Der Gemüseladen, den Akif und seine Familie betreiben und der natürlich auch an einem Sonntag geöffnet ist, bietet nicht nur spezielle Waren und eine überaus freundliche Bedienung, er ist ein Symbol Ihrer Schaffenskraft. An einer kürzlichen Klassenzusammenkunft erzählte mir Erdan, dass er jetzt endlich für seine Familie ein Haus kaufen konnte. Er kaufte es nicht hier, sondern in Kloten, wo der Fluglärm die Häuser billiger und die Steuern niedriger macht. Gleichzeitig gründete er eine Computerfirma. Nehat, der mir als Schüler den letzten Nerv ausgerissen hatte, ist nach einer Automechanikerlehre heute ein stolzer Carrosseriebesitzer. Wir fuhren oft zusammen an die Fussballmatches des FCB, in schicken Autos, die er mir mit Augenzwinkern präsentierte. Birsen, die stolze Kurdin, die nach einer Pflegefachlehre weiterstudierte und eine eindrückliche Karriere absolviert hat, vertraute mir an, dass sie dieses Dschihadgeschwätz nicht mehr ertragen könne. Ich erinnere mich an die Mazedonierin Pajtime, die zusammen mit einer Jüdin die BESA-Ausstellung in Biel moderierte. Die BESA-Ausstellung, welche die Rettung der Juden im 2. Weltkrieg durch die Albaner würdigte, hat mir das ganze Ausmass Ihres Erfolgs aufgezeigt.

Kurz, Sie wurden in unseren Arbeitsmarkt integriert, meistens durch eine Lehre. Nicht auszudenken, wie der Fachkräftemangel sich ausgewirkt hätte, wenn Sie und Ihre Kinder nicht wären.

Ich lernte Architekten, Ärzte, Juristinnen und Ingenieure kennen, Leute, die das Aufstiegsversprechen unseres Landes eingelöst haben, und natürlich immer wieder solide Handwerker. Während unsere Generation Z mit Teilzeitarbeit und Worklife-Balance durchs Leben schreitet und staunt, dass sie mit 30 kein Eigentum erwerben kann, arbeiten Sie in Schichten und mithilfe der ganzen Familie, um sich mit diesem Netz ein Haus leisten zu können. Als ich bei einer Hauseinweihung eingeladen war, schwärmte der frischgebackene Hausbesitzer, dass er schon wenige Wochen nach der Unterschrift im Grundbuchamt eingetragen war. In seinem Herkunftsland wäre dies, so sagte er mir, nicht ohne Schmiergeld gegangen und hätte mehr als ein Jahr gedauert. Kurz, Sie wurden in unseren Arbeitsmarkt integriert, meistens durch eine Lehre. Nicht auszudenken, wie der Fachkräftemangel sich ausgewirkt hätte, wenn Sie und Ihre Kinder nicht wären. Viele von Ihnen sind immer noch sehr israelkritisch. Sie akzeptieren aber, dass der Autor dieser Zeilen, der ehemalige Lehrer Ihrer Kinder, für dieses Land einsteht. Damit haben Sie auch ein wesentliches Prinzip unseres erfolgreichen Staates verstanden. Der Respekt vor anderen Meinungen. Es ist nicht der Islam, der zu uns gehört, es sind Sie, mit Ihrer grossen Anpassungsleistung und dem Willen, die Chance, die Ihnen unsere Gesellschaft bietet, zu ergreifen. Das ging nicht immer reibungslos und erforderte oft harte Arbeit. Und vor dieser kann man nur den Hut ziehen!

 

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Wahre Inklusion https://condorcet.ch/2023/10/wahre-inklusion/ https://condorcet.ch/2023/10/wahre-inklusion/#respond Fri, 13 Oct 2023 10:53:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=15104

Die Primarlehrerin mit einem Pädagogikstudium. Die Primarlehrerin, die eine Klasse als Gemeinschaft führt und es kann. Die Primarlehrerin, die die derzeit praktizierte Individualisierung für einen Irrweg hält. BAZ-Journalist Sebstian Briellmann besuchte die Condorcet-Autorin an ihrem Arbeitsort, dem Schulhaus Lysbüchel, St.-Johann-Quartier, kurz vor der französischen Grenze.

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Draussen ist es unwirtlich, der Himmel präsentiert sich in allen Grautönen, die es auf der Farbpalette gibt, es regnet, unaufhörlich, aber was solls, muss man anfügen, denn das Drinnen, das in solchen Situationen normalerweise dann ja herbeigesehnt wird: Es muss erst recht die Hölle sein, zumindest gefühlt.

BAZ-Journalist Sebastian Briellmann: Man ist fast schon überrascht: Sie tut das allein.

Dieser beklemmende Gedanke kann einem zumindest kommen, wenn man sich auf den Weg macht ins Schulhaus Lysbüchel, St.-Johann-Quartier, kurz vor der französischen Grenze. Strukturschwach, hoher Ausländeranteil.

Kann das gut gehen?, fragt man sich, die verstörenden Bilder einer «Reporter»-Dokusendung des Schweizer Fernsehens noch im Kopf, über Basler Primarschulklassen, die nicht mehr unterrichtbar sind – und die Worte des Erziehungsdirektors Conradin Cramer, der in der BaZ durchaus alarmiert gesagt hat: «Wir müssen handeln. Und zwar schnell.» Ein «umfassendes» Massnahmenpaket ist auf dem Weg.

Ein Profi am Werk

Dann klingelt die Uhr im Lysbüchel, es ist kurz vor acht Uhr morgens, in den Gängen ist emsiges Treiben, es wird geschwatzt und gelacht, während die Lehrerinnen in den Klassenzimmern die letzten Vorbereitungen treffen.

Eine von ihnen ist Christine Staehelin, seit 36 Jahren unterrichtet sie an verschiedenen Basler Schulen, sie ist Mitglied des Erziehungsrats, Nationalratskandidatin auf der Liste «Bildung» der Basler Grünliberalen. Kurz: Da ist ein Profi am Werk. Staehelin hat eingeladen zu diesem Unterrichtsbesuch, weil sie natürlich auch mitbekommen hat, wie kontrovers dieser SRF-Film diskutiert worden ist, in der Politik, in der BaZ, in den Kommentarspalten. Und sie will aufzeigen, wie Primarschule funktionieren kann, immer noch, demografischen Veränderungen zum Trotz – ohne dabei verklärend oder sozialromantisch zu wirken.

Loben, korrigieren, ermahnen

So unterrichtet sie auch, ruhig, abgeklärt – und man ist fast schon überrascht: Sie tut das allein. Und es geht problemlos. 22 Kinder gehen in ihre dritte Klasse, alle sind an diesem Montagmorgen da. Zuerst wird geschrieben, dann gerechnet, dann gelesen – alle für sich –, ist ein Auftrag erledigt, kontrolliert Christine Staehelin das Resultat, lobt, korrigiert, motiviert, ermahnt sanft.

Christine Staehelin, Primarlehrerin, Mitglied des Bildungsrates und Condorcet-Autorin: Als Klasse, nicht als 22 Individuen

Nach 25 Minuten gibt es einen kurzen Französisch-Exkurs, da das «Tageskind» an die Tafel schreibt, welcher Wochentag, welches Datum und Jahr wir haben; dann Singen, drei Lieder auf Deutsch und Englisch, und schliesslich beginnt der Sachunterricht im Fach Natur, Mensch, Gesellschaft. Die Drittklässler lernen gerade den menschlichen Körper kennen. Heute: Was passiert eigentlich mit dem Essen nach der Nahrungsaufnahme?

Grosse pädagogische Kunst

Alle bekommen zur Veranschaulichung einen Zwieback, eine Hälfte darf man essen, die andere wird in einem Plastiksäggli so lange zerdrückt, dass veranschaulicht wird, was im Magen denn genau so passiert. So nähert man sich dem Thema «Verdauung» altersgerecht an.

Pädagogisch ist das, von aussen betrachtet, grosse Kunst, die Kinder haben fürs Unruhestiften gar keine Zeit, so sehr sind sie mit ihrer Aufgabe beschäftigt, gleichzeitig stellt ihnen Staehelin immer wieder Sachfragen. Auffällig: Alles passiert miteinander, nichts erinnert an die Super-Separation einzelner Klassenmitglieder, die nicht nur im eigenen Zimmer, sondern nicht selten im ganzen Schulhaus verteilt werden.

Was macht Staehelin anders? Zunächst vielleicht ein Blick ins Klassenzimmer, das durchaus ähnlich ist wie :jenes, das man einst selber besucht hat. Okay, ein Sitzsack, in den man sich fläzen kann, wäre noch nicht : vorstellbar gewesen (gabs das überhaupt schon?) – und ja, dass in einer Ecke auch ein Dutzend Kopfhörer liegen, die man bei grossem Lärm benutzen könnte: Das ist dann wohl tatsächlich eine Folge der oft kritisierten Entwicklung. Immer mehr Kinder sind weniger gut unterrichtbar, brauchen Sondersettings, sprechen weniger gut Deutsch.

Zwischen den Schuljahren 2016/17 und 2022/23 – also ziemlich genau während der Amtszeit von Conradin Cramer – ist die Anzahl von Basler Schülern (ohne Riehen und Bettingen), die sogenannte verstärkte Massnahmen benötigen, massiv angestiegen. Waren es vor sieben Jahren noch 278 Kinder, die ein separatives Angebot in Anspruch genommen haben, verzeichnete man im letzten Schuljahr bereits 620. Zudem hat sich die Zahl der Schüler in Einstiegsgruppen – kleinere Klassen, zumeist für Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse – in dieser Zeitspanne von 88 auf 199 erhöht. Der Anstieg um 95 Schüler im letzten Schuljahr, schreibt das Erziehungsdepartement (ED), «ist auf die 90 Ukraine-Flüchtlinge zurückzuführen, die ein solches Angebot besuchen, um sich Deutschkenntnisse anzueignen».

Das sind riesige Herausforderungen, die aber ziemlich klein wirken, wenn da eine Lehrerin steht, mit all ihrer Erfahrung, die 22 Schüler noch so unterrichtet, wie man sich das eigentlich mal vorgestellt hat: als Klasse, nicht als 22 Individuen. Wahre Inklusion.

Die zunehmende Individualisierung finde ich nicht gut. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische.

Staehelin sagt: «Ich unterrichte eine Klasse, das ist mein Auftrag, und das schätze ich. Die Tendenz, das will ich aber nicht verneinen, geht in Richtung kleinere Gruppen, überall verteilt. Die zunehmende Individualisierung finde ich nicht gut. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische. Das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.»

Hier läuft das anders. Man erhält an diesem Morgen den Eindruck: Vielleicht tut die Individualisierung auch den Kindern nicht gut – weil eine Klasse, die noch wirklich eine ist, sich als wunderbarer Rahmen präsentiert. Es liegt drin, wenn die Gspänli manchmal kichern, da sie eine Aufgabe schon fertig gelöst und etwas freie Zeit haben.

Die sogenannte integrative Schule hat das Gegenteil ihrer Absicht bewirkt.

Und es ist eine erzieherische Massnahme, die von allen registriert wird und so ihre Wirkung entfalten kann, wenn ein Bub eine abschätzige Geste macht, da ein Mädchen sich zu ihm und anderen auf die Sitzbank setzen soll: Er wird von Staehelin, nun streng, zurechtgewiesen. Nachher wird sie mit ihm im Gang über sein Fehlverhalten sprechen. Auch das bekommt die ganze Klasse mit, logisch, wenn die Lehrerin ein paar Minuten nach draussen geht.

Ein bisschen später, für einen Montagmorgen ist das Konzentrationsniveau erstaunlich hoch, wird das anschaulich besprochene Thema «Verdauung» in einer Schreibübung weitergeführt. Alle müssen die wichtigsten Erkenntnisse, zusammengefasst in zehn Sätzen, abschreiben. In Schnürlischrift.

Hier offenbaren sich grosse Unterschiede. Während eine Schülerin (mit Migrationshintergrund!) nach fünf Minuten als Erste fertig ist – wie zuvor schon bei allen anderen Aufgaben –, haben andere noch keinen Satz fertig. Lieber gehen sie nochmals den Bleistift spitzen. Gespitzt wird in dieser Phase auffällig oft und auffällig gern …

War das nicht schon immer so?

Und es wird aufgefangen durch das Gemeinsame, den Klassengeist, wenn man so will.

Dass das die Leistungsfähigkeit weit auseinanderdividiert, ficht auch Staehelin nicht an. Aber war das nicht schon immer so? Und es wird aufgefangen durch das Gemeinsame, den Klassengeist, wenn man so will. Wer auf die Blätter spienzelt und sieht, wer beim Schreiben (oder mit der Konzentrationsfähigkeit) Mühe hat, der erkennt, dass nicht wenige von den schwächeren Schülern zuvor im praxisnahen Unterrichtsgespräch viel gesagt, am aktivsten mitgemacht hat. Das ist viel wert – und nur im Verbund möglich.

Es überrascht deshalb nicht, wenn Staehelin sagt: «Die sogenannte integrative Schule hat das Gegenteil ihrer Absicht bewirkt. Sie ist nicht für alle, sondern sie bringt immer weniger, denn immer mehr Kinder brauchen Unterstützung, um dort zu bestehen.»

Also wird viel Geld für die Sondersettings aufgewendet, um an dieser schönen Idee festhalten zu können. Oder eher an einer Illusion? Staehelin sagt: «Wir schaffen Unterrichtssituationen, die mit ihrer anwachsenden Komplexität, der zunehmenden Unruhe und der steigenden Anzahl von Lehr- und Fachpersonen immer mehr Kinder vor Herausforderungen stellen, die sie nicht mehr meistern können. Die Konzentrations- und Lernprobleme und die Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu.»

Oberflächliche Reformen haben das Selbstverständnis der Schule erschüttert.

Es Ist ein Gang in die Individulisierung, in die Isolierung auch.

Es ist ein Gang in die Individualisierung, in die Isolierung auch. Staehelin sagt, dass die Schüler «alleingelassen werden», wenn sie ihre Lernziele selbst wählen können. Dass das überfordert, kann nicht erstaunen. «Und dann wundert man sich», sagt die erfahrene Lehrerin, «dass immer mehr als förder- und therapiebedürftig eingestuft werden». Staehelin nennt diesen Zustand mittlerweile «tragisch», die «oberflächlichen Reformen», die die heutige Lage verursacht haben, hätten «das Selbstverständnis der Schule erschüttert».

Im Klassenzimmer von Christine Staehelin sind diese systemischen Probleme weit weg, und die (eigene) Gefühlslage aufgehellt, da kann es draussen so stark regnen, wie es will, hier agiert ein Kollektiv mit klaren Hierarchien. Die Lehrerin ist die Chefin, die Schüler haben zu folgen, werden aber für voll genommen.

Heute werde dies als «Frontalunterricht diskreditiert», sagt Staehelin, «die Klasse als Ganzes rückt aus dem Blickfeld, denn es muss auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse jedes Einzelnen eingegangen werden».

Lehrer und Lehrerinnen, die ihren Job gut können

In dieser 3. Klasse ist das anders, und es lässt sich nun wirklich nicht feststellen, dass auch nur ein Kind zu kurz käme, jedes hat in dieser Doppellektion mit der Lehrerin gesprochen, weiss, woran es ist, und macht so Fortschritte. Ob es nun stärker ist oder schwächer, besser Deutsch kann oder schlechter.

Das ist bildungspolitisch nicht die Hölle, sondern dem Himmel ziemlich nah, weil es Lehrerinnen und Lehrer gibt, die ihren Job gut können, die pädagogische Profis sind. Warum will man ihnen Systeme überstülpen, die ihnen das Leben so schwer machen?

Eine Lehrerin wie Christine Staehelin mag das aushalten. Viele weitere auch. Andere verlassen (frühzeitig) den Beruf.

Und den Schaden tragen am Ende sehr oft die Kinder. Unsere Zukunft.

 

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Die Bevölkerung hat dies schon längst verstanden https://condorcet.ch/2023/09/die-bevoelkerung-hat-dies-schon-laengst-verstanden/ https://condorcet.ch/2023/09/die-bevoelkerung-hat-dies-schon-laengst-verstanden/#comments Fri, 29 Sep 2023 10:29:15 +0000 https://condorcet.ch/?p=15037

Ein breit abgestütztes Komitee aus Mitte, FDP, GLP und Bildungsexperten möchte in den Zürcher Gemeinden bei Bedarf wieder Kleinklassen, also Förderklassen für Schüler mit besonderen Bedürfnissen, einführen. Yasmine Bourgeois, Schulleiterin, Condorcet-Autorin und FDP-Gemeinderätin in Zürich hat vergangene Woche mit zahlreichen Mitstreiterinnen und Mitstreitern die Initiative für die Wiedereinführung von Kleinklassen lanciert. Alain Pichard hat mit ihr gesprochen.

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Condorcet

Frau Bourgeois, die Initiative lässt es den Gemeinden offen, wieder Förderklassen einzuführen. Sie verpflichtet sie aber, diese bei Bedarf zur Verfügung zu stellen. Wer entscheidet über den Bedarf?

Yasmine Bourgeois, Zürich, Primarlehrerin, Schulleiterin, Gemeinderätin FDP und Mitinitiantin der Volksinitiative: Der Gegenwind stärkt die Flügel.

Yasmine Bourgeois

Das ist in der Regel die Schulpflege. Sie ist vor Ort und kennt die Verhältnisse, da sie mit Schulleitung und Lehrkräften laufend direkt in Verbindung steht.

Mit anderen Worten, die Gemeinden können auch auf die Einführung der Förderklassen verzichten?

Wenn kein Bedarf herrscht, ist das so. Die Initiative will den Entscheid den Leuten an Ort überlassen und respektiert die Gemeindeautonomie. Wenn aber ein Bedürfnis besteht, muss sie es tun.

Und was passiert, wenn die Förderklasse zwar eröffnet wird, die Eltern aber auf der integrierten Schulung bestehen?

Man kann die Eltern nicht zwingen. Ich bin aber überzeugt, dass sich viele Widerstände im direkten Gespräch lösen lassen werden. Die Förderklasse ist ja nicht nur als Entlastung für die Regelklassen und deren Lehrpersonal gedacht, sondern sie berücksichtigt vor allem auch die spezifischen Bedürfnisse der betroffenen Kinder.

Die Zuteilung in eine Förderklasse bringt den Kindern den dringend benötigten Schutzraum. Es geht hier keinesfalls um ein Abschieben.

Alain Pichard, Condorcet-Autor, führte das Gespräch.

Glauben Sie? Sie werden doch stigmatisiert, wenn sie in Förderklassen abgeschoben werden.

Die Zuteilung in eine Förderklasse bringt den Kindern den dringend benötigten Schutzraum. Es geht hier keinesfalls um ein Abschieben. Die Kinder erhalten eine angepasste Förderung, werden von Heilpädagogen unterrichtet und können verlässliche Beziehungen aufbauen. In vielen inkludierten Schulen erfahren die schwächeren und die verhaltensauffälligen Kinder eine alltägliche Stigmatisierung, was häufig auch der Grund für eine verstärkte Verhaltensauffälligkeit ist.

In der gegenwärtigen Debatte geht es ständig um die verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen. Sie verunmöglichen teilweise einen Unterricht und bringen die Lehrpersonen an den Rand der Belastbarkeit. Wenn ich Sie richtig verstehe, sollte es aber auch Kleinklassen für die schwächeren Schüler geben.

Ja, das ist meine Überzeugung. Denn grundsätzlich müssen die Kinder in der Schule optimal gefördert werden, also ihr Leistungsvermögen ausschöpfen können. Die Gefahr bei diesen Kindern, die sich oft sehr brav und unauffällig benehmen, ist, dass sie untergehen, weil die Lehrkraft viel zu wenig Zeit hat, sich ausgiebig um sie zu kümmern.

Verhaltensauffällige und schwache Kinder in eine einzige Kleinklasse zu versetzen, kann ja auch nicht die Lösung sein. Die schwächeren, aber willigen Kinder drohen unter die Räder zu kommen.

Diese Gefahr besteht immer, ist aber in der Regelklasse viel ausgeprägter. Die Initiative überlässt es den Behörden, hier die praktikablen Lösungen zu finden. Aber vergessen Sie nicht, diese zukünftigen Förderklassen werden von Heilpädagogen geführt, also von Profis, die genau für diese Situationen ausgebildet sind.

Im Prinzip haben wir im Kanton Bern dieses Modell, das Sie in Zürich einführen wollen, schon längstens. Die linke Stadt Biel zum Beispiel hat Kleinklassen und niemand in dieser Stadt will sie abschaffen. Warum tut man sich in Zürich so schwer mit diesem Anliegen?

Viele Lehrkräfte sowie ein Grossteil der Eltern – kurz ein grosser Teil der Bevölkerung – haben schon längstens eingesehen, dass die Verabsolutierung des Inklusionsgedanken ein Irrweg ist. Es ist diese Allianz von einem Teil der Wissenschaft, Politik und Verwaltung, die das noch nicht einsehen und handeln will.

Warum nicht?

Niemand gibt gerne zu, dass er sich geirrt hat…

Diese Studie bemängelt übrigens auch die Qualität vieler Studien. Viele sind Auftragsstudien. Die sind genauso mit Vorsicht zu geniessen, wie wenn der TCS eine Studie in Auftrag gibt, welche die Umweltwirkung von Tempo 30 widerlegen soll.

Immerhin zitieren die Leute dieser Allianz oft die Wissenschaft, nach der es klar sei, dass Inklusion nicht nur humanistisch eine gute Sache sei, sondern auch funktioniere.

Da muss ich Ihnen widersprechen. Erstens ist es nicht die Wissenschaft, sondern ein Teil der Studien, von mir aus auch eine Mehrheit, die zu diesen Befunden kommt. Ich empfehle Ihnen einmal die dänische Studie von Nina T. Dalgaard: «Die Auswirkungen der Inklusion auf

Nina Dalgaard, Bildungsforscherin Universität Kopenhagen.

schulische Leistung, sozioemotionale Entwicklung und Wohlbefinden der Kinder mit speziellen Bedürfnissen». Der Befund dieser Metastudie ist – ich zitiere: «Die Wirkung der Platzierung von Kindern mit speziellen Bedürfnissen der Stufen Kindergarten bis Schuljahr 12 in integrierte Klassen ist widersprüchlich [und uneinheitlich]. Erkenntnisse der Übersichtsstudie weisen darauf hin, dass Inklusion insgesamt das Lernen und die psychosoziale Anbindung der Kinder mit speziellen Bedürfnissen in den OECD-Ländern weder verstärkt noch abschwächt.»

Diese Studie bemängelt übrigens auch die Qualität vieler Studien. Viele sind Auftragsstudien. Die sind genauso mit Vorsicht zu geniessen, wie wenn der TCS eine Studie in Auftrag gibt, welche die Umweltwirkung von Tempo 30 widerlegen soll. Oft sind in den Studien auch Gelingensbedingungen formuliert, die nie diskutiert werden und die Forschungen sind meisten nicht „peer reviewed“, also von einer unabhängigen Fachinstanz eines Wissenschaftsmagazins überprüft. Und noch etwas: Die Studien beschränken sich auf die Effekte für Kinder mit speziellen Bedürfnissen. In integrierten Klassen gibt es jedoch eine heterogene Gruppe anderer, normal beschulbarer Kinder. Der eingeengte Blick auf die Benachteiligten schliesst den Aspekt der normal Beschulbaren und den Einbezug von deren Bedürfnissen oft aus, bzw. begnügt sich mit pauschalen Annahmen. Ich halte mich da an die Praxis, den Alltag, und den erlebe ich selbst als Schulleiterin.

Sie sind Mitglied der FDP und als Schulleiterin in der links-dominierten Zürcher-Schullandschaft fast noch seltener als der Apollo-Falter auf unseren Wiesen. Wie politisiert es sich aus dieser Minderheitsposition?

Man könnte mit einem ergänzenden Bild antworten. Der Gegenwind stärkt die Flügel. Man benötigt schon etwas dicke Haut Damit muss ich leben.

Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge und Buchautor:
Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge und Buchautor: Lernten uns durch den Condorcet-Blog kennen.

Schulleiterin, Mitglied des Gemeinderats, Initiantin einer Volksinitiative und Nationalratskandidatin der FDP… ist das nicht ein wenig viel?

Ja, das stimmt… Ab und zu ist die Belastung enorm. Ich habe ein gutes Umfeld und bin belastbar. Das hilft…

Sie sind Condorcet-Autorin, hilft Ihnen unser Bildungsblog auch?

Er liefert mir wertvolle Informationen und auch Kontakte. Den Heilpädagogen Bonfranchi, der bei unserer Initiative mitwirkt, oder den ehemaligen SP-Präsidenten in Basel, Roland Stark, der in Basel eine ähnliche Initiative lanciert und erfolgreich eingereicht hat, habe ich in Ihrem Blog kennengelernt. Und ja, das muss ich auch feststellen: Im Condorcet-Blog kommen beide Seiten zu Wort. Man erhält auch Gegeninformationen, was die Diskursfähigkeit stärkt.

Frau Bourgeois, wir danken Ihnen für das Gespräch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Mit der kantonalen Volksinitiative für Förderklassen wird ein heisses Eisen angepackt https://condorcet.ch/2023/09/mit-der-kantonalen-volksinitiative-fuer-foerderklassen-wird-ein-heisses-eisen-angepackt/ https://condorcet.ch/2023/09/mit-der-kantonalen-volksinitiative-fuer-foerderklassen-wird-ein-heisses-eisen-angepackt/#comments Mon, 25 Sep 2023 06:18:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=15021

Nun hat auch im Kanton Zürich ein überparteiliches Komitee in Sachen Inklusion die Reissleine gezogen. Eine von FDP und GLP lancierte Volksinitiative verlangt, dass es künftig wieder in allen Gemeinden heilpädagogisch betreute Kleinklassen gibt. Hanspeter Amstutz berichtet.

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Im Kanton Zürich kommt Bewegung in die erstarrte Politik bei der schulischen Integration. Mit einer kantonalen Volksinitiative zur Wiedereinführung von Förderklassen soll für die Schulen eine schon seit Jahren geforderte Entlastung geschaffen werden. Die zunehmenden  Klagen unzähliger Klassenlehrpersonen, die angeordnete Integration stark verhaltensauffälliger Schüler in die Regelklassen erschwere einen geordneten Schulbetrieb massiv, sind nicht mehr zu überhören. Auch Eltern reklamieren, dass das Störpotenzial einzelner Schüler konzentriertes Arbeiten der Lernwilligen in manchen Klassen beeinträchtige. Kaum Kritik gibt es hingegen gegenüber Kindern,
die durch eine geistige oder körperliche Behinderung den Regelklassen zugeteilt wurden. Hier besteht vielmehr die Schwierigkeit, dass diese Kinder im Rahmen eines normalen Schulprogramms in vielen Fällen nicht ausreichend gefördert werden können. Klassenlehrkräfte fühlen sich
überfordert, wenn sie einen sehr hohen Betreuungsaufwand für einzelne Kinder leisten und gleichzeitig anspruchsvolle Unterrichtsziele erreichen müssen.

Gastautor Hanspeter Amstutz, Starke Schule Zürich: Nach 17 Jahren des Experimentierens braucht es endlich praktikable Lösungen.

Seit der Einführung des neuen Volksschulgesetzes gilt das Dogma der Integration aller Kinder in die Regelklassen. Keine Schülerin und kein Schüler sollte durch separate Schulung ausgegrenzt und für den weiteren Lebensweg stigmatisiert werden. Was theoretisch gut tönt, hat sich allerdings in der Praxis als kaum zu bewältigende Aufgabe herausgestellt. Eigentlich müssten den Klassenlehrpersonen für die schulische Förderung integrierter Kinder gut ausgebildete Heilpädagoginnen zur Seite stehen. Doch die von Klasse zu Klasse eilenden Spezialistinnen sind oft nicht da, wenn es zu Wutausbrüchen oder Lernblockaden bei den Verhaltensauffälligen kommt. Es zeigt sich, dass das Modell der Totalintegration in stärker belasteten Klassen nicht funktioniert und die Lehrpersonen im Stich gelassen werden.
Die Initiative packt ein heisses Eisen an, indem sie das unselige Dogma der Verunglimpfung separativer Schulung infrage stellt. Im Volksschulgesetz besteht zwar die Möglichkeit, mit viel administrativem Aufwand eine Kleinklasse zu führen. Doch die Hürden mit psychologischen Abklärungen und finanziellem Mehraufwand sind so hoch, dass gerade noch in zwei Zürcher
Schulgemeinden Kleinklassen geführt werden. Man hat in der Bildungsdirektion und an der Schule für Heilpädagogik seit siebzehn Jahren gezielt darauf hingearbeitet, die Kleinklassen im ganzen Kanton abzuschaffen. Heilpädagoginnen werden für eine therapeutische Einzelbetreuung der Kinder ausgebildet und nicht mehr auf die Führung von Kleinklassen vorbereitet. Doch unterdessen
beklagen sich viele Heilpädagoginnen, dass der verzettelte Einsatz in mehreren Klassen aus pädagogischer Sicht für sie völlig unbefriedigend sei.

Der Scherbenhaufen der Totalintegration ist so gross, dass selbst die einstigen Befürworter des Modells zugeben, es sei zu viel schiefgelaufen.

Nach 17 Jahren des Experimentierens braucht es endlich praktikable Lösungen Der Scherbenhaufen der Totalintegration ist so gross, dass selbst die einstigen Befürworter des Modells zugeben, es sei zu viel schiefgelaufen. Linksstehende Politikerinnen fordern deshalb unisono den Einsatz von noch mehr Heilpädagoginnen in den Regelklassen und zusätzliche finanzielle Mittel. Doch die Forderung ist angesichts des Lehrermangels und des bereits arg strapazierten Budgets für die Sonderpädagogik absolut illusorisch. Auf etwas andere Weise streuen ideologische Verteidiger des Integrationsgedankens den Leuten Sand in die Augen, indem sie von neuen Versuchen mit Lerninseln sprechen. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn nicht wieder ein Absolutheitsanspruch für ein bestimmtes Fördermodell propagiert und die praktische Umsetzung einmal mehr verzögert würde.
Die Schulen haben jetzt siebzehn Jahre lang Zeit gehabt, um Integrationsmodelle zu entwickeln. In der Schulpraxis weiss man längst, was gescheitert ist und welche Alternativen zu Kleinklassen unter gewissen schulischen Bedingungen infrage kommen. Die Bildungspolitik hat in der Integrationsfrage versagt und sollte mit dem Verschiessen von weiteren Nebelpetarden endlich aufhören. Will man den Schulen ehrlich unter die Arme greifen, braucht es den Mut zu flexibleren Lösungen. Die Gemeinden sollen den Entscheid zwischen separativen und integrativen Fördermodellen selbst treffen können.

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System am Anschlag https://condorcet.ch/2023/07/system-am-anschlag/ https://condorcet.ch/2023/07/system-am-anschlag/#comments Sun, 30 Jul 2023 06:41:52 +0000 https://condorcet.ch/?p=14677

Im Kanton Basel-Stadt hat ein Komitée von Lehrpersonen eine Initiative zur Einführung von Förderklassen eingereicht. Die Integration aller Schülerinnen und Schüler werde von immer mehr Lehrkräften in Frage gestellt. Mit dabei unser Condorcet-Autor und ehemaliger SP-Parteipräsident der Stadt Basel, Roland Stark. Der Bericht von Gastautor Michael Zollinger ist in der Zeitschrift "profil" erschienen, dem Magazin der Schulverlag plus AG.

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Nicht alle Kantone setzten das Postulat gleich konsequent um. Während es etwa im Kanton Appenzell Innerrhoden noch flächendeckend Kleinklassen gibt, hat zum Beispiel der Kanton Basel-Stadt das System am konsequentesten umgesetzt und praktisch alle Angebote ausserhalb der Regelschule abgeschafft. Es dürfte daher kein Zufall sein, dass gerade im Stadtkanton jetzt besonders viel Bewegung in die Diskussion gekommen ist.

Initiative fordert Einführung von Förderklassen

Ein Komitee von Lehrpersonen hat im August 2022 die Förderklassen-Initiative eingereicht. Diese wird von der Freiwilligen Schulsynode (FSS), dem Berufsverband der Lehr- und Fachpersonen unterstützt. Sie fordert die Einführung von Förderklassen mit maximal 10 Schülerinnen und Schülern, die von Heilpädagoginnen oder Heilpädagogen oder von erfahrenen Lehrpersonen zusammen mit Fachpersonen aus der Sozialpädagogik unterrichtet werden. Dabei soll die minimale und maximale Dauer des Verbleibs von Kindern in einer solchen Klasse festgelegt, und die neuen Klassen sollen an den Standorten der Regel-schulen geführt werden. “Unser Ziel ist es, Kinder mit besonderen Bedürfnissen einerseits wieder umfassender fördern zu können und anderseits ein durchlässiges System zu gestalten”, erklärt Marianne Schwegler, Vizepräsidentin des FSS. Das aktuelle System stellt sie als erfahrene Heilpädagogin nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen in Frage. “In der Regel bin ich 3 bis 5 Lektionen pro Woche in einer Klasse.

Heilpädagogin Marianne Schwegler: “Der Weg zur Integration war und ist wichtig und richtig, aber man hat übers Ziel hinausgeschossen.” (Bild: Peter Würmli)

Es gibt Kinder, denen damit gut gedient ist. Andere brauchen aber viel mehr Unterstützung. In der restlichen Zeit muss das die Klassenlehrperson leisten, allenfalls zusammen mit einigen wenigen Stunden Klassenassistenz. Das überfordert viele”, sagt Marianne Schwegler. Die vielzitierte Chancengerechtigkeit sei so nicht gegeben. Wenn Kinder störten, belaste dies oft die ganze Klasse.

Für Marianne Schwegler – da geht sie mit den meisten Lehrpersonen einig – sind nicht die Kinder mit klaren Behinderungen das Problem, sondern jene mit sozialen und emotionalen Störungen, die aufgrund ihrer psychischen Belastung am Lernen gehindert werden. “Wir haben immer mehr Kinder mit deutlich eingeschränkten emotional-sozialen Kompetenzen, vermindertem Durchhaltevermögen und nur minimaler Frustrationstoleranz.” Es gehe jetzt darum, bei den Integrationsbestrebungen in der Schule wieder eine gesunde Balance herzustellen, damit Integration nicht plötzlich für zu viele zum Nachteil werde: “Wenn eine Mehrheit in der Klasse leidet, ist das schlecht für alle”, sagt Marianne Schwegler.

Gesellschaftliche Herausforderung für die Schulen

Klare Integrationsbefürworterinnen und -befürworter bringen gerne das Argument der Stigmatisierung ins Spiel, warum Kinder nicht mehr wie früher in separaten Klassen unterrichtet werden dürften. Wenn man Schülerinnen und Schüler während des Regelunterrichts separiere, sei dies mindestens ebenso stigmatisierend, kontert Marianne Schwegler.

“Wir haben immer mehr Kinder mit deutlich eingeschränkten emotional-sozialen Kompetenzen, vermindertem Durchhaltevermögen und nur minimaler Frustrationstoleranz.”

Heilpädagogin Marianne Schwegler

 

In den letzten Jahren sei die Schule mit zu vielen gesellschaftlichen Problemen konfrontiert, die sie allein nicht lösen könne. “Der Weg zur Integration war und ist wichtig und richtig, aber man hat übers Ziel hinausgeschossen. Es braucht wieder mehr Angebote für möglichst viele kindliche Bedürfnisse, und die Erziehungsberechtigten müssen ihren Teil der Verantwortung wieder stärker übernehmen.” Auch Roland Stark engagiert sich für die Förderklassen-Initiative.

Für Marianne Schwegler und Roland Stark ist man bei der Integration übers Ziel hinausgeschossen. (Bild: Peter Würmli)

Wie viele andere Heilpädagoginnen und -pädagogen war er von allem Anfang an skeptisch gegenüber der umfassenden Integration. Roland Stark ist pensioniert und unterrichtete während 43 Jahren Kleinklassen in Basel. “Wir müssen das heutige System unbedingt aufweichen und von der Vorstellung wegkommen, dass wir alle Kinder in jedem Stadium integrieren können.” Die Schule sei zurzeit viel zu hektisch mit den vielen Lehr- und Fachpersonen sowie Klassenassistenzen. “Da geht es zu wie am Bahnhof zur Rush Hour. Es ist ein Kommen und Gehen. Viele Klassen haben bereits auf der Primarstufe sieben oder acht Lehrpersonen. Unser Schulsystem stiftet Unruhe, statt eine Atmosphäre für ruhiges und konzentriertes Arbeiten zu schaffen.”

Ideologisierte Debatte

Für Roland Stark ist es eine Schönwettervorstellung, dass die paar Lektionen Heilpädagogik und Klassenassistenzen für eine halbwegs adäquate Unterstützung reichten. So könne man schlicht nicht unterrichten. Das höre er von immer mehr Lehrpersonen. In Basel habe sich die Zahl der Kinder, die zusätzliche Unterstützung bräuchten, in den letzten fünf Jahren verdoppelt. Auch für ihn sind die diagnostiziert beeinträchtigten Kinder nicht der Knackpunkt.

Viel mehr Mühe machten die vielen normal Intelligenten, die aufgrund von sozialen und emotionalen Schwierigkeiten oder sprachlichen und kulturellen Nachteilen am Lernen gehindert würden und deshalb die Leistung nicht erbringen können und/ oder andere stören. “Die heutige integrative Schule bietet nur ein ungenügendes und für alle Beteiligten oft frustrierendes Angebot”, sagt der Heilpädagoge. Roland Stark, ehemaliger Präsident der SP der Stadt Basel, stört sich an der ideologisierten, von Realitätsverlust geprägten Form der Debatte. “Es passt zum heilen, linken Weltbild, dass nur die vollständige Integration der richtige Weg ist.”

“Wir müssen das heutige System unbedingt aufweichen und von der Vorstellung wegkommen, dass wir alle Kinder in jedem Stadium integrieren können.”

Roland Stark, ehemaliger Kleinklassenlehrer

 

Zahlreiche Zuschriften von früheren Schülerinnen und Schülern aus seinen Kleinklassen bestätigen ihm, dass man dort vielen Kindern besser gerecht worden sei. Es sind eindrückliche Dankesbriefe von heute gestandenen, glücklichen Eltern und erfolgreichen Berufsleuten. Sie bedanken sich für die gezielte Unterstützung, die sie einst in der Kleinklasse erfuhren und betonen, wie wichtig dies für ihre Entwicklung war.

Ehemaliger Kleinklassenlehrer Roland Stark: “Unser Schulsystem stiftet Unruhe, statt eine Atmosphäre für ruhiges und konzentriertes Arbeiten zu schaffen.” (Bild: Peter Würmli)

Geteilte Meinungen in Zürich

Auch Yasmine Bourgeois findet dezidiert, dass die Integration so nicht mehr funktioniert. Die ausgebildete Primar- und Sekundarlehrerin ist seit eineinhalb Jahren Schulleiterin in einer Stadtzürcher Primarschule. “Seit ich Schulleiterin bin, ist diese Einsicht bei mir nur noch gewachsen, weil ich jetzt mit allen Problemen unserer Schule konfrontiert bin”, sagt sie. Man könne weder den verhaltensauffälligen Kindern noch jenen mit schulischen Problemen oder denjenigen, die lernen möchten und normal begabt seien, gerecht werden. Oftmals seien die Kinder mit Sonderschulstatus ausgestellt und eben gerade nicht gut integriert.

Das System löse eine Kettenreaktion aus mit immer mehr Elterngesprächen, endlos vielen Absprachen innerhalb der pädagogischen Teams und mit den zugezogenen Fachleuten. Schulinseln, wie sie die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner als wichtige Unterstützungsmassnahme propagiert hat, sind für Yasmine Bourgeois, die für die FDP im Zürcher Gemeinderat sitzt, ein Tropfen auf den heissen Stein. “So sind die Kinder zwar für ein paar Stunden, vielleicht einmal für eine Woche, zur Entlastung aus der Klasse. Aber eine mittel- oder langfristige Lösung ist das nicht.” Den Ansatz in Basel fände sie auch für den Kanton Zürich richtig, weshalb sie sich für die flächendeckende Wiedereinführung von Klein- oder Förderklassen ausspricht.

ZLV verlangt mehr Ressourcen

Doch wie ist die Haltung der organisierten Zürcher Lehrerinnen und Lehrer? Für den Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband steht der Weg zurück zu Kleinklassen nicht im Vordergrund.

“Die Integrationsbegeisterung geht klar zurück, und zwar nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land.”

Roland Stark, Heilpädagoge

 

“Der ZLV anerkennt die Forschungsergebnisse zur Integration, die klar darauf hindeuten, dass eine integrative Schule für die allermeisten Kinder Vorteile bietet. Im Einzelfall braucht es trotzdem manchmal separative Massnahmen”, erklärt Christian Hugi, Präsident des ZLV. Das sei kein Widerspruch. In der Regel sei die Integration von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten am aufwendigsten und auch am belastendsten, meint auch er. Zentral sei aber, dass der System-Rahmen stimme. Hugi fordert mehr zeitliche und personelle Ressourcen, damit die Lehr- und Fachpersonen einen individuellen Unterricht auch tatsächlich leisten können, ohne auszubrennen.

Auch die Klassengrösse müsse man anschauen. Als Richtgrösse empfiehlt der ZLV 20 Kinder. Zudem brauche es mehr Teamteaching, Halbklassenunterricht und ausreichend heilpädagogisches Personal.

Bevölkerung ist zunehmend kritisch

Derweil ist man in Basel zuversichtlich, dass die Förderklassen-Initiative im Falle einer Abstimmung gute Chancen hätte. “Die Integrationsbegeisterung geht klar zurück, und zwar nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land”, beobachtet Roland Stark. Auch im Kanton Zürich scheint die Stimmung in der Bevölkerung allmählich zu kippen. 18 Jahre nach dem Ja zum neuen kantonalen Volksschulgesetz im Jahr 2005, im Rahmen desselben auch die schulische Integration beschlossen wurde, scheint eine Mehrheit nicht mehr von den Vorteilen der schulischen Integration überzeugt zu sein. Zumindest ergab dies kürzlich eine Umfrage, die das Forschungsinstitut GfS Bern im Auftrag der NZZ durchgeführt hatte. Zwei Drittel der Befragten gaben an, dass sie wieder Kleinklassen einführen und sich vom Prinzip der integrativen Förderung abwenden wollen.

UNO-Menschenrechtskonvention von Salamanca mit Interpretationsspielraum

Befürworterinnen und Befürworter der Integration ziehen häufig die UNO-Menschenrechtskonvention von Salamanca aus dem Jahr 1994 als Argument heran, warum die Integration möglichst aller Kinder in Regelklassen der einzig richtige Weg sei. Die Salamanca-Erklärung war die Grundlage für die Uno-Behindertenrechtskonvention von 2006. “In der Konvention steht an keiner Stelle, dass Sonderschulen als spezifische Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Defiziten abgeschafft werden müssen”, kritisiert Roland Stark, pensionierter Heilpädagoge aus Basel. Ein weiteres Missverständnis basiere auf einem Übersetzungsfehler. So sei damals “general education system” fälschlicherweise mit dem deutschen “allgemeine Schulen” übersetzt worden statt korrekterweise mit dem Begriff “allgemeinbildendes Schulsystem” im Unterschied zu den berufsbildenden Schulen.

Roland Stark ist mit seiner Einschätzung nicht allein. Beat Kissling, Erziehungswissenschaftler, langjähriger Lehrer und Dozent an Schweizer Lehrbildungsinstitutionen, kommt in seinem Buch “Sind Inklusion und Integration in der Schule gescheitert?” ebenfalls zum Schluss, dass die UNO-Konvention keineswegs eine vollständige Inklusion postuliere resp. Kleinklassen per se ausschliesse.

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