Lesen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 23 Apr 2024 07:05:14 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Lesen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Frühjahrsputz im Bildungswesen: Was muss weg? Was muss her? https://condorcet.ch/2024/04/fruehjahrsputz-im-bildungswesen-was-muss-weg-was-muss-her/ https://condorcet.ch/2024/04/fruehjahrsputz-im-bildungswesen-was-muss-weg-was-muss-her/#comments Tue, 23 Apr 2024 07:05:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=16563

Viele neue Lernkonzepte entmutigen die Schüler und verringern ihre Kompetenzen. Daher wäre es richtig, ein paar bewährte Bildungsprinzipien zu rehabilitieren. Und zwar in Kombination mit modernsten Mitteln. Die Heilpädagogin und Dozentin Mirjam Stiehler nimmt sich im 5. Teil ihrer Kritik am deutschen Bildungssystem diesmal die Bildungsforscher und -planer vor. Vom Kindergarten bis zum Abitur hat ein ideologisch begründeter Wandel stattgefunden, der die Qualität von Erziehung und Unterricht gesenkt hat. Die Einstellungen der Bildungspolitiker und -forscher müssen sich ändern, damit unsere Kinder wieder etwas Handfestes lernen können.

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Neue Besen kehren gut. Aber die alten wissen, wo der Dreck sitzt! Das gilt in vielerlei Hinsicht für unsere Schulen. Bevor es nun heißt, die Stiehler will zurück zur Rohrstockpädagogik: Nichts läge mir ferner. Aber die neuen konzeptuellen Besen haben sich als fadenscheinige Waschlappen entpuppt, die Schüler entmutigen und Kompetenzen verringern statt aufzubauen.

Gastautorin Mirjam Stiehler, Heilpädagogin, Dozentin und Schulleiterin

Daher sollten wir ein paar bewährte Bildungsprinzipien rehabilitieren. Und zwar in Kombination mit modernsten Mitteln – für mich ist es kein Widerspruch, gezielte Diktate und zugleich die Messung der Lesegeschwindigkeit einzuführen; mehr Handschrift zu fordern und zugleich das elende Vokabelheft flächendeckend durch Apps abzulösen; Schüler gezielt nach Leistungsfähigkeit zu gruppieren, aber zugleich die Anwesenheitspflicht durch eine Lernpflicht zu ersetzen.

Es geht mir nicht um eine Methodensammlung, sondern ein grundlegendes Umdenken: Nicht nur “Was müssen wir tun?”, sondern auch “Wie müssen wir sein?” (Paul Moor). Das Leitprinzip darf nicht länger Unlustvermeidung sein, sondern Mut zur Tatkraft und zur Leistung. Solches Umdenken ist nicht für Geld zu haben. Es erfordert eine veränderte Einstellung von der Schwangerschaft bis zum Abitur, und zwar bei einer Mehrheit von Bildungspolitikern, Eltern, Ärzten und Pädagogen. Dieses Umdenken müsste sich in konkreten Änderungen zeigen:

Selbsterziehung der Eltern von Tag 1 an fördern

Viele frischgebackene Eltern können schlecht unterscheiden, ob ihr Kind aus Unlust, Trauer oder Angst schreit. Sie glauben, gute Eltern dürften ihren Kindern keine dieser Emotionen zumuten. Angst und Trauer sollten tatsächlich die Ausnahme sein – das Erleben und Aushalten von Unlust hingegen ist notwendig und erstrebenswert, denn Unlust gelassen auszuhalten ist Frustrations-Toleranz. Es ist so unvermeidbar wie harmlos, seinem Kind täglich vielfach Unlust zu bereiten, denn Kinder sind zunächst sehr lustgetriebene Wesen. Sie müssen erst lernen, einem größeren Ziel zuliebe auf Triebbefriedigungen zu warten oder zu verzichten.

Das Leitprinzip darf nicht länger Unlustvermeidung sein, sondern Mut zur Tatkraft und zur Leistung. Solches Umdenken ist nicht für Geld zu haben.

 

In diesem Sinne müssen Hebammen aufhören, die Mär vom Stillen und Schlafen nach Bedarf zu verbreiten. Wir müssen kindliche Antriebe mit Maß und Rhythmus befriedigen, damit Kinder Resilienz entwickeln. Eltern müssen Taktgeber sein, denn berechenbare Rhythmen geben seelischen Halt – und nur wer ausgeschlafen ist, kann sich kognitiv gut entwickeln.

Kinderärzte müssen aufhören, Bachblüten und Globuli zu verkaufen und Eltern davor warnen, beim Sturz aufs Knie dramatisch die Rescue-Creme zu zücken. Ein Pflaster und ein aufmunterndes Wort stärken. Wer immer gleich Tabletten einwirft, fokussiert auf sein Leid. Hospitäler sollten Schwangeren weder den Wunschkaiserschnitt noch die PDA pauschal andienen, denn auch elterliche Resilienz ist ein hohes Gut.

Ich spreche hier nicht von Notfällen, sondern ganz normalen Schwangerschaften. Die Vorbereitung auf eine natürliche Geburt hilft Eltern bei der Selbsterziehung, bei ihrem eigenen Umgang mit Unlust und Ängsten, bei der Abkehr von einer Full-Service-Mentalität. Und nur wer sich selbst erzieht, kann andere erziehen.

KiTas: Weniger Wohlstandsverwahrlosung, mehr Qualität

Im Kindergarten ist eine Abkehr vom Situationsansatz, von “romantischen Vorstellungen” und falsch verstandenem Konstruktivismus nötig (Verbeek). Konzepte, die den Erzieher zur Passivität verurteilen, führen zu einer “für das Kindeswohl gefährlichen Mischung zwischen Verwöhnung und Vernachlässigung” (ebd. 99). Wir brauchen nicht bloß mehr Personal, sondern klügeres, leistungsbereiteres und kenntnisreicheres. Prof. Veronika Verbeek bildet seit 30 Jahren Fachkräfte für KiTas aus und konstatiert, dass dem Gros der Fachkräfte die Anstrengungsbereitschaft und die kognitiven Kompetenzen fehlen, um in ihrem Fach schlussfolgernd zu denken oder wichtige Konzepte in die Anwendung zu übertragen (ebd. 160).

Werden Kinder nur halbtags betreut, können Familien Mängel in der Betreuungsqualität ausgleichen. Aber weder Eltern noch KiTas sollten sich einbilden, dass man neun Stunden Betreuung anbieten kann, ohne systematischer Elternersatz zu sein. Ganztägig betreute Kinder müssen vom Händewaschen bis zur deutschen Sprache fast alles in der KiTa lernen. Die meisten Eltern wollen ihr Kind in den verbleibenden drei Wachstunden “genießen”, statt die anstrengenden ungelösten Erziehungsaufgaben anzupacken oder mit ihm zu üben, wie man mit der Schere schneidet und Wörter reimt.

Wir brauchen nicht bloß mehr Personal, sondern klügeres, leistungsbereiteres und kenntnisreicheres.

 

Solange Kinder aber in der KiTa primär nach den Lustprinzip leben, sind sie am Abend besonders anstrengend, worauf viele Eltern wiederum mit Verwöhnung oder Ablenkung reagieren. Das verstärkt Egozentrik und narzisstische Überempfindlichkeit weiter, statt ein Gegengewicht zu schaffen. Wer zugunsten der Erziehungsarbeit beruflich nicht kürzer treten möchte, wäre oftmals mit einer ehrenamtlichen Tätigkeit oder einem Haustier besser bedient.

Sprachdefizite verschlimmern die Lage zusätzlich. Wer mit Kindern einwandern will, sollte deshalb vorher seine Deutschkenntnisse unter Beweis stellen müssen, und wer bereits hier lebt und Kindergeld beziehen will, erst recht. Anstatt zu versuchen, alles irgendwie aufzufangen, müssen wir ausländischen Eltern klar machen, dass Schulbildung ohne sehr gute Deutschkenntnisse einfach nicht machbar ist. Ich wandere auch nicht nach Gouadeloupe aus, ohne vorher mit meiner Familie Französisch zu lernen – Sprachlern-Apps und Lehrbücher gibt es genug.

Dass ich einen gewissen Kenntnisstand und ein eigenes Einkommen nachweisen muss, ehe ich Ressourcen des Gastlands nutzen darf, wäre nur logisch. Alternativ gibt es teure, private internationale Schulen. Wenn ich mir die nicht leisten kann und die Sprache nicht auf eigene Faust lernen möchte, scheidet das Einwanderungsziel aus.

Grundschulen: Lesen, Schreiben, Rechnen aus dem Effeff

Die Grundschulen müssen sich auf die Grundkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen zurückbesinnen und hier nicht bloß rudimentäre Kenntnisse, sondern felsenfeste Routine erreichen. Zusätzliche Stunden lassen sich gewinnen, indem man Religionsunterricht durch eine Stunde verbindlichen Ethikunterricht ersetzt und das in seiner Effektivität sehr umstrittene Frühenglisch streicht. Den Werkunterricht hingegen sollte man m.E. nicht kürzen wie in Bayern, sondern ausbauen, da handwerkliche Tätigkeiten wichtig sind und schon jetzt zu wenig Zeit ist, um ausgiebig zu üben und anschließend ein Werkstück anzufertigen, auf das man stolz sein kann.

Anstatt zu versuchen, alles irgendwie aufzufangen, müssen wir ausländischen Eltern klar machen, dass Schulbildung ohne sehr gute Deutschkenntnisse einfach nicht machbar ist.

 

Besonders die schwächeren Schüler sollten derweil in homogenen, aber durchlässigen Klassen gefördert werden, nicht in leistungsgemischten Klassen. Eine große soziologische Studie zeigt, dass dies negative Herkunftseffekte stark verringert. Bei intelligenteren Schülern hingegen können gemischte Gruppen förderlich sein, zumindest schaden sie weniger. Wo der Zugang zu den weiterführenden Schulen anhand von Leistung und Intelligenz streng geregelt ist, lernen die Kinder auf allen weiterführenden Schularten besser.

Ein Pilotversuch in Franken zeigte ganz konkret, dass Kinder mit Legasthenie-Diagnose innerhalb von nur einem Halbjahr einen normalen Leistungsstand im Lesen und Schreiben erreichten, also “geheilt” waren, sobald sie für drei Stunden pro Tag die Fördergruppe einer gut ausgebildeten Lehrkraft besuchen durften. Eltern, Lehrer und Schüler waren begeistert. Dennoch verbot das Kultusministerium die Fortsetzung dieser Fördermaßnahme, da sie “segregativ” sei und nicht mit der Inklusions-Ideologie vereinbar. Sprich: Was zählt, ist die irrationale Selbstdarstellung der Bildungspolitik und nicht der Lernerfolg der Kinder.

Sachgemäß statt spielerisch rechnen und schreiben

Im Bereich Mathematik sollten Experten aus der Dyskalkulie-Forschung an Unterrichtskonzepten mitarbeiten. Im ersten Halbjahr müssen alle Erstklässler das kleine EinsPlusEins und EinsMinusEins (1+ 9  = 10, 2 + 8 = 10…) auswendig beherrschen, ohne dabei zu zählen. Das Dezimalsystem muss als Prinzip und daher bis zur 100 im zweiten Halbjahr erarbeitet werden. Materialien wie Muggelsteine, die zum Zählen verleiten, sollten keinen Platz im Unterricht haben.

Was zählt, ist die irrationale Selbstdarstellung der Bildungspolitik und nicht der Lernerfolg der Kinder.

 

Die Handschrift muss gestärkt werden: Grundschüler schrieben in den 1960er Jahren etwa sieben Mal so viel wie heute pro Woche. Man weiß inzwischen, dass solche Routine die Auslastung des Gehirns um den Faktor 50 bis 100 senkt und Prüfungsangst verringert. Kinder müssen daher wieder wesentlich mehr schreiben, und zwar als Fließtext, anstatt Lücken auf Arbeitsblättern auszufüllen.

Nachschriften und Diktate sind zur Übung sehr sinnvoll, wenn in ihnen die aktuell thematisierte Rechtschreibregel sehr häufig vorkommt, aber wenige andere Schwierigkeiten. Dabei sollte die Rechtschreibung auf Basis von Ortho- und Basisgraphemen vermittelt werden, anstelle des Silbenkonzepts und des unkorrigierten Schreibens nach Gehör. Schüler müssen ab der 2. Klasse systematisch lernen, ihre eigenen Fehler zu analysieren und deren Schwere einzuschätzen.

In normalem Sprechtempo lesen lernen

Im Lesen muss ein verbindliches Ziel für die Lesegeschwindigkeit pro Trimester eingeführt werden. Aktuell kann die Mehrheit der Schüler nach vier Jahren Unterricht noch nicht einmal in normaler Sprechgeschwindigkeit lesen. Dieses Tempo entspricht 150 Wörtern pro Minute (WPM). Fleißige Leser erreichen dies bereits in der 2. Klasse, zum Ende der 4. Klasse muss es das Ziel für alle normal intelligenten Kindern sein.

Dazu sind wesentlich mehr verpflichtende Lesezeiten und eine strengere Regelung des Medienkonsums zuhause notwendig. In Sprechgeschwindigkeit lesen zu können ist sowohl entscheidend für das genussvolle, noch schnellere stille Lesen als auch für die Informationsaufnahme in der weiterführenden Schule. Nur, wer schneller als Sprechgeschwindigkeit liest, kann in einer Stunde das lesen, was andere aus drei Stunden Videos entnehmen.

Gezielte Förderung statt Medikalisierung

Eltern, Lehrer und Psychiater müssen sich bei der Diagnose von Legasthenie und Dyskalkulie stärker zurückhalten. Diese Diagnosen sind oft nicht kriteriumsgemäß, perpetuieren Lernrückstände und verstärken, im Sinne J. Haidts, das Selbstbild als machtloses Opfer. Wie man im o.g. Projekt sieht, kann man erfolgreich die Zuständigkeit fürs Lesen, Schreiben und Rechnen aus der Psychiatrie zurück an die Schulen verlagern, wo sie hingehört. Schließlich besteht die Therapie dieser “Störungen” ausschließlich in einem ermutigenden, qualifizierten Unterricht mit hohem Übungsanteil.

Es ist besser, an der Mittelschule der Klassenbeste zu sein als sich mit Gewalt durchs Gymnasium zu quälen.

 

Mit diesen Veränderungen würden wir erreichen, dass alle Kinder auf Basis ihrer angeborenen Möglichkeiten ein gutes Leistungsniveau erreichen und die weiterführende Schule wählen können, die zu ihnen passt. Wenn man die richtige weiterführende Schule gewählt hat, sollte man dort mit etwas Fleiß gute Noten erlangen. Es ist besser, an der Mittelschule der Klassenbeste zu sein als sich mit Gewalt durchs Gymnasium zu quälen. Für die weiterführenden Schulen wünsche ich mir noch radikalere Veränderungen – zu lesen im nächsten und letzten Teil dieser Serie.

 

Literatur:

Esser, Hartmut und Seuring, Julian: Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit. In: Zeitschrift für Soziologie 49, 2020.

Gaidoschik, Michael: Rechenschwäche – Dyskalkulie: Eine unterrichtspraktische Einführung für LehrerInnen und Eltern (1. bis 4. Klasse)

Moor, Paul: Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehrbuch. Bern, 1965

Thomé, Günther: Deutsche Orthographie – Historisch, systematisch, didaktisch. Oldenburg 2023

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Die Veröffentlichung der PISA-Resultate, die – wieder einmal – offengelegt hat, dass rund ein Viertel unserer Schülerinnen und Schüler nach der obligatorischen Schulzeit einfachste Texte nicht verstehen kann, also als Illetristen die Schule verlassen, hat eine Flut von Artikeln und Kommentaren ausgelöst. Gefragt sind dabei vor allem Einschätzungen von Bildungsforschern, Journalistinnen, PH-Dozenten oder Verbandsfunktionären. Höchste Zeit, einmal eine Person aus der Praxis zu Worte kommen zu lassen. Yasemin Dinekli, Redaktionsmitglied und Präsidentin des Condorcet-Trägervereins, hat sich mit der ehemaligen Schulleiterin aus Biel, Ruth Wiederkehr, unterhalten. Ruth Wiederkehr arbeitete bis letzten Sommer im Oberstufenzentrum Mett-Bözingen in Biel. In dieser Schule sitzen Real- und Sekundarschüler und Schülerinnen ausser in den Niveau-Fächern in derselben Klasse. Im Deutschunterricht bleiben sie zusammen.

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Yasemin Dinekli, Mittelschullehrerin, Präsidentin des Trägervereins des Condorcet-Blogs, stellte die Fragen.
Ruth Wiederkehr, Schulleiterin bis letzten Sommer 2023: Es ist ein Knochenjob.

Condorcet

Frau Wiederkehr, wie interpretieren Sie die letzten PISA-Resultate?

Ich denke, sie bilden die Realität ab. Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler ist nach 8 Schuljahren nicht in der Lage einen einfachen Text zu verstehen, darunter auch  Sekundarschüler oder Schülerinnen.

Und was ist Ihrer Meinung nach die Ursache?

Es gibt nicht die Ursache. Die Situation ist komplex. Bereits die erste Pisa Studie von 2001 zeigte, dass die Schulen in Sachen Leseverstehen etwas ändern müssen.

Und wie habt ihr als Schule darauf reagiert?

Wir begannen kurz nach der ersten Pisa-Studie mit der Unterstützung von zwei Lese-Spezialistinnen, die ich anlässlich einer Weiterbildung kennengelernt hatte, am Thema Leseverstehen zu arbeiten. Zu Beginn waren das einzelne Projekte, die wir mit der ganzen Schule durchführten. Dazu gehörten auch Diskussionsrunden über gelesene Jugendbücher innerhalb des Kollegiums. Die zwei Lese-Spezialistinnen führten mehrere Fortbildungen mit dem ganzen Kollegium durch, also nicht nur mit den Deutschlehrpersonen. Später stellten wir sie dann im Rahmen der Lektionen im Angebot der Schule für einige Lektionen fest an. Sie erarbeiteten unser Lese-Konzept, das wir im Laufe der Jahre immer weiterentwickelten.

Gibt es neben der Weiterbildung und der Erarbeitung eines Lesekonzeptes weitere wichtige Voraussetzungen, die eine Verbesserung der Lesekompetenzen der Jugendlichen fördern?

Zunächst einmal braucht es Deutschlehrpersonen, die Leser und Leserinnen sind, also eine Leidenschaft fürs Lesen haben, so dass sie ihre Begeisterung weitergeben können. Sie müssen auch bereit sein, immer wieder neue Jugendbücher zu lesen, so dass sie selber auf dem neusten Stand sind, was Kinder- und Jugendbücher angeht.

Und die hattet ihr?

Ich denke ja. Die gemeinsame Arbeit mit den zwei Lese-Spezialistinnen half sicher viel. Wir suchten immer wieder nach spannenden, interessanten Texten, Kurzgeschichten, Büchern, Gedichten, die die jungen Leute packen, mit denen sie sich identifizieren können. Dabei haben uns die zwei Lese-Spezialistinnen während vieler Jahre sehr unterstützt, indem sie uns informierten, uns auf gute und geeignete Bücher hinwiesen, für uns Projekte entwickelten.

Es muss den Lehrpersonen der Oberstufe bewusst sein, dass es in jeder Klasse solche Jugendlichen hat und dass sie im Laufe der ersten 6 Schuljahre gelernt haben, ihr Problem zu kaschieren.

Das leuchtet mir ein, ist aber meiner Meinung nach noch keine Garantie, dass am Ende der Schulzeit 25% der Schülerinnen und Schüler immer noch nicht richtig lesen und schreiben können.

Das ist ein sehr wichtiger Hinweis. Vor 20 Jahren war es der Schulleitung und den Lehrpersonen noch nicht bewusst, dass wir in der 7. Klasse mehrere Schülerinnen und Schüler haben, die zu dieser Gruppe gehören. Oft entdeckten wir das Problem, wenn überhaupt, erst Mitte der 8. oder sogar erst in der 9. Klasse. Es muss den Lehrpersonen der Oberstufe bewusst sein, dass es in jeder Klasse solche Jugendlichen hat und dass sie im Laufe der ersten 6 Schuljahre gelernt haben, ihr Problem zu kaschieren. Wir begannen mit Hilfe von Lesescreenings, Antolin oder anderen offiziellen Tests, uns einen Überblick über die Lesefertigkeit, d.h. das Leseverstehen der Schülerinnen und Schüler zu verschaffen. Nur so kann gezielt mit den Leseschwachen gearbeitet werden.

Aber dann muss sich ja eine Lehrperson auf genau diese Jugendlichen konzentrieren, wie soll sie das mit einer Klasse von 20 und mehr schaffen?

Stimmt, das geht nicht. Um gezielt mit den Leseschwachen an ihren Defiziten arbeiten zu können, ist es unabdingbar, dass zwei Lehrpersonen während des Deutschunterrichts in der Klasse sind. Sie müssen beide die Schülerinnen und Schüler und ihre Stärken und Schwächen kennen.

Mit Vorteil befasst sich eine der Lehrpersonen regelmässig während zwei Wochenlektionen mit den leseschwachen SuS und arbeitet in kleinen Gruppen am Leseverstehen.

Also Teamteaching?

Ja, ein Teamteaching, in dem beide Lehrpersonen eingebunden sind, sich mit ihrer Arbeit identifizieren und sich zu gleichen Teilen einsetzen!

Mit Vorteil befasst sich eine der Lehrpersonen regelmässig während zwei Wochenlektionen mit den Leseschwachen und arbeitet in kleinen Gruppen am Leseverstehen. Die Lehrperson muss wissen, dass Vorlesen und Leseverstehen zwei unterschiedliche Kompetenzen sind. Diese Gruppe arbeitet mit Texten und Büchern, die ihren Lesefähigkeiten und ihrem Alter entsprechen. Der Weg geht von einfachen zu anspruchsvolleren Texten. Die andere Lehrperson kann in dieser Zeit z.B. mit dem Rest der Klasse an einer Klassenlektüre arbeiten. Sie muss ein für diese Klasse passendes Jugendbuch zur Hand haben.

Gibt es noch etwas, was Sie als wichtig erachten?

Es hilft sehr, wenn die Schülerinen und Schüler regelmässig, am besten wöchentlich, kurze Texte schreiben, Tagebucheinträge, Texte zu vorgegebenen Themen etc. Die Texte müssen sofort von den Lehrpersonen korrigiert und zurückgegeben werden. Auch das schafft eine einzelne Lehrperson nicht. Die Jugendlichen müssen ihre Texte korrigiert und überarbeitet ins Reine schreiben und zusammen mit dem neuen Text wiederum abgeben. Damit dies funktioniert, ist es von Vorteil, dass vor dem Abgabetermin eine Aufgaben- oder SOL-Lektion stattfindet, so dass die Lehrpersonen immer alle Texte zum vorgegebenen Termin erhalten. So wird nicht nur das Schreiben, Festhalten von eigenen Gedanken etc. verbessert, sondern nebenbei auch die Rechtschreibung.

Das ist ein enormer Aufwand

In der Tat, es ist Knochenarbeit, aber sie bringt etwas. Nichts ist so wirksam wie der Erfolg.

Das Lesekonzept muss sich über den gesamten Zyklus erstrecken und die Termine müssen für alle verbindlich sein.

Und noch eine Frage: Verfügt Ihre Schule über eine eigene Bibliothek?

Ja, und zwar über eine, die auf dem neusten Stand ist. Wir kaufen ungefähr dreimal pro Jahr neue Jugendbücher und es finden regelmässig Lektionen in der Bibliothek statt. Die Lernenden können selbständig Bücher auswählen, d.h., sie wissen, wie sie Bücher, die sie persönlich interessieren, in der Bibliothek finden: Cover, Klappentexte lesen, Rückseite lesen, Seite 99 lesen. Gefällt ein Buch nicht, wird es sofort zurückgebracht und ein neues ausgewählt. Die Lehrperson muss die Schülerinnen und Schüler beraten können. Ferienlektüren sind Pflicht. Klassen- oder Gruppengespräche zu Büchern und Texten finden immer wieder in der Bibliothek statt.

Wir kaufen ungefähr dreimal pro Jahr neue Jugendbücher und es finden regelmässig Lektionen in der Bibliothek statt.

Und da machen wirklich alle Deutschlehrpersonen engagiert mit?

Es braucht immer wieder Überzeugungsarbeit und jährlich mindestens eine gemeinsame Sitzung mit jedem Jahrgangsteam Deutsch, die die oder der Verantwortliche für das Lesekonzept leitet. Hier geht es auch um Anpassungen, Mitsprache, Rückmeldungen, Einbinden der neuen Lehrpersonen. Die Schulleitung muss voll hinter dem Konzept stehen und dafür sorgen, dass es weitergeführt wird, sonst funktioniert es nicht. Am besten ist es natürlich, wenn ein Schulleitungsmitglied selber Deutschlehrperson ist und auch noch unterrichtet. Und noch etwas Wichtiges: Das Lesekonzept muss sich über den gesamten Zyklus erstrecken und die Termine müssen für alle verbindlich sein.

Wie bei den Schülerinnen und Schülern ist es auch bei den Lehrpersonen, es sind nicht immer alle gleich gut drauf oder haben manchmal andere Prioritäten.

Gab oder gibt es keinen Widerstand aus dem Kollegium?

Nicht so direkt. Natürlich hat es Lehrpersonen, die nicht immer alles ganz genau so wie vorgesehen durchführen. Aber das gehört dazu, da muss man manchmal auch wegsehen können. Wie bei den Schülerinnen und Schülern ist es auch bei den Lehrpersonen, es sind nicht immer alle gleich gut drauf oder haben manchmal andere Prioritäten. Sie müssen aber schon wissen, was sie mindestens erfüllen müssen.

Gibt es weitere Kernpunkte in eurem Konzept?

Wir führen jedes Jahr mit der ganzen Schule einen Lesewettbewerb durch, den man als Klasse bestehen muss. In der 8. und in der 9. Klasse finden literarische Gespräche statt, die Jugendlichen führen ab der 7. Klasse ein Lesejournal, wir lesen ihnen auch Bücher vor etc. Ab und zu organisieren wir Dichterlesungen oder Literaturnächte oder es lasen zu bestimmten Zeitpunkten alle Lehrpersonen während ihres Unterrichts einen Abschnitt aus ihrem gegenwärtigen Lieblingsbuch vor, was auch zu interessanten Diskussionen und Gesprächen mit den Klassen führte. Das zeigte auch allen, dass die Lehrpersonen selber Lesende sind.

Da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.

Ob wir mit unserem Lesekonzept Erfolg haben? Mindestens die Zahlen sagen ja. Aus den 63% schwachen oder unterdurchschnittlichen Leseleistungen wurden Ende der 9. Klasse noch 28,7%, jedoch nur noch 4.5% davon waren schwach.

Und? Habt ihr Erfolg? Überprüft ihr das?

Ende des 9. Schuljahres führen wir nochmals mit allen ein Lesescreening durch. Und da sieht man jeweils die Fortschritte. Ich erhielt von den Lehrpersonen die Resultate ihrer Klasse und hielt das Ganze in einer Tabelle fest. Da sieht man übrigens auch, dass sich in den letzten Jahren die Lesekompetenz der neuen Siebtklässler kontinuierlich verschlechtert hat, d.h. Schülerinnen und Schüler mit schwachen und unterdurchschnittlichen Leistungen nahmen von Jahr zu Jahr zu. So waren im Jahr 2020 63.5 % aller Schülerinnen und Schüler der neuen siebten Klassen schwach oder unterdurchschnittlich und drei Jahre später waren es bereits 72 %.

Ob wir mit unserem Lesekonzept Erfolg haben? Mindestens die Zahlen sagen ja. Aus den 63% schwachen oder unterdurchschnittlichen Leseleistungen wurden Ende der 9. Klasse noch 28,7%, jedoch nur noch 4.5% davon waren schwach.

Wie steht es übrigens mit der «verpönten» Grammatik und der Rechtschreibung? Wie sehen Sie deren Bedeutung?

Die Arbeit daran darf nicht vergessen werden. Solide grammatikalische Kenntnisse helfen den Schülerinnen und Schülern, vor allem den fremdsprachigen, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Auch Diktate ergeben gegenwärtig wieder Sinn. Und noch etwas: Das vielkritisierte «Wörter Lernen» in den Fremdsprachen hilft, und zwar nicht nur den fremdsprachigen Kindern, den Wortschatz zu erweitern.

Was erachten Sie eher als nicht wirkungsvoll?

Texte schreiben hilft. Aber sie müssen sofort korrigiert und ins Reine geschrieben werden.

Ich beobachtete immer wieder, wie Lehrpersonen in ihren Klassen vorfabrizierte Lese-Verstehen-Tests durchführten. Ich denke, dass man damit vor allem das Vorwissen der Einzelnen überprüft, doch dass damit keine Verbesserung der Lesekompetenz stattfindet.

Gibt es noch etwas, was Sie an dieser Stelle sagen möchten?

Ja, dass es sehr wichtig ist, dass sich Lehrpersonen für ihre Schüler und Schülerinnen interessieren, bei den vorherigen Lehrpersonen nachfragen, den Problemen wirklich auf den Grund gehen. Je mehr Erfolg die Jugendlichen haben, desto mehr Freude entwickeln sie. Es ist zum Teil wirklich wie bei Knospen, die aufgehen. Einer von meinen ehemalig sehr schwachen Lesern hat letzthin das Anwalt Patent bestanden.

Die umfangreiche Beschreibung unseres Lesekonzepts für die Oberstufe finden Sie übrigens auf der Homepage des OSZ Mett-Bözingen in Biel (www.OSZMB.ch) unter der Rubrik «Leseförderung», dann «Lesekick». Hier finden Sie alle Unterlagen und können sich bei Fragen an die Schulleitung wenden.

Ich danke Ihnen für das Gespräch

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Die Pisa-Hysterie muss aufhören https://condorcet.ch/2023/12/die-pisa-hysterie-muss-aufhoeren/ https://condorcet.ch/2023/12/die-pisa-hysterie-muss-aufhoeren/#comments Sun, 17 Dec 2023 20:20:44 +0000 https://condorcet.ch/?p=15510

Die Pisa-Studie sorgt wieder einmal für Aufregung: Ein Viertel der Schweizer Jugendlichen kann laut Pisa einen Text nicht lesen und verstehen – und das, obwohl die Schweiz sehr viel für Bildung ausgibt. In Deutschland herrscht Heulen und Zähneklappern ob der noch viel schlechteren Ergebnisse. Zu Recht? Margrit Osterloh mahnt im Nebelspalter zur Gelassenheit.

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Zunächst einmal sollte man die Pisa-Studie ihrerseits einer kritischen Evaluation unterwerfen: Erfassen die Testbatterien wirklich die Bildungsleistung im Sinne der Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Leistung für die Gestaltung des eigenen Lebens und der gesellschaftlichen Zukunft eines Landes? Kann man Bildung auf die Bereiche Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften beschränken? Ist es sinnvoll, auch im Bildungsbereich den “Kult des Allesmessens” zu zelebrieren nach dem Motto “Wir wissen es nicht, aber wir können es messen”?

Gastautorin Margrit Osterloh

Die daraus resultierenden Ranglisten haben grossen Unterhaltungswert, gleichgültig, ob es sich um Fussball-Leagues, die Zufriedenheit mit Ärzten oder Rankings von Universitäten handelt. Der metrischen Erfassung aller Aspekte des menschlichen Lebens. können sich auch diejenigen nicht entziehen, die diese Entwicklung kritisch sehen, zum Beispiel viele erfahrene Pädagogen. Wie soll sich ein Schulsystem neuen Anforderungen wie der Integration des steigenden Anteils an Schülern mit Migrationshintergrund anpassen, wenn es permanent von neuen Test- und Ranking-Wellen überrollt wird?

Eine neue Studie zur Glücksforschung weist einen weiteren, überraschenden Aspekt auf: Längst ist bekannt, dass Glück bzw. Lebenszufriedenheit mit dem Einkommen wächst: Je wohlhabender ein Land ist, desto glücklicher sind im Allgemeinen die Bürger. Nun zeigt sich aber, dass dies nicht für die Jugendlichen in Ländern mit mittlerem und hohem Wohlstand gilt: Je reicher diese Länder sind, desto geringer ist die Lebenszufriedenheit der Jungen [1]. Was ist der Grund? Viele unserer 15 -jährigen stehen unter einem ständigen Druck zu schulischen Höchstleistungen, verstärkt noch vom Druck auf die Lehrer und Lehrerinnen, im Pisa-Wettbewerb gut abzuschneiden.

Der schulische Stress beeinträchtigt das spätere Leben

In vielen OECD-Ländern sitzt ein hoher Anteil der Schüler und Schülerinnen länger in der Schule und an den Hausaufgaben als die Erwachsenen im Büro. In England bringen 11 Prozent der 15-Jährigen 60 Stunden pro Woche mit Lernen zu, in Spanien 16,5 Prozent und in Südkorea gar 23 Prozent. Der schulische Stress beeinträchtigt nicht nur ihre Lebenszufriedenheit, sondern – auch das zeigt die Glücksforschung – ihr späteres Leben. Längsschnittstudien weisen darauf hin, dass die Lebenszufriedenheit während der Adoleszenz mit der mentalen Gesundheit, dem Einkommen und  der Vermeidung von Arbeitslosigkeit  im Erwachsenenleben korreliert. Dieser Effekt ist für Mädchen deutlich höher als für Buben, weil Mädchen auf Wettbewerb im Durchschnitt negativer reagieren. Insgesamt weist dieser Effekt auf erhebliche “mentale Kosten” unseres Wohlstandes hin, der in eine ökonomische Analyse der Bildung einbezogen werden sollte.

Nicht für jede erfolgreiche berufliche Ausbildung sind Höchstleistungen im Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften wichtig, sondern Disziplin, Ausdauer, Verlässlichkeit, Umsicht und kollegiales Verhalten.

Was tun? Die schulischen Anforderungen generell verringern, um den Schulstress abzubauen? Damit werden wir kaum den steigenden Anforderungen der Wissensgesellschaft und der internationalen Konkurrenz gerecht. Die “mentalen Kosten” der Wissensexplosion lassen sich aber reduzieren, wenn man den unbarmherzigen Wettbewerb im Bildungssystem und gleichzeitig um Pisa-Punkte reduziert. Das gelingt dadurch, dass man Kooperation der Schülerinnen und Schüler durch Teamarbeit im Klassenzimmer fördert. Die Lebenszufriedenheit der Jugendlichen hängt stark von ihrem Status innerhalb der Bezugsgruppe und von der Beziehung zur Lehrperson ab.

Gefangen in der Pisa-Zwangsjacke

Eine weitere wichtige Massnahme wäre, den Schulstress dadurch abzubauen, indem man das duale Bildungssystem aufwertet und damit die “Akademisierungsfalle” (Rudolf Strahm) reduziert. Nicht für jede erfolgreiche berufliche Ausbildung sind Höchstleistungen im Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften wichtig, sondern Disziplin, Ausdauer, Verlässlichkeit, Umsicht und kollegiales Verhalten – alles Lernziele, die in den Pisa-Kriterien nicht berücksichtigt werden und die sich der metrischen Messbarkeit entziehen. Gute Pädagogen wissen das längst, befinden sich aber in der Pisa-Zwangsjacke.

Eine Neujustierung der Bildungspolitik wäre deshalb gut beraten, die Pisa-Hysterie gelassen vorbeiziehen zu lassen.

 

[1] Robert Rudolf & Dirk Bethmann (2023). The Paradox of Wealthy Nations´Low Adolescent Life Satisfaction. Journal of Happiness Studies 24: 79-105.

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Einfache Frage – einfache Antwort: Wozu sind wir in der Schule? https://condorcet.ch/2023/11/einfache-frage-einfache-antwort-wozu-sind-wir-in-der-schule/ https://condorcet.ch/2023/11/einfache-frage-einfache-antwort-wozu-sind-wir-in-der-schule/#comments Mon, 20 Nov 2023 12:23:27 +0000 https://condorcet.ch/?p=15330

Condorcet-Autor Urs Kalberer stellt mit seinem Beitrag eine einfache, aber existentielle Frage an unsere Institution. Und er gibt die Antwort.

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Urs Kalberer, Sekundarlehrer: Lernen, viel lernen

Die erste Frage des Katechismus lautet: «Wozu sind wir auf Erden?» Den Pensionierten unter uns dürfte die auswendig gelernte Antwort noch immer geläufig sein: «Wir leben auf Erden, um Gott zu dienen und dadurch in den Himmel zu kommen.» Das ist Klartext. Bezogen auf die Schule fällt uns die Antwort nicht mehr so leicht. Zu viel ist in den letzten Jahrzehnten geschehen. Die Schule, dieser Riesentanker auf offener See, geriet in dichten Nebel. Die Navigation wurde schwieriger, das Schiff kam vom Kurs ab, die Kapitäne zuckten mit den Achseln und blickten hilfesuchend durch ihre Ferngläser. Die Frage nach dem Ziel und Zweck der Schule wird je nach Situation anders gesehen. Eine Umfrage («Was macht eine gute Schule aus?») anlässlich eines Weiterbildungskurses an meiner Schule brachte die folgenden Antworten:

Haltungsbewusstsein – Reflexionsfähigkeit – Gelebter Respekt – Ressourcenorientierung – Tolle LP und SuS – Gute Infrastruktur – Beziehungskultur – Teamentscheide – Infrastruktur – Beziehung zur Klasse – Nicht stressige Atmosphäre – Guter Support von Schulleitung – Offenheit – Empathie – Diskussionskultur – Positive Grundhaltung – Teamarbeit – Jede Person wird akzeptiert, wie sie ist – Einhaltung von Regeln – Lebensweltbezug – Vielfältigkeit – Offen für Neues – Abwechslung – Kreativität – Unterrichtsqualität – Sicherheit – Gutes Arbeitsklima – Angenehmer Stundenplan – Gutes Material – Ehrlichkeit – Am gleichen Strick ziehen – Entwickelt sich gemäss den Ansprüchen der Gesellschaft – Auf Lehr- und Lernbedürfnisse ausgerichtet

Deshalb nun die Frage: Was ist denn die hauptsächlichste Aufgabe der Volksschule? Weshalb ist sie obligatorisch für alle Kinder? Ganz einfach: Die Schule ist fürs Lernen da. Eine gute Schule ist eine Schule, in der die Kinder viel lernen!

Schreiben lernen – eine anspruchsvolle Aufgabe (Bild: KEYSTONE)

Die Frage, was eine gute Schule ausmacht, hängt direkt mit dem Sinn und Zweck dieser Institution zusammen. Eine gute Schule ist demnach eine Schule, die ihren Zweck erfüllt. Doch machen die obgenannten, allesamt lobenswerten, Antworten wirklich eine gute Schule aus? Ist der Zweck der Schule wirklich, dass man im Team arbeitet oder ein vielseitiges Angebot bereitstellt? Geht es wirklich prioritär darum, Offenheit oder Empathie zu fördern? Mir scheint, das wichtigste Kriterium einer guten Schule sei vielen Lehrerinnen und Lehrern (und auch den Schulleitungen!) nicht mehr bewusst.

Deshalb nun die Frage: Was ist denn die hauptsächlichste Aufgabe der Volksschule? Weshalb ist sie obligatorisch für alle Kinder? Ganz einfach: Die Schule ist fürs Lernen da. Eine gute Schule ist eine Schule, in der die Kinder viel lernen! Was müssen sie denn alle wirklich können? Lesen, Schreiben und Rechnen. Und noch viel mehr, wenn man dem Lehrplan 21 gehorcht. Doch wir wissen, dass längst nicht alle Schüler nach neun Schuljahren lesen, schreiben und rechnen können. Vom Rest des im Lehrplan erwähnen Katalogs wollen wir gar nicht sprechen.

Entscheidend ist, was dank diesen Voraussetzungen erreicht wird.

Eine gute Schule ist also eine, in der die Schüler viel lernen. Eine schlechte Schule ist eine, in der die Schüler wenig lernen. So simpel kann es sein. Wenn eine Schule eine gute Infrastruktur bietet, alle gut miteinander auskommen und sich sicher fühlen, dann sind das gute Voraussetzungen fürs Lernen, aber dies reicht noch lange nicht, um als gute Schule bezeichnet werden zu können. Die vom Lehrerteam gegebenen Antworten sind demnach keine Indikatoren für eine gute Schule, sie sind bloss Voraussetzungen fürs Lernen. Entscheidend ist, was dank diesen Voraussetzungen erreicht wird. Was die Jugendlichen am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht wissen oder können, das bleibt den meisten von ihnen auch später im Leben verschlossen. Weil dies so entscheidend für die Zukunft ist, muss man es auch mit Nachdruck einfordern: Lehrerinnen und Lehrer können noch so empathisch und mit einem grossen didaktischen Werkzeugkasten ausgerüstet sein – sie erfüllen ihren Auftrag nur, wenn die Kinder bei ihnen auch etwas lernen. Am besten Rechnen, Lesen und Schreiben.

Zugegeben: Hartnäckiges Fordern und Fördern ist nicht immer ein Zuckerschlecken. Aber auf dem Weg in die pädagogische Meisterklasse führt nichts daran vorbei.

 

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Wenn Überkomplexität das Entscheidende erschwert https://condorcet.ch/2023/06/wenn-ueberkomplexitaet-das-entscheidende-erschwert/ https://condorcet.ch/2023/06/wenn-ueberkomplexitaet-das-entscheidende-erschwert/#comments Thu, 01 Jun 2023 19:43:36 +0000 https://condorcet.ch/?p=14170

Vorbemerkung der Redaktion: Sie lesen her eine überarbeitete Variante des Artikels von Carl Bossard. In der ersten Variante ging durch einen Übertragungsfehler das Eingangskapitel des Beitrags veloren. Wir bitten die Leserinnen und Leser um Entschuldigung.
Condoret-Autor Carl Bossard schrieb: Mit dem Lesen steht es bei den Jugendlichen nicht zum Besten. «Ein Drittel kann kurz vor dem Schulabschluss nicht richtig lesen und schreiben», verkündete ein Medienbericht vor Kurzem. Er liess aufhorchen. Lesestudien verraten die Hintergründe.

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Carl Bossard: Viele Dinge können nur noch flüchtig gestreift werden.

Deutschland zeigt sich schockiert: Erneut bestätigt eine Studie, dass viele Primarschülerinnen und Primarschüler nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können. Seit Jahren verschlechtert sich das Können in den Kulturtechniken, und zwar erheblich. Jeder vierte Viertklässler liest nicht gut genug. Er kann einem Text nicht einmal elementare Informationen entnehmen, geschweige denn Zusammenhänge erfassen und interpretieren. Das zeigt die sogenannte IGLU-Studie, die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung 2021.  Das Ergebnis wurde in diesen Tagen präsentiert; es sei «alarmierend», heisst es aus dem Berliner Bildungsministerium.  Der niederschmetternde Befund bleibt nicht ohne Folgen für den weiteren Lern- und Lebensweg dieser Kinder. Den deutschen Grundschulen gelingt es nicht, ihnen eine solide Grundlage zu vermitteln, dies ausgerechnet beim Lesen. Und Lesen ist die Schlüsselkompetenz für jede Selbstbildung – und für die gesellschaftliche Willensbildung, wie sie vor allem in Demokratien vorausgesetzt wird

Schweiz liegt deutlich hinter Deutschland

Die Schweiz nimmt an den IGLU-Vergleichen unter 65 Staaten und Regionen nicht teil. Ein Vergleich ist darum nur indirekt möglich. Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag unser Land beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelte damit unter dem OECD-Durchschnitt und klar hinter unserem nördlichen Nachbarn Deutschland. An der Spitze liegen bei beiden Studien die Schülerinnen und Schüler aus Singapur.

Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig lesen, diagnostiziert die Pisa-Studie.

Und noch etwas fällt auf: Der Leistungsabfall in Deutschland geht einher mit einer deutlichen Zunahme der Leistungsstreuung. Zwischen den einzelnen Schülern gibt es enorme Unterschiede: Die einen lesen in der vierten Klasse bereits fliessend, andere können die Buchstaben nur stockend entziffern und ihnen kaum Sinn entnehmen; sie bleiben auf der Worterkennungsebene stecken.[iii] Ins Stocken kommt damit auch ihre Bildungsbiographie.

Erosion der Schulqualität

Die Meldung aus Deutschland ging einher mit Klagen über den Niveauverlust in Schweizer Schulen. Wenn acht von 24 Schülerinnen und Schülern einer neunten Zürcher Schulklasse, also ein Drittel, «wenige Wochen vor dem Schulabschluss kaum richtig lesen und schreiben» können, lässt das hellhörig werden.[iv] Ein Einzelfall? Wohl kaum. Gar von «Erosion der Schulqualität» ist die Rede und vom «Tohuwabohu» in gewissen Klassenzimmern.[v]

Hier liegt offenkundig ein Systemversagen vor: 2020 investierten Bund, Kantone und Gemeinden über 40 Milliarden in die Bildung, den grössten Teil davon in die obligatorische Schule.

Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig lesen, diagnostiziert die Pisa-Studie. Er versteht das Gelesene nicht. Ein Viertel der 15-Jährigen ist darum nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Seit Jahren sinken die Leistungen der Schweizer Schüler. Schon vor Längerem hat die renommierte ETH-Lernforscherin Elsbeth Stern darauf hingewiesen, wonach mindestens 15 Prozent der schulentlassenen Jugendlichen funktionale Analphabeten oder Illiteraten seien. Hier liegt offenkundig ein Systemversagen vor: 2020 investierten Bund, Kantone und Gemeinden über 40 Milliarden in die Bildung, den grössten Teil davon in die obligatorische Schule.

Reformen kaum in ihrer Komplexität betrachtet

Und noch etwas wissen wir: In der Schweiz können rund 800‘000 Erwachsene nicht gut schreiben; sie haben Mühe, einen Text zu verstehen. «Wie kann es sein, dass es einem wohlgenährten Bildungssystem nicht gelingt, allen Schulpflichtigen das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen», fragt die NZZ.[vi] Und sie fragt zu Recht.

Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit.

Die Schule erlebte in den letzten Jahren eine hohe Zahl an Reformen. Innovation reihte sich an Innovation. Der pädagogische Kompass kannte lange Zeit nur eine Richtung: Umbau, Reorganisation und Implementation von Neuem. Viele Veränderungen im Schulsystem kranken aber daran, dass sie meistens nie in ihrer Komplexität betrachtet und kaum zu Ende gedacht wurden. Welche Effekte werden an welcher Stelle ausgelöst? Oder gar in Kauf genommen? Welches sind die Folgen? Am Ende ist es immer die Überkomplexität des Systems; sie relativiert die Reformeffekte oder kehrt sie gar um. Darauf hat der Systemtheoretiker Niklas Luhmann aufmerksam gemacht. Es ist das «Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen». Im Reformeifer wurden Wirkung und Wechselwirkung vielfach negiert. Formuliert hat das Gesetz der Pädagoge und Philosoph Eduard Spranger.

Grundfertigkeit müssen intensiv trainiert werden

Das überkomplexe Bildungssystem resultiert auch aus den Kräften der Addition. Sie ist die Kennziffer der Schulentwicklung der vergangenen Jahre und resultiert aus der Tendenz, Qualität als Addition verschiedener zählbarer und kontrollierbarer Einheiten zu verstehen. Wenn die Aufgabenfülle aber steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Eine einfache Gegenbuchung! Viele Dinge können nur noch flüchtig gestreift werden. Inhalte lösen einander schnell ab. Sie prägen sich nicht tief ein, werden nur erschwert Erfahrung und bleiben Bruchstück. Lehrerinnen und Lehrer kommen kaum mehr zu vertieftem Festigen und Automatisieren. Verbindlichkeit und Effizienz der Lernprozesse nehmen ab. Aus der Gedächtnispsychologie aber wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt insbesondere für die grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben.

Hier läge der Schlüssel: Die Primarschule müsste ganz gezielt das Lesen und das Schreiben üben. Intensiv und regelmässig. Die sinkenden Lesefähigkeiten liegen in der geringen Lesezeit an den Schulen mitbegründet. Das Trainieren von Lesen wie auch von Schreiben kommt zu kurz. Üben ist über lange Zeit gerade im Deutschunterricht diskreditiert worden. Tägliche Übungsphasen von zehn bis fünfzehn Minuten bringen den Kindern die nötige Routine; sie lernen automatisiert le­sen und schreiben. Wenn sie das beherrschen, können sie auch Freude am Lesen entwickeln. Es wäre der erfolgreiche Übergang vom Lesenlernen zum Lesen, um zu lernen.

Wann kommt Frühdeutsch?

Wer Zweitklässler lesen hört, denkt unwillkürlich: «Und in der dritten Klasse kommt zusätzlich noch Frühenglisch! Zwei Jahre später dann Frühfranzösisch.» Da liegt der Gedanken nicht mehr fern: «Und wann kommt denn Frühdeutsch?»

Die Überkomplexität des Bildungssystems auf Wesentliches und Grundlegendes zu fokussieren, was denn auch den Zugang zu komplexeren Fragestellungen erleichtert, das wäre Aufgabe einer verantwortungsbewussten Bildungspolitik. An kleinen Stellschrauben wie den Hausaufgaben oder der Notengebung zu drehen genügt nicht. Gefordert ist die bildungspolitische Weitsicht, die Kernelemente einer guten Schule herauszudestillieren und das System neu auszurichten. Schulkinder, die kaum lesen und schreiben können, und 800 000 funktionale Analphabeten sind für das Land mit dem weltweit höchsten Bildungsaufwand zu viel.

Lesen ist die Schlüsselkompetenz für jede Selbstbildung

 

[i] https://www.bildungsserver.de/internationale-grundschul-lese-untersuchung-iglu-studie-deutschland-8341-de.html[konsultiert: 27.05.2023]

[ii] Heike Schmoll, Viertklässler können immer schlechter lesen, in: FAZ, 17.05.2023, S. 1.

[iii] Dies., Zu wenig Unterrichtszeit fürs Lesen, FAZ, 17.05.2023, S. 2.

[iv] Nadja Pastega, «Ein Drittel kann kurz vor dem Schulabschluss nicht richtig lesen und schreiben», in: Sonntagszeitung, 07.05.2023, S. 18.

[v] Julia Hofer, Tohuwabohu im Klassenzimmer, in: Beobachter 25/2021, S. 92.

[vi] Claudia Wirz, Die betreute Gesellschaft, in: NZZ, 23.05.2023, S. 22.

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Neue IGLU-Studie : Deutschlands Grundschüler können immer schlechter lesen https://condorcet.ch/2023/05/neue-iglu-studie-deutschlands-grundschueler-koennen-immer-schlechter-lesen/ https://condorcet.ch/2023/05/neue-iglu-studie-deutschlands-grundschueler-koennen-immer-schlechter-lesen/#respond Fri, 19 May 2023 08:32:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=14009

Die neuste IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) zeigt eine weitere Verschlechterung der Leseleistungen der deutschen Grundschüler. Gastautorin Heike Schmoll, Journalistin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, fasst zusammen.

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Die durchschnittliche Lesefähigkeit deutscher Viertklässler hat sich in den Jahren 2016 bis 2021 noch einmal erheblich verschlechtert. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland im Mittelfeld. Das geht aus der am Dienstag veröffentlichten IGLU-Studie hervor, die alle fünf Jahre die Lesefähigkeit der Schüler der vierten Jahrgangsstufe untersucht.

Die Corona-Pandemie und eine zunehmend heterogene Schülerschaft stellen die Lehrkräfte vor immer größere Herausforderungen.

Gastautorin Heike Schmoll

Die Risikogruppe der Schüler, die nicht einmal so gut lesen können, dass sie eine weiterführende Schule mit Erfolg besuchen können, ist auf 25 Prozent gestiegen, zugleich hat sich die Spitzengruppe der besten Leser auf knapp acht Prozent verringert. Die Lesezeit im Unterricht pro Woche ist in Deutschland mit durchschnittlich 141 Minuten sehr gering, in der Vergleichsgruppe der EU sind es 194 Minuten.

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger bezeichnete die Ergebnisse der IGLU-Lesestudie als „alarmierend“. Gut lesen zu können sei eine der wichtigsten Grundkompetenzen und das Fundament für Bildungserfolg, sagte die FDP-Politikerin am Dienstag laut einer Mitteilung. „Die IGLU-Studie zeigt, dass wir dringend eine bildungspolitische Trendwende benötigen“, äußerte Stark-Watzinger.

Die Ministerin verwies auf das von der Ampelregierung geplante Startchancen-Programm, mit dem 4000 Schulen im Land „mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler“ speziell gefördert werden sollen. Man arbeite derzeit mit den Ländern mit Hochdruck an diesem Thema, sagte Stark-Watzingers Staatssekretärin Sabine Döring in Berlin. Der Bund will für das Programm eine Milliarde Euro jährlich bereitstellen. Angesichts der IGLU-Ergebnisse sei es dringend nötig, die Gelder den wirklich Bedürftigen zuzuweisen, also nach sozialen Indikatoren vorzugehen.

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch, nannte die IGLU-Ergebnisse „ernüchternd“. Die Corona-Pandemie und eine zunehmend heterogene Schülerschaft stellten die Lehrkräfte vor immer größere Herausforderungen. „Das ist uns bewusst, und wir werden uns diesen Herausforderungen stellen“, sagte die CDU-Politikerin.

Mehr zum Thema

Die IGLU-Studie wird alle fünf Jahre durchgeführt. An der Erhebung im Jahr 2021 haben laut dem Institut für Schulentwicklungsforschung in Deutschland bundesweit etwa 4600 Viertklässler an rund 252 Grund- und Förderschulen teilgenommen.

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«Lesen – wahrlich ein selt’nes Glück» https://condorcet.ch/2023/03/lesen-wahrlich-ein-seltnes-glueck/ https://condorcet.ch/2023/03/lesen-wahrlich-ein-seltnes-glueck/#comments Thu, 30 Mar 2023 13:23:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=13519

Es wird weniger gelesen. Die Lesekompetenz der Jugendlichen sinkt. Ein verdrängtes Faktum. Bildungspolitik und Schule müssten gegenhalten und diese Kulturtechnik fördern, wie dies schon einmal der Fall gewesen ist. Ein Blick zurück von Condorcet-Autor Carl Bossar dokumentiert dies.

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Carl Bossard: Doch heute sinkt das Lesevermögen wieder.

Eine Kindheit als eigene Lebensphase und mit Schulzeit gab es lange nicht. Die Kinder werden als ökonomische Ressource schnell zu kleinen Erwachsenen. Früh treten sie in die handwerklich und landwirtschaftlich dominierte Arbeitswelt ein. Man braucht sie fürs Werken und Rackern auf Feld und Hof und später in den Fabriken. Der Stall ist notgedrungen stärker als die Schiefertafel, das Brot wichtiger als ein Buch. «Lesen [ist darum] wahrlich ein selt’nes Glück», wie es der arme Mann aus dem Toggenburg, Ulrich Bräker, um 1775 ausdrückt.(1)

Unterricht aus dem Wirrwarr des Zufallslernen befreien
Viele Kinder bleiben Analphabeten; sie sind aufs Vorlesen oder bestenfalls auf gemeinsames Buchstabieren und Deuten eines Textes angewiesen. Eindrücklich schildert dies der Pädagoge und Sozialreformer Johann Heinrich Pestalozzi (17461827) im «Stanser Brief»: «Unter zehn Kindern, konnte kaum eins das A b c.» Und er fügt bei: «Von anderm Schulunterrichte […] war noch weniger die Rede.»(2)

Das will die neue helvetische Regierung um 1800 ändern. Sie möchte die Kinder aus den Arbeitswelten herausholen und ihren Schulunterricht aus dem Wirrwarr des Zufallslernens befreien. Die Helvetik (17981803) versteht sich als konsequente Antithese zum Ancien Régime. Sie realisiert Ideen der Aufklärung und nimmt mit dem bislang ungewohnten Gedanken der Gleichheit einen irreversiblen Mentalitätswandel vor: etwas völlig Neues, gar Radikales. Die patrizischaristokratische Oberschicht, das «Volk in Seide», wie Pestalozzi es formuliert, hat sich bis dahin kaum richtig bemüht, den gewöhnlichen Leuten, dem «Volk im Zwilch», zu politischer Gleichheit zu verhelfen. «Der gemeine Mann darf kein Gelehrter werden», so die Denkweise. Bildung bleibt darum ein Privileg weniger.

Kampf zwischen Idealität und Realität
Die helvetische Regierung versteht sich als eine Art Sarastro und dieser Sarastro setzt sich zur Aufgabe, die Menschen zu bilden. Der Glaube, dass eben nur ein gebildetes Volk die Prinzipien der neuen Zeit anerkennen könne, gibt im neuen helvetischen Staat dem Auf und Ausbau der Schulen höchste Priorität.
Das Unterfangen ist dornig und der Pfad steinig, der pädagogische Wandel zäh und der Fortschritt ein hartnäckiger Kampf zwischen Utopie und Machbarkeit, zwischen Idealität und Realität. Er braucht Zeit und Energie.

Die Wirklichkeit im Schweizer Bildungswesen erfährt in Struktur und Programm nach und nach eine zeitgemässe Verbesserung. Die pädagogische «Frühlingssaat» der Helvetik und ihrer bahnbrechenden Schulpolitik geht langsam auf. Der neue Bundesstaat nach 1848 realisiert ideell und dann auch materiellorganisatorisch, was die Helvetische Republik erreichen wollte: eine umfassende Bildung und Erziehung als Fundament des demokratischen Staates. Die Kulturtechniken Lesen und Schreiben und ebenso Rechnen werden zum Allgemeingut. Ein zäher und langer Weg!

Lesekompetenz und Textverständnis schwinden
Die Lesekompetenz hat stetig zugenommen, speziell spürbar seit Ende des Zweiten Weltkrieges. In den Schulen wurde intensiv gelesen und geübt. Doch heute sinkt das Lesevermögen wieder besonders einschneidend bei jenen Personen, die ab Ende der 90erJahre des letzten Jahrhunderts zur Welt gekommen sind. Die internationalen Vergleichsstudien wie PISA
(Programme for International Student Assessment) oder PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study) zeigen es:
Die jüngere Generation hält weder bei der gelesenen Textmenge pro Zeiteinheit noch beim Textverständnis mit.(3)
Lesefreude und Lesekompetenz schwinden.

Das gilt auch für die Schweiz; beim Lesen liegt sie heute unterhalb des OECDDurchschnitts von 75 Ländern.(4) Der Anteil schwacher Leserinnen und Leser steigt.
Jeder vierte Schulabsolvent kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verständig lesen, diagnostiziert die PISAStudie von 2019. Er verharrt auf dem untersten Niveau von sechs Kompetenzstufen. Das heisst, er ist nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Ein Viertel vermag das Geschriebene zwar zu entziffern, versteht aber das Gelesene im Gesamtkontext nicht. Dabei wäre ein ausgeprägtes Leseverständnis elementar. Die sprachliche Heterogenität heutiger Klassen akzentuiert das Problem noch.(5)

Das Kernproblem der mangelnden Lesekompetenz nicht weniger junger Menschen liegt beim Verstehen.

Fast ein Viertel der 15-Jährigen ist nicht in der Lage, einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Textteilen herzustellen.

Wenn Verstehen zur Schwerstarbeit wird
Das Kernproblem der mangelnden Lesekompetenz nicht weniger junger Menschen liegt beim Verstehen. Konzentrierte Lektüre wird seltener. Usanz ist heute das Lesen von WhatsAppNachrichten und von flüchtig gescannten Kurztexten. Das gehört zum Leben junger Leute. Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones: FastFoodInformation, in Sekundenhäppchen präsentiert und konsumiert. Wie soll man da Gedanken zu Nikolaus Kopernikus oder Charles Darwin verstehen? Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen. Wer in den sozialen Netzwerken viele Freunde kennt, wird täglich von fünfzehnsekündigen Videoausschnitten förmlich überschwemmt. Mit Bildwelten aber kann sich kein Denken verbinden. Sie rauschen unkontrolliert oder unreflektiert an mir vorbei.

Dazu kommt, dass elektroni
sche Geräte anders als gedruckte Bücher kaum materielle Orientierung im Text ermöglichen. Dies schmälert das kognitive Weiterkommen und führt zu Verstehenswie auch zu Akzeptanzproblemen. Nichtalltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird so für manche Schülerinnen und Schüler zur Schwerstarbeit und die Aufgabe einer differenzierten Versprachlichung zur subjektiven Zumutung. Für die Lehrer bedeutet diese UnbehagensDisposition der jungen Leute einen erheblichen Zuwachs an Anstrengung. Manche schauen weg und resignieren.
«Was soll’s?». So öffnen sich neue Sprachbarrieren. Der Lesenotstand verschärft sich.

Lesen muss geduldig gelehrt, intensiv und auch gemeinsam geübt und reflektiert werden.

Lektürestunden in der jeder Schulart und in jedem Schulfach
Vertieftes und konzentriertes Lesen oder
«deep reading»,(6) wie es die Leseforschung nennt, muss geduldig gelehrt, intensiv und auch gemeinsam geübt und reflektiert werden. Aus Sicht der Wissenschaft zuerst mit analogen und erst dann mit digitalen Medien. Dazu schreibt Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler und Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: «Wir brauchen eine Renaissance der Lektüre, nicht als Beschäftigungstherapie vor den Ferien, nicht begleitend im Film, sondern im Kern des Curriculums, mit Lektürestunden in jeder Schulart und in jedem Schulfach.»(7)

Bedingung gesellschaftlicher Teilhabe
Nur ein gebildetes und lesefähiges Volk ist auch ein demokratiefähiges Volk! Davon war die
helvetische Regierung von 1798 zutiefst überzeugt. Sie förderte die Kulturtechnik des Lesens wie auch des Schreibens. Für den Einzelnen und die Gesellschaft. Was damals so wichtig war, gilt auch heute noch: Zur sozialen und politischen Teilhabe gehört eine angemessene Lesekompetenz. Nur informierte und unabhängige Bürgerinnen und Bürger interessieren sich für gesellschaftliche und demokratische Prozesse. Es ist kein Zufall, dass die Helvetik ein erster Schritt zur schweizerischen Demokratie wurde. Sie wusste: Die Förderung des demokratischen Lebens basiert auf der kollektiven Lesekompetenz.

Der Bildungspolitik und der Schule kommen darum eine hohe Verantwortung zu. Lesen darf nicht «zum selt’nen Glück» verkommen.

 

(1) Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und natürliche Ebenteuer (sic) des armen Mannes im Tockenburg. In:
Bräkers Werke in einem Band. Berlin und Weimar 1966, S. 83ff.

(2) Pestalozzi über seine Anstalt in Stans [kurz: «Stanser Brief» von 1799] (1997). Mit einer Interpretation und
neuer Einleitung von Wolfgang Klafki. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, S. 9.

(3) Klaus Zierer: Wir brauchen eine Renaissance der Lektüre. In: DIE ZEIT, 21.04.2022, S. 38.

(4)
https://www.oecd.org/publications/pisa2018resultsvolumei5f07c754en.htm
(5) Tanja Polli: Spricht hier jemand Deutsch? In: Beobachter 7/2023, S. 1719. Jedes dritte Kind hat heute
ein Sprachproblem, wenn es in den Kindergarten kommt.

(6)
Häufig liest man auch den Ausdruck «higherlever reading». Man möchte so das Idyll des kindlichen
Lesens und die Assoziation mit dem vertrauten Buchgenuss vermeiden

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Bildung und Demokratiefähigkeit https://condorcet.ch/2022/12/bildung-und-demokratiefaehigkeit/ https://condorcet.ch/2022/12/bildung-und-demokratiefaehigkeit/#comments Thu, 01 Dec 2022 20:23:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=12500

Demokratie braucht gebildete Bürgerinnen und Bürger. Das war der Schlachtruf der Helvetik. Sie revolutionierte das Bildungswesen. Gefragt war Lesekompetenz. Heute nimmt sie bei den Jugendlichen wieder ab. Eine Gefahr für unsere Demokratie?, fragt Concorcet-Autor Carl Bossard.

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Condorcet-Autor Carl Bossard

Eine Studie der Universität Zürich gibt zu denken: Fast 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung konsultieren keine Nachrichten über Politik. Das ist für unsere direkte Demokratie ein Alarmsignal. Nachrichten oder „News“, wie sie heute heissen, lesen junge Erwachsene im Alter zwischen 19 und 24 Jahren nur noch während rund sieben Minuten – dies via Smartphone und im Tages-Durchschnitt gemessen. Wer Social-Media-Kanäle wie Instagramm oder TikTok benutzt, greife kaum auf journalistische Texte und publizistische Inhalte zurück. Das sei problematisch, heisst es im «Jahrbuch Qualität der Medien».[i]

Mehr Staatskundeunterricht gefordert 

Die Nachrichten-Abstinenz nimmt spürbar zu. Die Studie spricht von Deprivation oder von Mangelversorgung. Das hat Folgen. «News-Deprivierte», wie die Forscher es nennen, also uninformierte Staatsbürgerinnen und -bürger, beteiligen sich deutlich weniger an Abstimmungen und Wahlen.[ii] Es ist die brisante Frage politischer Teilhabe. Dass sie im Berner Bundeshaus Besorgnis auslöst, überrascht nicht. Gesellschaftliche Debatten und politische Prozesse brauchen informierte Bürgerinnen und interessierte Bürger.

Mindestens 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule nach neun Jahren als funktionale Analphabeten oder Illiteraten. Die Bildungspolitik schweigt.

Die Politik reagiert. Und sie reagiert in gewohnter Manier. Man fordert von der Schule «mehr und verstärkten Staatskundeunterricht».[iii] Erneut sollen es Lehrerinnen und Lehrer richten. Wie wenn die Bildungspolitik die Schulen während der letzten Jahre inhaltlich nicht entgrenzt und sie ins fachliche Vielerlei gedrängt hätte. Jedes gesellschaftlich relevante Problem wurde flugs zu einem curricularen Inhalt umformuliert und in den Unterricht getragen – vom Frühfranzösisch bis zur Integration. Es ist immer die Addition, die helfen soll: diesmal mehr Medienkunde und mehr Staatskunde! Ein Problem geht dabei vergessen: die schwindende Lesekompetenz vieler junger Leute. Sie ist ein verdrängtes Faktum.

Schweizer Schüler: schwach im Lesen

Die Lesefreude nimmt bei den Jugendlichen ab – ebenso wie die Leseleistung generell. Seit Jahren sinkt sie. Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelt damit unter dem Durchschnitt und klar hinter Nachbar Deutschland! Die Gruppe derer, die einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Textteilen nicht herstellen können, wuchs auf 24 Prozent. Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verständig lesen, diagnostiziert die PISA-Studie. Er ist nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Er vermag das Geschriebene zwar zu entziffern, versteht aber das Gelesene im Gesamtkontext nicht. Und dies im Land mit den höchsten Kosten pro Schüler![iv] Das ist besorgniserregend.

Wir wissen es seit Jahren: Mindestens 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule nach neun Jahren als funktionale Analphabeten oder Illiteraten. Die Bildungspolitik schweigt. Das Systemversagen im teuersten Bildungssystem der Welt scheint sie nicht zu stören. Dabei gehört Lesen zu den Kernkompetenzen eines jeden. Sie bleibt der Schlüssel fürs Lernen und die Teilhabe an der Welt – und unserer Demokratie.

Konzentriertes Lesen, Bild: zVg

Wenn Verstehen zur Schwerstarbeit wird

Das Kernproblem der mangelnden Lesekompetenz nicht weniger junger Menschen liegt beim Verstehen. Konzentrierte Lektüre wird seltener, das «Deep Reading» nimmt ab. Usanz ist heute das Lesen von WhatsApp-Nachtrichten und von flüchtig gescannten Kurztexten. Das gehört zum Leben junger Leute. Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones. Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen. Dazu kommt, dass diese elektronischen Geräte – anders als gedruckte Bücher – kaum materielle Orientierung im Text ermöglichen. Dies schmälert das kognitive Weiterkommen und führt zu Verstehens- wie auch zu Akzeptanzproblemen.

Nicht «mehr und Zusätzliches» wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität.

Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird so für manche Schülerinnen und Schüler zur Schwerstarbeit und die Aufgabe einer differenzierten Versprachlichung zur subjektiven Zumutung. So öffnen sich neue Sprachbarrieren. Umso mehr müsste die Schule hier Gegensteuer geben und die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten herausholen und ihnen als Brückenbauerin andere (Lese-)Welten einsichtig machen. Dies nicht zuletzt im Interesse von Kindern, die aus sozial eher schwächeren Familien kommen und es schwerer haben. Hier liegt eine der ganz wichtigen Aufgaben der Schule. Auch in demokratiepolitischer Hinsicht.

Sich vor Desinformation schützen

Nicht «mehr und Zusätzliches» wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität. Das bedeutet für Lehrpersonen einen erheblichen Zuwachs an Anstrengung, bleibt aber als Aufgabe und didaktische Pflicht.

Nur ein gebildetes Volk kann demokratisch mitbestimmen.

Unwidersprochen bleibt auch die Tatsache: «Nur wer in konzentrierter Lektüre verschiedene Lesarten eines Textes erkennen und miteinander abgleichen kann, wer Widersprüche in ihm erkennt oder Widersprüche zum eigenen Wissen und den eigenen Überzeugungen, der schützt sich selbst wirkungsvoll vor den vielfachen Versuchen alltäglicher Desinformation.»[v] Das aber setzt Lesefähigkeit voraus.

Vom Wert des Lesens

Philipp Stapfer, erster Bildungsminister der Helvetischen Republik: Nur ein gebildetes Volk kann demokratisch mitbestimmen

Wir wissen um den Zusammenhang zwischen Bildung, Wirtschaftsleistung und Wohlfahrt. Der amerikanische Bildungsökonom Eric Hanushek und sein deutscher Kollege Ludger Wössmann weisen seit Jahren darauf hin.[vi] Diesen Bezug gibt es auch zwischen Bildungsniveau und Demokratiefähigkeit. Das wusste auch die helvetische Regierung von 1798.

Nur ein gebildetes Volk kann demokratisch mitbestimmen. Davon waren die politischen Pioniere um 1800 überzeugt; dafür kämpften sie: Jedes Kind sollte lesen und schreiben können. Der helvetische Bildungsminister Philipp Albert Stapfer (1766-1840) gab dem Auf- und Ausbau der Schulen darum höchste Priorität. Die Helvetik (1798-1803) kannte den Wert des Lesens und einer gut ausgebildeten Lesefähigkeit – dass dieser Wert auch heute noch intensiv gepflegt werden muss, geht im digitalen Zeitalter leicht vergessen.

 

 

 

[i] Jahrbuch Qualität der Medien (2022). Zunahme der News-Deprivation mit negativen Folgen für den demokratischen Prozess.Hrsg. vom Fög. Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich, S. 1.

[ii] Ebda, S. 4.

[iii] Vgl. Rafael von Matt, Interesse an Informations-Journalismus schwindet. Echo der Zeit vom 24.10.2022.

[iv] SKBF (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 73.

[v] Fridtjof Küchemann, Eine Frage gesellschaftlicher Teilhabe, in: FAZ, 24.10.2022, S. 1.

[vi] Vgl. u.a. Ludger Wössmann (2009), Wirksame Bildungsinvestitionen. Was unzureichende Bildung kostet. Eine Berechnung der Folgekosten durch entgangenes Wirtschaftswachstum. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

 

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Schulreformen der Helvetik https://condorcet.ch/2022/03/schulreformen-der-helvetik/ https://condorcet.ch/2022/03/schulreformen-der-helvetik/#comments Wed, 02 Mar 2022 10:35:36 +0000 https://condorcet.ch/?p=10617

Der bei uns weitgehend unbekannte Mathematiker, Philosoph und Aufklärer Jean Marie de Condorcet stand auch Pate beim Beginn des Aufbaus des schweizerischen Schulsystems. Der massgebliche Antreiber war Albert Stapfer, der sich im Wesentlichen auf die Entwürfe von Condorcet abstützte. Unser Haushistoriker Peter Aebersold ruft uns die atemberaubende Bildungsgeschichte der Helvetischen Republik noch einmal in Erinnerung und überrascht wieder einmal mit seinen Detailkenntnissen. Oder wussten Sie, dass um 1800 fast alle Schulabgänger lesen konnten?

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Philipp Albert Stapfer 1766 – 1840, Bildungsminister der Helvetischen Republik und massgeblich an der Entstehung des Kantons Aargau beteiligt. Wikipedia

Als französischer Revolutionsexport wurde mit dem Franzoseneinfall in der Alten Eidgenossenschaft die «Helvetische Republik» am 12. April 1798 ausgerufen und am 10. März 1803 aufgelöst.

Erziehungsräte und Schulinspektoren

Philipp Albert Stapfer, Minister der 1. Helvetischen Republik für Schöne Künste und Wissenschaften und späterer Botschafter in Paris befasste sich mit der Schulreform. Dazu wurde im Sommer 1798 in jedem Kanton ein achtköpfiger Erziehungsrat geschaffen, der unabhängig von der Kirche das Schulwesen des Kantons leiten sollte. Für jeden Distrikt wurde ein Schulinspektor ernannt. Weitere Pläne waren die Einführung eines dreigliedrigen Schulsystems mit Elementarschule, Industrieschule (Gymnasium) und einer Nationaluniversität. Auch sollte die allgemeine Schulpflicht durchgesetzt werden, dies als Voraussetzung für eine Republik. Einer seiner engsten Mitarbeiter im Ministerium war der aus Magdeburg stammende Heinrich Zschokke und auch mit Johann Heinrich Pestalozzi hatte er beruflich zu tun.

Orientierung an der Aufklärung

Marquis de Condorcet 1742 -1794: Seine Vorschläge wurden in der Helvetischen Republik umgesetzt.

Mit seinen Erziehungskonzepten und konkreten Reformplänen orientierte sich Stapfer auch an französischen Vorbildern wie Condorcet und verband deutsche und französische Aufklärung theoretisch und in einem praktischen Reformprogramm. Der Schulreformplan, den Stapfer der Regierung und dem Parlament vorlegte, war grösstenteils eine angepasste Kopie des Vorschlages, den Condorcet bereits 1793 der französischen Nationalversammlung vorgelegt hatte.

Die Orientierung an der Aufklärung charakterisierte die gesamte helvetische Regierung. Der Theologe Stapfer blieb mit seiner konstant christlichen Orientierung (Rolle der Geistlichkeit und der Kirche im neuen Staat) in einer Minderheitenposition. Die Regierung war auf aktuelles Wissen angewiesen, um ihre zentralstaatliche Politik gestalten zu können. Mit den Konzepten der „politischen Arithmetik“ (Young 1777) bzw. „sozialen Mathematik“ (Condorcet 1793) widmeten sie sich der Frage der effizienten Planung von Fortschritt und Perfektibilität (Vervollkommnungsfähigkeit), die bis Mitte des 20. Jahrhunderts im Bildungswesen eine zentrale Rolle spielten.

Der Schulreformplan, den Stapfer der Regierung und dem Parlament vorlegte, war grösstenteils eine angepasste Kopie des Vorschlages, den Condorcet bereits 1793 der französischen Nationalversammlung vorgelegt hatte.

Pädagogische Vorstellungen der Helvetischen Gesellschaft

Die „Helvetische Gesellschaft” hatte in der Spätaufklärung vor allem in Süddeutschland und Frankreich das Renommee eines Modells aufklärerisch-reformerischen Wirkens. Viele namhafte Mitglieder bauten ihre pädagogischen Beiträge in der Gesellschaft auf ein breites Studium der pädagogischen Literatur, eigene Ausarbeitung und breite Korrespondenz über beides auf. Die pädagogische Auseinandersetzung ging weit über die Werke der „klassischen” Vertreter „schweizerischer” Pädagogik, Pestalozzi und Fellenberg hinaus.

Der Gegensatz von «instruction» und «education» wurde aufgehoben und dem Begriff der Öffentlichkeit gegenüber der Staatlichkeit eine Eigenständigkeit gegeben.

Stapfers Plan einer fortschreitenden Volksbildung waren dem Konzept von Condorcet ähnlich, unterschieden sich jedoch in der Begründung: Der Gegensatz von «instruction» und «education» wurde aufgehoben und dem Begriff der Öffentlichkeit gegenüber der Staatlichkeit eine Eigenständigkeit gegeben. Bezeichnend dafür war, dass die Gesellschaft nach den Kriegswirren und der Auflösung der Helvetischen Republik alles daransetzte, wenigstens die von Stapfer geplanten Bürgerschulen durch Umwandlung der ehemaligen kirchlichen Landschulen umzusetzen.

Der Vernunftbegriff, wie ihn Condorcet in der Tradition der Aufklärungsphilosphie entwickelt hatte und wie ihn auch die Helvetische Gesellschaft verstand, ist empirisch bestimmt. Der Staat dürfe sich keine Eingriffe in die inneren, freien und vernünftigen Zwecke der Schule erlauben, weil die Schule dem Staate nicht untergeordnet sei, sondern zur Seite stehen.

Die Bedeutung der sich bildenden Öffentlichkeit der Erziehung begründete die Gesellschaft mit dem ehemals besseren Zustand der Eidgenossenschaft und mit der Bedeutung der Erziehung aus der naturrechtlichen, vernünftigen Bestimmung des Menschen und seiner Entwicklungsfähigkeit. Weil der Mensch von Natur aus frei und vernunftbegabt sei, müsse und dürfe er nicht unterjocht, sondern entwickelt (neuer Begriff: erzogen) werden.

Der Vernunftbegriff, wie ihn Condorcet in der Tradition der Aufklärungsphilosphie entwickelt hatte und wie ihn auch die Helvetische Gesellschaft verstand, ist empirisch bestimmt. Der Staat dürfe sich keine Eingriffe in die inneren, freien und vernünftigen Zwecke der Schule erlauben, weil die Schule dem Staate nicht untergeordnet sei, sondern zur Seite stehen. Diese inneren Zwecke der Schule können nur aus der Öffentlichkeit der Vernunft hervorgehen und kritisiert werden, „je lauter und öffentlicher, desto besser” (Schulthess 1799). In Stapfers Erziehungsplan für die Helvetik wurden diese Vorstellungen übernommen, da „nichts den Fortgang der Kultur so belebt, als die Publizität” (Stapfer 1799). Neben der Institutionalisierung der Schule galt dieser Öffentlichkeit die Hauptanstrengung indem die Institution der Erziehungsräte geschaffen wurde, die ihr gegenüber dem Staat ein grösseres Gewicht geben sollte.

War der Staat nach französischem Vorbild streng zentralistisch, so blieben die Erziehungsräte föderalistisch.

Föderalistische Erziehungsräte zur Herstellung von Öffentlichkeit

Noch vor der Ausarbeitung des Erziehungsplanes setzte die Helvetische Regierung in allen Kantonen Erziehungsräte ein. Diese sollten das Gefäss sein, worin sich die Öffentlichkeit sammeln, sogar gegen den Staat bilden kann. War der Staat nach französischem Vorbild streng zentralistisch, so blieben die Erziehungsräte föderalistisch. War der Staat streng laizistisch – wie die neue staatliche Schule so sollten die Pfarrer in den Erziehungsräten mitarbeiten. Diese Räte sollten auch den inneren Gang jeder einzelnen Schule und der Institution insgesamt bestimmen, und zwar nach den Gesetzen der Vernunft (Stapfer 1799). Die Erziehungsräte dienten nicht nur als Vermittlung zwischen Regierung und Schule, Volk und Schule, sondern sie hatten eine eigenständige Funktion: nämlich der Öffentlichkeit Einlass in die Schule und der Schule Einlass in die Öffentlichkeit zu gewähren.

Die Schule sollte den «Citoyen» heranbilden, den Menschen für die Öffentlichkeit erziehen.

Dieser Vorstellung entsprach auch die Bestimmung der Aufgabe des neuen Schulsystems. Die unterste Stufe, die Bürgerschule, sollte allen Bürgern Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten vermitteln, die es ihnen erlauben, sich beruflich, gesellschaftlich und dem Staat gegenüber vernunftgemäß zu verhalten. So war auch vorgesehen, jenen Bürgern, die nicht über die Kenntnisse der Volksschule verfügen, die staatsbürgerlichen Rechte zu entziehen. Die Schule sollte den «Citoyen» heranbilden, den Menschen für die Öffentlichkeit erziehen.

In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Helvetischen Republik wurden nicht nur diese Vorstellungen in die Helvetische Gesellschaft und ihren Konsens integriert, sondern die bestehenden Erziehungsräte konnten sich im Gegensatz zum Regime, das sie ins Leben rief, halten und wurden damit selbst zum Sammelpunkt der Öffentlichkeit und der pädagogischen Erneuerung bis zum liberalen Aufschwung. In diesem Aufschwung wurde diesem doppelt fixierten Verhältnis von Öffentlichkeit und Erziehung noch eine dritte Bestimmung zugeführt: dass Öffentlichkeit überhaupt erst durch Erziehung, das heißt Volksbildung und Nationalerziehung, entstehen könne.

Stapfer-Enquête

Um einen Überblick über den damaligen Zustand des Schulwesens zu erhalten, führte Stapfer im Januar 1799 bei allen Lehrern der Helvetischen Republik eine Umfrage (Stapfer-Enquête) durch. Sie war eine reichhaltige Momentaufnahme der Schweizer Schulverhältnisse jener Zeit, die ihresgleichen sucht und auch heute noch als historische Quelle dient.

Die Stapfer-Enquête im Appenzell

Die Enquête weist nach, dass Elementarschullehrer (wenige Lehrerinnen) in der Schweiz um 1800 meist sozial hoch geachtete, fachkompetente Spezialisten mit lebenslanger Amtsausübung waren. Entgegen landläufiger Klischees wies die Schweizer Elementarschullehrerschaft am Ende der Frühen Neuzeit trotz ihrer sozio-ökonomischen und konfessionellen Heterogenität eine Vielzahl von biografischen Gemeinsamkeiten auf und war weder von kollektiver Armut noch von sozialer Verachtung geprägt.

Rolle der Pfarrer im Schulwesen

Das Schulwesen war noch zur Zeit der Helvetik lokalpolitisch organisiert und unterlag weiterhin kirchlicher Obhut. Die Geistlichen waren lange Zeit die einzigen (akademisch) Gebildeten in den Landgemeinden. Obwohl Stapfer offiziell für die Ernennung neu zu wählender Lehrkräfte zuständig war, überliess er die Entscheidung den Pfarrern oder lokalen Beamten. Es war ihm bewusst, dass die Reformen ohne die Unterstützung der Kirche nicht durchgesetzt werden konnten.  Die bildungspolitischen Massnahmen waren für Stapfer die Grundvoraussetzung für das Überleben der Republik. Dazu gehörte auch die aktive Einbindung der Pfarrer in den Bildungsbetrieb.

Die Pfarrer erteilten den heranwachsenden Kindern einen weiterführenden Schreibunterricht, blieben Ansprechpartner für Schulmeister und Eltern, Vertrauensperson der Gemeinde, Vermittler behördlicher Erlasse und Schulordnungen und gehörten der neuen Schulaufsichtsbehörde als Schulinspektoren wie Jeremias Gotthelf an.

Die Pfarrer erteilten den heranwachsenden Kindern einen weiterführenden Schreibunterricht, blieben Ansprechpartner für Schulmeister und Eltern, Vertrauensperson der Gemeinde, Vermittler behördlicher Erlasse und Schulordnungen und gehörten der neuen Schulaufsichtsbehörde als Schulinspektoren wie Jeremias Gotthelf an. Die sahen die Antworten der Lehrer bei der Stapfer-Enquête durch und versahen sie mit Anmerkungen oder Zusätzen, da sie eine lesbare Schrift beherrschten und in der Rechtschreibung meist sicherer waren.

Pfarrer waren auch in der Lehrerausbildung tätig, wie Johann Rudolf Steinmüller in Rheineck (Kanton Säntis/St. Gallen), der nebenberuflich über 800 Jünglinge zu Lehrern ausbildete und eine Reihe von methodisch-pädagogischen Veröffentlichungen für Lehrer und Schulbücher veröffentlichte.

Lese- und Schreibunterricht als Einführung in bürgerliche Rechte und Pflichten

Während das Buchstabieren und Lesen von den Eltern noch vermittelt werden konnte, reichten deren Fähigkeiten im Schreiben und Rechnen oft nicht aus. Diese Lücke konnte nur die Schule schliessen, die auf Lehrer angewiesen war, die das Schreiben und Rechnen beherrschten. Das ist einer der wesentlichen Gründe, weshalb die Schule immer wichtiger wurde und hierdurch zu einer progressiven Institution avancierte.

Kinder lernten den Umgang mit Feder, Tinte und Papier für das Schreiben.

Für die im deutschsprachigen Raum entwickelten pädagogischen Richtlinien zum Schreibenlernen in der Schule waren verschiedene Lehr- und Lernprozesse erforderlich. Neben der häuslichen Erziehung übernahm die Schule hierbei eine zunehmend grössere Rolle. Dort lernten die Kinder den Umgang mit Feder, Tinte und Papier für das Schreiben. Ziel des Schreibunterrichts war es, den Kindern das Federschreiben beizubringen und sie damit in ihre bürgerlichen Rechte und Pflichten einzuführen, um aus „lallenden und hülflosen Zöglingen der Natur“ (Stapfer 1799) eigenständige und glückliche Bürger zu formen.

Für den Schreibunterricht kamen die Kinder mit fünf oder sechs Jahren in die Schule. Sie lernten  Buchstaben zu unterscheiden und wurden in die Buchstabiermethode eingeführt, durch die sie schliesslich auch lesen lernten. Ab dem achten Lebensjahr wechselten die Leseschüler in den Schreibunterricht. Schüler dieser Stufe hatten damit jene Voraussetzungen zu selbstbestimmten Bürgern zu werden, wie sie der Staat und seine Intellektuellen verlangte und brauchte.

Auf dieser Stufe wurden den Kindern Buchstaben, Silben, Wörter, Sätze, zuweilen auch Zahlen vorgeschrieben und den fortschreitenden Schülern erst kleinere (religiöse Texte), dann grössere (literarisch, historisch, naturkundliche) Schreibvorlagen (handschriftlich oder Kupferstiche) vorgelegt.

Der Schreibunterricht in der Schweiz um 1800 war auf dieser Stufe für viele Kinder beendet, weil sie als Arbeitskräfte in der Familie gebraucht wurden oder eine Handwerkslehre begannen.

Stapfer schwebte dabei folgendes vor: „Der Elementarunterricht in den Bürgerschulen sollte sich freylich auf alle Kenntnisse und Übungen erstrecken, ohne welche der Mensch nie zum vollen Gefühl seiner Würde und Bestimmung, der Bürger nie zur genauen Kenntnis seiner Rechten und Pflichten gelangt“.

Der Schreibunterricht in der Schweiz um 1800 war auf dieser Stufe für viele Kinder beendet, weil sie als Arbeitskräfte in der Familie gebraucht wurden oder eine Handwerkslehre begannen. Der Schreibunterricht für fortgeschrittene Schüler zwischen 12 und 17 Jahre war didaktisch und inhaltlich komplex. Die Lehrer diktierten und liessen ihre Schüler anspruchsvolle Vorlagen und Alphabete nachschreiben, aus gedruckten Büchern abschreiben, Briefe und Aufsätze abfassen. Die Rechtschreibung rückte in den Mittelpunkt der Übungen. Der weiterführende Schreibunterricht bot begabten und lernwilligen Kindern die Möglichkeit sich zu vervollkommnen, indem man sie in ihre bürgerlichen Pflichten einführte und sie „nützliche Sachen“ abschreiben ließ. Für unentbehrlich hielt man Vorschriften mit alltagspraktischen Inhalten, deren Beherrschung im bürgerlichen Leben hilfreich sein konnten (Aufsetzen einer Quittung, eines Schuldscheines, einer Rechnung, eines Kauf- oder Tauschbriefes).

Um 1800 konnten alle Schweizer lesen (vollständig alphabetisiert), wenn sie die Schule verliessen, die Mädchen etwas besser.

Diese Textvorlagen waren bei den Schülern so beliebt, dass sie ein Schreiblehrer im Oberemmental hinter Glas fasste. Wer diese Dinge beherrschte, hatte Korrespondenzfähigkeit und war für das berufliche Fortkommen gewappnet. Stapfers ambitionierter Schulreformplan wurde vom Parlament auf ein Mindestmass zurechtgestutzt und konnte im Vorfeld des Zweiten Koalitionskrieges nicht mehr umgesetzt werden.  Seine während der Helvetischen Republik ausgearbeiteten Ideen im Bildungsbereich, die ihrer Zeit teilweise weit voraus waren, wurden durch andere erfolgreich umgesetzt:

Um 1800 konnten alle Schweizer lesen (vollständig alphabetisiert), wenn sie die Schule verliessen, die Mädchen etwas besser. Schreiben konnten noch nicht überall gleich viele, in den Städten jedoch fast 100% der Knaben und Mädchen. 1829 waren noch 17.5% der Rekruten Analphabeten, aber bereits 1835 konnten 95% der Rekruten sowohl lesen als auch schreiben.

Quellen:

Fritz Osterwalder: Die pädagogischen Vorstellungen in der Helvetischen Gesellschaft und die
Französische Revolution. Über die Zusammenhänge von
Nationalerziehung, Volksbildung, Staatsschule und Öffentlichkeit, Beltz Basel 1989

Daniel Tröhler (Hrsg.): Volksschule um 1800. Studien im Umfeld der Helvetischen Stapfer-Enquête 1799

https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Rudolf_Steinm%C3%BCller Johann Rudolf Steinmüller

https://stapferenquete.ch/  Stapfer-Enquête 1799

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Spracherwerb und Analphabetismus-Prävention https://condorcet.ch/2021/07/spracherwerb-und-analphabetismus-praevention/ https://condorcet.ch/2021/07/spracherwerb-und-analphabetismus-praevention/#respond Sun, 25 Jul 2021 07:30:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=8997

Der Spracherwerb der Schriftsprache (Lesen und Schreiben) in der Schule findet als wichtigste Voraussetzung jeglichen Lernens im 1. Primarschuljahr statt. Was läuft schief, dass es seit 2012 mit den Lesefähigkeiten der Schulabgänger signifikant bergab geht? Peter Aebersold geht dieser Frage nach.

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Entwicklung im Elternhaus

Wer die Ursachen der Entwicklungsrückstände und Defizite beim Lesenlernen verstehen möchte, muss die Entwicklung des Spracherwerbs von Anfang an kennen. Das gilt ebenso für jene, die statistische Auswertungen auf diesem Gebiet interpretieren wollen.

Der Mensch kommt als physiologische «Frühgeburt» auf die Welt (Adolf Portmann). Als sekundärer «Nesthocker» ist er auf den «sozialen Uterus» der Familie angewiesen, um überleben zu können. Er ist nicht «vorprogrammiert» und deshalb in seiner Entwicklung offen, um alles lernen zu können als ein «ewig Werdender». Dazu sind immer stärker spezialisierte kommunikative Fähigkeiten für eine gelingende Interaktion mit seinen Bezugspersonen lebenswichtig.

Auf den «sozialen Uterus» der Familie angewiesen

Die ersten Voraussetzungen dazu erfolgen in den ersten sechs Lebensmonaten, wenn sich aus den stimulierten Nervenzellen Synapsen bilden. Lebt der Säugling zum Beispiel in einer Umgebung (China), die das «R» nicht spricht, so wird er später im Leben das «R» nicht als solches erkennen können, wenn er es hört. Damit sich das Kleinkind getraut, die Umwelt zu erkunden, braucht es eine sichere Beziehung als Basis (Bindungstheorie), auf die es sich verlassen kann. In den ersten drei Lebensjahren, den lernintensivsten des Menschenlebens, lernt es nicht nur gehen und sprechen usw., sondern unbewusst entwickelt es einen psychischen Kompass für den Umgang mit anderen Menschen. Diese sogenannten Sozialkompetenzen sind mit etwa vier Jahren als Teil des Charakters oder der Persönlichkeit ausgebildet.

Die Biographieforschung zum funktionalen Analphabetismus zeigt, dass die Betroffenen häufig aus Familien stammen, in denen zur Unterstützung schulischer Probleme keine zielführenden Handlungsmuster zur Verfügung stehen, und die dennoch keine Lerntherapie in Anspruch nehmen.

Einen wichtigen Einfluss auf Motivation und Interesse für das Lesenlernen hat die Begegnung mit der Schrift: Sieht das Kind, wie Geschwister, andere Kinder, Eltern oder andere Erwachsene lesen? Die Biographieforschung zum funktionalen Analphabetismus zeigt, dass die Betroffenen häufig aus Familien stammen, in denen zur Unterstützung schulischer Probleme keine zielführenden Handlungsmuster zur Verfügung stehen, und die dennoch keine Lerntherapie in Anspruch nehmen. Das Kind beherrscht mit vier bis fünf Jahren mündlich die Grundlagen der Muttersprache: Es kennt die relevanten Laute und kann sie aussprechen, es verfügt über einen Wortschatz, mit dem es sich über seinen Alltag austauschen kann, und es kann weitgehend korrekte Sätze bilden. Diese Fähigkeiten in der mündlichen Sprache bilden den Grundstein für das Erlernen der Schriftsprache.

Könner setzen ihre Fertigkeit problemlos ein, und sie müssen sich kaum Rechenschaft geben, unter welchen Bedingungen und mit welchen Prozessen sie diese erworben haben.

Eine Mehrheit der Kinder erwirbt die Lesefertigkeit problemlos.

Entwicklung in der Schule

Der Schriftspracherwerb in der Schule ist nicht der Anfang, sondern der Höhepunkt des Spracherwerbs. Beim Schuleintritt sind die wichtigsten Entwicklungsschritte normalerweise abgeschlossen, so dass die erworbenen kognitiven und sozialen Kompetenzen im grösseren sozialen Rahmen der Schule für die gemeinsame Erarbeitung des kulturellen Erbes der Menschheit angewendet werden können.

Eine Mehrheit der Kinder erwirbt die Lesefertigkeit problemlos und oft auch wie von selbst. Eine Minderheit der Schüler bewältigt das Leselernen nur mangelhaft. Könner setzen ihre Fertigkeit problemlos ein und sie müssen sich kaum Rechenschaft geben, unter welchen Bedingungen und mit welchen Prozessen sie diese erworben haben. Da vom Lehrer erwartet wird, dass er alle Schüler fördert und mitnimmt, sind vor allem für Unterstufenlehrer die genauen Kenntnisse über die Abläufe beim Lesenlernen eine notwendige Voraussetzung, um diesen Erwartungen gerecht werden zu können.

„Wenige Menschen machen sich eine Vorstellung davon, welche komplexen Zusammenhänge sich hinter dem Sprechen [und dem Lesen- und Schreiben-Können] verbergen. Das vermeintlich Natürliche und Selbstverständliche des Sprechens entpuppt sich bald als eine Erscheinungsform des Verhaltens, die – falls man die Vorgänge verstehen will – profunde Kenntnisse der Verarbeitungs- und Steuerungsabläufe voraussetzt“. (Hardi Fischer, Professor am Institut für Verhaltensforschung an der ETH, Zürich im Geleitwort zur „Systematischen Logopädie“ 1985)

Voraussetzungen für das Lesenlernen

Zu den Voraussetzungen für das Lesenlernen zählen eine altersgemässe Entwicklung der Sinnesorgane, altersgemässes Sprechen, Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit, Wiedererkennen und Abrufen, Sinnentnahme, emotionale Faktoren sowie Allgemeinwissen. Dass beim Lesen derart viele Teilfertigkeiten und Kenntniskomponenten unterschieden werden, ist sich der geübte Leser der Muttersprache nicht bewusst:

Altersgemässe deutsche Sprachkenntnisse samt Wortschatz sind die Vorbedingung zum erfolgreichen Lesenlernen.

Mottier-Test: bestimmt bereits beim Sprechenlernen, wieviel Sprachklang behalten und wiedergegeben werden kann.

Die Merkfähigkeit (Mottier-Test) bestimmt bereits beim Sprechenlernen, wieviel Sprachklang behalten und wiedergegeben werden kann. Der Verstehensprozess ist an die Erlebniswelt gebunden und führt zur Bedeutung, ob gesprochen oder geschrieben. Durch Wiederholung kann die Merkfähigkeit verbessert werden. Die durch Übung erreichte automatische Verarbeitung entlastet das Gedächtnis.

Die Aufmerksamkeit ist an die Sinne gebunden.

Eine automatische Leseverarbeitung ist dann erreicht, wenn einige oder wenige Buchstaben ausreichen, den gesprochenen Klang und dessen Semantik zu erfassen. So werden nur noch wenige oder keine kognitiven Ressourcen in Anspruch genommen. Geübtes Lesen geht am besten bei gleich bleibendem Schriftbild. Durch Grossschreibung, Kursivschrift, Unterstreichung oder wenn ein Wort kompliziert oder neu ist“, kann der automatische optische Wahrnehmungsprozess gestört werden.

Beim Wiedererkennen der Information eines neu angebotenen Stimulus braucht nur die wahrgenommene mit der gespeicherten Information verglichen zu werden, wobei akustische, morphologische oder semantische Auslöser eine Rolle spielen. Störungen beim Abruf können z.B. durch akustisch ähnliche Wörter verursacht werden.

Wortschatz- und Leseverständnistests zeigen erfahrungsgemäss eine hohe Korrelation.

Die Kenntnisse über Buchstaben- und Wortkombinationen, über Textstrukturen usw. sowie die Allgemeinbildung erleichtern die Sinnentnahme. Die so mögliche Beschleunigung des Tempos der Worterkennung wird allgemein als ausschlaggebend für die Verbesserung der Lesefertigkeit betrachtet. Wortschatz- und Leseverständnistests zeigen erfahrungsgemäss eine hohe Korrelation. Sprachliche und nichtsprachliche Komponenten beeinflussen sich gegenseitig, da Verstehen ein schöpferischer, konstruktiver Vorgang ist, der immer über die in der Äusserung selbst kodierte Information hinausgeht. Sprachliches Verstehen ist immer auch das Verstehen von Nicht-Sprachlichem.

Das Lesefähigkeit ist direkt abhängig vom erteilten Unterricht

Interesse und Motivation (emotionale Faktoren) beeinflussen das Leseverständnis und sogar Faktoren der Lesbarkeit eines Textes. Wer gerne liest, liest auch freiwillig häufiger und wird dadurch geübter. Geringes Interesse für den Text, die Erwartung eines anschliessenden Tests und Angstgefühle haben eine oberflächliche Textverarbeitung zur Folge.

Das Lesefähigkeit ist direkt abhängig vom erteilten Unterricht. Auch Kinder, die von sich aus Lesen lernen, haben erfasst, dass zu den sichtbaren Zeichen gesprochene Laute zugeordnet werden. Sie haben nachgefragt oder man hat sie darauf aufmerksam gemacht.

Erst durch den mündlichen Austausch verbessert sich der Wortschatz, der schriftliche Ausdruck wie die Rechtschreibung verbessert sich allein durch Schreiben.

Vorkenntnisse über den Gegenstand, die die Lesenden mitbringen, bilden ebenso wie die sprachlichen Fertigkeiten eine Vorbedingung zum Textverständnis.

LESEABLAUF

Das Lesen erfolgt in drei Stufen

Auf der Vorstufe erkennen die Kinder erste Symbole und Wortbilder. Erste Wortbilder sind etwa der eigene Name oder Schriftzüge wie MIGROS. Auf dieser Stufe liest das Kind noch keine Buchstaben, es erkennt aber Wörter als Bilder wieder.

Das beginnende Lesen beinhaltet die Aneignung der Lesetechnik. Diese besteht aus zwei Teilschritten: Zunächst benennt (lautiert) und verbindet das Kind einzelne Buchstaben (Rekodieren). Dann sucht das Kind nach der Wortbedeutung (Dekodieren).

Beim fortgeschrittenen Lesen liest das Kind zunehmend längere Einheiten wie Sätze und Texte. Dafür braucht es neben der Bedeutung der Wörter auch grammatisches Wissen und muss verschiedene Informationen miteinander verbinden können.

Der Lesesetzkasten wird immer noch gebraucht

Geschriebene Wörter können wie gesprochene Wörter in Silben aufgegliedert werden. Kurze Buchstabensequenzen mit Lücken dazwischen unterstützen das rasche optische Erfassen. Graphische Mittel wie Lücken, Grossschreibung, können das optische Erfassen erleichtern. Zuviel Zusatzzeichen als sogenannte Lesehilfen im Anfangsunterricht erschweren eher den Lernprozess, der sich in einem ersten Durchgang zunächst auf die Buchstaben ausrichtet. Bildliche Darstellungen können das Erinnern und Verstehen unterstützen.

Ebenso können Merksätze eine Gedächtnishilfe sein. Die Abfolge eines Textstückes auswendig zu wissen, unterstützt das Wiedererkennen geschriebener Wörter oder täuscht Lesen-Können vor. Die vergessene Lautung einzelner Buchstaben kann so wiedergefunden werden. Singen unterstützt das sprachliche Behalten und sich Erinnern. Das Aufzählen oder Aufschreiben des Abcs stützt das Erinnern. Jeder Buchstabe und jeder Laut hat seinen bestimmten Platz in einer Reihenfolge (Piaget).

Die Gedächtnisleistungen von „Geschriebenes sehen, Gesprochenes hören, behalten und spüren“ bilden in ihren Kombinationen einen wesentlichen Anteil beim Lesen-Können. Stehen die genauen, präzisen Sinneseindrücke nur vage oder nicht mehr zur Verfügung, wird mit dem allgemeinen Wissen und mit Logik oder mit sprachlichen Automatismen mutmasslich kompensiert.

Was heisst das für den Erstleseunterricht?

Für Unterrichtende, die Lesen unterrichten, ist es wichtig, dass sie sich mit dem Grundproblemen beim Lesen auseinandersetzen. Zudem müssen sie sich mit der Methode des von ihnen gewählten Erstlesebuchs vertraut machen.

Die Zeiteinheiten ergeben sich aus Erfahrungswerten, die auf einen Durchschnitt gebracht werden können. Abweichungen einerseits für schnelleres Lesenlernen bei einigen Kindern und andererseits zusätzliche Zeit für das Erarbeiten des Leseprozesses bei anderen sind einzurechnen.

Das Lernziel ist für alle Lernenden das gleiche:

  1. Die Buchstaben unterscheiden können
  2. Die dafür vorgesehenen Laute zuordnen können
  3. Das Alphabet aufsagen können
  4. Gesehene Buchstaben lautierend zu Wörtern verbinden können
  5. Wörter wissen
  6. Lesen können

Im ersten Durchgang geht es um das Entziffern des „Codes“, als nächstes um das Anwenden desselben mittels vertrautem Inhalt bis hin zum fliessenden Lesen.

Von einem Erstlesebuch unabhängige Kontrollmöglichkeiten in regelmässigen Zeitabständen sollen die Unterrichtenden unterstützen, die Lernsituation der einzelnen Kinder zu erfassen.

Dass die meisten Schüler mit den neuen Methoden zurechtkamen, spricht nicht für diese Methoden, sondern für die Schüler. Den schwachen Schülern haben sie nicht wie erwartet geholfen.

Präventionsbemühungen

Erzielt für die schwächeren Schüler einen negativen Effekt.

Ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden gutgemeinte neue Methoden eingeführt, die den Schülern das Lesenlernen erleichtern sollten. Tatsächlich wurden die als schwieriger taxierten Teile (ABC auswendig lernen, buchstabieren) einfach nach hinten geschoben, so dass sie später nachgeholt werden müssen. Dass die meisten Schüler mit den neuen Methoden zurechtkamen, spricht nicht für diese Methoden, sondern für die Schüler. Den schwachen Schülern haben sie nicht wie erwartet geholfen. Hingegen hat die «Methode Reichen» mit dem «Lesen nach Gehör», bei denen den Schülern erlaubt wird, selbst Worte zu erfinden, bei den schwachen Schüler den negativen Effekt, dass sie falsch Gelerntes umlernen müssen, was für sie – wenn überhaupt – nur mit grossem Aufwand möglich ist.

Zur Förderung von Kindern mit Entwicklungsrückständen beim mündlichen Spracherwerb, mit anderer Muttersprache usw. wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Heilpädagogen geführte, möglichst homogene Kleinklassen mit wenig Kindern eingeführt. Dazu gehörten Sonderschulen mit verschiedenen Niveaus, Kleinklassen für Verhaltensauffällige, Einführungsklassen für Fremdsprachige, eine zweijährige erste Klasse für langsame Lerner, die Sekundarschule C als Kleinklasse, Sprachheilkindergärten usw. In den Regelschulen wurden homogene, leistungsfähige Klassen gebildet, Kinder, die das Klassenziel nicht erreichten, erhielten die Möglichkeit, eine Klasse zu repetieren. Die Lehrer- und Kindergärtnerinnenausbildung wurde in separaten Seminaren auf die jeweilige Praxis ausgerichtet und spezielle heilpädagogische Ausbildungsstätten geschaffen. Zur Behebung von Sprachstörungen bei Schülern wurden Logopäden und Logopädinnen ausgebildet.

Kinder, die in die Schweiz kamen und kein Deutsch sprachen, konnten sich in einer spezifischen Klasse die Sprache und weitere Kenntnisse für die Schule aneignen. Bei einem Teil dieser Kinder genügte diese Vorbereitung nicht und sie wurden deshalb in Kleinklassen weiterhin gefördert und bekamen, wenn nötig, zusätzlich Logopädie. Alle diese Massnahmen halfen, die Chancengleichheit zu gewährleisten.

Integration und Abbau der Kleinklassen

Auch mit der kantonalen Schulhoheit gab es in den meisten Kantonen vergleichbare Angebote für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen. Trotzdem verabschiedete die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz das Sonderpädagogik-Konkordat per 1. Januar 2011, bei denen sich die beigetretenen Kantone verpflichten mussten, Kinder mit Behinderungen in die sogenannten Regelschule (wie sie seitdem genannt wird) «vorrangig» zu integrieren, obwohl das Behindertengleichstellungsgesetz vom 13. Dezember 2002 den Kantonen den Vorbehalt machte, es sollte nur, „soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient», durchgeführt werden (Art. 20, Abs. 2). Aufgrund dieses gesetzlichen Vorbehalts hätten die speziellen Kleinklassen nicht abgeschafft werden dürfen.

Der Schweizerische Lehrerverein LCH hatte das Sonderpädagogik-Konkordat der EDK von 2007 nur mit Vorbehalten unterstützt.

Illetrismus: Knapp die Hälfte der Schüler erreichen nur die beiden untersten Stufen.
Bild: Coop-Zeitung

Der Schweizerische Lehrerverein LCH hatte das Sonderpädagogik-Konkordat der EDK von 2007 nur mit Vorbehalten unterstützt. Er vertrat die Position, dass eine vermutlich stark unterschätzte Gruppe von Kindern und Jugendlichen, namentlich im Sprachbereich oder in Mathematik, nicht eine „allgemeine Heilpädagogik“ in der Regelklasse bräuchten, sondern eine spezialisierte, fachdidaktisch fundierte Förderung. Es gebe solche Ansätze mit der Logopädie und der Dyskalkulietherapie schon länger, diese seien aber meist auf die Frühförderung konzentriert.

Schulabgänger als funktionale Analphabeten

Seit 2012 nimmt die Lesefähigkeiten der Schulabgänger stetig ab. Mittlerweile liegt die Schweiz unterhalb des OECD-Durchschnitts von 75 Ländern. Bei Pisa 2018 erreichten 24 Prozent der Schulabgänger bloss die unterste von sechs Kompetenzstufen. Sie verstehen die wörtliche Bedeutung von Sätzen oder die Hauptaussage von Texten nicht. Knapp die Hälfte der Schülerinnen und Schüler erreichen nur die beiden untersten Stufen. Die Beherrschung der deutschen Sprache in Wort und Schrift ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Schulkarriere und das Fundament einer beruflichen Zukunft und einer prosperierenden, international wettbewerbsfähigen Volkswirtschaft.

Peter Aebersold

Quellen:

Adolf Portmann – Schweiz: Die Sonderstellung des Menschen(-kindes)

Barbara Müller Gächter: Lirum larum Löffelstiel: Erstlesefibeln der deutschsprachigen Schweiz im 20. Jahrhundert. Moflar, Heerbrugg 2005, Universität Zürich, Dissertation bei Prof. Dr. Jürgen Oelkers, Zürich 2006.

 

 

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