Universität - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 29 Jul 2023 15:49:56 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Universität - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Die Geschichte eines Sprechverbots: An der Uni wird wieder der bestraft, der anders denkt https://condorcet.ch/2023/07/die-geschichte-eines-sprechverbots-an-der-uni-wird-wieder-der-bestraft-der-anders-denkt/ https://condorcet.ch/2023/07/die-geschichte-eines-sprechverbots-an-der-uni-wird-wieder-der-bestraft-der-anders-denkt/#comments Sat, 29 Jul 2023 15:49:56 +0000 https://condorcet.ch/?p=14663

Der Condorcet-Blog wurde seinerzeit gegründet, weil seine Initiatoren der Meinung waren, es werden in den Medien, in den PH’s, in der Verwaltung und in den Parteien nicht mehr alle Meinungen abgebildet oder zugelassen. Ausserdem würde sehr oft versucht, umstrittene Personen mit „Kontaktschuld“ und Etikettierung aus dem Diskurs fernzuhalten. Vier Jahre nach der Gründung unseres Bildungsblogs müssen wir feststellen, dass die Problematik der „Cancel culture“ um sich greift. Wenn verlangt wird, dass Professorinnen, die sogenannt missliebige Studien veröffentlichen, von ihrer Fakultät entlassen oder namhafte Wissenschaftler mit unpopulären Meinungen am Auftreten gehindert werden, müssen wir das klar benennen und uns dagegen wehren. Es widerspricht unseren Prinzipien einer offenen und freien Debatte. Von Anfang an suchten wir immer den Dialog mit Persönlichkeiten, die auch andere Überzeugungen haben und bemühten uns um das Prinzip „Rede und Gegenrede“. In keinem Milieu gedeiht die Einengung des Diskurses so prächtig wie an den Universitäten. Das Verrückte dabei ist: Niemand ist in Deutschland und in der Schweiz so abgesichert wie ein auf Lebenszeit berufener Hochschullehrer. Es kann ihm nichts passieren, wenn er sich querlegt oder einfach nur das macht, was er für richtig hält. Und dennoch ziehen alle sofort den Kopf ein, wenn Ärger droht. Jan Fleischhauer berichtet im Fokus von einem Fall an der Uni Erlangen.

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Von der Cancel Culture behaupten einige Leute hartnäckig, es gebe sie gar nicht. Was ist dann bloß an der Universität Erlangen passiert, wo gerade einer der bekanntesten Althistoriker Deutschlands ausgeladen wurde? Die Alte Geschichte ist eine stille Wissenschaft. Die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigt, sind seit Langem tot. Tote Völker, tote Steine, tote Sprachen. Nichts, womit man Aufregung oder gar Empörung auslösen könnte. Sollte man meinen.

Gastautor Jan Fleischhauer

Wie man sich doch täuschen kann. Vor zwei Wochen war der Althistoriker Egon Flaig an die Universität Erlangen eingeladen, um mit einem Abendvortrag ein Symposium zum Thema „Freiheit“ zu eröffnen. Flaig ist einer der wenigen Vertreter seines Fachs, die auch außerhalb der Fachwelt bekannt sind. Bis zu seiner Emeritierung hatte er den Lehrstuhl für Alte Geschichte in Rostock inne, noch immer ist er regelmäßig in großen Zeitungen mit Aufsätzen vertreten.

Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität.

Vor wenigen Monaten erst erschien von ihm ein viel beachteter Text, mit dem er sich in die Postkolonialismus-Debatte einmischte. Flaig wies in dem Artikel darauf hin, dass der Sklavenhandel nicht nur weiße, sondern auch schwarze Täter kannte – und auch weiße Opfer. Eine Million Europäer haben die Araber in die Sklaverei geführt, eine Zahl, die zeigt, dass der Wunsch nach historischer Wiedergutmachung nicht so leicht zu erfüllen ist, wie manche meinen.

Was wäre ein besserer Ort, um über historische Perspektiven zu debattieren, als eine Hochschule? Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität.

Was wäre ein besserer Ort, um über historische Perspektiven zu debattieren, als eine Hochschule? Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität. Dafür wird die akademische Welt vom Staat mit viel Geld ausgestattet. Dafür genießen Professoren eine materielle Absicherung, die ihresgleichen sucht.

Universität zieht Einladung zurück

Eine Woche vor dem geplanten Auftritt in Erlangen erreichte Flaig ein Schreiben des Professors, der ihn eingeladen hatte, des Archäologen Andreas Grüner. Mit dem größten Bedauern sehe er sich gezwungen, die Einladung zurückzuziehen, schrieb Grüner.

Was war geschehen? Das fragte sich auch Flaig und bat um Rückruf. Am Telefon darauf: Ein zerknirschter Kollege, der beteuerte, wie leid ihm alles tue. Man habe sich schon sehr auf den Vortrag gefreut, aber dann habe sich der Dekan der Universität eingeschaltet, ob man wirklich einem wie Flaig eine Plattform bieten wolle?  In einem weiteren Schreiben aus dem Dekanat hieß es, das Meinungsbild innerhalb der Fakultät sei eindeutig. Die Gründe? Im Unklaren.

Professor fürchtet sich vor „Repressalien“

Auf Flaigs Hinweis, als Professor stehe Grüner doch frei zu entscheiden, wen er einlade und wen nicht, bat dieser noch einmal um Entschuldigung. Er müsse an die jungen Leute denken. Würde er bei seiner Einladung bleiben, würde das möglicherweise Kreise ziehen und die wissenschaftlichen Mitarbeiter Repressalien aussetzen. Es täte ihm furchtbar, furchtbar leid, aber ihm bleibe keine andere Wahl.

Der Kolumnist Harald Martenstein hat neulich darauf hingewiesen, dass es sich bei der Cancel Culture wie mit der Stadt Bielefeld verhält, von der Spaßvögel auch behaupten, es gebe sie gar nicht.  Parallel zur Praxis der Cancel Culture hat sich ein regelrechter Wissenschaftszweig etabliert, der die Cancel Culture als Hirngespinst betrachtet. Wäre der Begriff nicht schon anderweitig vergeben, würde man von Cancel-Culture-Leugnern sprechen.

Ist die Cancel Culture doch nur Einbildung?

Der bekannteste Vertreter der neuen Profession ist der Literaturwissenschaftler Adrian Daub. Daub hat ein ganzes Buch vorgelegt, dass die Cancel Culture zu einem Missverständnis erklärt. Es wollten heute halt auch Leute mitreden, die bis eben noch ausgeschlossen gewesen seien, Frauen, Schwarze, Transmenschen. Das führe bei den etablierten Diskursanführern zu einem Störgefühl, das sie mit Cancel Culture verwechselten. Alles also Einbildung? Ich neige in der Sache eher zu Martenstein. Dafür laufen da draußen, wie er sagen würde, nicht nur zu viele Bielefelder, sondern auch Gecancelte herum.

Die akademische Welt ist derzeit der heißeste Frontabschnitt im Kampf um die Meinungsfreiheit. Der Fall Flaig ist dabei so interessant, weil er die Grenze verschiebt, von der offenen Auseinandersetzung ins Heimliche und Verdeckte. Bis heute ist unklar, woher die Initiative zur Ausladung kam. War es der AStA, der sich beschwerte? Oder ein Kollege, der fand, dass jemand, der daran erinnert, dass der Sklavenhandel auch schwarze Nutznießer hatte, nicht nach Erlangen passt?

Die akademische Welt ist derzeit der heißeste Frontabschnitt im Kampf um die Meinungsfreiheit.

Oder war es am Ende eine einsame Entscheidung des Dekans, der schlechte Presse fürchtete? All das liegt im Unklaren. Es gibt noch nicht einmal eine Begründung, weshalb Flaig in Erlangen unerwünscht ist. Publik gemacht hat den Fall der ehemalige SPD-Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern Mathias Brodkorb. „Akademischer Suizid?“ lautete die Überschrift seines Artikels in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Heute ist das ein Todesurteil

Aber auch Brodkorb gegenüber wollte die Universität nicht sagen, warum sie ihren Gast wieder ausgeladen hat. Der Dekan beruft sich auf Vertraulichkeit. Das ist nicht nur feige – dem Betroffenen wird so jede Möglichkeit genommen, sich gegen die Rufschädigung zur Wehr zu setzen. Wie soll man sich gegen einen Vorwurf verteidigen, den man nicht kennt?

Man darf sich nicht vertun: Eine Ausladung wie die in Erlangen hat Folgen. Andere Fakultäten werden sich gut überlegen, ob sie noch eine Einladung aussprechen. Es braucht nicht viel, um sich das Gespräch vorzustellen. „Ach, muss es der XY sein? Der ist doch so umstritten. Lass uns jemand anderes nehmen.“ Die Zeit, als umstritten zu sein, noch ein Grund war, jemanden erst recht zu bitten, ist lange vorbei. Heute ist das ein Todesurteil.

Universitäten legen den freien Diskurs in Ketten. Auch jenen über den Sklavenhandel.

Das ist das Gemeine: Wenn man gar nicht erst eingeladen wird, braucht es anschließend keine Ausladung mehr. Dann ist man gecancelt, ohne beweisen zu können, dass man gecancelt wurde. Genauso ist es auch bezweckt. Es versteht sich von selbst, dass alles im Namen der Meinungsfreiheit geschieht. Die Suspendierung der Freiheit, um die Freiheit zu garantieren, das ist der eigentliche Twist.

Vor Jahren erhielt ich einen Anruf meines Freundes Henryk M. Broder, ob ich am nächsten Tag in London sein könne. Die „German Society“ an der London School of Economics hatte Broder, den langjährigen „Spiegel“-Kulturchef Hellmuth Karasek und den gerade als Bestsellerautor hervorgetretenen Bundesbanker Thilo Sarrazin zu einer Podiumsdiskussion eingeladen.

Eigentlich hätte die damalige ZDF-Korrespondentin die Diskussion moderieren sollen, aber die hatte plötzlich kalte Füße bekommen. Also saß ich am kommenden Tag im Flugzeug. Am Nachmittag fand ich mich mit dem gut gelaunten Broder und seinen beiden Mitstreitern vor Ort ein. Doch dann trat ein Vertreter der Universität an uns heran.

„Free Speech Aktivisten“ schaden dem freien Diskurs

Die „Free Speech Group“ der London School of Economics hatte Protest angemeldet. Sarrazin und Broder seien „Provokateure“, deren „Unwissenschaftlichkeit“ dem freien Diskurs schade. Dem Argument folgend, dass die Ausübung der freien Rede nachteilige Folgen haben könne, hatte die Verwaltung die Nutzung des Hörsaals untersagt.

Die Diskussion fand dann doch noch statt, im Ballsaal des nahe gelegenen „Waldorf Hilton“. Der Vorsitzende der German Society Marc Fielmann, Sohn des bekannten Brillenhändlers, verfügte über die nötigen Kontakte. So war es am Ende eine Hotelkette, die die Ausübung der Meinungsfreiheit sicherstellte, gegen die Free-Speech-Aktivisten.

So war es am Ende eine Hotelkette, die die Ausübung der Meinungsfreiheit sicherstellte, gegen die Free-Speech-Aktivisten.

Der deutsche Professor war noch nie ein großer Kämpfer für die Freiheit. Man soll mit historischen Vergleichen vorsichtig sein, aber an dieser Stelle muss man es vielleicht doch erwähnen:  Als die deutsche Professorenschaft 1934 aufgefordert wurde, einen Eid auf Adolf Hitler abzulegen, gab es lediglich zwei Hochschullehrer, die diesen verweigerten. Der eine war der Theologe Karl Barth, der war allerdings Schweizer. Der andere war Kurt von Fritz, Professor für Altgriechisch an der Universität Rostock.

Manchmal lohnt es, sich vorzustellen, wie sich Menschen in einer anderen Zeit in einem anderen System verhalten hätten. Wer in Erlangen studiert, hat nun eine begründete Vermutung, was seine Professoren, angeführt von dem Dekan Rainer Trinczek, angeht.

 

Lesen Sie dazu auch: https://condorcet.ch/2023/05/die-ethnologin-susanne-schroeter-steht-unter-druck-wissenschaft-ist-auch-eine-charakterfrage/

 

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Trotz “Outputorientierung” – keine Wirkung https://condorcet.ch/2023/07/trotz-outputorientierung-keine-wirkung/ https://condorcet.ch/2023/07/trotz-outputorientierung-keine-wirkung/#comments Sun, 09 Jul 2023 06:06:24 +0000 https://condorcet.ch/?p=14514

In seinem achten Sonntagseinspruch für den Condorcet-Blog beschäftigt sich Professor Wolfgang Kühnel mit den Mathematik-Kenntnissen der angehenden Studentinnen und Studenten in den Mint-Fächern. Kein neues Thema, aber die kursierenden Vorschläge, wie man aus dieser Misere herauskommt, werden von Professor Kuehnel in bekannter Manier seziert.

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Liebe Condorcet-Leserinnen und –Leser,

Heute geht es mal um die Mathematik, dieses Thema liegt mir besonders am Herzen. Schon länger wurde an Hochschulen übereinstimmend  festgestellt, dass die Erstsemestler in den MINT-Fächern weniger werden und dann auch noch massive Defizite bei ihren Kenntnissen der sogenannten “Schulmathematik” zeigen. Was Schulmathematik genau ist, steht in Deutschland heutzutage in den KMK-Bildungsstandards (die auch vielfach kritisiert werden).

Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Wie bekommt man mit massiven Wissenslücken ein Abitur?

Aber wenn nur alle Abiturienten diese beherrschten, dann wäre die Situation immerhin weniger schlecht. So aber ist schon die Bruchrechnung (üblicherweise im 6. Schuljahr zu behandeln) ein Problem, der Dreisatz und Termumformungen auch und etliches mehr.

Die drei Fachkollegen V.Bach, A.Krieg (Prorektor Lehre an der RWTH Aachen) und R. Seiler haben nun in der F.A.Z einen radikalen Vorschlag unterbreitet, wie man dieses Problem angehen sollte:

https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/vorbereitende-mathe-kurse-gegen-fallende-mint-studentenzahlen-18980428.html

Ich werde die entscheidenden Passagen wörtlich zitieren. Am Anfang gibt man sich einsichtig und stellt fest: “Wissenslücken, die sich in der Schule über viele Jahre zu Lerndefiziten aufbauen, sind schwer aufzuholen. Mathematikdozenten identifizieren insbesondere einen Mangel an Grundfertigkeiten, wie Bruchrechnung oder Termumformungen, als zentrales Problem.”

Das klingt eigentlich danach, als müssten die Schulen dem gegensteuern. Schließlich hat man ja offiziell eine “Outputorientierung”, also müsste der “Output” bei den Schülern verbessert werden, eben damit sich die Wissenslücken nicht über Jahre aufbauen. Unbeantwortet bleibt die Frage:

Wie bekommt man mit massiven Wissenslücken ein Abitur?

Abiturientenquote: In den letzten 50 Jahren von 15 Prozent auf 40 Prozent gestiegen.

Aber weiter heißt es: “die angewachsene Abiturientenquote, die in den letzten 50 Jahren von 15 Prozent auf 40 Prozent der Schülerschaft gestiegen ist, hat zu einer geringeren Selektion geführt. Sie ist eine wesentliche Ursache der Probleme.”

Tja, aber wann wurden denn die “outputorientierten  KMK-Bildungsstandards” eingeführt? Doch nicht vor 50, sondern vor 20 Jahren, die KMK-Abiturstandards für Mathematik erst am 18.10.2012, die waren doch auf die Abiturquote von 2012 ausgelegt, und in 10 Jahren stieg die nicht so gewaltig.

Das ist schon der erste Punkt an Unlogik, weitere werden folgen.

Kurz darauf heißt es: “Kultusministerien und Lehrkräfte an Schulen bestehen darauf, dass Hochschulen nicht mehr Vorkenntnisse von Studienanfängern fordern dürften, als in den KMK-Bildungsstandards vorgesehen ist.”

Seit wann bestimmen denn Kultusministerien und “Lehrkräfte an Schulen” darüber, was Hochschulen verlangen dürfen? Das ist der zweite Punkt an Unlogik. Und selbst wenn man dies akzeptierte, dann dürften die Hochschulen doch wenigstens die offiziellen Bildungsziele verlangen. Die aber kommen nicht in den Köpfen der Abiturienten an, ohne dass das je von den schulischen Autoritäten zugegeben wird, ein dritter Punkt an Unlogik.

Parteipolitiker verkünden eine “exzellente Bildung”, die unsere Schulen in der “Bildungsrepublik” vermitteln sollen. Aber man  kapituliert offenbar schon davor, dass die “verbindlich” gelehrte Bruchrechnung einfach nicht in den Köpfen ankommt.

Dabei wurden diese KMK-Bildungsstandards von ihren Befürwortern hoch gelobt, endlich sei das mal bundeseinheitlich formuliert und zudem auch verbindlich” und eben “outputorientiert” statt — wie vorher — “inputorientiert”.

Parteipolitiker verkünden eine “exzellente Bildung”, die unsere Schulen in der “Bildungsrepublik” vermitteln sollen. Aber man  kapituliert offenbar schon davor, dass die “verbindlich” gelehrte Bruchrechnung einfach nicht in den Köpfen ankommt.

Weil die Misere sich ja schon vor Jahrzehnten als “schwarze Wolke am Horizont” abzeichnete, hat man allerorten sogenannte “Vor- und Brückenkurse” eingerichtet, die früher mal die Inhalte vermittelten, die im Schulunterricht oft nichtvorkamen, aber z.B. im Mathematik- oder Physikstudium erwartet wurden. Heute versuchen diese Kurse — salopp gesagt — im Durchlauferhitzerverfahren den Studienanfängern das einzutrichtern, was die eigentlich in 12-13 Jahren in der Schule hätten lernen sollen. Dass es ohne diese Kurse nicht mehr geht, ist schon länger allgemeine Überzeugung, es gibt schon dicke Bücher dazu, siehe:

https://www.mathematik.de/dmv-blog/376-ein-buch-zum-uebergang-schule-hochschule-versuch-einer-rezension

Mathematik-Defizite an den Unis machen Vorkurse nötig

Aber die Wirkung dieser Kurse scheint auch begrenzt zu sein. “Sofern kein Mangel an Studienplätzen einen Numerus Clausus erfordert, dürften folglich weder Eignungsprüfungen noch andere Auswahlverfahren vor Studienbeginn stattfinden. Außerdem dürfen keine Vorleistungen wie das Absolvieren von Vorkursen verpflichtend sein.”

Das ist der vierte Punkt an Unlogik: Die KMK-Bildungsstandards dürfte man ja ohne “wenn und aber” voraussetzen, und wenn man dann so freundlich ist, deren Wiederholung in Vorkursen gesondert anzubieten, dann kann es dennoch den armen Studenten nicht zugemutet werden, das auch wahrzunehmen, falls nötig?

Das setzt dem dann noch die Krone auf, die Mathematik in den MINT-Studiengängen soll entfachlicht werden, nur weil die Schulen wegen der dortigen Entfachlichung es nicht schaffen, die “neue” Schulmathematik nach TIMSS und PISA auch zu vermitteln.

Das verstehe wer will. Heute liegen in Deutschland zwischen Abitur und Vorlesungsbeginn meist etwa vier Monate (Juni bis Oktober).

Ich bin damals ohne jeden Vorkurs an die Universität gegangen, aber in dem Bewusstsein, dass das kein bequemer Spaziergang wird. Jeder darf sich ja jederzeit auch auf eigene Faust vorbereiten und sich das ansehen, was ihm vielleicht fehlen könnte.

Der Lehrplan wird de facto ausgehebelt.

Und in Zeiten des Internets gilt das natürlich erst recht, also gibt’s jetzt auch Online-Brückenkurse, aber auch deren Inhalt darf offenbar nicht verpflichtend verlangt werden. Im Gegenteil, es folgt eine Feststellung der drei Autoren, die den Spruch “Ich glaub’, mich tritt ein Pferd” rechtfertigen könnte:

“Vor- und Orientierungskurse an Hochschulen sollten fest im regulären Studium integriert werden, einschließlich Noten und Kreditpunkten, selbst wenn sie bereits im Lehrplan vorgesehene Schulinhalte wiederholen.”

Das ist der fünfte Punkt an Unlogik. Der Lehrplan wird de facto ausgehebelt, und noch mehr: Dieser Satz dokumentiert das ultimative Scheitern einer Schulmathematik, die doch nach TIMSS und PISA im großen Stil verändert und “modernisiert” wurde, um die “Herausforderungen des 21. Jahrhundertes meistern zu können”.

Für das Beherrschen der Schulmathematik bekommt man Schulnoten und schließlich ein Abitur, und für dieselben Inhalte gibt’s dann an den Hochschulen weitere Noten und ECTS-Leistungspunkte. Und zusätzlich ist das gegenüber den Inhalten von Schulbüchern der Zeit vor 50 Jahren ohnehin stark abgespeckt.

“Um dies in das Studium einzubinden, könnte es erforderlich sein, einige fortgeschrittene Lehrveranstaltungen zu streichen.”

Das setzt dem dann noch die Krone auf, die Mathematik in den MINT-Studiengängen soll entfachlicht werden, nur weil die Schulen wegen der dortigen Entfachlichung es nicht schaffen, die “neue” Schulmathematik nach TIMSS und PISA auch zu vermitteln.

Den von den drei Autoren als “hochwertig” empfohlenen (und wohl sogar verfassten) Online-Brückenkurs OMB+ kann jeder ohne Anmeldung komplett ansehen, siehe:

https://www.ombplus.de/ombplus/public/index.html

Das ist Niveaulimbo

Dann oben auf “Direkt zum Kurs” klicken, da kann man alle Kapitel einzeln anklicken und auch herunterladen, zusammen sind das über 1000 Seiten.Es werden auch Themen behandelt, die üblicherweise kurz nach der Grundschule drankommen, etwa “wie verwandelt man einen Bruch in einen Dezimalbruch oder umgekehrt”. Die Multiplikation und Division zweier reeller Zahlen dagegen wird nicht erklärt, sie ist wohl zu schwierig und in Zeiten des Taschenrechners auch entbehrlich. Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung ist auf das Niveau von Schulbüchern reduziert, und die Ableitung der Sinusfunktion wird nur mit einem Bildchen begründet, so wie heute in Schulbüchern üblich. Das fachliche Niveau von OMB+ ist ausgesprochen niedrig, viele Rechenaufgaben, “Mathematik für Dummies” mit dem “Niveaulimbo” (neudeutsch) jetzt auch an der Universität.

Aber es kommen ja noch allzu-menschliche Probleme hinzu.

Tatsächlich beklagen auch die Autoren: “Der Übergang von der Schule in die Hochschule verlangt von Studenten einen Sprung in die Eigenverantwortlichkeit, die viele überfordert.”

Da kommen einem ja die Tränen, andererseits war genau dies schon immer so, seit es Universitäten gibt. Spott über die Bummelstudenten, die eigentlich gar nicht studieren, sondern sich amüsieren, gab es in den letzten 200 Jahren schon reichlich.

Hier ein Witz aus einem Satireblättchen der Zeit um 1900:

“Jemand sucht in einer fremden Stadt die Universität und hat sich verlaufen. Er spricht zwei junge Leute an, die wie Studenten aussehen und das auch sind. Er fragt: “Wo finde ich die Universität?” Der erste ist etwas verlegen und meint ‘ja wissen Sie, ich bin erst im 3. Semester, und da habe ich das noch gar nicht mitbekommen’, dann zeigt er auf den anderen. Aber der andere kommt ebenfalls in Verlegenheit und sagt ‘ich bin schon im 30. Semester, und da habe ich das schon wieder vergessen’.”

Resigniert stellen sie dann fest: “Hilfsmaßnahmen für Schule und Studium bewirken jedoch nichts, wenn sie nicht genutzt werden.”

Also neu ist das Problem einer übermäßig überdehnten akademischen Freiheit gewiss nicht. Warum soll das gerade heute in Zeiten vom “Hamster im Laufrad” in Bachelor-Studiengängen so gravierend sein? Haben wir nicht schon genug “Verschulung” im Studium, auch ohne formelle Anwesenheitspflicht (die es früher übrigens auch nicht gab) ?

Soll man die Studenten betreuen wie Kleinkinder oder neben jeden noch einen Sozialpädagogen setzen?

Auch die Autoren geben zu, das es viele Unterstützungsmaßnahmen an Hochschulen gibt, dass die aber nicht wahrgenommen werden. Sie schreiben: “Die Freiheiten, die sich aus diesen Regelungen ergeben, werden ausgerechnet von denjenigen genutzt, für die die Anwesenheit in Lehrveranstaltungen und kontinuierliche Mitarbeit besonders wichtig wäre.”

Resigniert stellen sie dann fest: “Hilfsmaßnahmen für Schule und Studium bewirken jedoch nichts, wenn sie nicht genutzt werden.”

Und was ist die logische Konsequenz? Soll man die Studenten betreuen wie Kleinkinder oder neben jeden noch einen Sozialpädagogen setzen?

Auch wenn dieser Vorkurs Teil des Studiums wird, dann kann dieser Teil natürlich auch geschwänzt werden. Auf den Mensatischen liegen dann Angebote für “klausurorientierte Paukkurse ohne Theorie”, natürlich gebührenpflichtig.

Andererseits: Streben nicht gerade die neuen Bildungsziele das selbständige Lernen schon in der Schule an?

An Rhetorik dazu fehlt es jedenfalls nicht. Anwesenheitspflicht ist doch ohnehin entbehrlich in Zeiten der totalen Digitalisierung: Jeder sitzt vor einem Bildschirm und beschäftigt sich mit der Lernsoftware, um seine Kompetenzen zu steigern und die automatisierte Online-Prüfung zu bestehen. Alles wird dabei überwacht von IT-geschulten Lernbegleitern. Schöne neue Welt.

Fassen wir zusammen:

Die “verbindlichen” Bildungsstandards im Fach Mathematik kommen in den Köpfen der Schüler nicht an, und um dem abzuhelfen, wird erst ein Vorkurs konzipiert, der praktisch alles wiederholt und ein paar Themen noch ergänzt, und schließlich wird von etablierten Mathematik-Professoren dieser Vorkurs komplett als Teil des regulären Studiums empfohlen. Die frühere Schulmathematik wurde erst reduziert, und der Rest wird Sache der Hochschulen und rückt damit in die Nähe der sog. “Höheren Mathematik”.

Wenn dann Kritiker ein sinkendes Niveau beklagen, werden sie als “ewig  gestrig” abgekanzelt, und die schulischen Autoritäten werden von jeder Pflicht freigesprochen, Abiturienten mit Mathematikkenntnissen ins Leben zu entlassen. Wie konnte das nur so passieren? Wer hat rechtzeitig protestiert?

Mit dieser Frage wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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«Es kann nicht sein, dass das Studium des Teilzeit-Arztes von der Kassiererin bezahlt wird» https://condorcet.ch/2022/12/es-kann-nicht-sein-dass-das-studium-des-teilzeit-arztes-von-der-kassiererin-bezahlt-wird/ https://condorcet.ch/2022/12/es-kann-nicht-sein-dass-das-studium-des-teilzeit-arztes-von-der-kassiererin-bezahlt-wird/#respond Fri, 23 Dec 2022 06:11:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=12741

Stefan Wolter spricht im Interview über den schweren Stand der Berufslehre, den unguten Zustand, dass für Akademiker-Eltern nur das Gymnasium zählt – sowie die Befürchtung, dass es zu einer Umverteilung von unten nach oben kommt. Sebastian Briellmann, Journalist der Basler Zeitung, führte das Gespräch mit dem renomierten Bildungsforscher.

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Sebastian Briellmann ist Autor der Basler Zeitung.

Stefan Wolter, die Tamedia-Zeitungen haben im Dezember berichtet, dass noch nie so viele Junge ihren Lehrvertrag aufgelöst oder ihre Lehre abgebrochen haben. Ist das eine weitere Schwächung der Berufslehre?

Gerne sehe ich die Zahlen nicht. Eine Lehrvertragsauflösung kann zwar auch nur eine Vertragsanpassung bedeuten, aber auch diese ist oft mit Kosten verbunden; für die Jugendlichen, für die Betriebe. Etwa, wenn die Lehre ein Jahr länger dauert.

Das muss aber nicht immer schlecht sein?

Nein, man kann die Flexibilität auch positiv bewerten, wenn man so für beide Seiten ein besseres Gesamtpaket findet. Unangenehm wird es, wenn die Auflösungen aufgrund ungenügender schulischer Lösungen passieren – vor allem, wenn das Risiko, dass dies geschieht, schon bei der Einstellung absehbar gewesen ist.

Was heisst das konkret?

Es legt die Schwierigkeiten der dualen Lehre sehr gut offen. Es zeigt sich vor allem in der Westschweiz oder auch im Kanton Basel-Stadt, aber am ausgeprägtesten ist es in Genf: Dort wechseln zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler ins Gymnasium oder in die Fachmittelschule – und vom Rest beginnt wiederum weniger als die Hälfte eine Lehre. Also können die Betriebe ihre Lehrstellen aus einem Pool von weniger als 20 Prozent aller Schüler besetzen. In der Ostschweiz sind es 60 bis 70 Prozent. Ein gewaltiger Unterschied.

Nun wird es interessant. Während die Matura in allen Kantonen unterschiedlich schwer ist, wie Sie sagen, ist das bei den Lehrstellen nicht der Fall, da die Anforderungen standardisiert sind.

Genau, die Anforderungen bleiben dieselben. Was zur Folge hat, dass in den angesprochenen Kantonen die Lehrvertragsauflösungen und die Abbrüche zunehmen.

Kann man das nicht auch als Erfolg taxieren? Während das Niveau in den Basler und Genfer Gymnasien wegen des grossen Zulaufs ständig nach unten nivelliert, bleibt es bei den Lehrstellen gleich…

Das kann man so sehen. Bei der Berufsbildung wird tatsächlich besser standardisiert. Ein Problem aber bleibt beim Einstieg: Aufgrund der demografischen Lage können viele Jugendliche ihre Lehrstelle nach ihren Präferenzen wählen. Weil die Betriebe händeringend nach Lehrlingen suchen, werden zu viele Lehrverträge abgeschlossen, bei denen das Risiko des Misserfolges vorprogrammiert ist. Hier muss man auch die Beratungsstellen kritisieren: Es wird zu viel Rücksicht auf Präferenzen und Neigungen genommen – und zu wenig auf Fähigkeiten. Damit tut man den Jugendlichen keinen Gefallen.

Die Lehre kommt leider oft nur an dritter Stelle.

Man hört aus der Wirtschaft aber auch: Viele Lehrlinge sind weniger motiviert und mit ihrer Lehrstelle unzufrieden, da sie sich abgeschoben fühlen, weil es nicht fürs Gymnasium gereicht hat.

Es ist durchaus so, dass es eine gefühlte Bildungshierarchie gibt. Das Gymnasium ist die beste Option, eine FMS die zweitbeste, eine Lehre die drittbeste. Wenn nun ein Kanton eine Übertrittsquote ins Gymi von 15 Prozent hat, spielt das aber keine zu grosse Rolle: Es werden sich nicht 85 Prozent schlecht fühlen, da man deutlich in der Mehrheit ist. Aber in Genf oder in Basel: Da kann tatsächlich der Gedanke kommen, dass man zweitklassig ist.

Der SP-Doyen Rudolf Strahm hat in der NZZ gesagt: «Wenn die Schweiz funktioniert, dann dank den Leuten, die eine Berufslehre gemacht haben.» Das betonen Wirtschaft und Politik auch mantraartig. Was kann man gegen den aktuellen Trend tun?

Wir kennen aus unserer Forschung den richtigen Adressaten: Es sind nicht die Jugendlichen, es sind deren Eltern. Warum sind so viele bereit, ihr Kind ans Gymi zu schicken, obschon das Risiko eines Misserfolges so gross ist? In Genf etwa scheitert fast die Hälfte. Können sie die Leistungen ihrer Kinder nicht richtig einschätzen? Kennen sie die Misserfolgsquote nicht? Oder ist alles andere als das Gymi so verpönt?

Und?

Unsere Forschung zeigt, dass es tatsächlich nichts neben dem Gymnasium gibt, das zählt. Die Eltern in der Westschweiz weichen auch dann nicht von ihrer Haltung ab, wenn sich das Risiko des Misserfolges am Gymnasium erhöht.

Die Eltern wissen nicht, wie unser System funktioniert, oder glauben nicht daran.

Liegt es auch daran, dass immer mehr 25-Jährige keinen Sek-2-Abschluss haben – aus Frust durch Misserfolg?

Die Anzeichen dafür gibt es. Wir wissen, dass an gewissen Orten eine anspruchsvolle Lehre erst mit durchschnittlich 20 Jahren begonnen wird. Das heisst: Man geht ans Gymnasium – und scheitert. Dann geht man an die FMS – und scheitert. Dann sucht man sich immer noch keine Lehre, sondern eine vollschulische Berufsausbildung – und erst wenn auch dieser Plan scheitert, kommt man zu einer Lehre oder resigniert. Misserfolge gehen aber nicht spurlos an einem vorbei.

Was kann man gegen diese Abwärtsspirale tun?

Die Eltern wissen nicht, wie unser System funktioniert, oder glauben nicht daran. Sie wählen lieber unbewusst den Abstieg nach unten, obwohl die Durchlässigkeit nach oben gegeben wäre – und zwar praktisch und nicht nur in der Theorie. Man kann eine Lehre machen, dann die Berufsmatur, dank einer Passerelle sogar an die Uni. Als Psychologe würde ich sagen: Für die, die nur knapp ins oder durch das Gymnasium kommen, wäre vielleicht ein Erfolg in der Lehre besser und weckte den Appetit auf mehr Bildung.

Und ist auch aus finanzieller Sicht wohl kein Nachteil?

Nein, aber vor allem auch nicht aus Sicht der Bildungslaufbahn.

Erklären Sie.

Ich kann unsere Erkenntnisse an einem Beispiel aufzeigen. Nehmen Sie zwei 15-Jährige, keine Überflieger, denen es im Gymnasium aber reichen könnte. Nimmt man das Risiko in Kauf? Oder wäre eine Lehre besser, die beide locker schaffen würden?

Ich nehme an, die Eltern forcieren das Gymnasium: Hauptsache, Matura.

Ja, und das kann man verstehen, wenn man nur an diese Entscheidung denkt. Aber der Entscheid ist häufig falsch, wenn man zehn Jahre in die Zukunft denkt. Die Statistik zeigt: Nur 80 Prozent der Maturanden gehen überhaupt an eine Uni – und schon im Bachelor scheitert ein Viertel davon. Wer also nur knapp durch die Matura kommt, ist da durchaus oft dabei. Wer hingegen eine Lehre macht, dann eine Berufsmatur, vielleicht sogar mit der Passerelle, der steht mit 25 Jahren bildungsmässig nicht selten besser da.

Die Deutschkenntnisse haben stark nachgelassen, aber das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und betrifft nicht nur Studenten.

Der Ökonom Mathias Binswanger beklagte in dieser Zeitung, dass die Akademisierung «groteske Züge» annimmt, wir «mittelmässige Akademiker» fördern. Sie sehen das anders – aber bestätigen Sie nicht gerade seinen Befund?

Nein. Ich kenne das Interview – und sehe es fundamental anders. Die gymnasiale Maturitätsquote ist nur leicht gestiegen in den letzten zwei Jahrzehnten, von 19 auf 22 Prozent. Von denen gehen, wie erwähnt, nur vier von fünf an eine Uni – und diese selektionieren noch immer gleich streng wie vor zwanzig Jahren. Noch wichtiger ist aber der ökonomische Befund. Wären die Absolventen tatsächlich vermehrt Mittelmass, dann hätte ihr Lohnvorteil gegenüber den Nicht-Akademikern zurückgehen müssen, denn keine Firma zahlt einen Lohnvorteil für nicht vorhandene Kompetenzen. Nichts von dem kann beobachtet werden.

Aber die Klagen werden lauter. Erst kürzlich sagte ein renommierter Jus-Professor der Uni Zürich: Die Studenten könnten kein Deutsch mehr, man verstünde ihre Antworten nicht…

Das ist sicherlich so, die Deutschkenntnisse haben stark nachgelassen, aber das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und betrifft nicht nur Studenten. Man darf das bedauern, beklagen auch. Aber: Dafür beherrschen Studenten heute Dinge, die sie vor dreissig Jahren nicht zeigen mussten. Englisch ab dem ersten Semester und alles digital. Und diese Kompetenzen entsprechen der arbeitsmarktlichen Realität.

Zumindest die Universitäten haben in ihrem Selektionsdruck nicht nachgelassen.

Alles im Lot also?

Es gibt immer Sachen, die man verbessern kann, aber zumindest die Universitäten haben in ihrem Selektionsdruck nicht nachgelassen. Aus dem einfachen Grund, dass sie Studenten aus allen Kantonen und dem Ausland haben. Sie können somit viel weniger unter Druck geraten, wenn das Schulsystem in einem Kanton nach unten nivelliert; die Guten setzen die Massstäbe. Übrigens: Heute werden weniger Masterabschlüsse vergeben als früher Lizenziate. Erstens, weil schon im Bachelor selektioniert wird und zweitens, weil nicht alle in einen Master übertreten oder dort reüssieren.

Nichtsdestotrotz: Die Ansprüche steigen stetig, sogar Kindergärtnerinnen brauchen einen Hochschulabschluss – ist das wirklich nötig?

Welche Qualifikationen ein Beruf verlangt, darüber entscheiden nicht die Hochschulen. Aber ja: Es gibt eine Tertiärisierung, aber die ist nicht mit einer Akademisierung gleichzusetzen. Da zudem drei Viertel des Wachstums bei den tertiären Abschlüssen gar nicht auf den gymnasialen Weg zurückzuführen ist, kann man die Entwicklung sogar anders interpretieren.

Alles, was in den Augen arrivierter Eltern zählt, ist ein akademischer Abschluss.

Wie?

Sie war die Rettung der Berufsbildung. Ohne Berufsmatura, ohne Fachhochschulen wäre der Druck aufs Gymnasium so hoch geworden, dass das Bildungssystem Schaden genommen hätte: Schaffung von zweit- und drittklassigen Hochschulen oder Eingangsselektion durch die Hochschulen mit dem Resultat, dass die Maturität nur noch auf dem Blatt Papier etwas wert wäre. Kein Land der OECD hat die Quote tertiärer Bildungsabschlüsse derart steigern können wie die Schweiz, ohne dafür das Berufsbildungssystem opfern zu müssen. Eigentlich eine Erfolgsgeschichte.

Das mag für gewisse Branchen sein. Aber wir brauchen doch Pflegefachpersonal und Elektromonteure, Schreiner, Köche und Polymechaniker, wie Mathias Binswanger sagt, «Praktiker mit ganz speziellen Fähigkeiten, die man sich on the job aneignet».

Ich bin Realist, nah an der Wirtschaft – und sehe: Das Jobwachstum findet bei den Jobs mit hohen Ansprüchen statt – und ein Bildungswesen, das seinen Bürgern den Zugang zu diesen Jobs nicht mehr gewährleisten kann, hat versagt. Die Firmen würden sonst einfach noch stärker im Ausland rekrutieren oder die Stellen dorthin verlagern.

Es gibt tatsächlich einen gesellschaftlichen Trend, Bildung nicht nur wegen des Arbeitsmarktes, sondern wegen des damit verbundenen sozialen Status nachzufragen. Bildung kann einen exzessiven Stellenwert bekommen.

Das wäre doch auch mit einer Lehre möglich. Braucht es immer noch zwingend einen «Fötzel» einer Hochschule?

Wo Sie recht haben: Es gibt tatsächlich einen gesellschaftlichen Trend, Bildung nicht nur wegen des Arbeitsmarktes, sondern wegen des damit verbundenen sozialen Status nachzufragen. Bildung kann einen exzessiven Stellenwert bekommen. Ein Politiker aus Kalifornien hat mir einmal Folgendes gesagt: Früher hatten in seiner Stadt jene den höchsten sozialen Status, die am meisten Steuern bezahlten. Heute sind es jene mit dem höchsten Bildungsabschluss – selbst, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Dieses Phänomen kennen wir auch in der Schweiz.

Wirklich? In der Schweiz spricht man gern schnell von Sozialschmarotzern…

In der Schweiz ist es sicherlich nicht so krass wie in den USA oder in Frankreich. Aber in der Schweiz spreche ich immer vom Golfplatzsyndrom. Da verstecken sich die Eltern gleich, wenn sie die Frage befürchten müssen, was die Kinder machen – ihre Kinder aber keine akademische Karriere eingeschlagen haben. Auch wenn die Eltern selbst erfolgreich unterwegs sind und das Kind vielleicht auch ohne akademischen Abschluss Karriere macht. Alles, was in den Augen arrivierter Eltern zählt, ist ein akademischer Abschluss.

Ich kann es ehrlich gesagt verstehen, wenn Lehrer dann denken: Wenn die Eltern unbedingt wollen, dass das Kind ins Gymi geht, dann soll es doch. Wenn es scheitert, ist das nicht mein Problem…

Für Eltern sind Kinder immer «Weltwunder», aber sind nicht auch die Lehrer für eine realistische Einschätzung verantwortlich? Heute sagt einem Schüler doch niemand mehr: Du, ich sehe dich in einer Bank- oder Kochlehre.

Klar ist: Jugendliche müssten so beraten werden, dass sie eine realistische Standortbestimmung vornehmen können und nicht nur ihren Präferenzen und Neigungen folgen. Die Berufswahlvorbereitung ist zwar obligatorisch, aber nicht jeder Lehrer ist deswegen automatisch ein Profi für Arbeitsmarktfragen, und bei kritischen Entscheiden und Feedback kann man auch keine Wunder von ihnen erwarten …

…wegen des Drucks von aussen?

Ja, hat man eine schlechte Note verteilt, kommt schon der Rekurs. Ich kann es ehrlich gesagt verstehen, wenn Lehrer dann denken: Wenn die Eltern unbedingt wollen, dass das Kind ins Gymnasium geht, dann soll es doch. Wenn es scheitert, ist das nicht mein Problem…

Das ist menschlich, aber kann nicht die Lösung sein. Sie haben einen Ansatz…

Man könnte viel Druck von den Lehrern nehmen, wenn wir mehr standardisierte Tests einsetzen würden. Das wäre zudem auch meritokratisch und fair. In Kantonen mit Aufnahmeprüfungen kommen eigentlich keine schulisch schwachen Schülerinnen und Schüler ans Gymnasium. Eine Mehrheit der Bevölkerung möchte deshalb auch Prüfungen, aber es gibt eine Gruppe, die sich erfolgreich wehrt.

«Wir können es uns auf die Dauer gar nicht leisten, für jede Vollzeitstelle zwei bis drei Personen auf Hochschulniveau auszubilden.»

Stefan Wolter, Bildungsforscher

Die Akademiker?

Ja. Sie haben nur eine Präferenz: Ihr Kind muss ans Gymnasium – und da stehen die Chancen immer besser, wenn man Möglichkeiten hat, den Übertrittsentscheid direkt zu beeinflussen.

Die Akademiker wehren sich wohl auch gegen eine andere Idee von Ihnen, die für ordentlich Furore gesorgt hat: nachgelagerte Studiengebühren. Was genau ist das?

Es geht darum, dass beim fortschreitenden Trend zur Teilzeitarbeit Bildung aus der Sicht der Gesellschaft keine lohnende Investition mehr wird, da die Kosten gleich hoch bleiben – aber die Steuererträge diese über das Erwerbsleben gesehen nicht mehr decken. Das ist ein grosses Problem. Somit fehlt auf Dauer das Geld für die nächste Generation und verschärft sich der Fachkräftemangel. Das zentrale Argument ist für mich: So zahlen jene mit wenig Bildung denen mit Bildung die Bildungskosten. Und es kann nicht sein, dass das Studium des Teilzeit-Arztes von der Kassiererin bezahlt wird. Die heutige Generation finanziert die Akademiker von morgen: Und das Geld muss zuerst erarbeitet werden.

Wie stellen Sie sich die nachgelagerte Studiengebühr konkret vor?

Ich kann Ihnen ein Beispiel geben. Eine tertiäre Ausbildung kostet 100’000 Franken – und diese Kosten sollen über die Mehrsteuern kompensiert werden. Als Vergleich dient eine Person ohne tertiäre Bildung, die jährlich 5000 Franken Einkommensteuern zahlt. Der Akademiker müsste bei einer Abzahlungsfrist von beispielsweise 25 Jahren also jährlich 4000 Franken mehr Einkommensteuern zahlen, damit er nicht auf Kosten der Nichtakademiker studiert hat. Zahlt er das oder mehr, spürt er nichts von der Steuer. Zahlt er in einem Jahr aber nur 7000 Franken, müssten 2000 Franken nachgezahlt werden. Das ist die nachgelagerte Studiengebühr.

Wie viel muss ein Akademiker ungefähr arbeiten, damit er nichts zahlen muss?

Im Durchschnitt wohl etwas über 70 Prozent. Nicht Vollzeit, denn auch jene ohne tertiäre Ausbildung arbeiten ja nicht alle 100 Prozent – und verdienen im Durchschnitt auch weniger. Übrigens stelle ich mir auch vor, dass Frauen mit Frauen verglichen werden und Männer mit Männern, dann gibt es wegen dieses Instruments auch keine Benachteiligung eines der Geschlechter.

Warum dieser geschlechtsspezifische Vergleich?

Diese Spielvariante Männer versus Männer und Frauen versus Frauen muss man vorschlagen. Sonst wird die Idee gleich vom Tisch gewischt, mit dem Argument – das durchaus etwas für sich hat –, dass derzeit die Kindererziehung, die unbezahlte Hausarbeit etc. halt immer noch bei den Frauen liegt – und man deshalb von den Frauen nicht die gleichen Pensen erwarten dürfe wie von Männern. Dann ist es einfach so, dass Frauen mit einem Hochschulabschluss nicht mehr Teilzeit arbeiten dürften als Frauen ohne Hochschulabschluss.

Was erhoffen Sie sich – ganz geschlechterübergreifend – von dieser Gebühr?

Anreize. Maturanden sollen sich besser überlegen, was sie studieren wollen – und noch vielmehr soll bewerkstelligt werden, dass sie nachher auch arbeiten. Wir können es uns auf die Dauer gar nicht leisten, für jede Vollzeitstelle zwei bis drei Personen auf Hochschulniveau auszubilden. Zudem soll die Garantie, dass jene, die von der staatlichen Förderung profitiert haben, später der Gesellschaft auch wieder genügend zurückgeben, eine Polarisierung zwischen unten und oben verhindern.

Eigentlich klingt das wie ein sozialer Vorschlag. Gutverdienende geben etwas an Schlechterverdienende zurück – und liefern ihr Geld beim Staat ab. Aber gerade von der politischen Linken kommt am meisten Widerstand gegen Ihre Idee…

Das stimmt. Wir haben eine Umfrage mit 6000 Leuten gemacht: Linke stimmen knapp zur Hälfte zu – je rechter die Personen sind, desto grösser wird die Zustimmung. Bis zu 70 Prozent.

«Bei den Linken immer das Totschlagargument: Es ist sowieso genug Geld zum Umverteilen da – man muss ja nur die Reichen stärker besteuern, dann braucht man auch keine nachgelagerten Studiengebühren.»

Stefan Wolter, Bildungsforscher

Was zeigt: Die Linken vertreten nicht mehr die Arbeiter, sondern das Bildungsbürgertum?

Es sieht zumindest so aus.

Welche Argumente gegen Ihre Idee hören Sie denn von linker Seite?

Die kenne ich auch nur aus der Zeitung. Es sind die üblichen: Bildung darf nicht ökonomisiert werden; Studenten sollen sich Studienfächer ohne ökonomische Zwänge auswählen dürfen; kostenlose Bildung sei ein Menschenrecht; Studenten in Fächern mit schlechten Arbeitsmarktaussichten würden bestraft; das Risiko des Arbeitsmarktmisserfolges werde auf die Studenten abgewälzt; die Idee laufe gegen den Zeitgeist, der verlange, dass immer mehr Leute dank Teilzeitarbeit Familie und Beruf besser verbinden können.

Das überzeugt Sie nicht?

Bei all diesen Argumenten fällt den Personen, die sie vorbringen, nie auf, dass scheinbar nur Personen mit Hochschulbildung solche Vorteile geniessen sollen und dürfen. Jene ohne Hochschulbildung, die teilweise gar keine Löhne haben, bei denen sie sich Teilzeitarbeit leisten können, sollen gefälligst zahlen. Und am Schluss kommt immer das Totschlagargument: Es ist sowieso genug Geld zum Umverteilen da – man muss ja nur die Reichen stärker besteuern, dann braucht man auch keine nachgelagerten Studiengebühren.

Diese Argumentationslinie kennt man – aber es ist immerhin eine. Von bürgerlicher Seite kommt wenig Initiative…

Das ist immer so bei Bildungsthemen. Da nicht alle betroffen sind, gibt es Themen, die mehr Wähler binden – und somit verlockender sind. Aber die Idee ist nicht einfach Effekthascherei, wir stehen erst am Anfang der Diskussion. Schliesslich ist der Vorschlag nicht realitätsfremd, da es Länder gibt, die heute schon nachgelagerte Studiengebühren kennen. Nur mit dem Unterschied zu unserem Vorschlag, dass diese auch dann bezahlt werden müssen, wenn man schon mehr Steuern bezahlt hat. Wir wollen keine Doppelbesteuerung.

 

Stefan C. Wolter, geboren 1966, ist der wohl bedeutendste Bildungsexperte dieses Landes. Er ist Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) und Titularprofessor für Bildungsökonomie an der Universität Bern, an der er seit über 20 Jahren für die Forschungsstelle für Bildungsökonomie verantwortlich zeichnet. Darüber hinaus wird der Ökonom immer wieder in nationale und internationale Ausschüsse berufen, wo er die Schweiz in Bildungsfragen berät und vertritt – etwa bei der OECD. (sb)

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Das Undenkbare wird Realität. Selbst Studierende mit eidgenössisch anerkannter Maturität beherrschen die Grundelemente der deutschen Sprache nicht mehr. Hochschulen bieten Kurse an. Eine Suche nach möglichen Gründen von Condorcet-Autor Carl Bossard

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Condorcet-Autor Carl Bossard

Die nachfolgende Generation kann nicht mehr korrekt und kohärent schreiben. Die Klagen über nachlassendes Sprachniveau sind alt. Man kennt sie, zuckt die Achseln und zieht weiter. Neu aber ist die Reaktion: Hochschulen müssen offensichtlich Massnahmen ergreifen und so das sprachlich notwendige Können einfordern. Sie bieten Fortbildungskurse für angehende Deutschlehrer und Crash-Kurse für Studierende an. Die Universität Zürich erklärt sie bei angehenden Juristen für obligatorisch. Bei vielen Erstsemestrigen mangle es an Elementarem; Grundfertigkeiten fehlten, heisst es. Man reibt sich die Augen und glaubt es kaum: Deutschkurse für Leute mit einer kantonalen oder eidgenössischen Matura und einer Schulbildung von mindestens zwölf Jahren! Dies im teuersten Bildungssystem der Welt!

Die saubere Sprache als Voraussetzung für einen sauberen Gedanken

Die universitäre Realität: Alain Griffel, Rechtsprofessor an der Universität Zürich, bemängelt die Sprachkompetenz vieler seiner Studentinnen und Studenten. Unter die schriftliche Aufgabe eines Drittsemestrigen beispielsweise schrieb er: «Zahllose elementare Orthografie-, Grammatik- und Kommafehler! Satzbau und Formulierungen überwiegend ungelenk bis fehlerhaft.» Dem Verfasser riet der Hochschullehrer: «Arbeiten Sie daran! In einem juristischen Beruf werden Sie so nicht tätig sein können.»[i]

Jeder Gedanke braucht einen Körper: die Sprache.

Griffel ist mit seinen Sorgen nicht allein. Schon vor Längerem beklagte Peter V. Kunz, Ordinarius für Wirtschaftsrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Bern, das magere sprachliche Können seiner Studierenden: «Schreibfehler, Fallfehler, mangelnde Interpunktion, falsch verwendete Metaphern – das Niveau ist zum Teil erschreckend.» Auch er hielt fest: «Eine saubere Sprache ist die Grundvoraussetzung für einen sauberen Gedanken. Wer sich nicht ausdrücken kann, wird nie zu einem guten Juristen werden.»[ii] Der frühere ETH-Rektor Lino Guzzella forderte vor über zehn Jahren deutsch und deutlich: «Sprachen sind zentral. Die Leute müssen richtig lesen, schreiben und sprechen können. Das gilt auch für Naturwissenschafter und Ingenieure. Zum Teil sind die Kenntnisse ungenügend.»[iii]

Sprache kommt nicht von selbst

Mangelnde Deutschkenntnisse der Gymnasiasten hat bereits die landesweite Evaluation der Matura von 2007, EVAMAR II, festgestellt. Fast 20 Prozent der Schweizer Mittelschüler erzielten im Fach Deutsch eine ungenügende Note; 40 Prozent schnitten in Mathematik ungenügend ab. Doch von einem Kompetenzenschwund bei Maturanden wollte niemand reden, auch nicht von der Notwendigkeit einer klaren Sprache und davon, dass beispielsweise nur ein gut gedachter Text auch ein gut geschriebener Text ist.

Denken vollzieht sich sprachlich. Jeder Gedanke braucht einen Körper: die Sprache. Der menschliche Körper muss trainiert, ihm muss Sorge getragen werden. Genau gleich geht es der Sprache. Sie muss entwickelt und gefördert werden. Im Elternhaus, in der Schule. Eigentlich grundlegend und darum selbstverständlich, würde man meinen.

Die Sprache schulen ist anspruchsvoll und braucht Zeit

Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren.

Doch das Fraglose ist nicht einfach selbstverständlich, sprachliches Können kein Selbstläufer. Es kommt nicht von ungefähr. Sprechen und Schreiben sind ein Handwerk, und sie wollen wie jedes Handwerk gelernt sein. Dazu gehören nebst Selbstverständlichkeiten wie Grammatik, Orthografie und Interpunktion auch die Klarheit der Sprache – und die Angemessenheit ihres Gebrauchs. Sie sind intensiv zu üben und zu fördern – zusammen mit Begriffspräzision und Textkohärenz: für die Schulen ein anspruchsvoller Auftrag.

Diese Aufgabe braucht Zeit. Doch sie fehlt. Die Schule hat sich ins fachliche Vielerlei verabschiedet. Zu vieles muss gleichzeitig erarbeitet werden: Deutsch, Frühenglisch, Frühfranzösisch, die ganze Integration und vieles andere mehr. Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Das ist schlichte Proportionenrechnung. Lehrerinnen und Lehrer kommen kaum mehr zum Üben, geschweige denn zum vertieften Automatisieren und Konsolidieren. Aus der Gedächtnispsychologie wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt insbesondere für die grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben.

«Schreiben nach Gehör» steht vielerorts auf dem Index

Doch im Fach Deutsch werden kaum noch schriftliche Texte verfasst, und die lautgetreue Leselernmethode «Lesen durch Schreiben», die sogenannte «Reichen-Methode», toleriert Orthografiefehler über eine lange Zeit – aus Angst, die Kinder übers Korrigieren zu entmutigen. Sie schreiben dann so, wie sie meinen, dass es korrekt sei, zum Beispiel: «Di Bollitzei komt.» Da drängt sich die Frage auf: Warum wird weiterhin erlaubt, dass an Schulen und auch an Pädagogischen Hochschulen nach dieser Methode gelehrt wird? In den meisten Ländern steht «Schreiben nach Gehör» auf dem Index. Nur in der Schweiz nicht. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass von der ersten Klasse an regelkonformes Schreiben gelehrt werden sollte. Die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Zum sprachlichen Nachteil vieler junger Menschen.

Den Zugang zur Muttersprache öffnen

Ein Ding richtig können, ist mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Der Satz geht auf Goethe zurück; er gilt noch heute. Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv und genau! – Non multa, sed multum!, hiess es beim römischen Gelehrten Plinius. Die Schule kann nicht alles und müsste vor allem eines grundlegend tun: an Texten und Gegenständen Sprache schulen, Gelesenes in Worte und Sätze fügen, Inhalte resümieren und sie in einen Kontext bringen, Wesentliches artikulieren und Querbezüge formulieren. Hier lässt sich die Kraft zur Präzision, zur Nuance, zum Begriff trainieren; hier lassen sich Gesichtspunkte unterscheiden, verbinden, einordnen.

Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelte damit unter dem OECD-Durchschnitt und klar hinter Deutschland.

In digitaler Zeit besonders bedeutsam: je üppiger die Datenmeere, desto wichtiger die Gesichtspunkte. Zusammenhänge von Kriterien und Standpunkten sind keinem Netzwerk zu entlocken; sie wollen im Unterricht geschult und logisch verknüpft werden. Das ist der Zugang zur diskursiven Sprache. Und dieser Zugang bleibt vielen verschlossen. Bis hinauf zur Matura, wie die Aussagen von Hochschullehrern drastisch verdeutlichen.

Die Bildungssprache Deutsch stärken

Das ist der Grund, warum die Wissenschaftliche Kommission der deutschen Kultusministerkonferenz KMK, das Pendant zur Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK, eine Konzentration der Grundschule auf Deutsch und Mathematik empfiehlt.[iv] Man wolle so für alle Kinder die Bildungssprache Deutsch stärken – als zentralen und basalen Baustein ihres Lern- und Lebensweges.

Ob der Weckruf in Deutschland auch bei uns gehört wird – in den Erziehungsdirektionen und bei den Bildungsfunktionären? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur eines: Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelte damit unter dem OECD-Durchschnitt und klar hinter Deutschland. Unser nördliches Nachbarland handelt. Zeit, über die Grenze zu blicken. Es ist eine ethische Aufgabe – aus der pädagogischen Verantwortung für das Lernen der Kinder und Jugendlichen heraus.

 

 

 

[i] Nadja Pastega, Jetzt können sogar Studenten nicht mehr richtig Deutsch, in: Sonntagszeitung, 27.11.2022, S. 6.

[ii] Robin Schwarzenbach, Orthographie zum Vergessen, in: NZZ, 05.05.2017, S. 50.

[iii] Michael Furger, «Das Niveau an den Schulen ist gesunken», in: NZZaS, 29.07.2012, S. 18.

[iv] Heike Schmoll, Grundschule soll sich auf Deutsch und Mathematik konzentrieren, in: FAZ, 09.12.2022 [https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/grundschulen-sollen-sich-auf-deutsch-und-mathe-fokussieren-18521857.html; abgerufen: 10.12.2022]

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Ausbildung statt Studium? Deshalb wird das Handwerk immer attraktiver https://condorcet.ch/2022/12/ausbildung-statt-studium-deshalb-wird-das-handwerk-immer-attraktiver/ https://condorcet.ch/2022/12/ausbildung-statt-studium-deshalb-wird-das-handwerk-immer-attraktiver/#respond Sat, 03 Dec 2022 15:44:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=12490

Noch verdienen Akademiker in der Regel deutlich mehr als Handwerker, Pfleger und andere Dienstleister. Doch ein langfristiger Trend dürfte das schon bald verändern. Das ist gut und wichtig – denn nur so lässt sich ein Personalnotstand wirklich verhindern. Wir veröffentlichen einen Gastkommentar von Professor Thomas Straubhaar.

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Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg.

Kluge Köpfe verdienen besser als fleißige Hände. Die Renditen für akademische Bildungsabschlüsse an Universitäten und Fachhochschulen sind enorm. Wer einen Bachelor- oder gar Masterabschluss erwirbt, darf mit einem deutlich höheren Einkommen rechnen als Gesellen oder Meister und alle, die eine beruflich-betriebliche oder gar keine Ausbildung aufweisen.

Wenn Kopf- gegenüber Handarbeit so sehr viel besser bezahlt wird, ist es doch kein Wunder, dass an allen Ecken und Enden Personal fehlt, das mit den Händen arbeitet. Wer ist noch bereit, zu putzen und zu reinigen, zu kochen und zu servieren, zu betreuen und zu pflegen oder als Brief- und Paketbote, Wachmann oder Kassiererin, im Schlachthof oder der Spargelernte oder auf dem Bau zu arbeiten und damit vergleichsweise wenig zu verdienen?

Viele meiden mehr als verständlicherweise schlecht bezahlte Handarbeiten, wenn in Homeoffice und Büros, vor Bildschirmen und in Konferenzräumen, reden und präsentieren, planen und beschreiben, entwickeln und standardisieren, optimieren und skalieren, überzeugen und verkaufen viel höhere Gehälter verspricht.

In aller Regel hat Qualifizierung eher mit Theorie und Wissen zu tun.

Natürlich gibt es viele Ausnahmen zur These, dass eine höhere Ausbildung mit mehr Kopf- und weniger Handarbeit einhergehe. So braucht es etwa in Kunst und Gewerbe oder auch in Gesundheit und Pflege besondere manuelle Fähigkeiten. Aber in aller Regel hat Qualifizierung eher mit Theorie und Wissen zu tun. Selbst bei dualen Ausbildungsgängen muss die handwerkliche Praxis allzu häufig und oft zu stark der hoch- und fachschulischen Konkurrenz weichen, die grundlegende Kenntnisse fördern soll.

Mit fortschreitendem Alter werden bei den Gehältern dann Lebenserfahrung, Führungseigenschaften oder soziale Kompetenzen wichtig(er). Auch sie haben alle eher mit der Person an sich und weniger mit deren Handfertigkeiten zu tun.

Der nationale Bildungsbericht 2022 veranschaulicht an vielen Stellschrauben, wie sehr in letzter Zeit der Trend boomte, über eine höhere Ausbildung einfacher Handarbeit zu entgehen. So etwa deckt er auf, dass in den 1970er-Jahren weniger als ein Fünftel der jungen Erwachsenen ein Studium aufnahmen, in den 1980er-Jahren waren es etwas mehr als ein Viertel, im Jahr 2005 noch immer weniger als ein Drittel.

Keine Anzeichen für den „Akademisierungswahn“

Aber 2020 waren es dann fast die Hälfte (nämlich 47 Prozent). Entsprechend nahm in den zehn Jahren zwischen 2010 und 2020 der Anteil von Menschen, die über einen höheren Bildungsabschluss verfügen, von 21 Prozent der Gesamtbevölkerung um fünf Prozentpunkte auf 26 Prozent zu.

Trotz des immensen Zulaufs der Hochschulen findet der Bildungsbericht 2022 bis jetzt keine Anzeichen für einen „Akademisierungswahn“ – also einer vom Münchner Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin postulierten Fehlentwicklung, wonach viel zu viele junge Erwachsene studieren, obwohl es für sie nach erfolgreichem Abschluss gar keinen praktischen Bedarf gäbe.

Eine „Überakademisierung“ ist jedoch nicht feststellbar. Wer einen Bachelor- oder Masterabschluss erwarb, hatte stets gute Chancen, eine dem akademischen Ausbildungsniveau angemessene berufliche Platzierung zu finden.

Digitalisierung wird nun jedoch das Pendel zurückschlagen lassen. Sie wird Handarbeit gegenüber Kopfarbeit massiv aufwerten. Denn künstliche Intelligenz wird künftig genau das auch bei der Kopfarbeit nachvollziehen, was bei industrieller Handarbeit längst vollzogen ist: den Ersatz von Menschen durch Technik.

Es war immer schon Wesen der Industrialisierung, Arbeitskräfte durch Automaten und Maschinen zu ersetzen. Mittlerweile werden in nahezu menschenleeren Fabrikhallen Massengüter produziert, Konsumgüter verpackt, Flüssigkeiten abgefüllt.

Künstliche Intelligenz wird menschliche Arbeit verdrängen

Die Digitalisierung wird Handarbeit gegenüber Kopfarbeit massiv aufwerten.

Der ersten Digitalisierungswelle fielen danach auch Handarbeiten im Dienstleistungssektor zum Opfer – aber zunächst eher solche für einfache Standardarbeiten. Im Handel und beim Einkaufen, an Kassen und bei Auskunftsstellen, Bestell- und Lieferverfahren oder beim Kundendienst – etwa für Klagen und Reparaturen wurde Arbeitskraft nicht mehr gebraucht. Stattdessen kamen elektronische Assistenzsysteme zum Einsatz, etwa wenn es um Anfragen und Beratung, Buchungen und Bestellungen, messen und zählen, Kontrolle und Mahnung, Verwaltung oder Zahlungsverkehr ging.

Künstliche Intelligenz und durch maschinelles Lernen besser trainierte und damit noch einmal leistungsfähigere Algorithmen werden nun jedoch zunehmend auch bei höher qualifizierter Kopfarbeit menschliches Denken und Tun erst ergänzen, bald jedoch auch verdrängen – etwa bei Finanzierung und Versicherung, Beratung und Kommunikation, bei Medien, im Bildungs- und Gesundheitswesen, in Lehre und Forschung oder bei der Produkt- und Prozessentwicklung.

In vielen Bereichen bleibt Handarbeit unverzichtbar

Demgegenüber werden sich Handarbeit und Handwerk vergleichsweise besser gegen technische Neuerungen behaupten können. Denn viele Dienstleistungen bedingen persönliche Kontakte, Emotionen und Empathie – beispielsweise in der Pflege oder der Betreuung von (Klein-)Kindern und alten Menschen.

Nur durch eine substanzielle Aufwertung der Handarbeit lässt sich ein Personalnotstand in vielen Bereichen des Dienstleistungswesens verhindern.

Andere Handarbeiten verlangen Feinmotorik, Beweglichkeit und Geschicklichkeit, die Automaten und Roboter so noch nicht standardmäßig bieten können – etwa, wenn es gilt, ein mit gefüllten Gläsern belegtes Tablett aus der Küche auf den Esstisch zu bringen. Und oft verlaufen personenbezogene Dienstleistungen nicht nach einem sich stetig wiederholenden Standardmuster, sodass sich eine aufwendige Programmierung für jeden Einzelfall nicht wirklich rechnet.

Handarbeit und Handwerk dürften also weniger rasch als Kopfarbeit durch Technik ersetzbar werden. Sie werden auch künftig gebraucht, in vielen Dienstleistungsbereichen mehr noch als Kopfarbeiter. Damit dürfte das heutige Gehaltsgefüge verrutschen. Löhne für einfache Handarbeit in personenbezogenen Dienstleistungen werden rascher steigen als für manche Kopfarbeit. Das wird dazu führen, dass putzen und kochen, pflegen und betreuen ökonomisch attraktiver werden. Und genau das muss so sein: Nur durch eine substanzielle Aufwertung der Handarbeit lässt sich ein Personalnotstand in vielen Bereichen des Dienstleistungswesens verhindern.

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Die Gesellschaft der Hochqualifizierten – wenn die Bildung zur Industrieware wird https://condorcet.ch/2022/10/die-gesellschaft-der-hochqualifizierten-wenn-die-bildung-zur-industrieware-wird/ https://condorcet.ch/2022/10/die-gesellschaft-der-hochqualifizierten-wenn-die-bildung-zur-industrieware-wird/#respond Fri, 14 Oct 2022 11:36:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=11959

Der Mensch denkt gerne in Mustern. Akademiker gelten deshalb generell als hochqualifiziert – unabhängig von Fach, Leistung, Erfahrung und Können. Das wird der Realität aber nicht ganz gerecht, meint Claudia Wirz, Kolumnistin der NZZ.

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Claudia Wirz, Journalistin und Autorin

Was ist ein gebildeter Mensch? Ist es einer, der beim Pisa-Test gut abgeschnitten hat? Einer, der an der Universität akademische Titel erarbeitet hat und auf höchstem Niveau gendern kann? Ist es einer, der stets effizient lernt und sich nicht von unnützem Wissen ablenken lässt? Ist es einer, der das lebenslange Lernen praktiziert und viel Geld für Weiterbildungsprogramme ausgibt?

So viele Hochqualifizierte wie heute gab es noch nie.

Englisch statt Latein

Oder ist es der Praktiker, der die Berufs- und Lebenserfahrung zum Lehrmeister hat, der sich weitgehend jenseits von Diplomen selber weiterbildet und dessen Triebfedern die Neugier und der Wissensdrang sind? Schliesslich ist das Leben an sich ein einziger Lernprozess, auch wenn es dafür kein anerkanntes Zertifikat gibt. Und was unterscheidet den gebildeten Menschen eigentlich vom hochqualifizierten? Kann es heute, da sich Wissen laufend vermehrt, überhaupt noch Gebildete geben, oder kennt die Wissensgesellschaft nur Hochqualifizierte?

Eines ist klar: So viele Hochqualifizierte wie heute gab es noch nie. In der Schweiz haben 50 Prozent der unter 35-Jährigen eine Tertiärausbildung und gelten damit als hochqualifiziert – die meisten von ihnen sind Hochschulabsolventen. Bei den über 65-Jährigen trifft Letzteres nur auf 12,5 Prozent zu (Stand: 2017).

Bildung ist, was der Arbeitsmarkt braucht. Der Rest ist Ballast und kann abgeworfen oder ausgelagert werden. Durch diese Lesart ist Bildung zu einer Art Industrieware geworden, und die Hochschulabsolventen gehören kraft ihres tertiären Ausbildungsweges automatisch zu den Hochqualifizierten – unabhängig von Fach, Können, Leistung, Erfahrung und Wissen.

Doch damit ist die Eingangsfrage nicht hinreichend geklärt; zu schillernd ist der Bildungsbegriff. Mal steht er für praktisches Können, mal für Weltklugheit, mal für Belesenheit in den Klassikern, mal für freie Forschung, mal für digitale oder andere fachspezifische Fähigkeiten. Es ist noch nicht so lange her, da war das Latein in der abendländischen Kultur so etwas wie eine Visitenkarte des Gebildetseins. Doch Latein ist tot. Englisch lebt dafür umso mehr, und so gibt heute das kaufmännische Prinzip der Employability bei der Bildung den Ton an. Das heisst: Bildung ist, was der Arbeitsmarkt braucht. Der Rest ist Ballast und kann abgeworfen oder ausgelagert werden.

Durch diese Lesart ist Bildung zu einer Art Industrieware geworden, und die Hochschulabsolventen gehören kraft ihres tertiären Ausbildungsweges automatisch zu den Hochqualifizierten – unabhängig von Fach, Können, Leistung, Erfahrung und Wissen.

Das selbstbestimmte Individuum

Alexander von Humboldt

Das Prädikat «hochqualifiziert» ist bei genauer Betrachtung jedoch rein technischer Natur. Weil der Mensch in Mustern denkt, erleichtern ihm solche Taxierungen, die Dinge zu sortieren und Statistiken zu erstellen. Über die Bildung einer Person im weiteren Sinne sagt der Begriff aber nicht viel aus. Denn Bildung – zumindest jene im Humboldtschen Sinn – ist weit mehr als abgeprüftes, genormtes und zweckdienliches Wissen.

Bildung im Sinne von Humboldt hat nicht den geschmeidigen Mitarbeiter zum Ziel, sondern das mündige, selbstdenkende und selbstbestimmte Individuum, das in der Lage ist, die Dinge und auch sich selber kritisch zu hinterfragen und eine eigenständige Meinung zu bilden. In einer Zeit, da Hochschulen zunehmend zu ideologischen Hochburgen werden und die künstliche Intelligenz ihr menschliches Pendant herausfordert, wäre es nicht das Dümmste, sich wieder verstärkt daran zu orientieren.

Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen: https://www.nzz.ch/wirtschaft/ueberall-nur-noch-hochqualifizierte-die-bildung-als-industrieware-ld.1706688

 

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Zitat der Woche: Jonathan Haidt und Greg Lukianoff https://condorcet.ch/2021/12/zitat-der-woche-jonathan-haidt-und-greg-lukianoff/ https://condorcet.ch/2021/12/zitat-der-woche-jonathan-haidt-und-greg-lukianoff/#comments Sat, 04 Dec 2021 11:42:49 +0000 https://condorcet.ch/?p=10044

Das heutige Zitat stammt aus dem Buch der Autoren Greg Lukianoff und Jonathan Haidt, das uns Condorcet-Autor Alain Pichard wärmstens empfiehlt (allerdings nur auf Englisch erhältlich). Es handelt sich um eine der fundiertesten Analysen der aktuellen Vorgänge an den amerikanischen Universitäten, meint Alain Pichard.

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“Eine Schule, die die Freiheit der Forschung zu einem wesentlichen Teil ihrer Identität macht, die Studenten auswählt, die sich als besonders vielversprechend für die Suche nach der Wahrheit erweisen, und die diese Studenten auf einen produktiven Disput vorbereitet … wäre inspirierend, eine Freude, sie zu besuchen, und ein Segen für die Gesellschaft.”

Jonathan Haidt und Greg Lukianoff in “The Coddling of the American Mind”

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Die Berufslehre bietet mindestens so gute Aussichten wie das Gymnasium https://condorcet.ch/2021/11/die-berufslehre-bietet-mindestens-so-gute-aussichten-wie-das-gymnasium/ https://condorcet.ch/2021/11/die-berufslehre-bietet-mindestens-so-gute-aussichten-wie-das-gymnasium/#respond Thu, 18 Nov 2021 14:28:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=9825

Der steigende Anteil an Akademikern und Ausländern unter den Eltern in der Schweiz setzt die Berufslehre unter Prestigedruck. Doch laut einer neuen Studie liefert die Berufslehre nach wie vor sehr gute Zukunftschancen. Hansueli Schöchli hat sich in der NZZ mit dieser Studie auseinandergesetzt und stellt sie vor.

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Hansueli Schöchli, NZZ-Journalist: Die Berufslehre ist bei weitem keine Sackgasse.

Rund die Hälfte der Abgänger der obligatorischen Schule in der Schweiz hat diesen August eine berufliche Grundbildung begonnen. Weitere 10 bis 15% dieses Schuljahrgangs dürften nach absolvierten Brückenangeboten oder Zwischenjahren noch hinzukommen. So hatten 2019 im Landesdurchschnitt gut 63% der jungen Erwachsenen bis zum 25. Altersjahr eine berufliche Grundbildung als Erstabschluss nach der obligatorischen Schule. Für die meisten war dies der Abschluss einer Berufslehre.

Die Berufslehre hat vor allem drei zentrale Stärken: Sie integriert die Mehrheit der Jugendlichen schon früh in den Arbeitsmarkt. Sie setzt die Saat für die jeweils nächste Generation qualifizierter Fachkräfte. Und sie schafft eine solide Basis für diverse Wege der Weiterentwicklung bis zu höchsten Bildungsweihen. Diese Schweizer Spezialität ist auch dem Ausland nicht ganz verborgen geblieben. Zu den Interessenten gehören etwa die USA, die Bundespräsident Guy Parmelin diese Woche besuchen wird – unter anderem zwecks Vertiefung der Zusammenarbeit in der Berufsbildung.

So wie das amerikanische Silicon Valley lässt sich aber auch die Schweizer Berufslehre nicht einfach kopieren.

Was Parmelin in den USA sagen könnte

Zu den wesentlichen Akteuren der Schweizer Berufsbildung gehören vor allem die Ausbildungsbetriebe, Branchenverbände, Behörden und Eltern.

So wie das amerikanische Silicon Valley lässt sich aber auch die Schweizer Berufslehre nicht einfach kopieren. Denn die Basis ist in beiden Fällen ein historisch gewachsenes Ökosystem, das auf enger Zusammenarbeit und gegenseitigem Grundverständnis diverser Akteure beruht. Zu den wesentlichen Akteuren der Schweizer Berufsbildung gehören vor allem die Ausbildungsbetriebe, Branchenverbände, Behörden und Eltern.

Ein zunehmendes Problem für die Berufslehre könnten zwei wachsende Gruppen unter den Eltern sein: die Akademiker, die aus Prestigegründen die Berufslehre nur den Nachbarkindern empfehlen wollen, aber nicht dem eigenen Nachwuchs. Und die Ausländer, welche die Berufslehre aus ihren Herkunftsstaaten nicht kennen und sie deshalb als Weg für die «Verlierer» betrachten.

Bundespräsident Parmelin könnte diese Woche seinen amerikanischen Ministerkollegen Dümmeres sagen als das Folgende: «Wer die Berufslehre nur als Ausweg für jene Jugendlichen sieht, die es nicht ins Gymnasium schaffen, hat das Schweizer System nicht begriffen.» Anders gesagt: Der hiesige Status der Berufslehre hängt zentral davon ab, dass sie auch für eine kritische Masse von schulisch leistungsfähigen Jugendlichen die erste Wahl ist.

Wer die Berufslehre nur als Ausweg für jene Jugendlichen sieht, die es nicht ins Gymnasium schaffen, hat das Schweizer System nicht begriffen. BR Parmelin.

Das ist aber nur dann der Fall, wenn die Berufslehre solchen Jugendlichen mindestens ebenso gute Aussichten liefert wie das Gymnasium. Genau dies trifft nach wie vor zu. Das zeigt eine neue Studie einer Forschergruppe um Professor Jürg Schweri von der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung in Zollikofen im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft.

So nüchtern wie der Titel («Der Wert von Ausbildungen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt») ist auch der Inhalt des Papiers. Im Wesentlichen werden aufgrund von Arbeitsmarktdaten der vergangenen zwanzig Jahre die Schicksale der Absolventen der verschiedenen Bildungswege verglichen.

Berufslehrabgänger ohne formale Weiterbildung gegenüber Gymnasiumsabgängern ohne formale Weiterbildung.

Tiefere Erwerbslosigkeit

Den ersten Vergleichspunkt liefern die Erwerbsquoten. Um Äpfel mit Äpfeln statt mit Birnen zu vergleichen, bieten sich folgende Gegenüberstellungen an: Berufslehrabgänger ohne formale Weiterbildung gegenüber Gymnasiumsabgängern ohne formale Weiterbildung, Lehrabgänger mit anschliessender höherer Berufsbildung (z. B. eidgenössischem Fachausweis) gegenüber Gymnasiumsabgängern mit höherer Berufsbildung sowie Lehrabgänger mit Fachhochschulabschluss gegenüber Gymnasiumsabgängern mit Uni/ETH-Abschluss.

Die Studie vergleicht aufgrund der Datenlage nicht exakt das Genannte, aber annäherungsweise: Statt von Berufslehre ist die Rede von «beruflicher Grundbildung» und statt von Gymnasium ist die Rede von «allgemeinbildendem Abschluss auf Sekundarstufe II». In allen Gruppenvergleichen weisen die Absolventen der beruflichen Grundbildung jeweils höhere Erwerbsquoten aus.

Erwerbsquoten sagen allerdings nur etwas über die Beteiligung am Arbeitsmarkt aus (Erwerbstätigkeit oder Stellensuche). Doch auch gemessen an der unfreiwilligen Erwerbslosigkeit schneidet die berufliche Grundbildung besser ab. So lag zum Beispiel in den vergangenen zwanzig Jahren die Erwerbslosenquote der Lehrabgänger mit anschliessendem Hochschulabschluss meist etwa ein bis zwei Prozentpunkte tiefer als bei Hochschulabsolventen ohne berufliche Grundbildung (vgl. Grafik).

Vorteil Berufslehre

Erwerbslosenquoten für Hochschulabsolventen, nach Art der Grundbildung, in Prozent

Mit beruflicher Grundbildung

Ohne berufliche Grundbildung

20002019012345

Quelle: Quelle: Eidg. Hochschule für Berufsbildung

NZZ / hus.

Laut einer zu Beginn dieses Jahres publizierten Analyse von zwei Forscherinnen der ETH Zürich verdienen Hochschulabgänger mit Berufslehre in den ersten Jahren nach dem Tertiärabschluss im Mittel deutlich mehr als Akademiker ohne Berufslehre, doch fünf Jahre nach dem Abschluss sind die Differenzen geringer.

Die Lohnfrage

Bei den Löhnen ist die Sache unklar. Gemessen an den Medianlöhnen (den mittleren Löhnen, die von je der Hälfte der Gruppe überschritten bzw. unterschritten werden), weist die Analyse keine grossen Unterschiede zwischen beruflicher und allgemeiner Grundbildung aus.

Bei den Spitzenlöhnen wie bei den tiefen Löhnen sind aber die Absolventen einer allgemeinen Grundbildung stärker vertreten. Leicht verkürzt gesagt: Mit der Kombination Gymnasium/Universität ist man im Vergleich zur Kombination Berufslehre/Fachhochschule öfter in den obersten Prozenten der Lohnverteilung – doch im Gegenzug haben Absolventen einer beruflichen Grundbildung seltener Tieflöhne.

Unberücksichtigt im Vergleich der Hochschulabsolventen blieb, dass Universitätsabgänger weit öfter einen Masterabschluss machen als Fachhochschulabgänger; ein Vergleich von Äpfeln mit Äpfeln (Bachelor mit Bachelor) ergäbe vielleicht ein anderes Bild. Laut einer zu Beginn dieses Jahres publizierten Analyse von zwei Forscherinnen der ETH Zürich verdienen Hochschulabgänger mit Berufslehre in den ersten Jahren nach dem Tertiärabschluss im Mittel deutlich mehr als Akademiker ohne Berufslehre, doch fünf Jahre nach dem Abschluss sind die Differenzen geringer.

Auch gemessen an der Präsenz in Kaderpositionen sieht das Bild für die berufliche Grundbildung gut aus.

Auch gemessen an der Präsenz in Kaderpositionen sieht das Bild für die berufliche Grundbildung gut aus, wie der Studie der Hochschule für Berufsbildung zu entnehmen ist. Gemäss den Daten über die vergangenen zwanzig Jahre lag der Anteil der Erwerbstätigen mit Vorgesetztenfunktion bei den Lehrabgängern mit Tertiärabschluss jeweils etwas höher als bei den Personen mit Tertiärabschluss ohne berufliche Grundbildung.

Als letztes Vergleichskriterium zog die Studie subjektive Einschätzungen zur Arbeitszufriedenheit heran. In Sachen Arbeitsbedingungen und Arbeitsatmosphäre ortet das Papier «keine nennenswerten Unterschiede zwischen den verschiedenen Ausbildungsabschlüssen». Bei den Löhnen zeigen sich aber die Erwerbstätigen mit beruflicher Grundbildung etwas weniger zufrieden als die Vergleichsgruppen.

Die von der Studie analysierten Arbeitsmarktdaten zeigen für den Vergleich Berufslehre/Gymnasium keinen klaren Trend der betrachteten zwanzig Jahre – weder in die eine noch in die andere Richtung.

Laut einer Auswertung der Bundesstatistiker von 2020 zu den Lehrabgängern von 2012/13 hatte fünfeinhalb Jahre nach dem Lehrabschluss schon gut die Hälfte der Betroffenen den Beruf gewechselt.

Die Berufslehre mag bei manchen das Image haben, dass Jugendliche nach einem Entscheid im Alter von 15 oder 16 Jahren schon ihr ganzes Berufsleben vorspuren müssen. Doch die Realität ist eine andere. Laut einer Auswertung der Bundesstatistiker von 2020 zu den Lehrabgängern von 2012/13 hatte fünfeinhalb Jahre nach dem Lehrabschluss schon gut die Hälfte der Betroffenen den Beruf gewechselt. In den meisten Fällen war es ein Wechsel «nach oben» (höheres Qualifikationsniveau) oder seitwärts. Auch frühere Studien zur Mobilität von Lehrabgängern illustrierten, dass die Berufslehre bei weitem keine Sackgasse ist.

Deutlich ist derweil der allgemeine Trend in Richtung Tertiärabschlüsse. So stieg in der Altersgruppe 20 bis 65 der Anteil der Personen mit Tertiärabschluss innert zwanzig Jahren von 29 auf fast 43%. Klar ist dabei auch, dass unabhängig von der Art der Grundbildung ein Tertiärabschluss gemessen an Lohnchancen und Arbeitslosigkeitsrisiken im Mittel deutlich bessere Aussichten mit sich bringt.

Was für das Gymnasium gilt, gilt auch für die Berufslehre: Der Abschluss ist mit Vorteil nicht das Ende der Ausbildung, sondern «nur» das Ende des Anfangs.

Das Ende des Anfangs

Lohnwirksam ist in beiden Fällen die Weiterbildung.

Die Medianlöhne haben sich in den einzelnen Ausbildungsgruppen teuerungsbereinigt seit 1999 nur relativ wenig verändert, wie die Analyse der Hochschule für Berufsbildung weiter zeigt. Der Median des monatlichen Bruttolohns lag demnach 2018 bei Personen mit beruflicher oder allgemeiner Grundbildung als Höchstabschluss bei 6000 bis 7000 Fr. für eine Vollzeitstelle. Mit einem höheren Berufsbildungsabschluss brachte man es typischerweise auf etwa 8000 Fr. und mit Hochschulabschluss auf 9000 bis 10 000 Fr.

Laut den Autoren ermöglicht sowohl der Weg über eine berufliche Grundbildung wie auch jener über einen allgemeinbildenden Abschluss einen hohen Medianlohn: «Entscheidend ist allerdings, ob eine Person nach einem Abschluss auf der Sekundarstufe II noch eine tertiäre Ausbildung absolviert.» Was für das Gymnasium gilt, gilt auch für die Berufslehre: Der Abschluss ist mit Vorteil nicht das Ende der Ausbildung, sondern «nur» das Ende des Anfangs.

https://www.nzz.ch/wirtschaft/die-berufslehre-bietet-gleiche-aussichten-wie-das-gymnasium-ld.1655242

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Neue Rubrik: Die Zahl des Monats! https://condorcet.ch/2021/10/neue-rubrik-die-zahl-des-monats/ https://condorcet.ch/2021/10/neue-rubrik-die-zahl-des-monats/#respond Mon, 25 Oct 2021 07:11:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=9629

Die Redaktion des Condorcet-Blogs führt eine neue Rubrik ein. Einmal im Monat beschäftigt sie sich mit einer Zahl, die im aktuellen Bildungsgeschehen Aufmerksamkeit erregt. Den Beginn macht die Zahl 59.5%!

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59,5%

Anfang September berichtete das Wall Street Journal, dass sich schier eine ganze Generation von jungen US-Männern von den Universitäten abmelde. 2020/21 stelllten junge Frauen bereits 59,5 % aller Studentinnen und Studenten und junge Männer nur noch 40.5%.

Als Grund werden unter anderem die extrem hohen Studiengebühren, die eine langananhaltende Verschuldung nach sich ziehen, angegeben. Allerdings stehen die nicht studierten Männer, nach dem Wall Street Journal, im späteren Berufsleben finanziell keineswegs schlechter da.Im Gegenteil hätten sie in der Informatikbranche und in den Konstruktionsberufen durchaus relevante und attraktive Alternativen.

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My University Sacrificed Ideas for Ideology. So Today I Quit. https://condorcet.ch/2021/09/my-university-sacrificed-ideas-for-ideology-so-today-i-quit/ https://condorcet.ch/2021/09/my-university-sacrificed-ideas-for-ideology-so-today-i-quit/#comments Sun, 26 Sep 2021 19:06:49 +0000 https://condorcet.ch/?p=9366

Es mehren sich die Anzeichen, dass an unseren Universitäten nicht mehr frei gelehrt werden kann. Die Geschichte des Philosophie-Professors Peter Boghossian von der Portland State University ist bedrückend. Wir veröffentlichen hier seinen Kündigungsbrief an seine Direktorin. Dieser Brief ist zuerst im Bari-Weiss-Blog erschienen und wurde von Alain Pichard übersetzt.

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Sehr geehrte Co-Rektorin Susan Jeffords

Ich schreibe Ihnen heute, um mein Amt als Assistenzprofessor für Philosophie an der Portland State University niederzulegen.

State University Portland: Hakenkreuze und Fäkalien.

In den letzten zehn Jahren hatte ich das Privileg, an der Universität zu lehren. Meine Spezialgebiete sind kritisches Denken, Ethik und die sokratische Methode. Ich gebe Kurse wie “Wissenschaft und Pseudowissenschaft” und “Philosophie der Bildung”. Neben der Beschäftigung mit klassischen Philosophen und traditionellen Texten habe ich eine Vielzahl von Gastdozenten eingeladen, um in meinen Kursen zu sprechen, von Flat-Earthern über christliche Apologeten bis hin zu Klimaskeptikern und Occupy-Wall-Street-Anhängern. Ich bin stolz auf meine Arbeit.

Ich habe diese Redner nicht eingeladen, weil ich mit ihren Weltanschauungen einverstanden war, sondern vor allem, weil ich es nicht war. In diesen chaotischen und schwierigen Gesprächen habe ich das Beste gesehen, was unsere Schülerinnen und Schüler erreichen können: Sie stellen Überzeugungen in Frage und respektieren gleichzeitig die Gläubigen; sie bleiben in schwierigen Situationen ausgeglichen und ändern sogar ihre Meinung.

Ich habe nie geglaubt – und tue es auch jetzt nicht –, dass der Zweck des Unterrichts darin besteht, meine Schüler zu vorbestimmten Schlussfolgerungen zu führen.

Ich habe nie geglaubt – und tue es auch jetzt nicht –, dass der Zweck des Unterrichts darin besteht, meine Schüler zu vorbestimmten Schlussfolgerungen zu führen. Vielmehr wollte ich die Voraussetzungen für gründliches Nachdenken schaffen und ihnen helfen, sich das Rüstzeug für ihre eigene Meinungsbildung anzueignen. Das ist der Grund, warum ich Lehrer geworden bin und warum ich das Unterrichten liebe.

Doch die Universität hat diese Art der intellektuellen Erkundung Stein für Stein unmöglich gemacht. Sie hat eine Bastion der freien Forschung in eine Fabrik für soziale Gerechtigkeit verwandelt, deren einziger Input Rasse, Geschlecht und Opferrolle und deren einziger Output Missgunst und Spaltung waren.

Den Studenten an der Portland State wird nicht mehr beigebracht zu denken. Vielmehr werden sie darauf trainiert, die moralische Gewissheit von Ideologen zu übernehmen. Fakultät und Verwaltung haben den Auftrag der Universität, nach Wahrheit zu suchen, aufgegeben und fördern stattdessen die Intoleranz gegenüber abweichenden Überzeugungen und Meinungen. Dies hat eine Kultur der Beleidigung geschaffen, in der die Studenten nun Angst haben, offen und ehrlich zu sprechen.

Während meiner Zeit an der Portland State University habe ich schon früh Anzeichen für den Illiberalismus bemerkt, der die Hochschule inzwischen völlig vereinnahmt hat. Ich habe Studenten erlebt, die sich weigerten, sich mit anderen Standpunkten auseinanderzusetzen. Fragen von Lehrkräften bei Diversity-Trainings, die anerkannte Narrative in Frage stellten, wurden sofort abgetan. Diejenigen, die nach Beweisen zur Rechtfertigung neuer institutioneller Maßnahmen fragten, wurden der Mikroaggression beschuldigt. Und Professoren wurden der Bigotterie beschuldigt, weil sie kanonische Texte zugewiesen hatten, die von Philosophen geschrieben wurden, die zufällig Europäer und männlich waren.

Zunächst war mir nicht klar, wie systemisch dies war, und ich glaubte, diese neue Kultur in Frage stellen zu können. Also begann ich, Fragen zu stellen. Was ist der Beweis dafür, dass Auslösewarnungen und sichere Räume zum Lernen der Schüler beitragen? Warum sollten wir unsere Rolle als Pädagogen durch die Brille des Rassenbewusstseins sehen? Wie sind wir zu dem Schluss gekommen, dass “kulturelle Aneignung” unmoralisch ist?

Anders als meine Kollegen habe ich diese Fragen laut und öffentlich gestellt.

Ich beschloss, die neuen Werte zu hinterfragen, die die Portland State University und viele andere Bildungseinrichtungen erfassten – eine Werterhetorik, die wunderbar klingt, wie Vielfalt, Gleichberechtigung und Integration, aber in der Praxis genau das Gegenteil bedeuten. Je mehr ich das von kritischen Theoretikern erstellte Primärquellenmaterial las, desto mehr vermutete ich, dass ihre Schlussfolgerungen die Postulate einer Ideologie widerspiegelten und nicht auf Beweisen basierende Erkenntnisse.

Ich begann, mich mit Studentengruppen zu vernetzen, die ähnliche Anliegen hatten, und lud Referenten ein, die diese Themen aus einer kritischen Perspektive beleuchteten. Und es wurde mir immer klarer, dass die Vorfälle von Illiberalismus, die ich im Laufe der Jahre beobachtet hatte, keine Einzelfälle waren, sondern Teil eines institutionsweiten Problems.

Je mehr ich mich zu diesen Themen äußerte, desto mehr Repressalien sah ich mich ausgesetzt.

Zu Beginn des akademischen Jahres 2016/17 beschwerte sich ein ehemaliger Student über mich und die Universität leitete eine Untersuchung nach “Title IX” ein.  (Title IX-Untersuchungen sind ein Teil des Bundesgesetzes zum Schutz von Menschen vor Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Bildungsprogrammen oder -aktivitäten, die vom Bund finanziell unterstützt werden.) Mein Ankläger, ein weißer Mann, erhob eine Reihe unbegründeter Anschuldigungen gegen mich, die ich aufgrund der Vertraulichkeitsregeln der Universität leider nicht näher erläutern kann. Was ich mitteilen kann, ist, dass Studenten von mir, die während des Prozesses befragt wurden, mir sagten, dass der Ermittler der “Title IX”-Untersuchung sie gefragt habe, ob sie etwas darüber wüssten, dass ich meine Frau und meine Kinder geschlagen hätte. Diese entsetzliche Anschuldigung wurde bald zu einem weit verbreiteten Gerücht.

Bei “Title IX-Untersuchungen” gibt es kein ordnungsgemäßes Verfahren, so dass ich keine Einsicht in den Anschuldigungskataog erhielt und somit keine Möglichkeit hatte, meinen Ankläger zu konfrontieren, kurz, ich hatte keine Gelegenheit, mich zu verteidigen. Schließlich wurden die Ergebnisse der Untersuchung im Dezember 2017 bekannt gegeben. Hier sind die letzten beiden Sätze des Berichts: “Global Diversity & Inclusion stellt fest, dass es keine ausreichenden Beweise dafür gibt, dass Boghossian gegen die PSU-Richtlinie zu verbotener Diskriminierung und Belästigung verstoßen hat. GDI empfiehlt, dass Boghossian ein Coaching erhält.”

Es gab nicht nur keine Entschuldigung für die falschen Anschuldigungen, sondern der Ermittler teilte mir auch mit, dass es mir in Zukunft nicht erlaubt sei, meine Meinung über “geschützte Gruppen” zu äußern oder so zu lehren, dass meine Meinung über geschützte Gruppen bekannt werden könnte – eine bizarre Schlussfolgerung aufgrund absurder Anschuldigungen. Die Universitäten können ideologische Konformität allein durch die Androhung solcher Untersuchungen erzwingen.

Schließlich kam ich zu der Überzeugung, dass korrumpierte wissenschaftliche Gremien dafür verantwortlich waren, dass radikale Abweichungen von der traditionellen Rolle der Liberal Arts Schools und der grundlegenden Höflichkeit auf dem Campus gerechtfertigt wurden. Es war dringend notwendig zu zeigen, dass moralisch einwandfreie Arbeiten – egal wie absurd – veröffentlicht werden konnten. Ich glaubte damals, dass ich, wenn ich die theoretischen Schwächen dieser Literatur aufdecken würde, der Universitätsgemeinschaft helfen könnte, den Bau von Gebäuden auf solch wackligem Grund zu vermeiden.

Ich glaubte, diese neue Kultur in Frage stellen zu können.

So war ich 2017 Mitverfasser einer absichtlich verstümmelten, von Experten begutachteten Arbeit, die sich gegen die neue Orthodoxie richtete. Ihr Titel: “The Conceptual Penis as a Social Construct”. Dieses Beispiel für Pseudo-Wissenschaft, das in Cogent Social Sciences veröffentlicht wurde, behauptete, dass Penisse Produkte des menschlichen Geistes und für den Klimawandel verantwortlich seien. Unmittelbar danach habe ich den Artikel als Schwindel entlarvt, der die Schwächen des Peer-Review- und des akademischen Publikationssystems aufzeigen sollte.

Kurz darauf tauchten in zwei Badezimmern in der Nähe des Fachbereichs Philosophie Hakenkreuze mit meinem Namen darunter auf. Gelegentlich tauchten sie auch an meiner Bürotür auf, in einem Fall zusammen mit Säcken voller Fäkalien. Unsere Universität blieb still. Wenn sie handelte, dann nur gegen mich, nicht gegen die Täter.

Ich glaubte weiterhin, vielleicht naiv, dass ich die Universität von ihrem Wahnsinn abbringen könnte, wenn ich das fehlerhafte Denken, auf dem die neuen Werte der Portland State beruhen, aufdecken würde. Im Jahr 2018 war ich Mitverfasser einer Reihe absurder oder moralisch verwerflicher Artikel in Fachzeitschriften, die sich mit Fragen der Rasse und des Geschlechts befassten. In einem davon argumentierten wir, dass es eine Epidemie von Vergewaltigungen durch Hunde in Hundeparks gibt, und schlugen vor, Männer an die Leine zu nehmen, so wie wir Hunde an die Leine nehmen. Damit wollten wir zeigen, dass bestimmte Arten von “Wissenschaft” nicht auf der Suche nach der Wahrheit, sondern auf der Förderung sozialer Missstände beruhen. Diese Weltanschauung ist nicht wissenschaftlich und nicht rigoros.

Die Verwaltung und die Fakultät waren über die Artikel so verärgert, dass sie einen anonymen Artikel in der Studentenzeitung veröffentlichten und die Portland State eine formelle Anzeige gegen mich erstattete. Ihr Vorwurf? “Fehlverhalten in der Forschung”, basierend auf der absurden Prämisse, dass die Redakteure der Zeitschriften, die unsere absichtlich gestörten Artikel akzeptierten, “menschliche Versuchspersonen” seien. Ich wurde für schuldig befunden, keine Genehmigung für Experimente an menschlichen Versuchspersonen erhalten zu haben.

Während meiner Vorlesung wurde Feueralarm ausgelöst.

In der Zwischenzeit nahm die ideologische Intoleranz an der Portland State weiter zu. Im März 2018 störte ein Professor eine öffentliche Diskussion, die ich mit der Autorin Christina Hoff Sommers und den Evolutionsbiologen Bret Weinstein und Heather Heying führte. Im Oktober 2018 riss ein Aktivist die Lautsprecherkabel heraus, um eine Diskussionsrunde mit dem ehemaligen Google-Ingenieur James Damore zu unterbrechen. Die Universität unternahm nichts, um dieses Verhalten zu unterbinden oder zu unterbinden. Niemand wurde bestraft oder gemaßregelt.

Die darauffolgenden Jahre waren für mich von anhaltender Belästigung geprägt. Auf dem Campus fand ich Flugblätter, auf denen ich mit einer Pinocchio-Nase abgebildet war. Auf dem Weg zum Unterricht wurde ich von Passanten bespuckt und bedroht. Ich wurde von Studenten darüber informiert, dass meine Kollegen ihnen rieten, meine Kurse zu meiden. Und natürlich wurde ich einer weiteren Untersuchung unterzogen.

Es geht um die Art von Institutionen, die wir wollen, und um die Werte, die wir wählen.

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass das, was ich hier beschreibe, keinen persönlichen Tribut gefordert hat. Aber es hat genau den Tribut gefordert, der beabsichtigt war: ein zunehmend unerträgliches Arbeitsleben, und das ohne den Schutz der Amtszeit.

Hier geht es nicht um mich. Es geht um die Art von Institutionen, die wir wollen, und um die Werte, die wir wählen. Jede Idee, die die menschliche Freiheit vorangebracht hat, ist immer und ohne Ausnahme zunächst verurteilt worden. Als Einzelpersonen scheinen wir oft nicht in der Lage zu sein, uns an diese Lektion zu erinnern, aber genau dafür sind unsere Institutionen da: um uns daran zu erinnern, dass die Freiheit, Fragen zu stellen, unser Grundrecht ist. Bildungseinrichtungen sollten uns daran erinnern, dass dieses Recht auch unsere Pflicht ist.

Die Portland State University hat bei der Erfüllung dieser Pflicht versagt. Damit hat sie nicht nur ihre Studenten im Stich gelassen, sondern auch die Öffentlichkeit, die sie unterstützt. Ich bin zwar dankbar für die Möglichkeit, mehr als ein Jahrzehnt an der Portland State University gelehrt zu haben, aber es ist mir klar geworden, dass diese Einrichtung kein Ort für Menschen ist, die frei denken und Ideen erforschen wollen.

Das ist nicht das Ergebnis, das ich wollte. Aber ich fühle mich moralisch verpflichtet, diese Entscheidung zu treffen. Zehn Jahre lang habe ich meinen Studenten beigebracht, wie wichtig es ist, nach seinen Prinzipien zu leben. Eines meiner Prinzipien ist es, unser System der liberalen Bildung gegen diejenigen zu verteidigen, die es zerstören wollen. Wer wäre ich, wenn ich das nicht täte?

Mit freundlichen Grüßen

Peter Boghossian

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