Meinungsfreiheit - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 19 Oct 2023 18:34:20 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Meinungsfreiheit - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Wie hält es der Condorcet-Blog mit der Meinungsfreiheit? https://condorcet.ch/2023/10/wie-hat-es-der-condorcet-blog-mit-der-meinungsfreiheit/ https://condorcet.ch/2023/10/wie-hat-es-der-condorcet-blog-mit-der-meinungsfreiheit/#comments Thu, 19 Oct 2023 15:56:00 +0000 https://condorcet.ch/?p=15119

Der Condorcet-Blog ist dem Diskurs verpflichtet und seine Redaktion hat sich schon mehrfach kritisch gegenüber der Einschränkung der Meinungsfreiheit vor allem an den Universitäten geäussert. Der Tweet des Dozenten Hassan Ashraf (Condorcet: https://condorcet.ch/2023/10/mein-bestes-geburtstagsgeschenk/) hat nun dem Dozenten am Institut für Islamwissenschaft den Job gekostet. Ist das gerechtfertigt? Alain Pichard versucht sich an einer Einordnung.

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Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Wende ich in diesem Fall Doppelstandards an?

Um es gleich voranzustellen: Ich bezeichne mich als ein Freund Israels und bin Mitglied der Gesellschaft Schweiz-Israel. Ich bin daher alles andere als neutral. Aber Neutralität entbindet nicht vor der Pflicht auch in einem Diskurs die Objektivität zu bewahren. Als der Aargauer Gymnasiallehrer Markus Häni vor zwei Jahren wegen einer Teilnahme an einer Demonstration gegen die Corona-Massnahmen entlassen wurde, habe ich mit Rückendeckung der Redaktion diese Entlassung kritisiert (siehe: https://condorcet.ch/2021/06/der-fall-markus-haeni-mehr-condorcet-bitte/). Ich schrieb damals: «Die Aussagen von Markus Häni widersprachen der Meinung einer Mehrheit der Redaktion. Aber das Selbstverständnis unserer Autorinnen und Autoren, welche sich dem Toleranzgedanken des Aufklärers Jean-Marie de Condorcet und seiner Frau Sophie de Condorcet verpflichtet fühlen, verbietet diese Art von Zensur. Diese Entlassung ist ein Skandal. Eine Demokratie muss so etwas aushalten.»

Markus Häni, entlassener Kantonsschullehrer.

Bei Herrn Ashraf, dem Dozenten am Institut für Islamwissenschaft, reichte ich als Mitglied der kantonalen Bildungskommission mit zwei Ratskollegen eine parlamentarische Anfrage ein, in der ich wissen wollte, wie die kantonale Bildungsdirektion zu den Aussagen stehe und ob sich hier personelle Massnahmen aufdrängen würden. Inzwischen hat die Institutsleitung reagiert und den Dozenten freigestellt. Kurz darauf geriet auch seine Vorgesetzte, Dr. Serena Tolino, ins Kreuzfeuer der Kritik. Sie ist die Ehefrau des Dozenten und hat vor Jahren einen Boykott-Aufruf des BDS in Italien zusammen mit 163 italienischen Wissenschaftlern unterschrieben. Dieser Aufruf forderte die Einstellung jeglicher Zusammenarbeit mit israelischen Universitäten und Gelehrten.

Die Frage ist nicht unberechtigt: Wende ich in diesem Fall Doppestandards an, will heissen: Kritisiere ich im Fall Häni, was ich im Fall Ahsraf befürworte?

Die Verantwortungsfrage

Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass alles, was nicht strafrechtlich relevant ist, auch gesagt werden darf. Wenn wir alle Staatsdiener, welche antisemitische Gedanken und eine Sympathie für die BDS äussern, entlassen würden, würde sich der

Dr. Hassan Ashraf, Dozent am Islaminstitut: Sabat Shalom!

Fachkräftemangel massiv verschärfen. Ausserdem sind solche Ansichten verfassungsmässig geschützt. Als Verteidiger Israels, der für das Existenzrecht dieses Staates kämpft, war ich in all den Jahren schon manches gewohnt. Der Tweet von Dr. Ahraf ist aber derart widerwärtig, hasserfüllt und gruselig, dass es mir die Sprache verschlagen hat. Im Prinzip ist es ein Aufruf zur Gewalt! Allerdings füllen solche Entgleisungen derzeit die einschlägigen sozialen Medien zuhauf. Dr. Ashraf outet sich mit seinem Tweet – nicht zum ersten Mal – als ein lupenreiner Antisemit. Dass er diesen Tweet in der aktuellen Situation abgesetzt hat, ist entweder unsäglich dumm oder er hat sich in seinem Biotop zu sicher gefühlt. Da ich annehme, dass man als Dozent der Universität doch über eine gewisse Intelligenz verfügen muss, tippe ich auf das zweite.

Serena Tolino, vorläufig suspendierte CO-Direktorin des Instituts: Können israelische Studenten in Bern studieren?

Geschützt von seiner Ehefrau und Vorgesetzten, die aus dem gleichen Holz geschnitzt zu sein scheint, dachte er womöglich, dass es auch in dem links-grün dominierten Bern akzeptiert sei, diesen menschenverachtenden Tweet zu veröffentlichen und damit die Grenze des Sagbaren weiter hinauszuschieben. Das Problem bei Herrn Ashraf ist auch seine Funktion. Mit seiner unsäglichen Aussage hat er ein gefährliches Schlaglicht auf sein Institut geworfen. Er ist ein Angestellter einer Universitätsabteilung, die europaweit ein gewisses Renommee besitzt. Unter dem ehemaligen Chef des Instituts für Islamwissenschaft, Professor Rainer Schulze, geriet dieses Institut nie in solche Schlagzeilen. Professor Schulze war zwar durchaus israelkritisch und ein gern gesehener Gast in Talkshows. Aber sein Wirken war von Wissenschaft und Integrität erfüllt. So konnte er sein Institut vor politischer Vereinnahmung bewahren, obwohl die Islamforschung bekannterweise auch ein Magnet für radikal islamistische Studentinnen und Studenten darstellt. Auch die beiden Gründer des Islamischen Zentralrats Nicolas Blancho und Quaasim Illi studierten an diesem Institut.

Wie würde Frau Tolino entscheiden, wenn ein Student der Islamwissenschaften aus Haifa in Bern ein Austauschjahr machen will? Oder ist es am Institut für Islamwissenschaft umgekehrt möglich, dass eine Studentin in Bern ein Austauschjahr in Tel Aviv absolvieren kann?

Mit dem Wirken von Dr. Serena Tolino scheint sich hier ein Wandel vollzogen zu haben. Wer die BDS unterstützt und alle Kontakte zu israelischen Universitäten abbrechen will, ist meiner Meinung nach nicht geeignet, ein solches Institut zu leiten. Wie würde Frau Tolino entscheiden, wenn ein Student der Islamwissenschaften aus Haifa in Bern ein Austauschjahr machen will? Oder ist es am Institut für Islamwissenschaft umgekehrt möglich, dass eine Studentin in Bern ein Austauschjahr in Tel Aviv absolvieren kann? Unsere Verfassung verbietet die Benachteiligung von Menschen aufgrund der Hautfarbe, der Politik, der Religion und der Herkunft. Und eine Universität ist dem Primat wissenschaftlicher Forschung verpflichtet und darf nicht ideologisch vereinnahmt werden. Das fanden auch einige Studentinnen und Studenten des Instituts. Sie protestierten gegen ihren Dozenten und die Leitung und forderten deren Absetzung. Korrekterweise muss ich hier hinzufügen, dass –  wie mir kolportiert wurde – die Mehrheit der Studierenden keine grosse Mühe mit diesen Tweets hatte. Des Weiteren haben mich in den vergangenen Tagen auch Informationen erreicht von bestürzten Studentinnen, die mir mitteilten, dass die beiden nur die Spitze des Eisbergs darstellten und einige Lerninhalte von einer krassen antiisraelischen Stimmung durchdrungen seien. Das ginge sogar so weit, dass Israel in gewissen Vorlesungen auf der Karte gar nicht mehr vorkäme. Die Universität hat daher richtig entschieden, ihr Institut mit einer unabhängigen Untersuchung zu durchleuchten. Und mit dem ehemaligen Direktor der Universität Basel, Antonio Loprieno, ist auch die richtige Person mit dieser heiklen Mission beauftragt worden. Diese Untersuchung wird – das lässt sich jetzt schon sagen – noch einiges zutage fördern.

Bei Markus Häni gab es all diese Vermischungen nicht. Er hat sich gegen die Corona-Massnahmen ausgesprochen, er nahm in seiner Freizeit als Redner an Demonstrationen teil und vermied es, sich als Lehrer seines Gymnasiums zu präsentieren. Ausserdem waren seine Worte weder voller Häme noch menschenverachtend.

Grundsätzlich muss auch in der heutigen Situation Israel-Kritik möglich sein. Ich halte nichts von Kundgebungsverboten und Meinungszensur. Das Ehepaar am Institut für Islamwissenschaft hat allerdings die Rolle als Dozierende arg strapaziert und Grenzen verschoben. Deshalb wurde zurecht Hassan Ashraf von der Berner Universität nach Gewährung des rechtlichen Gehörs fristlos gekündigt und eine unabhängige Untersuchung gegen die Institutsleitung eingeleitet.

 

 

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Mein bestes Geburtstagsgeschenk https://condorcet.ch/2023/10/mein-bestes-geburtstagsgeschenk/ https://condorcet.ch/2023/10/mein-bestes-geburtstagsgeschenk/#comments Wed, 11 Oct 2023 09:22:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=15087

Ein Dozent des islamischen Instituts der Universität Bern bedankt sich nach den Terrorttacken der Hamas auf der Plattform X für ein «bestes Geschenk» an seinem Geburtstag. Seine Vorgesetzte, Selina Tolino, CO-Direktorin des Instituts und Ehefrau des Dozenten, sieht in diesen TWEETS «keine antisemitische Intention».

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Dr. Hassan Ashraf, Dozent am Islaminstitut: Shabat Shalom!

«Danke an die palästinensischen Widerstandskämpfer für das beste Geschenk an meinem Geburtstag» und «Shabat Shalom»

Seine Studenten reagierten umgehend. In einem Brief an die Universitätsleitung schrieben sie unter anderem:

«Wir sind alarmiert, dass ein Lehrbeauftragter an unserem Institut solches Gedankengut auf einer der grössten Internetplattformen, unter Angabe seiner Funktion und seines Arbeitgebers, veröffentlicht. Im Kontext der aktuellen Geschehnisse sind diese Äusserungen menschenverachtend, gewaltverherrlichend und verstörend. Wir Studierenden am ISNO distanzieren uns ganz klar von dieser Haltung unseres Dozenten. Wir sind der Meinung, dass dieser Dozent nicht länger an unserem Institut tragbar ist.»

Dr. Ashraf reagierte auf die Kritik mit folgender Stellungnahme: “Es tut mir leid, wenn diese beiden einzelnen Tweets von mir diese Assoziation hervorgerufen haben. Ich kritisiere Angriffe auf Zivilpersonen und auf Juden und lehne die Politik der Hamas grundsätzlich ab (Der Bund).

Das zeigt, dass man am Institut für Islamwissenschaft nicht nur widerliche Tweets absetzen kann. Man muss auch nicht besonders intelligent sein, um eine Dozentenstelle zu ergattern. Und wenn man dann noch eine Vorgesetzte und gleichzeitige Ehefrau (Selina Tolino) hat, welche keine antisemitische Intention erkennt, kann Herr Ashraf einen schönen Geburtstag feiern.

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Freie Debatte unerwünscht https://condorcet.ch/2023/10/freie-debatte-unerwuenscht/ https://condorcet.ch/2023/10/freie-debatte-unerwuenscht/#comments Wed, 04 Oct 2023 04:58:41 +0000 https://condorcet.ch/?p=15065

Der Condorcet-Blog möchte einen Meinungsaustausch zu Bildungsfragen ermöglichen, wobei konträre Ansichten ausdrücklich erwünscht sind. Dies ist nicht selbstverständlich, da sich Interessierte zunehmend solchen Diskursen entziehen, wenn sie Beiträge lesen, die ihren Ansichten widersprechen. Dass dies auch in einem Land geschieht, das mit der Magna Charta und der Glorious Revolution den Weg für die westlichen Demokratien geebnet hat, lässt aufhorchen. Folgender Artikel von Anna Fazackerley im Guardian vom 01.Oktober 2023 schildert Beunruhigendes aus England. Condorcet-Autor Felix Schmutz hat ihn übersetzt.

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Es fühlte sich an wie Diktatur (1)

 Englische Unterrichtsexperten wehrten sich gegen die Anordnung der Regierung, sie am Reden zu hindern

Spezialisten, welche die offizielle Bildungspolitik kritisieren, behaupten, das Erziehungsministerium führe geheime Akten über sie.

Felix Schmutz, Baselland: Übersetzt einen Artikel des Guardian
Anna Fazackerley, Journalistin des Guardian: Systematische Überwachung durch das Erziehungsministerium.

Es geschah an einem Dienstag Abend im März, zwei Tage, bevor Ruth Swailes, eine Expertin in Früherziehung, nach Manchester reisen sollte, um an einer Konferenz zu sprechen. Nichts an der Veranstaltung – die Gründung einer von der Regierung finanzierten Austauschplattform zur Verbesserung der Erziehung von Kindern unter fünf Jahren – war ihr als kontrovers erschienen. Aber an jenem Abend öffnete sie ein Mail ihres Co-Referenten, Dr. Aaron Bradbury, das besagte, dass die Regierung sie beide von der Teilnahme an der Veranstaltung ausschliesse.

Ausserdem erklärte die Stiftung, die von mehreren Akademien unterstützt wird und die Konferenz organisierte, dass das Erziehungsministerium (EM) der ganzen Veranstaltung den Stecker ziehen wolle, da zwei ‘nicht genehme’ (unsuitable) Experten eine Plattform erhalten sollten.

«Es war schockierend», meint Swailes heute. «Ich schickte dem EM sofort eine Mail, aber sie sagten nur, sie würden sich mit mir in Verbindung setzen. Es fühlte sich alles an wie eine hinterhältige Intrige (cloak and dagger).

Die Organisatoren waren entsetzt – und hielten eisern daran fest, dass Swailes und Bradbury, Co-Autoren eines Bestsellers über die frühe Kindheit, die Erlaubnis zu sprechen erhalten sollten.

Ruth Swailes, Expertin in Früherziehung: Es war schockierend.

Nach etlichen Verhandlungen war das EM einverstanden, dass die Veranstaltung durchgeführt werden konnte, aber nur, wenn Swailes und Bradbury virtuell über Zoom erscheinen würden. Swailes vermutet, dies sei verlangt worden, damit die Behörden «uns abschalten könnten, wenn sie nicht mit uns einverstanden wären.»

Die Stiftung lehnte Zoom ab, indem sie geltend machte, dass sie nicht gut den 120 Kinderbetreuer(innen) das Weekend belegen und sie quer durchs Land reisen lassen könnten, um ihnen einfach nur einen Bildschirm vorzusetzen.

Nachdem Swailes und Bradbury das EM darüber informiert hatten, dass die Anwälte, die sie konsultiert hatten, ein düsteres Urteil abgäben über die Versuche, sie zum Schweigen zu bringen, erhielten die beiden Experten die Erlaubnis, persönlich reden zu dürfen. Aber Swailes bemerkt, dass ein höherer Regierungsbeamter aufkreuzte, um sie zu ‘überwachen’.

Bradbury, der damals das EM gerade über die Weiterbildung des Betreuungspersonals beriet, fand den Vorfall ‘traumatisch’. «Gesagt zu bekommen, dass wir diese Debatte nicht führen können, fühlte sich an, wie wenn wir in einer Diktatur und nicht in einer Demokratie leben würden», meint er.

Ich entdeckte, dass sie mich konsequent überwachten.

Auch Swailes war beunruhigt. Sie stellte einen Antrag auf Akteneinsicht, der das EM zwang, alle e-mails oder Dokumente, die ihren Namen enthielten, herauszugeben. Die Antwort war ‘unheimlich’, meinte sie, und öffnete eine ganze Pandorabüchse (can of worms) quer durch ihren Berufssektor, da andere Erziehungsfachleute, die ebenfalls dafür bekannt waren, ihre Meinung frei zu äussern, ihre eigenen Einsichtsanträge stellten.

«Ich entdeckte, dass sie mich konsequent überwachten», sagt Swailes. Die Akte, die sie sich verschafft hatte, hob Tweets hervor, in denen sie sich kritisch über Ofsted, das Schulinspektorat, äusserte. Die Akte vermerkte Fälle, in denen sie Tweets mit einem «like» versah, die Birth to 5 Matters (Die Zeit zwischen Geburt und fünf Jahren zählt), propagierten, einen Ratgeber, der von einem Zusammenschluss von Früherziehungsexperten, nicht aber von der Regierung verfasst worden war.  Ein e-mail nennt sie eine langjährige Kritikerin der regierungskonformen Früherziehung – etwas, was sie als unwahr bezeichnet.

Welche Leute auch immer Swailes auf Twitter (heute X) nachspürten – die Namen wurden unkenntlich gemacht, so dass sie keine Ahnung hatte -, diese Leute werden auch Beiträge über den Kampf ihres Mannes Pete mit dem tödlichen Krebs gesehen haben und über die Gruppe von Fremden und Freunden, die Bilder von ihren «schicken Socken» posteten, um ihn aufzuheitern.

«Als wir Regierungsvertreter trafen, um mit ihnen über ihren Versuch, uns am Reden zu hindern, zu sprechen, wies ich darauf hin, dass ich freischaffend und eine kürzlich verwitwete alleinerziehende Mutter sei», erklärt sie. «Ich sagte: «Ich habe zwei Töchter, und mein guter Ruf ist mein Lebensunterhalt, deshalb ist nichts von Ihrem Verhalten OK.»

Neun andere Erziehungsfachleute haben inzwischen ähnliche – oft sehr umfangreiche – Akten des EM aufgedeckt, die ihre Tweets und ihre kritischen Ansichten sammelten. Viele andere warten noch auf Bescheid.

Carmet O’Hagan, eine Beraterin und Expertin in modernen Fremdsprachen, sagt, die Lektüre ihrer 37 Seiten Korrespondenz über sie, welche auch eine Excel-Tabelle enthielt, mit wem sie verkehrte, sei «bedrückend und verletzend».

(1) https://www.theguardian.com/education/2023/sep/30/it-felt-like-a-dictatorship-uk-teaching-experts-hit-out-at-government-bid-to-cancel-them

 

 

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Fata Morgana Verbotsgesellschaft https://condorcet.ch/2023/10/fata-morgana-verbotsgesellschaft/ https://condorcet.ch/2023/10/fata-morgana-verbotsgesellschaft/#comments Tue, 03 Oct 2023 15:54:53 +0000 https://condorcet.ch/?p=15059

Condorcet-Autor Roland Stark empfindet die Debatte um die angebliche Einschränkung der Meinungsfreiheit als weit überzogen und appeliert an das Gemeinschaftsgefühl.

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Schon ein flüchtiger Blick in die Medien oder auf die «Sünneli»-Propaganda für die Wahlen im Herbst lässt Schlimmes befürchten. Wir staunen: In den 175 Jahren seit der Gründung der modernen Schweiz 1848 wurden unsere Freiheitsrechte immer stärker eingeschränkt. Selbst ein kluger Kopf wie Eric Guyer, Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung, behauptet allen Ernstes, die Gesellschaft mutiere zur Erziehungsanstalt, welche ihren Insassen beibringe, welches Auto sie fahren, welche Heizung sie benutzen und wie sie korrekt sprechen sollen. (NZZ, 28.7.2023).

Roland Stark, ehem. SP-Parteipräsident der Sektion Basel-Stadt, Heilpädagoge und Vorstandsmitglied des Condorcet-Trägervereins: Eine Diskussionskultur ohne Mass und Vernunft.

Heute erregen Bettler, Klima-Kleber und Gendersterne die Gemüter. Früher waren es Fremdarbeiter («Tschinggen») oder langhaarige 68er («ab nach Moskau»), die als Reize funktionierten wie beim Pawlow’schen Hund, dem der Speichel bereits floss, wenn er nur den Klang der Glocke hörte, die das baldige Essen ankündigte.

Angeblich – oder tatsächlich – sind in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Gesetze und Verordnungen beschlossen worden, die offenbar grosse Teile der Bevölkerung in tiefstes Unglück stürzten. Rauchverbot in Restaurants, Vermummungsverbot, Indianer, Eskimos und Kaminfeger sind aus Spielen, Kinderbüchern und Liedern verbannt, Lehrkräfte dürfen ihre Zöglinge nicht mehr schlagen oder mit Kreiden bewerfen, AKW’s, Gasheizungen und Fleisch auf dem Teller sind bald Geschichte. Selbst die Bezeichnungen «Mutter» und «Vater» sind akut gefährdet. Bäckereien verwandelten «Meitlibei» in «Glücksbringer».

Aus “Meitschibei” wird “Glücksbringer”

Noch härter getroffen hat es aber die Autofahrerinnen und Autofahrer; ihr Ansehen rangiert unterdessen am untersten Ende der politischen Nahrungskette. Der Airbag wurde Pflicht, das Gutenobligatorium eingeführt, ein Tempolimit auf Autobahnen. Hunderte Parkplätze vernichtet, zuerst am Barfi, in der Freien Strasse, dann auf dem Marktplatz und dem Münsterplatz. Und nun auch noch in den Quartierstrassen. Dazu Tempo 30, nicht nur vor Kindergärten, sondern gleich flächendeckend. Rücksichtslose Velofahrerinnen und Velofahrer, Baustellen, Staus, Ampeln und Umleitungen behindern die freie Fahrt.

Über 30 Jahre vor Eric Guyer hatte schon Friedrich Dürrenmatt, in seiner provokanten Rede zu Ehren Vaclav Havels, den Zustand unseres Landes sinngleich beschrieben:

«Die Gefängnisverwaltung, die alles gesetzlich zu regeln versucht, behaupet, das Gefängnis befinde sich in keiner Krise, die Gefangenen seien frei, insofern sie echte gefängnisverwaltungstreue Gefangene seien, während viele Gefangene der Meinung sind, das Gefängnis befinde sich in einer Krise, weil die Gefangenen nicht frei seien, sondern Gefangene.» (22.11.1990)

Die alllwissende Suchmaschine Google nennt auf Anfrage das Stichwort Verbotsgesellschaft 3430 mal: «Sind wir auf dem Weg in die Verbotsgesellschaft?», «Wie die Verbotsgesellschaft den Bürger entmündigt», «Signal gegen eine ausufernde Verbotsgesellschaft», «Im Eiltempo unterwegs zur Verbotsgesellschaft», «Der Irrweg in die Verbotsgesellschaft» usw. usf. Blättert man in den Texten, erkennt man sogleich ein riesiges Tohuwabohu, einen wirren Mix aus vernünftigen, überflüssigen und erfundenen Regeln. Im selben Topf finden sich etwa Tempolimits, Rauchverbote auf Spielplätzen, verkehrsbefreite Innenstädte, Mieterschutz, Maskenpflicht, Solarheizungen auf Dächern, Kleidervorschriften an Schulen, Handyverbot im Klassenzimmer, Gendersprache in der Verwaltung. Wer in einigen Jahren zurückblickt, schaut verwundert und erschreckt auf eine Gesellschaft ausser Rand und Band und eine Diskussionskultur ohne Mass und Vernunft.

Es ist ein eigentümlich narzisstisches Verständnis von Freiheit, wenn jede Regel, die Rücksicht auf andere, jedes Gesetz, das mit Blick auf das Gemeinwohl mir individuell etwas abverlangt, jede Norm, die zum Schutz von Personen oder Institutionen oder der Natur erlassen wird, kategorisch abgelehnt und als mutmassliche Repression umgedeutet wird.

Carolin Emcke, Autorin: Jede Selbstbeschränkung als Zumutung?

Vielleicht liest aber auch jemand nachträglich die Kolumne von Carolin Emcke unter dem Titel «Die Maulhelden» in der Süddeutschen Zeitung:

 «Es ist ein eigentümlich narzisstisches Verständnis von Freiheit, wenn jede Regel, die Rücksicht auf andere, jedes Gesetz, das mit Blick auf das Gemeinwohl mir individuell etwas abverlangt, jede Norm, die zum Schutz von Personen oder Institutionen oder der Natur erlassen wird, kategorisch abgelehnt und als mutmassliche Repression umgedeutet wird. Jede Achtung vor anderen, jede Selbstbeschränkung, jedes Einhegen von eigenen Ansprüchen wird da schon mit infantilem Geplärre als Zumutung behauptet. Man könnte es für einen populistischen Kinder-Zirkus halten, was da gerade aufgeführt wird, wenn es nicht so gefährlich wäre in der Absage an demokratische Verbindlichkeit und Solidarität.» (SZ, 26.8.2023)

 Der Krieg in der Ukraine, Corona, die Klimakrise, Flüchtlinge, wirtschaftliche und soziale Abstiegsängste und Umweltzerstörungen verunsichern viele Menschen und liefern Vereinfachern, Demagogen und Populisten reichlich Futter für ihre Hasspredigten und ideologischen Feldzüge.

Die immensen Herausforderungen sind  jedoch nur zu bewältigen, wenn sich die Gesellschaft auf Regeln des Zusammenhalts und der Rücksichtsnahme verständigt. Das nennt man Demokratie. Politik und Medien sind gefordet. In erster Linie aber steht jede und jeder Einzelne in der Verantwortung. In Wort und Tat.

Dieser Artikel ist zuerst im bajour erschienen, 2. Oktober 2023

 

 

 

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«Die Geschichte eines Sprechverbots: An der Uni wird wieder der bestraft, der anders denkt» – Eine Replik https://condorcet.ch/2023/08/die-geschichte-eines-sprechverbots-an-der-uni-wird-wieder-der-bestraft-der-anders-denkt-eine-replik/ https://condorcet.ch/2023/08/die-geschichte-eines-sprechverbots-an-der-uni-wird-wieder-der-bestraft-der-anders-denkt-eine-replik/#comments Tue, 01 Aug 2023 12:21:53 +0000 https://condorcet.ch/?p=14723 Dem Artikel von Jan Fleischhauer ist inhaltlich nichts hinzuzufügen. Die beschriebene Begebenheit ist empörend und seine Kritik daran unbedingt angebracht. Das Thema «Cancel Culture» ist ansonsten kontrovers und polarisiert. Die unterschiedlichen Haltungen dazu gehen folglich in die zwei Hauptrichtungen der Ablehnung und der Negierung. Insofern könnte man den Text kommentarlos als weiteren Beitrag zur Thematik stehen lassen. Das Ende von Fleischhauers Text und die dortige Inkonsequenz allerdings lassen aufhorchen. Der Schluss hat es bei näherer Betrachtung und losgelöst vom thematisierten Gegenstand in sich. Eine Replik von Condorcet-Autor Felix Hoffmann.

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Felix Hoffmann, BL, Sekundarlehrer, Condorcet-Autor: Rhetorisch äusserst geschickt.

«Als die deutsche Professorenschaft 1934 aufgefordert wurde, einen Eid auf Adolf Hitler abzulegen, gab es lediglich zwei Hochschullehrer, die diesen verweigerten. (…) Manchmal lohnt es, sich vorzustellen, wie sich Menschen in einer anderen Zeit in einem anderen System verhalten hätten. Wer in Erlangen studiert, hat nun eine begründete Vermutung, was seine Professoren, angeführt von dem Dekan Rainer Trinczek, angeht.»

Hält man sich an den Nietzsche-Grundsatz des Condorcet-Blogs, wonach jedes Sehen perspektivisches Sehen ist, eröffnen sich einem zumindest zwei Perspektiven, auf die es sich lohnt, näher einzugehen.

Aus der einen betrachtet, zeugt es von Intelligenz sowie stilistischer Eleganz und sprachlicher Kunstfertigkeit, ein heisses Eisen nicht anzufassen, sondern es lediglich anzudeuten, und zwar so, dass augenblicklich klar ist, was nicht gesagt, aber eben – vermeintlich – gemeint ist. Der Vorteil der Andeutung für Fleischhauer besteht darin, dass er sich schlecht beim Wort nehmen lässt, da er selbiges vermeidet, und zwar aus gutem Grunde. Gemeint ist natürlich der deutsche Nationalsozialismus der Dreissigerjahre, womit wir uns der zweiten Perspektive und dem oben erwähnten heissen Eisen nähern.

Jan Fleischhauer, Kolumnist, bezichtigt die Uni-Professoren der Feigheit

Letzteres besteht einerseits darin, dass Fleischhauer – eben nur andeutungsweise – die gesamte Professorenschaft der Uni Erlangen dem Verdacht der Feigheit aussetzt, eben jener Feigheit, der auch schon die Professoren unter Adolf Hitler offenbar unterlagen. Fleischhauer tut dies rhetorisch äusserst geschickt nicht über eine explizit bezichtigte Mutlosigkeit, sondern indem er einer anonymen Studentenschaft eine «begründete Vermutung» unterjubelt. Diese trotz aller eindrücklichen Rhetorik pauschalisierende Unterstellung geschieht möglicherweise auch noch ohne Wissen darüber, welcher der dortigen ProfessorInnen in die thematisierte Angelegenheit eingeweiht war und somit allenfalls in der Lage gewesen wäre zu reagieren. Überdies vergleicht Fleischhauer andererseits die heutige Cancel Culture – eben auch wieder nur andeutungsweise – mit dem damaligen Nationalsozialismus, der notabene mit der industriellen Vernichtung von rund sechs Millionen Menschen endete. Zur Erinnerung: In der vorliegenden Angelegenheit geht es um eine unbegründete Ausladung eines Professors.

Abgesehen vom oft bemühten Argument der Verharmlosung des Holocausts und ungeachtet dessen, dass Fleischhauer durch seinen angedeuteten Vergleich mit Kanonen auf Spatzen schiesst, stellt sich die Frage, warum er lediglich im Bereich der Andeutungen verharrt, anstatt klar Stellung zu beziehen und das Kind beim Namen zu nennen. Eine mögliche Antwort darauf gibt er selbst:

«Manchmal lohnt es, sich vorzustellen, wie sich Menschen in einer anderen Zeit in einem anderen System verhalten hätten.»

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Die Geschichte eines Sprechverbots: An der Uni wird wieder der bestraft, der anders denkt https://condorcet.ch/2023/07/die-geschichte-eines-sprechverbots-an-der-uni-wird-wieder-der-bestraft-der-anders-denkt/ https://condorcet.ch/2023/07/die-geschichte-eines-sprechverbots-an-der-uni-wird-wieder-der-bestraft-der-anders-denkt/#comments Sat, 29 Jul 2023 15:49:56 +0000 https://condorcet.ch/?p=14663

Der Condorcet-Blog wurde seinerzeit gegründet, weil seine Initiatoren der Meinung waren, es werden in den Medien, in den PH’s, in der Verwaltung und in den Parteien nicht mehr alle Meinungen abgebildet oder zugelassen. Ausserdem würde sehr oft versucht, umstrittene Personen mit „Kontaktschuld“ und Etikettierung aus dem Diskurs fernzuhalten. Vier Jahre nach der Gründung unseres Bildungsblogs müssen wir feststellen, dass die Problematik der „Cancel culture“ um sich greift. Wenn verlangt wird, dass Professorinnen, die sogenannt missliebige Studien veröffentlichen, von ihrer Fakultät entlassen oder namhafte Wissenschaftler mit unpopulären Meinungen am Auftreten gehindert werden, müssen wir das klar benennen und uns dagegen wehren. Es widerspricht unseren Prinzipien einer offenen und freien Debatte. Von Anfang an suchten wir immer den Dialog mit Persönlichkeiten, die auch andere Überzeugungen haben und bemühten uns um das Prinzip „Rede und Gegenrede“. In keinem Milieu gedeiht die Einengung des Diskurses so prächtig wie an den Universitäten. Das Verrückte dabei ist: Niemand ist in Deutschland und in der Schweiz so abgesichert wie ein auf Lebenszeit berufener Hochschullehrer. Es kann ihm nichts passieren, wenn er sich querlegt oder einfach nur das macht, was er für richtig hält. Und dennoch ziehen alle sofort den Kopf ein, wenn Ärger droht. Jan Fleischhauer berichtet im Fokus von einem Fall an der Uni Erlangen.

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Von der Cancel Culture behaupten einige Leute hartnäckig, es gebe sie gar nicht. Was ist dann bloß an der Universität Erlangen passiert, wo gerade einer der bekanntesten Althistoriker Deutschlands ausgeladen wurde? Die Alte Geschichte ist eine stille Wissenschaft. Die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigt, sind seit Langem tot. Tote Völker, tote Steine, tote Sprachen. Nichts, womit man Aufregung oder gar Empörung auslösen könnte. Sollte man meinen.

Gastautor Jan Fleischhauer

Wie man sich doch täuschen kann. Vor zwei Wochen war der Althistoriker Egon Flaig an die Universität Erlangen eingeladen, um mit einem Abendvortrag ein Symposium zum Thema „Freiheit“ zu eröffnen. Flaig ist einer der wenigen Vertreter seines Fachs, die auch außerhalb der Fachwelt bekannt sind. Bis zu seiner Emeritierung hatte er den Lehrstuhl für Alte Geschichte in Rostock inne, noch immer ist er regelmäßig in großen Zeitungen mit Aufsätzen vertreten.

Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität.

Vor wenigen Monaten erst erschien von ihm ein viel beachteter Text, mit dem er sich in die Postkolonialismus-Debatte einmischte. Flaig wies in dem Artikel darauf hin, dass der Sklavenhandel nicht nur weiße, sondern auch schwarze Täter kannte – und auch weiße Opfer. Eine Million Europäer haben die Araber in die Sklaverei geführt, eine Zahl, die zeigt, dass der Wunsch nach historischer Wiedergutmachung nicht so leicht zu erfüllen ist, wie manche meinen.

Was wäre ein besserer Ort, um über historische Perspektiven zu debattieren, als eine Hochschule? Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität.

Was wäre ein besserer Ort, um über historische Perspektiven zu debattieren, als eine Hochschule? Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität. Dafür wird die akademische Welt vom Staat mit viel Geld ausgestattet. Dafür genießen Professoren eine materielle Absicherung, die ihresgleichen sucht.

Universität zieht Einladung zurück

Eine Woche vor dem geplanten Auftritt in Erlangen erreichte Flaig ein Schreiben des Professors, der ihn eingeladen hatte, des Archäologen Andreas Grüner. Mit dem größten Bedauern sehe er sich gezwungen, die Einladung zurückzuziehen, schrieb Grüner.

Was war geschehen? Das fragte sich auch Flaig und bat um Rückruf. Am Telefon darauf: Ein zerknirschter Kollege, der beteuerte, wie leid ihm alles tue. Man habe sich schon sehr auf den Vortrag gefreut, aber dann habe sich der Dekan der Universität eingeschaltet, ob man wirklich einem wie Flaig eine Plattform bieten wolle?  In einem weiteren Schreiben aus dem Dekanat hieß es, das Meinungsbild innerhalb der Fakultät sei eindeutig. Die Gründe? Im Unklaren.

Professor fürchtet sich vor „Repressalien“

Auf Flaigs Hinweis, als Professor stehe Grüner doch frei zu entscheiden, wen er einlade und wen nicht, bat dieser noch einmal um Entschuldigung. Er müsse an die jungen Leute denken. Würde er bei seiner Einladung bleiben, würde das möglicherweise Kreise ziehen und die wissenschaftlichen Mitarbeiter Repressalien aussetzen. Es täte ihm furchtbar, furchtbar leid, aber ihm bleibe keine andere Wahl.

Der Kolumnist Harald Martenstein hat neulich darauf hingewiesen, dass es sich bei der Cancel Culture wie mit der Stadt Bielefeld verhält, von der Spaßvögel auch behaupten, es gebe sie gar nicht.  Parallel zur Praxis der Cancel Culture hat sich ein regelrechter Wissenschaftszweig etabliert, der die Cancel Culture als Hirngespinst betrachtet. Wäre der Begriff nicht schon anderweitig vergeben, würde man von Cancel-Culture-Leugnern sprechen.

Ist die Cancel Culture doch nur Einbildung?

Der bekannteste Vertreter der neuen Profession ist der Literaturwissenschaftler Adrian Daub. Daub hat ein ganzes Buch vorgelegt, dass die Cancel Culture zu einem Missverständnis erklärt. Es wollten heute halt auch Leute mitreden, die bis eben noch ausgeschlossen gewesen seien, Frauen, Schwarze, Transmenschen. Das führe bei den etablierten Diskursanführern zu einem Störgefühl, das sie mit Cancel Culture verwechselten. Alles also Einbildung? Ich neige in der Sache eher zu Martenstein. Dafür laufen da draußen, wie er sagen würde, nicht nur zu viele Bielefelder, sondern auch Gecancelte herum.

Die akademische Welt ist derzeit der heißeste Frontabschnitt im Kampf um die Meinungsfreiheit. Der Fall Flaig ist dabei so interessant, weil er die Grenze verschiebt, von der offenen Auseinandersetzung ins Heimliche und Verdeckte. Bis heute ist unklar, woher die Initiative zur Ausladung kam. War es der AStA, der sich beschwerte? Oder ein Kollege, der fand, dass jemand, der daran erinnert, dass der Sklavenhandel auch schwarze Nutznießer hatte, nicht nach Erlangen passt?

Die akademische Welt ist derzeit der heißeste Frontabschnitt im Kampf um die Meinungsfreiheit.

Oder war es am Ende eine einsame Entscheidung des Dekans, der schlechte Presse fürchtete? All das liegt im Unklaren. Es gibt noch nicht einmal eine Begründung, weshalb Flaig in Erlangen unerwünscht ist. Publik gemacht hat den Fall der ehemalige SPD-Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern Mathias Brodkorb. „Akademischer Suizid?“ lautete die Überschrift seines Artikels in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Heute ist das ein Todesurteil

Aber auch Brodkorb gegenüber wollte die Universität nicht sagen, warum sie ihren Gast wieder ausgeladen hat. Der Dekan beruft sich auf Vertraulichkeit. Das ist nicht nur feige – dem Betroffenen wird so jede Möglichkeit genommen, sich gegen die Rufschädigung zur Wehr zu setzen. Wie soll man sich gegen einen Vorwurf verteidigen, den man nicht kennt?

Man darf sich nicht vertun: Eine Ausladung wie die in Erlangen hat Folgen. Andere Fakultäten werden sich gut überlegen, ob sie noch eine Einladung aussprechen. Es braucht nicht viel, um sich das Gespräch vorzustellen. „Ach, muss es der XY sein? Der ist doch so umstritten. Lass uns jemand anderes nehmen.“ Die Zeit, als umstritten zu sein, noch ein Grund war, jemanden erst recht zu bitten, ist lange vorbei. Heute ist das ein Todesurteil.

Universitäten legen den freien Diskurs in Ketten. Auch jenen über den Sklavenhandel.

Das ist das Gemeine: Wenn man gar nicht erst eingeladen wird, braucht es anschließend keine Ausladung mehr. Dann ist man gecancelt, ohne beweisen zu können, dass man gecancelt wurde. Genauso ist es auch bezweckt. Es versteht sich von selbst, dass alles im Namen der Meinungsfreiheit geschieht. Die Suspendierung der Freiheit, um die Freiheit zu garantieren, das ist der eigentliche Twist.

Vor Jahren erhielt ich einen Anruf meines Freundes Henryk M. Broder, ob ich am nächsten Tag in London sein könne. Die „German Society“ an der London School of Economics hatte Broder, den langjährigen „Spiegel“-Kulturchef Hellmuth Karasek und den gerade als Bestsellerautor hervorgetretenen Bundesbanker Thilo Sarrazin zu einer Podiumsdiskussion eingeladen.

Eigentlich hätte die damalige ZDF-Korrespondentin die Diskussion moderieren sollen, aber die hatte plötzlich kalte Füße bekommen. Also saß ich am kommenden Tag im Flugzeug. Am Nachmittag fand ich mich mit dem gut gelaunten Broder und seinen beiden Mitstreitern vor Ort ein. Doch dann trat ein Vertreter der Universität an uns heran.

„Free Speech Aktivisten“ schaden dem freien Diskurs

Die „Free Speech Group“ der London School of Economics hatte Protest angemeldet. Sarrazin und Broder seien „Provokateure“, deren „Unwissenschaftlichkeit“ dem freien Diskurs schade. Dem Argument folgend, dass die Ausübung der freien Rede nachteilige Folgen haben könne, hatte die Verwaltung die Nutzung des Hörsaals untersagt.

Die Diskussion fand dann doch noch statt, im Ballsaal des nahe gelegenen „Waldorf Hilton“. Der Vorsitzende der German Society Marc Fielmann, Sohn des bekannten Brillenhändlers, verfügte über die nötigen Kontakte. So war es am Ende eine Hotelkette, die die Ausübung der Meinungsfreiheit sicherstellte, gegen die Free-Speech-Aktivisten.

So war es am Ende eine Hotelkette, die die Ausübung der Meinungsfreiheit sicherstellte, gegen die Free-Speech-Aktivisten.

Der deutsche Professor war noch nie ein großer Kämpfer für die Freiheit. Man soll mit historischen Vergleichen vorsichtig sein, aber an dieser Stelle muss man es vielleicht doch erwähnen:  Als die deutsche Professorenschaft 1934 aufgefordert wurde, einen Eid auf Adolf Hitler abzulegen, gab es lediglich zwei Hochschullehrer, die diesen verweigerten. Der eine war der Theologe Karl Barth, der war allerdings Schweizer. Der andere war Kurt von Fritz, Professor für Altgriechisch an der Universität Rostock.

Manchmal lohnt es, sich vorzustellen, wie sich Menschen in einer anderen Zeit in einem anderen System verhalten hätten. Wer in Erlangen studiert, hat nun eine begründete Vermutung, was seine Professoren, angeführt von dem Dekan Rainer Trinczek, angeht.

 

Lesen Sie dazu auch: https://condorcet.ch/2023/05/die-ethnologin-susanne-schroeter-steht-unter-druck-wissenschaft-ist-auch-eine-charakterfrage/

 

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Links ideologisierter Unterricht – ein kritischer Blick aus Schülersicht https://condorcet.ch/2023/05/links-ideologisierter-unterricht-ein-kritischer-blick-aus-schuelersicht/ https://condorcet.ch/2023/05/links-ideologisierter-unterricht-ein-kritischer-blick-aus-schuelersicht/#comments Mon, 01 May 2023 09:00:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=13712

Unser Gastautor Mike Biesuz gehört zu den Maturanden der Bezirksschule Baden, die in ihrer Maturarbeit die politische Einseitigkeit des Unterrichts untersucht haben. Sie lösten damit ein enormes Echo aus, das auch politische Folgen hatte. Der Kantonsrat beschloss, eine weitere Untersuchung in Auftrag zu geben, die die Thesen der drei Maturanden prüfen soll. Das Mandat erhielten der bekannte Politologe Michael Hermann und dessen Forschungsstelle "sotomo". Wir haben Herrn Biesuz die Möglichkeit gegeben, seinen Befund unserer Leserschaft vorzustellen. Der Inhalt muss sich nicht mit der Meinung der Redaktion decken, soll aber zum Diskutieren anregen. Lesen Sie dazu auch den Bericht (https://condorcet.ch/2022/09/feindbild-lehrer-die-linke-uebermacht/) Die politische Färbung des Unterrichts breche nicht nur mit geltendem Recht, namentlich dem Schulgesetz, sondern auch mit dem Prinzip der Gleichbehandlung von Schülerinnen und Schülern, wie Mike Biesuz in seinem Beitrag offen kritisiert.

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Bereits als Bezirksschüler ist mir die linke Schlagseite unangenehm aufgefallen, welche viele Lehrkräfte an den Tag legen. Dass es sich dabei nicht um eine einzelne Vorstellung eines aufmüpfigen Jungfreisinnigen handelt, sondern der generelle Eindruck vieler bürgerlich denkenden Schülerinnen und Schüler, wurde in unserer Maturaarbeit zur “Politischen Neutralität im Unterricht” untersucht und dokumentiert. Im Folgenden sollen einige der Spannungsfelder aus Sicht der Schülerschaft beleuchtet werden.

Ein zentraler Kritikpunkt an den mehrheitlich linkslastigen Lehrerkollegien gründet sich auf die Erfahrung, dass bürgerlich denkende Schülerinnen und Schüler im Schulalltag deutlich benachteiligt werden. Und das nicht nur in Bezug auf negative Kommentare zu den von ihnen geäusserten Argumenten und Positionen während des Unterrichts, sondern bedauernswerterweise auch hinsichtlich der Notengebung.

Gastautor Mike Biesuz, Schüler der Kantonsschule Baden AG

Bei Prüfungen mit einem grossen subjektiven Bewertungsspielraum zeigt sich das am deutlichsten. Argumentiert man bürgerlich, wird ganz einfach die Argumentationsstringenz bemängelt. Dass Argumente “nicht schlüssig” oder “nicht durchdacht” seien, lässt sich aus einer linken Warte rasch und ohne Bedarf einer ausführlichen Begründung kritisieren.

Aktives Überstülpen einer vordefinierten Meinung

Manche Prüfungen lassen sogar gar keine andere Sicht als die der Lehrkraft zu. Ein Beispiel: Schülerinnen und Schüler sollen “in eine Rolle schlüpfen” und aus Sicht einer Klimaaktivistin argumentieren oder das grenzenlose Wirtschaftswachstum kritisieren. Dass eine linke Kapitalismuskritik erwartet wird, dürfte klar sein. Damit handelt es sich aufgrund der Fülle und der Einseitigkeit derartiger Rollenspiele in Aufgabenstellungen nicht mehr um zielgerichteten Unterricht, sondern eher um das aktive Überstülpen einer vordefinierten Meinung.

Die Lehrpersonen rechtfertigen solche Aufgaben mit der Anforderung an die Schülerschaft, sich in andere hineinzuversetzen und aus einer fremden Position zu argumentieren. Der logische Fehlschluss: Damit argumentieren einzig die bürgerlich orientierten, nicht aber die linksorientierten Jugendlichen aus einer fremden Position. Allein schon diese Ungleichheit wirkt sich – ohne zusätzliche Einflussnahme durch die Lehrperson – negativ auf die Notengebung aus.

Die neue rote Linie heisst “Menschenwürde”

Weitere Felder, in denen sich bürgerliche Schülerinnen und Schüler im Unterrichtsalltag unwohl fühlen: Der Zwang zum Gendern drückt ihnen eine Sprache auf, welcher sie aktiv widersprechen. Und ein Generalverdacht führt dazu, dass man in Diskussionen wie der Elefant im Porzellanladen oder besser im Schneeflocken-Geschäft aufpassen muss, nicht etwas zu sagen, was die rote Linie der Lehrperson überschreitet. Diese rote Linie wird durch linke Lehrkräfte wunderbar kitschig als “Menschenwürde” definiert.

Viele bürgerliche Schülerinnen und Schüler trauen sich nicht mehr, ihre Meinung im Unterricht zu äussern.

Was sich auf den ersten Blick als vernünftiger Grundsatz für eine funktionierende Gesprächskultur liest, entpuppt sich im Klassenzimmer als extreme Einschränkung für die Meinungsfreiheit der Schülerschaft. Kritik an der Migrationspolitik oder der Ehe für alle oder das Befürworten des Burka-Verbots wird gleich als menschenverachtend diskreditiert. Aus diesem Grund trauen sich viele bürgerliche Schülerinnen und Schüler nicht mehr, ihre Meinung im Unterricht zu äussern.

Wie die Beispiele zeigen, handelt es sich bei der Diskussion um die politische Neutralität der Schule nicht um einen reinen Paragraphenkrieg. Es geht um viel mehr: um das Recht der Schülerschaft, gleichbehandelt zu werden und sich wirklich frei äussern zu können.

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Scheinheilig https://condorcet.ch/2022/05/scheinheilig/ https://condorcet.ch/2022/05/scheinheilig/#respond Thu, 05 May 2022 14:21:13 +0000 https://condorcet.ch/?p=10919

Condorcet-Autor Felix Schmutz reagiert prompt auf den Beschwichtigungsversuch der baselstädtischen Kommunikationsabteilung. Die nebulöse Zurücknahme der rigiden Kommunikationsvorgaben durch den Amtsvorsteher Urs Bucher (https://condorcet.ch/2022/03/mehr-orban-wagen-wie-das-basler-erziehungsdepartement-kritiker-zum-schweigen-bringt/) sei scheinheilig und verwedle die eigenliche Absicht.

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Felix Schmutz, Baselland:
Lehrkräfte sind auch Staatsbürger.

Simon Thiriet unternimmt einen Beschwichtigungsversuch, der wenig glaubhaft ist. Die Hierarchisierung der Schulorganisation, die Aufblähung der ED-Amtsstuben mit pädagogischen Mitarbeitern haben zu einer Gängelung der Unterrichtenden in ihrem Handeln geführt.

Die Weisung behandelt Lehrkräfte so, als wären sie Angestellte einer Firma. Das ist falsch!

Thiriet weiss natürlich, dass Lehrpersonen auch Staatsbürger sind, für die Meinungsfreiheit gilt. Die Weisung behandelt Lehrkräfte so, als wären sie Angestellte einer Firma. Das ist falsch! Lehrkräfte sind Fachleute, Experten auf dem Gebiet des Unterrichts und der Erziehung mit reicher Erfahrung. Davon hat ein Herr Thiriet keine Ahnung. Wenn Thiriet nun behauptet, Kritik medial zu äussern, sei möglich, wenn die Schulleitung davon informiert werde, wenn der Name der Schule verschwiegen werde, wenn die Kritik an die Schulleitung oder die Organe der Schulkonferenz geleitet werde, behandelt er die Lehrkräfte wie Kindergärtler. Seine Bedingungen schaffen Ungewissheiten und Hürden, die abschreckend wirken und die Beanstandungen versanden lassen sollen. Warum? Oft richtet sich die Kritik ja gerade gegen die von Behörden und Schulleitung vertretenen Positionen. Da geht es nicht um Baumfällaktionen oder Ping-Pong-Tische auf dem Pausenhof, sondern um pädagogische, didaktische oder schulorganisatorische Entscheide des ideologielastigen Erziehungsdepartementes. Kritische Einwände könnten das Bild einer harmonisch funktionierenden Schulwelt empfindlich trüben und die Eminenzen des ED-Apparats in Frage stellen. Nur darum geht es bei der zitierten Maulkorb-Weisung.»
Felix Schmutz, pens. Sekundarlehrer, Allschwil

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Das Basler Erziehungsdepartement krebst zurück – Leserbriefe erlaubt https://condorcet.ch/2022/05/das-basler-erziehungsdepartement-krebst-zurueck-leserbriefe-erlaubt/ https://condorcet.ch/2022/05/das-basler-erziehungsdepartement-krebst-zurueck-leserbriefe-erlaubt/#respond Thu, 05 May 2022 13:50:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=10914

Das Erziehungsdepartement (ED) hat wohl schnell realisiert, dass ihr Schreiben „Weisung Medienkontakte“ vom November 2021 in unserem direktdemokratischen System den Bogen überspannt: Gerade die Meinungs- und Pressefreiheit geniessen in der Schweiz einen sehr hohen Stellenwert. In der Weisung des ED wird den Lehrpersonen und Schulleitungsmitgliedern kategorisch untersagt, Journalistinnen und Journalisten Interviews zu erteilen. Unzweideutig steht in diesem Schreiben: «Lehr- und Fachpersonen dürfen Medienvertretungen (Presse, Radio, Fernsehen) keine Auskünfte über Schulfragen geben. Der Condorcet-Blog hat darüber berichtet. Lena Bubendorf und Kathrin Zimmermann von der Starken Schule beider Basel haben beim Kommunikationsleiter der Stadt Basel nachgefragt. Dieser beschwichtigt: Ein Missverständnis!

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Lena Bubendorf, Starke Schule beider Basel (rechts im Bild), Gymnasiastin mit dem Schwerpunktfach “Physik und Angewandte Mathematik”: Welchen Sinn hat diese Weisung?
Simon Thiriet, Leiter Kommunikation des Kantons Basel-Stadt: Da haben Sie einen Punkt.

Das ED korrigiert nun erfreulicherweise seine Haltung und will das Schreiben “Weisung Medienkontakte” anders verstehen: Lehrpersonen dürfen Medienvertretungen doch Auskünfte erteilen. Sie sollen jedoch vorgängig informieren. Lena Bubendorf und Kathrin Zimmermann haben dem Leiter Kommunikation des Kantons Basel-Stadt folgende Fragen gestellt:

Im Schreiben «Weisung Medienkontakte» vom November 2021 verbietet das Erziehungsdepartement (ED) den Lehrpersonen gegenüber der Presse Auskunft zu geben. Wurde ein entsprechendes Schreiben bereits in früheren Schuljahren versendet oder handelt es sich hier um eine neue Weisung?

Simon Thiriet: Die Weisung verbietet den Lehrpersonen nicht, Auskunft zu geben. Sie stellt aber sicher, dass die Abläufe eingehalten und z.B. die Schul- oder Bereichsleitung kurz über die Anfrage informiert wird. Die «Weisung Medienkontakte» besteht seit langem. Als ich vor acht Jahren meine Arbeit im Departement begann, bestand die Weisung meines Wissens bereits seit mehreren Jahren. Im November wurde nur die Unterschrift aktualisiert. Dies war notwendig, weil neu Urs Bucher die Amtsleitung Volksschulen übernommen hat.

Die Lehrpersonen dürfen also Auskunft erteilen. Sie sollen die Schul- und Bereichsleitung lediglich kurz informieren. Das ist erfreulich, tönt jedoch ganz anders als in der «Weisung Medienkontakte» vom November 2021. Stimmen Sie zu, dass die Formulierung «Lehr- und Fachpersonen dürfen Medienvertretungen (Presse, Radio, Fernsehen) keine Auskunft zu Schulfragen geben.» missverständlich ist?

Da haben Sie einen Punkt. Ich fände die Ergänzung «ohne Absprache» besser und werde das intern einmal ansprechen. In der Praxis hat das aber noch nie zu Missverständnissen Anlass gegeben. Denn seit acht Jahren wird das Thema «Medienarbeit» so gehandhabt, dass ich oft und regelmässig mit den Schulleitungen in Kontakt bin und dort die Abläufe bei Anfragen regelmässig mit ihnen bespreche. Und dann ist die Realität auch so, dass 95 Prozent der Anfragen sowieso über mich reinkommen und ich mich dann auf die Suche nach einer entsprechenden Lehrperson mache. Auch bei kontroversen Themen (z.B. die jetzige Initiative zu den Kleinklassen) gelangen die Journalisten selten direkt an Lehrpersonen. Hier wählen sie oftmals den Weg über die FSS oder die KSBS, wenn sie z.B. eine Gegenstimme zur ED-Haltung in Erfahrung bringen wollen.

Weshalb hat das ED sich für diese Weisung entschieden? Welche Vorteile sehen Sie?

In einem Departement mit 7’500 Mitarbeitenden und über 50 Schulen und Fachstellen ist eine gewisse Koordination erforderlich. Zum Beispiel kommt es vor, dass Medienschaffende aus Zeitnot zig Schulleitungen direkt anschreiben, in der Hoffnung, dass irgendjemand dann möglichst schnell antwortet. Das frisst dann bei den Schulleitungen viel Arbeitsressourcen und es herrscht Unklarheit, wer antworten soll. Durch die Weisung erhalte zum Beispiel ich als Leiter Kommunikation Kenntnis von der Anfrage und kann dann bündeln.

Ich kann sie ganz einfach nicht nachvollziehen. Denn jede Lehrperson kann einerseits intern Kritik (z.B. über die Schulleitung) jederzeit anbringen. Oder dann gibt es die Möglichkeit, Kritik bei der Kantonalen Schulkonferenz oder der Freiwilligen Schulsynode zu melden.

Welche Nachteile kann eine solche Weisung haben?

Wenn ein Medium eine Lehrperson direkt anfragt, kann die Info der Schulleitung oder des Bereichs manchmal ein paar Stunden dauern. Das kommt aber sehr selten vor, da ich mich ex officio sehr schnell um die Abklärungen kümmern kann.

Mit der verordneten Kommunikationshoheit gegenüber Journalistinnen und Journalisten kann das ED verhindern, dass Lehrpersonen Zustände an die Öffentlichkeit bringen, welche dem ED unangenehm sind. Diesen Vorwurf formulierten mehrere Lehrpersonen gegenüber der SSbB. Was sagen Sie zu dieser Kritik?

Ich kann sie ganz einfach nicht nachvollziehen. Denn jede Lehrperson kann einerseits intern Kritik (z.B. über die Schulleitung) jederzeit anbringen. Oder dann gibt es die Möglichkeit, Kritik bei der Kantonalen Schulkonferenz oder der Freiwilligen Schulsynode zu melden. Dort hat unsere Weisung keine Gültigkeit.

Die Baselbieter Regierungsrätin Monica Gschwind verzichtet auf eine derartige Kommunikationshoheit. Weshalb nimmt der Stadtkanton öffentlich geäusserte Kritik nicht ebenfalls als Ansporn und Chance, um das Bildungssystem laufend zu verbessern?

Ich kenne die Baselbieter Situation nicht en détail. Ich kann mir aber vorstellen, dass dort viel direkt innerhalb der zahlreichen Gemeinden organisiert werden kann. Da sind bei uns die Voraussetzungen schlichtweg anders.

Alt Regierungsrat Christoph Eymann zitierte vor seiner Demission mehrere Lehrpersonen in sein Büro, weil diese sich getrauten, einen kritischen Leserbrief in der Basler Zeitung zu publizieren. Können Sie sich vorstellen, dass die Zurechtweisung des ehemaligen Vorstehers des ED dazu führte, dass sich Lehrpersonen nicht mehr öffentlich äusserten?

Mir ist so ein Fall nicht bekannt und ich arbeite nun schon seit acht Jahren fürs Departement.

Dürfen Lehrpersonen Leserbriefe zu Schulfragen schreiben?

Ja natürlich. Im Basler Schulblatt z.B. gibt es immer wieder kritische Wortmeldungen, und das ist auch in einer Tageszeitung möglich. Hier bitten wir die Lehrperson jeweils, ihren Schulstandort nicht zu nennen. Es sei denn, es geht um eine Baumfällung vor dem Schulhaus oder so etwas ähnliches. Denn erfahrungsgemäss gibt es intern jeweils ein «Riesengestürm», wenn zum Beispiel eine Lehrperson ihre Meinung kundtut, das eigene Kollegium oder ein anderer Standort die Sache aber ganz anders sehen.

Roland Stark, ehem. SP-Parteipräsident der Sektion Basel-Stadt, Heilpädagoge: Kritik unerwünscht.

In einem Artikel wirft alt Grossrat Roland Stark dem ED vor, dass Kritik unerwünscht sei und Schulleitungen kritisierenden Lehrpersonen mit arbeitsrechtlichen Massnahmen drohen. Erachten Sie derartige Drohungen von Schulleitungsmitgliedern als angemessen oder wird damit der Bogen überspannt?

Hier müssten Sie mir einen konkreten Fall nennen, wo das vorgekommen ist. Mir selbst ist so ein Fall nicht bekannt. Grundsätzlich kann man im ED auf jeder Stufe Kritik anbringen.

Die Medien suchen bewusst den Kontakt mit den Lehrpersonen, die tagtäglich im Klassenzimmer stehen. Sie erhalten so ein Stimmungsbild direkt aus den Schulstuben. Wie können Journalistinnen und Journalisten authentische Artikel bringen, wenn sie keine Lehrpersonen Interviewen dürfen?

Wie kommen Sie auf die Idee, dass Journalisten keine Lehrpersonen interviewen dürfen? Zahlreiche Beispiele aus der Vergangenheit zeigen ein anderes Bild. Auch hier müssten Sie mir einen konkreten Fall nennen, damit ich zu diesen starken Anschuldigungen Stellung nehmen kann. Es geht bei der Weisung primär um Information und Koordination. Sind die Bildrechte der Schülerinnen und Schüler abgeklärt? Besitzt die Lehrperson sämtliche Informationen zu diesem Thema? etc. Wir hatten zum Beispiel den Fall, dass sich eine Lehrperson über den Lärm einer Baustelle vor dem Schulhaus enerviert hat. Bereits zuvor haben wir mit dem Baudepartement geregelt, dass die Situation geändert wird. Die Lehrperson wusste das aber noch nicht, weil sie erst am nächsten Tag informiert wurde. Solche Fälle möchten wir vermeiden. Ich kümmere mich gerne um solche Sachen und kann auch die nötige Zeit dafür aufbringen. Eine Lehrperson oder eine Schulleitung kann das neben dem Schulalltag nicht immer.  

Dürfen Lehrpersonen anderen Organisationen, wie beispielsweise der Freiwilligen Schulsynode, dem VPOD oder der SSbB Auskünfte in Schulfragen geben?

Ja, das ist ebenfalls wie Leserbriefe erlaubt.

Und wie sieht es mit einer aktiven Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen als Podiumsteilnehmer/-in aus?

Auch das ist möglich, wobei wir hier die Lehrpersonen bitten, ihre Schulleitungen vorgängig zu informieren.

 

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Herr Cramer will die Staatsschule https://condorcet.ch/2022/03/herr-cramer-will-die-staatsschule/ https://condorcet.ch/2022/03/herr-cramer-will-die-staatsschule/#comments Sun, 27 Mar 2022 12:50:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=10729

Der Brief des Erziehungsdepartements der Stadt Basel an die Lehrkräfte wurde vom Condorcet-Blog öffentlich gemacht (https://condorcet.ch/2022/03/mehr-orban-wagen-wie-das-basler-erziehungsdepartement-kritiker-zum-schweigen-bringt/). Die Basler Schulbehörden streben den politischen Umbau der Schule an: Weg von der öffentlich-rechtlichen Schule hin zu einer Staatsschule, mit Hierarchien, Bossen und Untergebenen. Condorcet-Autor Alain Pichard zeigt, dass dies kein Einzelfall ist.

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Alain Pichard, pens. Lehrer Sekundarstufe 1, Publizist, Mitglied der GLP: Der Staat tut sich damit keinen Gefallen.

Im Jahre 2003 versuchten die Behörden, den Verfasser dieses Beitrags, unter Kontrolle zu bringen. Aufgrund eines Artikels über die neue Schülerbeurteilung (SCHÜBE) im Kanton Bern zitierte mich die kantonale Bildungsdirektion in deren Schaltzentrale. Die magistrale Herrlichkeit trat mit Inspektorat, Amtsvorsteher, Abteilungsleitern und Schulkommissionspräsidenten in stattlicher Präsenz auf. Es sollte mir klar gemacht werden, dass es für Angestellte des Staates eine Loyalitätspflicht gäbe. Ich sicherte mir derweil die Unterstützung des damaligen VPOD-Sekretärs (ich war Mitglied der VPOD-Lehrergruppe), der mich an das Treffen begleitete.

Das Gespräch fand in einer höflichen Atmosphäre statt und mündete in eine ausgesprochen interessante Diskussion: Was darf ein Lehrer in der Öffentlichkeit sagen, und was nicht?

Erstaunlicherweise wurde von den bernischen Bildungsmagistraten nie bestritten, dass sich ein Lehrer auch politisch betätigen und äussern kann. Die Frage war: Wie weit darf die Kritik gehen, wenn es sich um schulpolitische und demokratisch ausgearbeitete Vorgaben handelte. Hier gingen die Meinungen auseinander.

Die konkrete Diskussion blieb in ihrem Ansatz stecken und zeitigte keinerlei Folgen. Daran schuld war mein Mitstreiter und heutiger Condorcet-Autor Andreas Aebi. Er lancierte eine grosse Umfrage zu der Beurteilungsreform unter den bernischen Lehrkräften. Das gewaltige Unterfangen fand ohne Unterstützung

Res Aebi. Sekundarlehrer in Langnau, brachte die “Schübe” fast im Alleingang zu Fall.

des Lehrervereins statt, welche die Reform im Vorfeld unterstützt hatte. Das Ergebnis war desaströs. Eine überwältigende Mehrheit der bernischen Lehrkräfte lehnte die Beurteilungsreform ab. Das Projekt wurde zurückgezogen und vereinfacht.

Zwei Jahre später machte sich der hier Schreibende einen gewissen Namen, weil er, als prononciert linker Lehrer auf die Schwierigkeiten im Umgang mit der Migration hingewiesen hatte, die sich den Schulen in der Stadt Biel stellten. Es ging ihm dabei nicht um die Stigmatierung der fremdsprachigen Schüler sondern um deren Bildungserfolg. Irgendwann wurde es den Behörden zu dumm. Der damalige sozialdemokratische Bildungsdirektor der Stadt Biel liess ein Kommunikationskonzept ausarbeiten, sein Amtsvorsteher schickte es an die Schuleinheiten und der sozialdemokratische Schulleiter legte seinem «geschätzten Mitarbeiter» schliesslich eine spezifisch verfasste Kommunikationsvereinbarung vor, die der heutige Condorcet-Autor zu unterschreiben hatte.

Kommunikationsvereinbarung: Alain Pichard vermeidet es fortan, die Schule mit verzerrten und einseitigen Berichten in ein schlechtes Licht zu stellen.

Neben einigen Selbstverständlichkeiten (keine Verbreitung von Internas), verlangten die Behörden, dass alle Anlässe, Interviews und Statements vorher mit der Schulleitung abgesprochen und genehmigt werden müssten. Dann folgte ein hübscher Satz: «Alain Pichard vermeidet es fortan, die Schule mit verzerrten und einseitigen Berichten in ein schlechtes Licht zu stellen.»

Schlagzeile im Bieler Tagblatt: Alain Pichard geht im Streit.

Meine Antwort war die Kündigung. 2010 verliess ich meine geliebte Brennpunktschule in Biel und trat eine Stelle in der Agglomerationsgemeinde Orpund an, wo ich bis zu meiner Pensionierung im Sommer 2021 tätig war.

In dieser Gemeinde konnte ich fortan mein bildungspolitisches Engagement ohne irgendwelche Repressionsandrohungen fortsetzen.

Bei all den Druckversuchen gilt es festzuhalten, dass die Behörden nie die Keule «arbeitsrechtliche Konsequenzen» ausgepackt hatten. Diese Terminologie entstand im Zuge des Umbaus unserer Volksschule anfangs der 2000er-Jahre. Die Schaltzentralen in der Bildungspolitik bemächtigten sich nach und nach der Schule. Zunächst wurden die lokalen Schulkommissionen, bzw. Schulpflegen zurückgestutzt. Es entstand die aus der Betriebswirtschaft entnommene Dualität von operationellen und strategischen Entscheidungen. Dann wurden die geleiteten Schulen eingeführt. Fortan standen den Schuleinheiten sogenannte Betriebsleiter vor, denen auch personale Kompetenzen übertragen wurden. Stundenplangestaltungen, Anstellungen oder auch Freistellungen waren jetzt Sache der Schulleitungen. An gewissen Orten gab es sogenannte «Zwischenschulleiter». Das heisst, dass einzelne Schuleinheiten mit dortigen Schulleitern zu einem Verbund zusammengefasst wurden, deren Führung man dann einer zentralen Schulleitung übertrug.

Die Kehrseite der Medaille waren natürlich der Abbau an Mitbestimmung, eine Topdown-Politik und die konkrete Jobdrohung seitens der vorgesetzten Behörde.

Diese Hierarchisierung hatte durchaus plausible Gründe. Die Schulführung wurde professionalisiert, Entscheidungen schneller gefällt, die Schulen entwickelten eigene Profile. Die Kehrseite der Medaille waren natürlich der Abbau an Mitbestimmung, eine Topdown-Politik und die konkrete Jobdrohung seitens der vorgesetzten Behörde. Flankiert wurde diese Ausrichtung mit der ebenfalls aus der Wirtschaftswelt entnommenen Methode des Change Managements. Der Sozialdemokrat Markus Mendelin entwarf ein vielbeachtetes Change Management-Papier für den Kanton Thurgau, in welchem konkret verfeinerte Methoden zugunsten eines umbaufördernden Mentalitätswandels aufgezeigt wurden. Notabene wurde dieses Papier als Leitfaden für die Schulleitungen angepriesen.

 

Herr Cramer verliert seine Unschuld
Conradin Cramer, Bildungsdirektor der Stadt Basel: Wie konnte er dies zulassen?

In der Stadt Basel scheint man sich nicht mit solchen psychologischen «Mätzchen» aufhalten zu wollen. Die linke Stadt am Rheinknie packt schon seit einigen Jahren die Keule der Repression gegen alle kritischen Lehrkräfte aus. Der neue Amtsvorsteher der Stadt, Urs Bucher, hat nun in einem Brief (https://condorcet.ch/2022/03/mehr-orban-wagen-wie-das-basler-erziehungsdepartement-kritiker-zum-schweigen-bringt/) klar ausgedrückt, wie sich das Basler Erziehungsdepartment das Regieren vorstellt. Den Lehrkräften ist jede öffentliche Kritik an Bildungsentscheiden untersagt.

Dabei werden munter unbestrittene Kommunikationsregeln vermischt. Mittlerweile dürfte es jeder Lehrperson klar sein, wer gegenüber der Öffentlichkeit im Fall eines Drogendelikts oder eines sexuellen Übergriffs in der Schule kommuniziert. Brisant ist vielmehr, dass auch Widerspruch an bildungspolitischen Entscheiden nun nicht mehr medial zum Ausdruck gebracht werden dürfen. In unserer Redaktion gab es schon mehrere Erzählungen, wie das Basler Erziehungsdepartement mit allzu kritischen Lehrkräften umgegangen ist. Veröffentlichen durften wir sie nie, aus Angst vor Repressionsmassnahmen.

Philipp Loretz, Sekundarlehrer, Vorstandsmitglied des lvb, Mitglied der Condorcet-Redaktion und Mitglied des Bildungsrats: Die grosse Ausnahme

Staatshörige Verbände

«Habt doch Vertrauen in unsere Behörden», rief mir vor einigen Jahren ein Lehrer anlässlich einer Podiumsdiskussion zu, als ich mich gegen den Lehrplan 21 äusserte. Der Mann war ein Vorstandsmitglied des thurgauischen Lehrervereins. In diesem symptomatischen Statement drückt sich auch die landesweite Haltung unserer Lehrer«gewerkschaften» aus. Sie sind mittlerweile Mitglieder einer Allianz aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft, deren Ziele darin bestehen, das Schulsystem zu steuern und möglichst gut alimentierte Staatsaufträge zu erhalten. Mitunter kann auch die Einladung zu einem Mittagessen mit einem Erziehungsdirektor ein Anreiz sein, die behördliche Reformpolitik mitzutragen. Eine grosse Ausnahme in diesem Feld der kollektiven Vereinnahmung – man muss es immer wieder betonen – stellt der LVB im Kanton Baselland dar. Die Führungsgremien dieses Lehrerverbandes brechen immer wieder aus der Neusprech-Reformitis aus und erzielen damit bemerkenswerte Erfolge wie zum Beispiel die Einführung der Lehrmittelfreiheit.

Öffentlich-rechtliche Schule gegen Staatsschule

In diversen Diskussionen mit Politikern und Lehrkräften der Stadt Basel ist zu vernehmen, dass der Vorsteher des Basler Erziehungsdepartements, Conradin Cramer, sich bewusst sei, dass die Bildungspolitik seiner Stadt zu lang und zu einseitig von der sozialdemokratisch dominierten Verwaltung bestimmt wurde und Änderungen ihre Zeit bräuchten. Die Tatsache aber, dass der verantwortliche Bildungschef dieser Stadt, ein bekennender Liberaler, seinen Amtsleiter (Urs Bucher) einen solchen Brief (https://condorcet.ch/2022/03/mehr-orban-wagen-wie-das-basler-erziehungsdepartement-kritiker-zum-schweigen-bringt/) schreiben lässt, bietet kaum mehr Interpretationen zu. Conradin Cramer will eine zentral geleitete Staatsschule, in der die Lehrkräfte zu Vollzugsbeamten degradiert werden wollen. Damit wird das „Öffentlichkeitsprinzip“ in Frage gestellt. Man will aus der öffentlich-rechtlichen Schule eine Staatsschule machen.

Die öffentlich-rechtlich angestellte Lehrperson ist zwar gegenüber seinem Arbeitgeber zu einer gewissen Loyalität verpflichtet, aber sie ist es auch gegenüber seinen Schülerinnen und Schülern und deren Eltern.

Die öffentlich-rechtliche Anstellung schützt die Lehrperson zwar nicht mehr so ultimativ wie in Zeiten des Beamtenstatus und erlaubt auch Kündigungen. Trotzdem muss ein klar definiertes Prozedere bei jeder Entlassung eingehalten werden, wobei jeder Schritt rekursfähig ist.

Die öffentlich-rechtliche Anstellung der Lehrperson beinhaltet aber noch eine weitere, genauso wichtige Dimension. Die öffentlich-rechtlich angestellte Lehrperson ist zwar gegenüber seinem Arbeitgeber zu einer gewissen Loyalität verpflichtet, aber sie ist es auch gegenüber seinen Schülerinnen und Schülern und deren Eltern. Wenn sie also zu der Überzeugung kommt, dass die eine oder andere Reform den Bildungszielen seiner «Schutzbefohlenen» zuwiderläuft, gerät sie in ein Dilemma.

Eine Top-down-Mentalität mag vielleicht in einer Kühlschrankproduktionsstätte angesagt sein, im Bildungswesen hat der Ausschluss der Basis und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit teilweise verheerende Tendenzen.

Wenn also beispielsweise eine Lehrerin Mühe damit bekundet, ihre Schüler mit Zahlen zu benoten und es deshalb nicht macht, ist das selbstverständlich ein Kündigungsgrund. Wenn diese Lehrerin allerdings gegenüber Eltern, Behörden und Öffentlichkeit einen Artikel beschreibt, dass sie das Prinzip «Notengebung» untauglich findet, muss dies erlaubt sein. Genau hier ist ja der Unterschied zwischen einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis und einer öffentlich-rechtlichen Anstellung.

Mein Loyalität wurde arg strapaziert.

Ich kam selber in ein schwieriges Dilemma, als mir das neue Lehrmittel «Passepartout» aufoktroyiert wurde. Nach einem halben Jahr erkannte ich, dass die Schülerinnen mit diesem Unsinn kein Französisch lernen würden. Ich wich auf andere Lehrmittel aus. Meinem Schulleiter und auch den Eltern erklärte ich diesen Schritt. Beide waren sie einverstanden und ich gestaltete meinen Französischunterricht wieder mit einem strukturellen Aufbau. Bei einem anderen Schulleiter wären auf mich schwierige Diskussionen zugekommen. Nach einem Jahr liess ich mich durch die Schulleitung vom Französischunterricht entbinden. Pikant: Sieben Jahre später unterrichte ich -als pensionierter Lehrer – wieder Französisch, weil zurzeit vor allem Französischlehrkräfte fehlen. An der Schule wird das «Clin d’Oeil» nicht mehr verwendet.

Das zeigt auch, dass die Diskussion mit und der Einbezug der Basis in bildungspolitische Entscheide unabdingbar ist. Eine Top-down-Mentalität mag vielleicht in einer Kührschrankproduktionsstätte angesagt sein, im Bildungswesen hat der Ausschluss der Basis und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit teilweise verheerende Tendenzen. So hätte die Politik sich den 30 Millionen teuren Passepartout-Irrweg vielleicht ersparen können.

Wohin eine zentral gelenkte Staatsschule führen kann, die ihren an der Basis arbeitenden Lehrkräften keine Meinungsäusserung zubilligt, zeigen auch die Resultate der Vergleichsteste aller Art. Die Stadt belegt trotz rekordhoher Ausgaben in allen Vergleichen weit abgeschlagen den beschämenden letzten Platz. Kommentar von Conradi Cramer: Wir haben die besten Lehrer der Schweiz! Was er damit wohl meinte? Ihre Fachkompetenz oder Ihre Geduld?

 

 

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