Lehrmittel - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 27 Sep 2023 08:42:38 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Lehrmittel - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Fehlender politischer Rückhalt für den Unterricht in Schweizer Geschichte https://condorcet.ch/2023/09/fehlender-politischer-rueckhalt-fuer-den-unterricht-in-schweizer-geschichte/ https://condorcet.ch/2023/09/fehlender-politischer-rueckhalt-fuer-den-unterricht-in-schweizer-geschichte/#respond Sun, 24 Sep 2023 17:41:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=15007

Wenn mit einem Lernangebot ein sanfter Druck auf die Lehrerschaft ausgeübt wird, bei historischen Schweizer Persönlichkeiten ausführlich auf dunkle Stellen ihrer Biografie hinzuweisen und sich verbreiteter rassistischer Symbole unserer Tage bewusst zu werden, ist Vorsicht am Platz. Darin verstecken sich zuweilen spezifische politische Anliegen - oder unzulässige Geschichtsklitterung, schreibt Condorcet-Gastautor Hanspeter Amstutz.

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«Zürich und der Kolonialismus» lautet der Titel eines Lehrmittels, welches das Präsidialamt der Stadt Zürich in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Zürich den Stadtzürcher Sekundarschulen zur Verfügung stellt. Das attraktiv gestaltete 76-seitige Schulbuch soll die Verstrickungen von Zürcher Kaufleuten in den Sklavenhandel im frühen 19. Jahrhundert aufdecken und alltäglichen Rassismus in der heutigen Zeit erkennen. Das Anliegen steht im Einklang mit dem Lehrplan, da das Ringen um Menschenrechte und mehr soziale Gerechtigkeit zu den zentralen Themen des Geschichtsunterrichts gehört.

Gastautor Hanspeter Amstutz

Tendenziöses Lehrmittel für Stadtzürcher Sekundarschulen

Trotz dieser positiven Vorzeichen wird man beim Engagement der Zürcher Stadtbehörden den Eindruck nicht los, es gehe den Verfassern weniger um ein pädagogisches als um ein spezifisches politisches Anliegen. Mit dem Lernangebot wird ein sanfter Druck auf die Lehrerschaft ausgeübt, bei historischen Persönlichkeiten ausführlich auf dunkle Stellen ihrer Biografie hinzuweisen und sich verbreiteter rassistischer Symbole unserer Tage bewusst zu werden. So heisst es im Glossar des Lehrbuchs, Rassismus sei ein «institutionalisiertes System, das weisse Menschen und ihre Interessen konsequent bevorzugt». Diese Definition trifft zwar den Kern des europäischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert, schiebt aber auch in der Gegenwart den rassistischen Überlegenheitswahn einseitig den hellhäutigen Menschen zu. Unzulässige Geschichtsklitterung wird im Lehrbuch betrieben, wenn der Eisenbahnpionier Alfred Escher als indirekter Profiteur von Erträgen aus der Sklavenplantage seines Onkels bezeichnet wird. Gewiss war der Hauptinitiant des Gotthardbahnprojekts eine umstrittene Figur. Er hatte grosse Ziel, besass eine fast übermenschliche Schaffenskraft, war aber oft rücksichtlos im Umgang mit seinen politischen und wirtschaftlichen Konkurrenten. Doch Escher mit dem Sklavenhandel in Verbindung zu bringen, ist absurd.

Wenn die Politik sich um Inhalte des Geschichtsunterrichts kümmert, darf sie den Blick aufs Ganze nicht verlieren. Macht sie dies wie der Zürcher Stadtrat, droht sie ihre pädagogische Glaubwürdigkeit zu verspielen. Jugendliche in der Sekundarschule verfügen in der Regel noch nicht über das nötige Grundwissen, um historische Persönlichkeiten souverän beurteilen zu können. Was Jugendliche in diesem Alter brauchen, ist vielmehr das Kennenlernen von Meilensteinen unserer Landesgeschichte der letzten gut 200 Jahre. Es gilt, die Umsetzung wirklich grosser Ideen im politischen Alltag mitzuverfolgen und dabei einige Kapitel ausführlich zu behandeln. Dazu zählt mit Sicherheit die aufregende Zeit rund um das Revolutionsjahr 1848. Und da spielte Alfred Escher im aufstrebenden jungen Bundesstaat eine entscheidende Rolle. Neben dem Berner Ulrich Ochsenbein und dem Winterthurer Jonas Furrer gehörte er zu den führenden Köpfen, welche in den politisch aufgeladenen Gründerjahren für eine Aufbruchstimmung sorgten.   

Verfassung von 1848 als Lehrstück für konstruktive Politik 

Als im Frühjahr 1848 Revolutionen in unseren Nachbarländern ausbrachen und die alte europäische Ordnung aus den Fugen geriet, tat sich für unser Land unerwartet eine Türe auf. Die Interventionsdrohung der Grossmächte verblasste, sodass in der Verfassungskommission der Tagsatzung ohne Einmischung von aussen die Idee eines modernen Schweizer Bundesstaates konkretisiert werden konnte. Es fehlte nicht an Dramatik, denn es war eine Herkulesaufgabe, in dem zwischen konservativen und liberalen Kantonen polarisierten Schweizer Staatenbund einen Ausgleich zu finden. Zum Glück gab es besonnene Persönlichkeiten auf beiden Seiten, welche die Gunst der Stunde erkannten und eine überzeugende Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen vorschlugen. Wie diese Einigung zwischen den unterschiedlichen Interessen gelang, ist ein Lehrstück konstruktiver Politik und ein Meilenstein der Schweizer Geschichte.

Ein solches Konzept würde Kritik an Unzulänglichkeiten der damaligen Politik nicht ausklammern, schafft aber eine respektvolle Grundstimmung für die Leistungen unserer Vorfahren. 

Völlig zu Unrecht gilt die Grundsteinlegung der modernen Schweiz als wohl langweiligste Revolution der Weltgeschichte. Dabei bietet diese Zeit des Aufbruchs genug Stoff für anschaulichen Geschichtsunterricht mit markanten Persönlichkeiten und grossartigen Ideen.

Wie wäre es, wenn die Zürcher Stadtregierung allenfalls in Zusammenarbeit mit Vertretern anderer Kantone den gut sichtbaren Spuren dieser prägenden Epoche in einem weiteren Lehrmittel nachgehen würde? Es wäre ein Zeichen, dass man gewillt ist, unserer Jugend ein wesentliches Stück unserer Schweizer Geschichte auf positive Weise zu vermitteln. Ein solches Konzept würde Kritik an Unzulänglichkeiten der damaligen Politik nicht ausklammern, schafft aber eine respektvolle Grundstimmung für die Leistungen unserer Vorfahren. 

Politisch verunsicherte Lehrerinnen und Lehrer ohne inhaltlichen Auftrag

Leider muss man schon froh sein, wenn in den Sekundarschulen ein knapper Abriss über den Aufbau unseres Staatswesens vermittelt wird. Kaum jemand bestärkt die Lehrpersonen in der Überzeugung, dass sie einen wichtigen Auftrag für die staatspolitische Grundbildung unserer Jugend haben. Solange die Politik es ablehnt, ein ungeschöntes Narrativ der jüngeren Schweizer Erfolgsgeschichte mitzutragen, fehlt dem Fach der nötige Rückhalt. In der Primarschule wiederum sind die Heldengeschichten aus der Sturm- und Drangzeit der Alten Eidgenossenschaft, welche im Unterricht einst patriotische Gefühle weckten, längst entzaubert worden. So wagen es die meisten Primarlehrkräfte heute gar nicht mehr, über den Tell-Mythos hinauszugehen. Das alles wäre zu verkraften, wenn man sich dafür umso mehr der neueren Geschichte zuwenden würde. Doch das geschieht höchstens noch bruchstückweise. Dabei sind die meisten Jugendlichen an unserer jüngsten Geschichte mit ihrer offensichtlichen Relevanz für die aktuelle Politik höchst interessiert.

Solange die Politik es ablehnt, ein ungeschöntes Narrativ der jüngeren Schweizer Erfolgsgeschichte mitzutragen, fehlt dem Fach der nötige Rückhalt.

Im Lehrplan wird zwar festgehalten, dass Einblicke in wichtige Epochen zum Bildungsprogramm gehören. Auch wird den geschichtlichen Erzählungen ein hoher Stellenwert zugestanden. Doch das Konzept, den Unterricht strikt auf Kompetenzziele auszurichten, erschwert eine inhaltlich kohärente Vermittlung unserer Landesgeschichte. Da der Lehrplan den Kompetenzzielen unzählige mögliche Inhalte zuordnet, ist in den Schulen der Eindruck einer grossen Beliebigkeit in der Stoffvermittlung entstanden. Man vermisst einen klaren inhaltlichen Bildungskompass für das Fach Geschichte. 

Für eine Schweizer Geschichte mit verbindlichen Kernthemen

Es ist beschämend, wie wenig man sich in der Politik fragt, was denn in den Schulen im Fach Geschichte tatsächlich unterrichtet wird. Selbst die Zürcher Bildungsdirektion tappt diesbezüglich im Dunkeln, wie vor kurzem die Antwort auf eine Interpellation im Kantonsrat aufgedeckt hat. Es genügt absolut nicht, einige Themen nur zu empfehlen und zu hoffen, dass etwas geschieht. Vielmehr geht es darum, dass in der Lehrerbildung eine gründliche wissenschaftliche und didaktische Auseinandersetzung mit verbindlichen Kernthemen stattfindet. Didaktisch bedeutet hier primär, dass die im Geschichtsunterricht so zentrale Erzählkunst bei den Studierenden stärker gefördert wird und Elemente der Spannung in den Unterricht eingebaut werden. Wissenschaftlich heisst, dass geschichtliche Entwicklungslinien erkannt und unterrichtsrelevante Kenntnisse zu ausgewählten Epochen erworben werden. Diese fachdidaktische Aufwertung wäre neben der politischen Unterstützung der beste Garant, um den Lehrerinnen und Lehrern Mut für einen gehaltvollen Geschichtsunterricht zu machen.

Es braucht eine gründliche Reform des Geschichtsunterrichts in der Volksschule.

Die Feiern zum Verfassungsjubiläum von 1848 mit dem Lob auf die staatspolitische Weitsicht der Gründerväter sind vorbei. Man fragt sich, was in der Bevölkerung hängenbleibt. Naiv wäre es zu glauben, schon mit einigen politischen Podien und attraktiven Museumsveranstaltungen für Jugendliche könne ein breites politisches Interesse geweckt werden. Was es vielmehr braucht, ist eine gründliche Reform des Geschichtsunterrichts in der Volksschule. Das Fach muss aus seiner Randstellung geholt und mit einem inhaltlich klaren Bildungsauftrag versehen werden. Damit kann sichergestellt werden, dass unsere moderne Landesgeschichte mit ihren politischen Verflechtungen zu einem wesentlichen Thema in den Schweizer Schulklassen wird.

Hanspeter Amstutz

 

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Viele Schweizer Lehrmittel zum Klimawandel sind tendenziös und wirtschaftsfeindlich https://condorcet.ch/2023/08/viele-schweizer-lehrmittel-zum-klimawandel-sind-tendenzioes-und-wirtschaftsfeindlich/ https://condorcet.ch/2023/08/viele-schweizer-lehrmittel-zum-klimawandel-sind-tendenzioes-und-wirtschaftsfeindlich/#comments Sun, 13 Aug 2023 09:24:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=14796

Die Stiftung "Éducation 21" soll Lehrer beim Unterricht über Nachhaltigkeit unterstützen. Viele der angebotenen Materialien haben eine politische Schlagseite. Gefördert werden die Projekte häufig von deutschen Organisationen oder Ministerien. Wir schalten hier einen Artikel von Pauline Voss auf, der in der NZZ erschienen ist.

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Der Klimawandel hat viele Familien politisiert. So auch die Fischers: Kurz vor den Sommerferien ist der SUV kaputtgegangen. Wie soll die Familie jetzt ihren Alltag organisieren? Herr Fischer plädiert für ein E-Lastenrad: “Fahrradfahren würde euch allen guttun – dem Klima übrigens auch.” Die zwölfjährige Hanna will lieber ein E-Auto kaufen: “Wir müssen den Klimaschutz echt endlich ernst nehmen, Leute!” Ihr Bruder Jonathan weist darauf hin, dass für die Produktion der Batterien in den Minen Menschenrechte verletzt würden.

Gastautorin Pauline Voss, Journalistin NZZ

So oder so ähnlich wird heute Familienrat gehalten – zumindest in der etwas hölzernen Phantasie der Umweltorganisation Greenpeace. Ihr Heft “Verkehr(t)! Mobilität, Klimawandel und Perspektiven für die Zukunft” bietet Unterrichtsmaterial für die 3. bis 9. Klasse. Das Editorial beginnt mit einem Zitat von Greta Thunberg, später wird den Schülern als Vorbild eine belgische Aktivistin angepriesen, die im Kampf für saubere Luft die Strassen vor Brüsseler Schulen sperrt: “Was könntet ihr euch für eure Aktion von Annekatrien abschauen?”

Das Heft von Greenpeace zählt zu den Unterrichtsmaterialien, die im Onlinekatalog der Schweizer Stiftung “Éducation 21” zum Thema Nachhaltigkeit empfohlen werden. Die Stiftung unterstützt Schulen im Auftrag von Bund und Kantonen dabei, die “Bildung für Nachhaltige Entwicklung”, kurz BNE, umzusetzen. Finanziert wird die Stiftung unter anderem durch Beiträge der Kantone und mehrere Bundesämter.

Das Editorial beginnt mit einem Zitat von Greta Thunberg, später wird den Schülern als Vorbild eine belgische Aktivistin angepriesen, die im Kampf für saubere Luft die Strassen vor Brüsseler Schulen sperrt.

BNE ist Teil der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, die 2015 von der Uno beschlossen wurden und von den Mitgliedstaaten bis 2030 erfüllt werden sollen. Ergänzend zu den obligatorischen oder von den Kantonen empfohlenen Lehrmitteln stellt “Éducation 21” an den Lehrplänen ausgerichtete Materialien zur Verfügung.

Angst vor dem Untergang

Die Schulen befinden sich bei der Umsetzung von BNE in einem Spannungsfeld: Einerseits besteht die Gefahr, Schüler zu überfordern und Ängste zu schüren. Immerhin gaben 2021 in einer grossangelegten internationalen Umfrage 56 Prozent der befragten Jugendlichen an, die Menschheit sei “dem Untergang geweiht”. Andererseits werden sich die Kinder von heute in einer vom Klimawandel veränderten Lebens- und Arbeitswelt zurechtfinden müssen. Wird der Klimawandel im Unterricht verharmlost, dann wird man dem Bildungsauftrag nicht gerecht. Wie aber sieht guter Unterricht über den Klimawandel aus?

Aus einem Unesco-Bericht vom Dezember 2021 geht hervor, dass in fast der Hälfte von 100 untersuchten Ländern der Klimawandel in den Lehrplänen keine Erwähnung fand. Für die Untersuchung wurden Lehrpläne aus unterschiedlichen Weltregionen nach Begriffen wie “Treibhausgase” oder “globale Erwärmung” durchforstet. Zudem hebt der Bericht hervor, dass in einer weltweiten Umfrage unter Lehrern 95 Prozent den Klimawandel für ein notwendiges Thema im Unterricht hielten, aber weniger als 40 Prozent sich ausreichend befähigt fühlten, darüber zu unterrichten.

Für Schweizer Lehrpersonen bietet “Éducation 21” eine schier unüberschaubare Fülle an Material an, eingeteilt in einzelne Themendossiers. Darunter ist durchaus solide recherchiertes Material, etwa Faktenblätter zum Klimawandel für Lehrer. Doch sobald es etwas komplexer wird, sind die Informationen veraltet: Für die Sekundarstufe 2 werden als Fachliteratur eine Übersichtsseite von 2007 (der Link führt ins Leere) sowie der Bericht des Weltklimarats von 2014 angegeben, obwohl dessen neuester Bericht Anfang 2023 veröffentlicht wurde.

Auffällig ist der tendenziöse Einschlag vieler Materialien. So wendet sich das Buch “In Zukunft hitzefrei?”, das ebenfalls bereits für Drittklässler empfohlen wird, an die “letzte Generation, die den Klimawandel noch aufhalten kann”, und warnt, bald gebe es “keinen Weg zurück” mehr – eine Tonalität, die an die Klimakleber der sogenannten Letzten Generation und ihr Schweizer Pendant Renovate Switzerland erinnert.

Der Klimawandel als Fortsetzung des Kolonialismus

Das Heft “Changemaker – Zeit, dass sich was dreht” der privaten Hilfsorganisation Care Deutschland behandelt laut “Éducation 21” die Klimakrise “positiv, kreativ und differenziert” und richtet sich an die Sekundarstufe 1. So regt etwa eine “66-Tage-Challenge” zu veganer Ernährung und dem Verzicht auf Online-Bestellungen und Plastik an. Zudem solle man die Heizung ein Grad kälter stellen. Im Kapitel zu Klimagerechtigkeit wird der Klimawandel als rassistisch geprägte, moderne Fortsetzung des Kolonialismus dargestellt. Ein Link führt zu einem Youtube-Video der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim aus dem Jahr 2019, in dem sie zur Teilnahme am globalen Klimastreik aufruft und auf eine Liste mit “Klimademos in eurer Nähe” verweist.

Einige der wissenschaftlichen Erklärungen im Heft sind grob falsch. Es wird etwa behauptet, mit “Kipppunkt” werde ein einzelner Punkt bezeichnet, ab dem die Erderwärmung unumkehrbar sei. Auch die Entstehung der Wärmestrahlung der Erde wird falsch erklärt.

Im Kapitel zu Klimagerechtigkeit wird der Klimawandel als rassistisch geprägte, moderne Fortsetzung des Kolonialismus dargestellt.

Zudem wird in dem Heft darüber sinniert, warum sich in der Klimabewegung vor allem “weisse und privilegierte Menschen” engagierten: Einen klimaneutralen Lebensstil zu leben, sei eine “Geld- und Privilegienfrage”, wird behauptet. Nicht jeder könne sich Bio-Produkte leisten. Dabei zeigen die Zahlen schon seit Jahren, dass die CO2-Bilanz von reicheren Menschen deutlich schlechter ausfällt als jene von ärmeren, selbst wenn sie klimabewusst konsumieren.

Kai Niebert, Professor für Didaktik der Naturwissenschaften an der Universität Zürich, kritisiert den Ansatz, auf das Konsumverhalten der Schüler abzuzielen: “Im Hinblick auf den Bildungsauftrag ist das eine Gratwanderung.” Denn der sogenannte Beutelsbacher Konsens, der als Reaktion auf den Nationalsozialismus in Deutschland beschlossen und später von der Schweiz übernommen wurde, legt fest, dass junge Menschen in Bildungseinrichtungen nicht zu Weltanschauungen gedrängt werden dürften.

Zudem zeigen empirische Untersuchungen laut Niebert, dass sich Verhaltensänderungen nicht in wenigen Stunden Unterricht erreichen lassen. Wichtiger sei es darum, die politische Partizipationsfähigkeit der Schüler zu stärken, indem sie Zusammenhänge verstehen lernten – “beispielsweise die Wirkungsweise klimaschädlicher Subventionen”.

Für eine Studie hat Niebert weltweit Programme zur Klimabildung evaluiert. Das Ergebnis: Die Schüler wurden meist gedrängt, Energie zu sparen, Fahrrad zu fahren oder nicht mehr zu fliegen. “Die nachweislich wirksamen – politischen – Lösungen wie Verbote, Emissionsgrenzen oder auch CO2-Preise wurden in nahezu keinem Programm vermittelt”, sagt Niebert.

Meditieren gegen den Konsum

In den Materialien von “Éducation 21” spielt das Thema Konsum ebenfalls eine zentrale Rolle. Besonders grenzüberschreitend klingen die Vorschläge in einem Anleitungsheft für Lehrer, das vom Forschungsprojekt “Binka – Bildung für nachhaltigen Konsum durch Achtsamkeitstraining” stammt und vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde.

Deutsche Klimaaktivisten protestieren 2023 nahe dem Reichstag gegen den Finanzminister Christian Lindner. Doch wie stark darf der Aktivismus Schulmaterialien beeinflussen?

Im Rahmen von gemeinsamen sogenannten Bedürfnismeditationen sollen die Schüler, angeleitet vom Lehrer, ihrem Körper und ihren Gefühlen nachspüren, etwa durch achtsames Essen einer Mandarine: “Schliesse langsam die Augen (. . .) Führe nun ein Stück der Frucht zum Mund und halte es einfach zwischen den Lippen . . . Spüre den Kontakt des Fruchtstücks auf deinen Lippen.” Dadurch sollen die Schüler die Mahlzeit noch mehr geniessen und schneller erkennen, wann sie genug zu essen hatten.

Für eine andere Übung sollen sie den Stoff ihrer Kleidung bewusst spüren und schliesslich ihre Emotionen untersuchen angesichts der “Anstrengungen und Mühen”, die andere für die Produktion der Kleidung aufgebracht haben: “Vielleicht ein Gefühl der Dankbarkeit, des Mitgefühls oder auch andere weniger positive Gefühle wie Zorn oder Scham über die Bedingungen, unter denen einige Bauern und Fabrikarbeiterinnen seit Jahrhunderten und sicherlich auch gerade jetzt arbeiten müssen?”

Endlich Wachstum?

Selbst dort, wo man mit einem wirtschaftsfreundlicheren Ansatz rechnen würde, werden die Erwartungen enttäuscht. Unter den neuesten Einträgen des Katalogs findet sich die Website “Endlich Wachstum”, die laut Beschreibung von “Éducation 21” Schüler dazu anregen soll, “Wirtschaft neu und nachhaltig zu denken”.

Die Website selbst vermittelt einen anderen Eindruck: Dort wird etwa ein Spiel vorgeschlagen, bei dem Schüler mit Streichhölzern einen Wald nachstellen und dabei lernen sollen, dass eine “nachhaltige Bewirtschaftung unter Konkurrenzbedingungen schwierig” sei. Nach dem Spiel könne an die “Thematik der Solidarischen Ökonomie angeknüpft werden”. Ein beigefügter Wikipedia-Link klärt darüber auf, dass es sich um ein Wirtschaftsmodell handelt, bei dem auf Geld als Zahlungsmittel verzichtet wird.

“Auf den ersten Blick mag das indoktrinierend erscheinen.”

Klára Sokol, Direktorin der Stiftung “Éducation 21”

 

Ein anderes Spiel von “Endlich Wachstum” soll die Schüler darüber aufklären, dass “durch Wirtschaftswachstum sowohl Ressourcenverbrauch als auch negative Folgen steigen müssen und damit die Probleme verschärft werden”. Angeboten wird auch ein Comic, der verdeutlichen soll, dass der Klimawandel nicht durch eine effizientere Nutzung von Ressourcen, sondern nur durch “veränderte Lebensstile” erreicht werden könne.

“Endlich Wachstum” wird nach eigenen Angaben vom deutschen Entwicklungshilfeministerium gefördert. Selbst dem Team von “Éducation 21” scheinen leise Zweifel gekommen zu sein: “Auf den ersten Blick mag das indoktrinierend erscheinen”, schreiben sie in ihrem Online-Katalog über “Endlich Wachstum”, doch werde auch das jetzige Wirtschaftssystem differenziert betrachtet “und die Lernenden erhalten so die Möglichkeit, selbst zu diesem Schluss zu kommen”.

Qualitätskriterien für externe Akteure an Schulen

Die Direktorin von “Éducation 21”, Klára Sokol, lässt gegenüber der NZZ keine Zweifel an der politischen Unabhängigkeit ihrer Materialien erkennen. Stattdessen weist sie auf die zentrale Rolle der Lehrer hin, die dafür sorgen müssten, Themen kontrovers zu behandeln. Angesprochen auf die Hefte von Greenpeace und Care, erklärt sie, diese würden den Schülern ermöglichen, sich mit den “Hintergründen und Motivationen” von Aktivisten auseinanderzusetzen. Lehrpersonen und Klassen würden angeregt, “aktiv zu werden”, entsprechend den Uno-Nachhaltigkeitszielen. Informationen zu den Download-Zahlen der Materialien stellt die Stiftung nicht zur Verfügung, diese werden nur zur internen Verwendung erhoben.

Klára Sokol, Direktorin der Stiftung “Éducation 21”

Dass man im Unterricht mit ausserschulischen Akteuren aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zusammenarbeite, auch mit Unternehmen und Museen, sei eine pädagogische Bereicherung, sagt Sokol. Etwaige politische Haltungen müssten dabei als solche deklariert werden.

Ausserschulische Akteure müssen darum eine Selbstverpflichtung unterzeichnen, in der sie sich im Sinne des Beutelsbacher Konsenses zur Ablehnung von Indoktrinierung bekennen. Zudem werden alle Lehrmittel nach festgelegten Qualitätskriterien evaluiert, bevor sie in den Katalog von “Éducation 21” aufgenommen werden. Politische Indoktrinierung und Werbung müssen dabei ausgeschlossen werden.

Die Unesco gibt den agitativen Ton vor

Die Wurzel der politischen Färbung könnte allerdings bereits in den BNE-Zielen an sich liegen. In einer Roadmap beschrieb die Unesco 2021, wie sie sich deren Umsetzung in den Schulen vorstellt.

Ausserschulische Akteure müssen darum eine Selbstverpflichtung unterzeichnen, in der sie sich im Sinne des Beutelsbacher Konsenses zur Ablehnung von Indoktrinierung bekennen.

Demnach sollen Jugendliche “Agenten des Wandels” werden, um sich für eine “grosse Transformation” einzusetzen. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, mehrere Punkte umzusetzen – neben einer “ganzheitlichen Transformation von Lern- und Lehrumgebungen” und der “Kompetenzentwicklung von Lehrenden” auch die “Mobilisierung der Jugend”.

Die Idee, Technologien könnten die meisten Nachhaltigkeitsprobleme lösen, wird als “Illusion” abgetan. Es sei ein “Balanceakt zwischen Wirtschaftswachstum und nachhaltiger Entwicklung erforderlich, wobei BNE Lernende ermutigen sollte, alternative Werte zur existierenden Konsumgesellschaft zu erforschen”.

Ob eine solch einseitige Sichtweise dem Beutelsbacher Konsens gerecht wird, kann zumindest hinterfragt werden.

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“Mit dauernden Alarmierungen lässt sich kein Bildungssystem steuern” – TEIL 1 https://condorcet.ch/2023/06/mit-dauernden-alarmierungen-laesst-sich-kein-bildungssystem-steuern-teil-1/ https://condorcet.ch/2023/06/mit-dauernden-alarmierungen-laesst-sich-kein-bildungssystem-steuern-teil-1/#respond Wed, 14 Jun 2023 04:42:11 +0000 https://condorcet.ch/?p=14296

Der emeritierte Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers sprach mit dem Nebelspalter-Journalisten Daniel Wahl über die massive Reformwelle der letzten 20 Jahre und deren Wirkung. Wir bringen das Interview in zwei Teilen. Hier Teil 1.

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Herr Oelkers, im Kanton Bern wurden innerhalb von 20 Jahren gut 20 Schulreformen eingeleitet. In anderen Kantonen dürften es nicht weniger sein. Haben die Reformer damit die Schule überfordert oder waren die Reformen zwingend?

Jürgen Oelkers: Wer definiert schon, was zwingend ist? Es sind alles Vorstösse in bester Absicht und den Nutzen erkennt man nicht, wenn man Reformen fordert und dann in Gang setzt. In gewisser Hinsicht sind Schulreformen auch unvermeidlich. Die Schulen stehen unter Beobachtung der Gesellschaft und die Bildungspolitik reagiert auf öffentliche Kritik. Lanciert werden die Reformen von unterschiedlicher Seite, manche kommen auch aus der Mitte der Schule, aber nicht jede Reform ist dort – je nach Belastungsfolgen – willkommen.

Aber die Menge erstaunt doch …

Juergen Oelkers, emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich

Ja, im Vergleich zu früheren Zuständen in der Schweiz ist das wirklich bemerkenswert. Sehr viele Akteure wollten in den letzten drei Jahrzehnten die Schule neu definieren oder sie für etwas verantwortlich machen, was die Gesellschaft selbst austragen müsste. Das geschah häufig unkoordiniert, aber alle Reformideen wollten es «besser» machen, was mehr oder weniger starke Defizitannahmen voraussetzt. Defizite kennen keine Grenzen, das erklärt die Zahl. Aber man muss auch homogenisierende oder sich selbst bestätigende Expertendiskussionen voraussetzen.

 

Reformitis an den Schulen am Beispiel des Kantons Bern

Eine kurze Chronik der 20 Berner Schulreformen: durchzogene Bilanz

 

Die Frage ist doch, was die Schule daraus macht?

Bei strukturellen Reformen, wie sie die Einführung der Schulharmonisierung (HarmoS) eine ist, kann die Schule nicht viel machen. Das wird von der Politik vorgegeben. Generell gilt aber: Die Lehrpersonen akzeptieren weitgehend nur das, was sich für den Unterricht verwerten lässt und was für den Betrieb unverzichtbar ist. Daher werden Reformen nach dem Masse der Überzeugung der Lehrerinnen und Lehrer praktisch vorangetrieben. Vieles wird auch gar nicht umgesetzt. Ideen versanden oder erscheinen Jahre später wieder unter neuem Gewand.

Welche Reform bringt die Qualität der Schule am besten voran?

Die Art und Weise, wie man Lehrmittel macht. Diese Antwort mutet vielleicht etwas fremd an. Aber: Der Unterricht hängt wesentlich von den Lehrmitteln ab. Sie wurden lange einfach benutzt und irgendwann ersetzt. Wenn man aber die Lehrmittel im Feld erprobt und vor der Einführung testet, hat man gute Chancen, die Qualität des Unterrichts zu verbessern.

Der Ertrag des Fremdsprachenunterrichts gemessen an den Erwartungen ist eher schmal.

Das sehen aber viele Eltern und Lehrer anders. Die neuzeitlichen teuren und kompetenzorientierten Lehrmittel für Französisch “Mille feuilles” und “Clin d’Oeil” und in Englisch “New World” standen derart in der Kritik, dass sie vielerorts entweder abgesetzt oder dass ihnen bewusst Alternativen zur Seite gestellt wurden.

Wenn sie schlecht sind, sollten sie schnell wieder abgeschafft werden. Doch ich bleibe grundsätzlich dabei: Schulreformen sollten heute bei den Lehrmitteln ansetzen, was durch die Digitalisierung nochmal dringlicher werden wird.

Halten Sie denn die Einführung von Frühenglisch und Frühfranzösisch für eine geglückte Reform?

Das waren Lehrplanreformen – Umschichtungen von Stunden. Man verlagerte Lektionen von der Oberstufe in die Mittelstufe und hatte die Erwartung, dass sich der Erwerb der Fremdsprache dadurch verbessern würde. Der Ertrag des Fremdsprachenunterrichts gemessen an den Erwartungen ist eher schmal, doch letztlich kommt es darauf an, welche Ziele im Unterricht verfolgt werden. Am Ende können die Schüler, wenn es hochkommt, Schulenglisch und Schulfranzösisch (oder Schuldeutsch in der Romandie).  Das Welsch-Jahr war lange der Ausweg. Vielleicht sollte man einen Sprachaufenthalt am Ende der Schulzeit zu einem curricularen Angebot machen.

“Schulreformen sollten heute bei den Lehrmitteln ansetzen.”

Würden Sie deswegen eine Sprachreform der Sprachreform ansteuern?

Das Frühfranzösisch und Frühenglisch in der Primarschule wollte man im Kanton Thurgau, wo ich wohne, wieder abschaffen. Das führte zu einem staatspolitischen Aufschrei. Aber die Frage ist, ob damit der Ertrag verbessert werden kann. Wenn man eine solch einschneidende Entscheidung fällen will, muss man ganz genau hinschauen: Mit welchen Lehrmitteln macht man das? Welche Kompetenzen bringen die Lehrer mit, welche müssen sie noch erwerben?

Was halten Sie von dieser Schulreform: Messung der Schulqualität mittels Pisa-Tests und weiteren Checks?

Der Pisa-Test scheint unvermeidlich und irgendwie muss man da mitmachen. Aber solche Tests nutzen sich über die Jahre ab. Wenn sich nach dem zehnten Pisa-Test zeigt, dass man zwar evaluiert wurde, aber das Ergebnis ungefähr immer dasselbe bleibt, kann man das Testen bleiben lassen. Man weiss ja, was kommt. Bei den Pisa-Tests ist die Schweiz in Mathematik ziemlich oben, bei den Sprachkompetenzen tiefer. Das wird sich auch in den nächsten zehn Jahren nicht ändern. So bleiben solche Tests häufig nur für die Datenanalysten in den Behörden oder in der Forschung spannend. Und: Mit dauernden Alarmierungen lässt sich kein Bildungssystem steuern.

Die Einführung der geleiteten Schulen, beziehungsweise die Einsetzung von Schulleitern – bezeichnen Sie das auch als unvermeidlich?

Die Schweizer Schulen haben damit das angelsächsische Modell übernommen. In Südkorea oder in Frankreich, wo die Schulen von Paris aus gesteuert werden, gibt es das nicht. Aber ich bin überzeugter Föderalist und ich glaube, es ist richtig, wenn man den Schulen eine hohe Autonomie und eigene Leitung zugesteht.

“Ich bin überzeugter Föderalist und ich glaube, es ist richtig, wenn man den Schulen eine hohe Autonomie und eigene Leitung zugesteht.”

Sind geleitete Schulen erfolgreicher als zentralistisch organisierte?

Was heisst erfolgreich? In Bezug auf die gemessenen Leistungen sind die asiatischen Schulen erfolgreicher als unsere. Auch Finnland ist spitze. Aber das ist kaum zu erklären, weil Finnland eine komplett andere Leitungskultur hat als die Südkoreaner. In Finnland gibt es beispielsweise keine Nachhilfestunden. Schweden wiederum steuert sehr schülerbezogen …

… mit anderen Worten sagen Sie: Es spielt keine Rolle, wie sich Schulen organisieren.

Nein. Wir haben Studien zur Schulleitung gemacht. Es gibt für die Schweiz keine flächendeckende Lösung. Doch bei Konflikten brauchten sie eine gute Schulleitung und eine erfahrene Moderation nach innen wie nach aussen. Die Schule wird mit Problemen konfrontiert, die Leitung verlangen, etwa im Blick auf die Folgen des Medienkonsums oder falsche Erwartungen der Öffentlichkeit. Zudem: Ohne ausgebildete Schulleitungen gäbe es kaum die Schulentwicklung, die wir heute haben. Und schliesslich braucht jede Schule eine gute Aussendarstellung.

Halten Sie die Einführung der «integrativen Schule» für geglückt?

Die Inklusion ist zunächst einmal die Gegenbewegung zur Separation, also die Auslagerung der ‘schwierigen’ Fälle. Früher hat man gedacht, dass man spezielle Angebote für Behinderte machen muss, aber das ist dann massiv ausgeweitet worden und hat zur Separation geführt. Inklusion ist die Gegenbewegung. Die Idee klingt gut und auch viele betroffene Eltern stehen dahinter. Bei den Lehrpersonen kommt die integrative Schule jedoch zunehmend schlechter an. Man befürchtet, im Unterricht bestimmte Standards nicht mehr halten zu können. Die integrative Schule braucht ausreichend Ressourcen. Schwerstbehinderte etwa benötigen eine Eins-zu-eins-Betreuung. Auch über «Schulinseln» oder kleine Klassen für bestimmte Lernzeiten in der Schule muss man reden, wenn die Massnahmen im Unterricht nicht greifen. Falsch ist es, Inklusion so zu verstehen, dass unter allen Umständen und unabhängig von den praktischen Erfahrungen einfach nur ein Prinzip verwirklicht werden soll. Man muss einfach lernen, was geht und was nicht.

Der Medienkonsum der Kinder ist unkontrollierbar geworden.

Damit kommen wir zu den Killerkriterien von Schulreformen. Sind die fehlenden Finanzen deren erster Todesstoss?

Nicht zwingend, denn die Ausstattung der Schulen und die Lehrergehälter sind in der Schweiz generell top. Aber für die Umsetzung sehr ehrgeiziger Reformen braucht es zusätzliche Mittel und nicht nur Umschichtungen. Anders lässt sich die Idee der Inklusion kaum umsetzen, aber das ist in den Kantonen eine sehr unterschiedliche Praxis. Zudem: Der Wandel der Schulkulturen in den letzten dreissig Jahren hatte auch Erfolg, niemand will zurück in die autoritäre Schule der Vergangenheit.

Was ist denn Ihr Killerkriterium?

Akzeptanz. Fehlt sie, wird das, was politisch gewollt ist, an der Schule nicht umgesetzt oder zum Dauerproblem. Die wesentlichen Probleme der Schule ergeben sich heute aufgrund des Wandels ihrer Umwelt und der Gesellschaft. Die Kinder werden beispielsweise von medialen Angeboten angezogen und sie vernachlässigen die Schreibfähigkeit, die Rechenfähigkeit. Der Medienkonsum der Kinder ist unkontrollierbar geworden. Das stellt die Schule auf eine harte Probe.

Haben Sie darauf eine Antwort.

Ja. Kontrolle, Einschränkung der Freiheit. Kinder zwischen 6 und 12 Jahren sehen heute Dinge, die sie nicht sehen sollten.

“Fehlt Akzeptanz, wird das, was politisch gewollt ist, an der Schule nicht umgesetzt oder zum Dauerproblem.”

Das müsste aber in erster Linie Aufgabe der Eltern und nicht der Schule sein.

Ja, und da sprechen Sie gleich ein weiteres Problemfeld von reellen Schulreformen an: Schulen betrachten Eltern oft als Ressourcen, die sie nur bei Bedarf miteinbeziehen können. Die Eltern berufen sich heute auf erweiterte Mitspracherechte, weshalb Schulen auf die Eltern zugehen und eingehen müssen – nicht in dem Sinne, dass Eltern den Unterricht oder die Notengebung mitbestimmen können. Aber die Schule muss mit ihnen ein Einverständnis erzielen. In Bezug auf den Medienkonsum heisst das: Schule und Eltern sollten eine gemeinsame Einstellung vertreten, welche Medien zulässig sind und wie der Medienkonsum der Kinder stattfinden kann. Es gilt zu klären, was die Eltern tun können und was die Schule dazu beitragen kann. Das ist allerdings leicht gesagt und schwer getan.

Ende Teil 1 des Interviews. 

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Toxische Bildungsideologien https://condorcet.ch/2023/06/toxische-bildungsideologien/ https://condorcet.ch/2023/06/toxische-bildungsideologien/#respond Thu, 08 Jun 2023 04:21:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=14250

Das neuste Video von Condorcet-Autor Bernhard Krötz hat für viel Aufsehen gesorgt. Die schonungslose Abrechnung mit dem aktuellen Mathematik-Unterricht wird nun auch in Lehrerforen und in der Bildungsbürokratie diskutiert. In einem späteren Beitrag werden wir eine der vielen Repliken aufschalten, ganz im Sinne unseres Selbstverständnisses: Wir suchen die offene Debatte.

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Grosse Denkerinnen und Denker: Heute Abou Shoak https://condorcet.ch/2021/05/grosse-denkerinnen-und-denker-heute-abou-shoak/ https://condorcet.ch/2021/05/grosse-denkerinnen-und-denker-heute-abou-shoak/#comments Sat, 29 May 2021 07:23:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=8675

Nun hat die Stadt Basel ihr grösstest Problem erkannt. Es sind nicht die schlechten Mathematik- und Sprachleistungen! Auf das eigentlich Problem macht uns Frau Mandy Abou Shoak aufmerksam.

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Mandy Abou Shoak: Kinder werden traumatisiert! SRF Regional, 19.5. Foto: Neumarkt

«Wenn diese abwertenden Bilder oder Zitate stehen gelassen werden, wird Schülerinnen und Schülern of Colour in die Haare gefasst, oder es werden Affengeräusche gemacht. Oft verpassen es die Lehrkräfte oder die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, darauf zu reagieren und einzuschreiten.»

Die Schule würde so ihrer Schutzpflicht verletzen, weil Lehrerinnen und Sozialarbeiter Rassismus nicht immer erkennen und dagegen handeln. So würden weisse Kinder bevorteilt werden, Kinder of Colour dagegen Abwertung und Destabilisierung ihres Selbsts erfahren. «Das kann zu Traumatas führen.»

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Reinste Ressentimentforschung https://condorcet.ch/2020/11/reinste-ressentimentforschung/ https://condorcet.ch/2020/11/reinste-ressentimentforschung/#comments Wed, 25 Nov 2020 12:54:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=7045

Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz hat sich mit dem Vorwurf der beiden Rassismus-Expertinnen auseinandergesetzt. Mit den kritisierten Lehrmitteln hat er selber unterrichtet und kann die Vorwürfe nicht nachvollziehen. Seiner Meinung nach liegen die Probleme ganz woanders.

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Hanspeter Amstutz: Das Problem liegt im Abbau des Geschichtsunterrichts. Bild: Fabü

Es ist schon ein starkes Stück, wenn zwei Rassismus-Expertinnen den Schweizer Lehrmittelverlagen vorwerfen,  unsere Lehrmittel seien im Kern rassistisch. Man fragt sich, aufgrund welcher Kriterien ein solch vernichtendes Urteil entstanden ist. Ich kenne mich bei den Unterrichtsmaterialien des Zürcher Lehrmittelverlags einigermassen aus und teile  nicht den Eindruck, die Darstellungen über die himmeltraurige Geschichte der Sklaverei oder über afrikanische Kulturen seien rassistisch gefärbt.

Ungeschminkte Darstellung

Das von den beiden Autorinnen kritisierte Lehrmittel „Durch Geschichte zur Gegenwart“ setzt sich eingehend mit dem Kolonialismus der europäischen Grossmächte im 19. Jahrhundert auseinander. Die Lehrmittelautoren zeigen eine ungeschminkte Darstellung des imperialen Zeitgeists in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Es ist eine fokussierte Zusammenfassung, die in Form von bearbeiteten Quellentexten die Überheblichkeit und Menschenverachtung eines Cecil Rhodes und anderer Kolonialherren festhalten. Wer sich mit seiner Klasse vertieft mit dem Schicksal afrikanischer Sklaven befassen will, findet eindrückliche Schilderungen im Nachfolge-Lehrmittel „Gesellschaften im Wandel“ und in ausgezeichneten Klassenlektüren.

Im scharf kritisierte Lehrmittel wird der Versuch gewagt, aufschlussreiche Begründungen für die damalige Selbstverständlichkeit des Kolonialismus zu finden.

Aufschlussreiche Begründungen für Denkmuster

Ein Geschichtslehrmittel hat die Funktion, die Denkmuster und die Werthaltungen einer Epoche aufzuzeigen. Die aus heutiger Sicht fast unerträgliche Überheblichkeit der europäischen Grossmächte in der imperialen Epoche um 1900 soll nicht schöngeredet werden. Die führenden Politiker nutzten die militärische, wirtschaftliche und technische Überlegenheit ihrer Nationen gegenüber den Afrikanern oft schonungslos aus. Im scharf kritisierten Lehrmittel wird der Versuch gewagt, aufschlussreiche Begründungen für die damalige Selbstverständlichkeit des Kolonialismus zu finden. Das gelingt nicht schlecht. Die SchülerInnen merken sehr bald, dass jede Kolonialmacht ihre wirtschaftlichen Interessen an die erste Stelle setzte und afrikanische Kulturen als minderwertig betrachtet wurden.

Reichhaltige Texte

Die Industrialisierung kannte auch eine Art Sklaverei

Es wäre naiv zu glauben, diese Realpolitik ausklammern zu können. Tendenziös wäre es hingegen, wenn das Schicksal der gedemütigten Sklaven nicht ebenso ausführlich im Unterricht zur Sprache käme. Eine Vertiefung des Themas der menschlichen Unterdrückung führt unweigerlich über den  Rassismus gegenüber Andersfarbigen hinaus. Man muss nicht in die Ferne schweifen, um in die Abgründe der Misshandlung von Menschen blicken zu können. Im 19. Jahrhundert stand auch in unserer Textilindustrie ein sklavenähnliches Proletariat in den stickigen Räumen der Spinnereien und schuftete über zwölf Stunden am Tag. Die kritisierten Lehrmittel enthalten eine ganze Reihe erschütternder Berichte über die Kinderarbeit in den Fabriken und über die ausgebeutete Arbeiterklasse. Die Texte sind so reichhaltig, dass sie sich bestens als Vorbereitungsstoff für Schülervorträge eignen.

Sie führen Schritt für Schritt die jugendlichen Leserinnen und Leser weiter und schildern, wie sich die Unterdrückten organisieren und in Gewerkschaften zusammenschliessen.

Besticht durch ungeschminkte Darstellungen

Die kritisierten Lehrmittel bleiben aber nicht beim Unerträglichen stehen. Sie führen Schritt für Schritt die jugendlichen Leserinnen und Leser weiter und schildern, wie sich die Unterdrückten organisieren und in Gewerkschaften zusammenschliessen. Jugendliche erleben, dass sich ein gerechter Kampf lohnt und die Gerechtigkeit in Form besserer Lebensbedingungen und neuer politischer Rechte triumphiert. Was soll an diesem pädagogischen Konzept denn so rückständig sein? Wenn der Geschichtsunterricht ein Stück weit das Ideal einer gerechteren Gesellschaft aufleuchten lässt, ist weit mehr erreicht als mit dem Herauspicken von allfälligen Ungereimtheiten bei der Darstellung des Kolonialismus.

Auch der Holocaust gehört dazu

Wenn politischer Rassismus ein Thema ist, das verbindlich in jeder Oberstufenklasse  behandelt werden muss, dann gehört der Holocaust dazu. Als jüdische Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg an der Schweizer Grenze abgewiesen wurden, hatte unsere Politik ihre dunkelsten Stunden. Die meisten Lehrmittel beschönigen unser Versagen in der Flüchtlingspolitik in keiner Weise.  Sie geben im Gegenteil den Jugendlichen durch zahlreiche authentische Berichte einen aufschlussreichen Einblick ins traurige Los der Zurückgewiesenen. Falls Jugendliche im Verlauf ihrer Schulzeit nicht mit dem Schicksal jüdischer Kinder konfrontiert wurden, liegt es nicht an den Lehrmitteln, sondern an einem langweiligen und mageren Geschichtsunterricht.

Die Forderung nach einer totalen Überprüfung der Lehrmittel im Hinblick auf rassistische Grundmuster durch ein Expertengremium schiesst übers Ziel hinaus.

Ich werde den Gedanken nicht los, dass es dabei primär um eine Neuschreibung unserer jüngeren Geschichte geht. Die Qualitäten historischer Persönlichkeiten werden ausgeblendet, weil sie nicht in allen Teilen in unser modernes Weltbild passen. So soll ein Alfred Escher vom Sockel gestürzt werden, weil die Verstrickung seines Onkels in den karibischen Sklavenhandel eine Würdigung seines grossen Lebenswerks verbietet. Seine Pionierleistungen in der Zeit unseres jungen Bundesstaats werden übersprungen mit der Begründung, der politische Hardliner Escher sei ein Profiteur rassistischer Umtriebe.

Diese Art von Geschichtsverständnis verdienen unsere Schüler nicht. Sie haben ein Recht auf einen Unterricht, der weder weitsichtiges Unternehmertum noch historische Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten pauschal verunglimpft. Welche Schulabgänger wissen schon, dass Alfred Eschers grosses Werk die Gotthardbahn war und dass er mit seiner unglaublichen Schaffenskraft der Schweizer Wirtschaft zu europaweitem Einfluss verholfen hat?

Zu wenig Frauen

Es gibt zu wenig Frauen in der AutorInnenschaft.

In einem Punkt kann ich den Autorinnen folgen. Sie bemängeln, dass nur selten politisch aktive Frauen in den Geschichtsbüchern zu Wort kommen. Man kann dies entschuldigen mit dem Hinweis, dass erst vor gut hundert Jahren die politische Frauenbewegung in Europa Fahrt aufgenommen hat und die Zeit davor sehr männlich dominiert war. Doch unterdessen haben im zwanzigsten Jahrhundert unzählige weibliche Persönlichkeiten die politische Bühne betreten und der Gleichberechtigung der Geschlechter zum Durchbruch verholfen. Diese Leistungen in spannenden Biografien für den Unterricht zu würdigen, könnte unser Geschichtsbild im besten Sinn verändern.

Der Skandal liegt nicht im Fehlen des Willens zur kritischen Auseinandersetzung. Vielmehr ist es die Tatsache, dass an unserer Volksschule kaum noch Wert auf gründliche Kenntnisse historischer Zusammenhänge gelegt wird.

Wenn jetzt lautstark ein kritischeres Geschichtsverständnis gefordert wird, ist das im Bereich der Volksschule schon fast grotesk. Der Skandal liegt nicht im Fehlen des Willens zur kritischen Auseinandersetzung. Vielmehr ist es die Tatsache, dass an unserer Volksschule kaum noch Wert auf gründliche Kenntnisse historischer Zusammenhänge gelegt wird. Geschichte steht in der Sekundarschule sowohl von der Lektionenzahl wie von der Bedeutung her weit hinten im aktuellen Bildungsprogramm. Doch unseren Schülern wird zugemutet, dass sie sich über heikelste politische und gesellschaftliche Fragen ein souveränes Urteil bilden können. Da fehlt jeder pädagogische Realitätssinn.

Respekt wächst im Unterricht

Zum Schluss sei die Frage erlaubt, ob die beiden Autorinnen bei ihrem Einsatz für mehr  Toleranz in unserer Gesellschaft nicht aufs falsche Pferd gesetzt haben. Gegenseitiger Respekt in einer Klassengemeinschaft wächst in erster Linie durch einen Unterricht, in dem konsequente Ermutigung und sichtbare Fairness ein Klima des Vertrauens schaffen. Lehrpersonen mit Verständnis für Schwächere und einem wachsamen Auge für jede Form des Mobbings können weit mehr zu Achtsamkeit und Toleranz beitragen als ein antirassistischer Aktivismus bei der Schaffung von Lehrmitteln.

Hanspeter Amstutz

 

 

 

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Rassismus in Schweizer Schulbüchern? – Eine Entwarnung https://condorcet.ch/2020/11/rassismus-in-schweizer-schulbuechern-eine-entwarnung/ https://condorcet.ch/2020/11/rassismus-in-schweizer-schulbuechern-eine-entwarnung/#comments Wed, 25 Nov 2020 05:20:40 +0000 https://condorcet.ch/?p=7029

Die Condorcet-Redaktion bat den ehemaligen Leiter der Integrationsstelle der Stadt Basel, die "Studie" der beiden Expertinnen, Frau El Maawi und Frau Shuak, unter die Lupe zu nehmen. Seine Analyse ist nicht sehr schmeichelhaft.

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Titel im Sonntagsblick: Beängstigende Analysen

Der SonntagsBlick hat die Leserschaft mit der Meldung aufgeschreckt, die Schweizer Schulbücher seien rassistisch. Tatsächlich steht in einem Flyer – finanziert von den Fachstellen des Bundes, des Kantons und der Stadt Zürich: „Allen untersuchten Lehr- und Lernmitteln liegt eine rassistische Perspektive zu Grunde“. Es handelt sich dabei nicht etwa um historische Schriften, sondern um aktuelle Bücher wie „Welt der Wörter 1“ oder „Durch Geschichte zur Gegenwart, Band 2“.

Das pädagogische Milieu ist grossmehrheitlich von hoher Sensibilität gegenüber Diversity- und Genderfragen geprägt.

Ich wurde nun um eine Stellungnahme gebeten, da ich 1999 zusammen mit dem Ethnologischen Seminar der Universität Basel die Integrationsstrategie und die Antidiskriminierungprogramme entwickelt habe. Diese sind inzwischen national verankert und in die eidgenössische Integrationsgesetzgebung eingeflossen. Als Praktiker und Berater an Schulen sowie Gastdozent im In- und Ausland habe ich diese Anfrage gerne angenommen. Dies auch, weil das pädagogische Milieu grossmehrheitlich von hoher Sensibilität gegenüber Diversity- und Genderfragen geprägt ist und es deshalb bemerkenswert ist, dass ausgerechnet Schulbücher Rassistisches verbreiten sollen.

Grobe Manipulation

Völlig verkehrte Interpretation

Ein Blick in den Flyer und die untersuchten Bücher gibt allerdings rasch Entwarnung. Das Produkt entlarvt sich schon bei der ersten Probe aufs Exempel als grobe Manipulation. Unter „Einige charakteristische Beispiele“ für die Beweisführung wird eine Zeichnung aus „Durch Geschichte zur Gegenwart“, Band 2, Seite 241, als rassistisch kritisiert. Ein sitzender Europäer ist abgebildet, wie er einem Afrikaner zusieht, der „Despise not your Enemy“ auf die Wandtafel schreibt.

Langfädig wird das Gezeichnete aufgeschlüsselt, ausgehend von den unterschiedlichen Kleidungen. Auszug: „Eine solche Abbildung beinhaltet verschiedene stereotyp-rassistische Merkmale und zeichnet die gesellschaftliche Hierarchisierung nach. Der weisse Mensch ist hier einmal mehr als rational, „zivilisiert“ – weil bekleidet und beherrscht – dargestellt und die Schwarze Person als zu belehrende, naturgebundene Schüler*in. Dadurch wird Schwarz-Sein objektiviert und abgewertet, denn die Bildaussage gilt stellvertretend für alle weissen bzw. Schwarzen Menschen. Die Aussage auf der Wandtafel – „Verachte nicht deinen Feind“ – eröffnet eine weitere Dimension der gewaltvollen Erniedrigung in Form von zugewiesener Naivität“.

Im Flyer fehlt jeder Hinweis zu den abgebildeten Personen, Kontext und Bedeutung der Karikatur – eine Irreführung der Leserschaft.

Und was steht dazu im Schulbuch?

Unter dem Titel „Afrika und Asien werden verteilt“ wird das Zeitalter des Imperialismus beschrieben, mit den Triumphen und Niederlagen der Eroberer. Eben eine solche wird mit der Zeichnung dargestellt, die schwere Niederlage, die 1879 die Zulus in Südafrika den Engländern zufügten: „Der Londoner „Punch“ kommentierte diese mit einer Karikatur: „Verachte deine Feinde nicht“, schreibt der „Schüler“, der Zuluhäuptling Tschetschwayo, dem „Lehrer“, dem britischen Ministerpräsidenten Disraeli, an die Tafel.“

Der (sitzende) Verlierer ist also der Brite, der (stehende) Sieger der Zuluhäuptling, der dem Eindringling den Tarif durchgibt. Im Flyer fehlt jeder Hinweis zu den abgebildeten Personen, Kontext und Bedeutung der Karikatur – eine Irreführung der Leserschaft.

Wer sich nun die Mühe macht, die Reisen des David Livingstone und weiterer Forscher (nochmals) zu studieren, kommt zum Schluss, dass die Schulbücher durchaus korrekt berichten.

Ähnlich konstruiert sind die weiteren Beispiele für den angeblichen Rassismus in den Schulbüchern. Unter dem Titel „Warum wurden Kolonialreiche gegründet?“ erklärt das erwähnte Geschichtsbuch mit elf Themen die Voraussetzungen und Probleme Europas, von der Demografie, über Wirtschaft und Nationalismus bis Imperialismus.

Im Flyer wird der Kontext zu den weiteren zehn Themen und aufklärenden Originaltexten aus der Zeit verschwiegen, eine Differenzierung zwischen Forschungsreisenden, Militärs, Missionaren und Händlern findet nicht statt.

Massaker von Nyangwe 1871
Massaker von Nyangwe, 1871

Der Flyer kritisiert die unter 5. genannte Forschung: „Hier müsste z. B. das glorifizierende „mutige Forscher“ durch „plündernde Abenteurer*innen“ ersetzt werden.“ Wer sich nun die Mühe macht, die Reisen des David Livingstone und weiterer Forscher (nochmals) zu studieren, kommt zum Schluss, dass die Schulbücher durchaus korrekt berichten. Livingstone hat sich übrigens stark gegen die Sklaverei engagiert und 1871 erlebt, wie arabische Sklavenhändler auf dem Marktplatz von Njangwe 1500 Menschen einkreisten, 400 töteten, viele abführten und 27 Dörfer niederbrannten. Im Flyer wird der Kontext zu den weiteren zehn Themen und aufklärenden Originaltexten aus der Zeit verschwiegen, eine Differenzierung zwischen Forschungsreisenden, Militärs, Missionaren und Händlern findet nicht statt. Stattdessen empfehlen die Autorinnen als Beitrag gegen den Rassismus, die gut dokumentierten Expeditionen der forschenden Männer im Nachhinein in Raubzüge von gemischten Gruppen mit Abenteurerinnen zu verwandeln. Die  Erwähnung der arabischen Sklavenjäger wird zudem als „Antimuslimischer Rassismus“ bezeichnet. Dass es diesen Sklavenhandel in Mauretanien, Libyen oder Irak (mit geraubten Jesidinnen) immer noch gibt, kümmert die Autorinnen nicht.

Die  Erwähnung der arabischen Sklavenjäger wird zudem als „Antimuslimischer Rassismus“ bezeichnet. Dass es diesen Sklavenhandel in Mauretanien, Libyen oder Irak (mit geraubten Jesidinnen) immer noch gibt, kümmert die Autorinnen nicht.

Die Kunst der Lehrerin oder des Lehrers

Es kümmert sie auch nicht, dass die Pädagogischen Hochschulen über breite Angebote in Diversity- und Genderfragen verfügen. Die Forderung nach solchen Kursen erstaunt die Betroffenen der PH, sie sind schon lange fester Teil der Grund- und Weiterbildung. Meine Wenigkeit unterstützt solche Angebote seit 1999. Was hingegen alle angefragten Dozentinnen anfügen: Die Vermittlung des Wissens und Sensibilisierung bleibt schlussendlich stets die Kunst der Lehrerin oder des Lehrers.

Ideologisches Pamphlet

Ich habe einige von ihnen mit dem Flyer konfrontiert. Die Reaktionen der erfahrenen Lehrkräfte reichen von „Parodie“, „sektenhaft“, „inhärente Widersprüche“, „voller Stereotypen“, „ideologisches Pamphlet“ über „groteske Arroganz mit billigem Moralismus“ bis zu „Satire“. Die Herausforderungen seien ganz woanders, in der konkreten Praxis im Schulzimmer und auf dem Pausenplatz. Gerade an Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern aus verschiedenen Ländern und Kulturen sei das beispielhafte Vorleben von Anstand und Respekt und das Durchsetzen der Regeln zentral. Und vor allem wesentlich komplexer als das Schwarz-Weiss-Denken der Flyer-Autorinnen. Die Konfliktlinien verlaufen häufig zwischen Migrantengruppen, auch mit Bezug zu Problemen in den Heimatländern. Staats- und Rechtskunde werden als Korrektiv im Unterricht bedeutungsvoller, namentlich die Vermittlung der Errungenschaften der Aufklärung – mit dem Rechtsstaat und dem Gewaltmonopol des Staates.

Staats- und Rechtskunde werden als Korrektiv im Unterricht bedeutungsvoller, namentlich die Vermittlung der Errungenschaften der Aufklärung – mit dem Rechtsstaat und dem Gewaltmonopol des Staates.

Erfreuliche Entwicklung

Diese Aussagen decken sich mit den Erfahrungen der Meldestellen. Wir haben in Basel-Stadt und Baselland vor 30 Jahren solche eingerichtet, um möglichst niederschwellig und breit Hinweise oder Erlebtes in allen Formen der Diskriminierung und des Rassismus dokumentieren und angehen zu können. Gleichzeitig haben wir die Aus- und Weiterbildung von Polizei, Sozialhilfe und weiteren Behörden mit viel Kundenkontakt zusammen mit dem Ethnologischen Seminar entsprechend ergänzt.

Dank dem dualen Bildungssystem erfolgt der soziale Aufstieg der Immigrierten nirgends so schnell wie in der Schweiz.

Schnelle Integration dank des dualen Prinzips

Die Fallzahlen waren und sind erfreulich überschaubar. Einzelfälle liessen sich praktisch immer in kurzen Mediationen klären und bereinigen. Es bewährte sich, für die komplexen Themen der Migration, Integration und der Anti-Diskriminierung exponierte Stellen zu bezeichnen, die den öffentlichen Bedarf an Diskussion, Klärung und auch als Frust-Ableiter leisten können. Gemessen an der Situation in den 2000ern sind die Schulen und Behörden heute erfahrener und personell viel diverser. Anstelle moralisierender Flyer bringt die öffentliche Unterstützung der Lehrkräfte, Polizistinnen, Sozialarbeiter und Lehrmeisterinnen für ihre wertvolle, tägliche Arbeit für das erfolgreiche und friedliche Zusammenleben Mehrwert. Es braucht nicht belehrende Parastrukturen, sondern möglichst gute Arbeit im bestehenden Konkreten. Dank dem dualen Bildungssystem erfolgt der soziale Aufstieg der Immigrierten nirgends so schnell wie in der Schweiz. Pflegen wir es also und stärken die Bildung im Kern, nicht mit Kosmetik.

Thomas Kessler, Consulter in Migration, Internationale Kooperation und Stadtentwicklung, Leiter Integration & Antidiskriminierung BS / Stadtentwicklung 1999-2017, Drogendelegierter BS 1991–98, Internationale Projekte 1982–90, Agronomie / Drogenforschung ab 1977. 

 

 

 

 

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Skandalöse Lehrmittel oder plumpe Ressentimentforschung? https://condorcet.ch/2020/11/skandaloese-lehrmittel-oder-plumpe-ressentimentforschung/ https://condorcet.ch/2020/11/skandaloese-lehrmittel-oder-plumpe-ressentimentforschung/#comments Tue, 24 Nov 2020 11:09:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=7019

Rassismus an Schulen ist nicht tolerierbar. Deshalb hat die Redaktion des Condorcet-Blogs auch sofort reagiert, als die beiden Expertinnen für Anti-Rassismus und Bildung (so sieht es der Blick), Rahel El-Maawi und Abou Shoak, im Sonntagsblick erklärten, dass Rassismus in unseren Schulbüchern omnipräsent sei. Sie bot den Autorinnen an, ihre Ergebnisse auf dem Condorcet-Blog zu begründen. Dies ist bis anhin noch nicht erfolgt. Eine Erklärung der Redaktion.

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Es waren happige Vorwürfe, die da im Sonntagsblick (15.11.20) geäussert wurden:

«Die Schulbücher sind in ihrem Kern rassistisch.» In den Büchern, so schreiben die Autorinnen Rahel El-Maawi und Abou Shoak in ihrer Analyse, werden rassistische Vorurteile und Hierarchisierungen zwischen Menschen weiter gelehrt und reproduziert.

So würden zum Beispiel nicht weisse Menschen mit rassistischen Begriffen bezeichnet oder als unterlegen dargestellt. Zudem werde die Kolonialzeit Europas verherrlicht und damit eine rassistische Weltsicht transportiert – etwa indem vermeintlichen Abenteurern gehuldigt werde, «ohne mit einem Wort auf die ausbeuterische koloniale Vergangenheit einzugehen».

Die Redaktion hat einer der Autorinnen eine Mail geschrieben mit folgender Anfrage:

Werte Frau El-Maawi
Ich habe im Blick einen Beitrag über Sie und Ihre Untersuchung über rassistische Lehrbücher an Schweizer Schulen gelesen. Mein Name ist Alain Pichard. Ich bin Mitbegründer eines kritischen Bildungsblogs, der dem Aufklärer und Philosophen Jean-Marie Condorcet und seiner Frau Sophie de Condorcet gewidmet ist.
www.condorcet.ch
Wir verstehen uns als Diskursblog und schalten gerne auch kontroverse Meinungen auf. Gerne würden wir einen Beitrag von Ihnen zu diesem Thema aufschalten. Könnten Sie uns auch die Broschüre zukommen lassen, die im Blick erwähnt wurde.

Nach einer zweiten Anfrage unsererseits antwortete Frau El-Maawi und wünschte sich mehr Eckdaten. Unter anderem fragte sie: Und auch Kontext drumrum. Steht der für sich oder schreiben Sie/Condocret auch etwas dazu? Beste Grüsse, Rahel El-Maawi

Wiederum antworteten wir, dass wir ein Diskursblog seien und uns daher sehr gut vorstellen können, dass es hier auch kritische Reaktionen geben werde. Seitdem herrscht Funkstille.

Wir haben uns deshalb entschlossen, den renomierten ehemaligen Integratiosfachmann Thomas Kessler aus Basel anzufragen, ob er für uns  die Vorwürfe einer genaueren Prüfung unterziehen könnte. Und auch unser Doyen des Geschichtsunterrichts, Hanspeter Amstutz, seines Zeichens Condorcet-Autor, lieferte uns seine Sicht der Dinge.

Wir möchten betonen, dass unser Angebot an die beiden Damen immer noch gilt. Denn wie eingangs erwähnt: Rassismus ist nicht tolerierbar und gehört bekämpft. Und wir sind ein Diskursblog.

Die Redaktion des Condorcet-Blogs

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Einfluss der Lehrmittel auf den Schulerfolg – Teil 1 https://condorcet.ch/2020/11/einfluss-der-lehrmittel-auf-den-schulerfolg-teil-1/ https://condorcet.ch/2020/11/einfluss-der-lehrmittel-auf-den-schulerfolg-teil-1/#respond Wed, 04 Nov 2020 15:28:23 +0000 https://condorcet.ch/?p=6861

Würden bessere Schulbücher helfen, um die schlechten schulischen Leistungen der britischen Schulabgänger in Mathematik zu verbessern? Diese Frage untersuchten Wissenschaftler des National Institute of Economic and Social Research in London mit einer Studie unter dem Titel „Die Grundlagen der Arithmetik legen“, indem sie mit Hilfe von Lehrern und Schulinspektoren in den 1990er Jahren die britischen Primarschulbücher in Mathematik mit denjenigen auf dem Kontinent (Deutschland und Schweiz) verglichen. Der Vergleich führte zu erstaunlichen Resultaten, die heute wieder aktuell sind. Wir veröffentlichen hier den 1. Teil von Peter Aebersolds umfangreicher Recherche. Ein Schelm, wer an heutige Entwicklungen denkt!

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  1. Schülerleistungen und Lehrmittel

Ausgangssituation für die Untersuchung war das tiefe Niveau im britischen Mathematikunterricht. Das schlechte Abschneiden der britischen Kinder war beim International Assessment of Educational Progress (IAEP) in den Jahren 1964, 1981 und 1991 offenkundig geworden Aus diesem Grund konnten im Unterschied zum Kontinent zu wenig genügend ausgebildete und geeignete Schulabgänger für einen technischen Lehrberuf gefunden werden. Schweizer Schüler waren am Ende der Primarschule den britischen um 1 bis 2 Jahre voraus, obschon die britischen Kinder 18 Monate länger beschult worden waren.

«Zählen und Rechnen ist der Grund aller Ordnung im Kopfe.» Johann Heinrich Pestalozzi

Man forderte einen verbesserten Mathematikunterricht: „Zurück zu den Grundlagen“ und „vermehrter Ganzklassenunterricht“ wurden als Mittel zur Hebung der Leistungen in Grossbritannien empfohlen. Aber die Probleme waren zu komplex, um sie mit einzelnen Massnahmen beheben zu können.

Es zeigte sich, dass wesentliche Unterschiede im Aufbau und Inhalt, aber auch der Verbindlichkeit von Lehrmitteln in Grossbritannien und dem Kontinent bestanden.

Es brauchte eine detaillierte Analyse beim Vergleich zwischen dem englischen und kontinentalen Mathematikunterricht, die mit dieser Studie unternommen wurde. Untersucht wurden Lehrmethoden und Klassenraumorganisation, Inhalt und Struktur der Lektionen, die Mathematik im Lehrplan, usw.  So wurde das Ganzklassensetting zum Gegenstand der wissenschaftlicher Untersuchung: Die Beziehungsgestaltung zwischen Lehrpersonen und Schülern, die Interaktionen der Schüler bei der gemeinsamen Erarbeitung des Lernstoffs und die Grundlagen dieser Lehrmethoden. Das führte bereits zu wesentlichen, aber noch nicht ausreichenden Verbesserungen. Deshalb wurden auch die Lehrmittel Gegenstand der Forschung und es zeigte sich, dass wesentliche Unterschiede im Aufbau und Inhalt, aber auch der Verbindlichkeit von Lehrmitteln in Grossbritannien und dem Kontinent bestanden.

Die Schüler mussten während eines grossen Teils des Unterrichts für sich alleine lernen. Sie waren darum viel mehr von der Qualität ihrer Lehrbücher abhängig als für die Schüler auf dem Kontinent.

Die Rolle der Lehrbücher in Grossbritannien und auf dem Kontinent

Die britischen Lehrbücher brauchten, im Gegensatz zum Kontinent, keine offizielle Genehmigung. Auf dem Kontinent stützte man sich mehr auf die offiziellen Lehrbücher, die sich auf eine bestimmte Altersgruppe ausrichteten und gerade in der Schweiz unter Mitarbeit von erfahrenen Lehrpersonen ausgearbeitet und begutachtet wurden. Britische Lehrer und Pädagogen gingen jedoch davon aus, dass Lehrmittel lediglich die Grundlage lieferten, die jeweils auf die speziellen Bedürfnissen jeder einzelnen Klasse und sogar jedes einzelnen Schülers ausgerichtet werden sollten. Von jeder Schule in England wurde erwartet, dass  sie ihr eigenes Arbeitsprogramm erstellte, in dem die Einzelheiten der Umsetzung des nationalen Lehrplans festgelegt wurden. Kommerzielle Schulbücher wurden als Ideenlieferant für das Arbeitsprogramm verwendet. Von den einzelnen Klassenlehrern wurde erwartet, dass sie ihr eigenes Lehrmaterial aufgrund des Arbeitsprogrammes zusammenstellten. Die Arbeitsprogramme zwischen einzelnen Schulen variierten deshalb viel stärker als auf dem Kontinent und es existierten sehr viele unterschiedliche Lernprogramme. Als wichtiger Faktor erwies sich auch das Zusammenwirken der

In den englischen Schulen wurde vorwiegend mit individualisierenden Lehrmethoden gearbeitet

Lehrmethoden mit diesen Lehrprogrammen. In den englischen Schulen wurde vorwiegend mit individualisierenden Lehrmethoden gearbeitet. Die englischen Lehrer verwendeten die meiste Zeit individuell mit einzelnen Schülern und hatten nur ein paar Minuten Kontakt mit jedem Schülern. Die Schüler mussten deshalb während eines grossen Teils des Unterrichts für sich alleine lernen. Sie waren darum viel mehr von der Qualität ihrer Lehrbücher abhängig als für die Schüler auf dem Kontinent. Gerade deshalb wären klar strukturierte und kleinschrittig und logisch aufgebaute Lehrmittel mit verständlichen Anleitungen sehr wichtig gewesen. Solche fehlten aber, was sich ebenfalls als Grund für das tiefe Niveau im Mathematikunterricht herausstellte.

Im Unterschied dazu waren damals in Deutschland und der Schweiz Do-it-yourself-Lehrmaterial nicht als Hauptbestandteil des Unterrichts erlaubt, sondern man verwendete von der Bildungsbehörden anerkannte Lehrbücher. In beiden Ländern war ein Lehrbuch pro jedes Schuljahr üblich, von dem jeder Schüler ein Exemplar zur persönlichen Verfügung besass. Lehrbücher setzten die Inhalte des Lehrplans unterrichtsbezogen um. In dem Sinne war der Lehrplan für die Lehrer auf dem Kontinent verbindlicher als für die britischen.

Lehrkräfte konnten sich auf den Unterricht konzentrieren

Wenn nötig, machten sie limitierte Anpassungen an die individuellen Bedürfnisse der Klasse, in dem sie gewisse Übungen ausliessen oder zusätzliches Material verwendeten. Die Lehrer auf dem Kontinent waren so nicht gezwungen, das „Rad neu zu erfinden“, um beinahe von Grund auf erarbeiten zu müssen, was sie unterrichten sollten. Sie konzentrierten ihre Kräfte darauf, wie sie den Unterricht am besten mit Hilfe der Lehrbücher und dem Lehrerhandbuch gestalten konnten. Im Lehrerhandbuch gab es Unterrichtsvorschläge für fast jede Seite des Schülerlehrbuchs, detaillierte Lernziele und einen Jahresplan mit den Schülerbuchseiten, die in jeder Woche abgearbeitet werden sollten.

«Die Mathematik ist eine wunderbare Lehrerin für die Kunst, die Gedanken zu ordnen, Unsinn zu beseitigen und Klarheit zu schaffen.» Jean-Henri Fabre (1823–1915)

Die englischen Lehrer hingegen mussten Empfehlungen des nationalen Lehrplans für „stimulierende“ Aktivitäten und „Untersuchungen“ und die Präsentierung von Mathematik als „Fun-Fach“ nachkommen. Im Gegensatz zum Kontinent ging es nicht in erster Linie darum, mit den Übungen und Aktivitäten im Lehrbuch ein tiefes Verständnis der mathematischen Grundlagen und deren Beherrschung zu ermöglichen.

Im Rahmen dieser Studie besuchte Lehrpersonen aus der Schweiz englische Primarschulen. Für sie waren die Defizite der Mathematiklehrbücher einer der wichtigsten Faktoren für die schlechten Leistungen der englischen Schüler. Verstärkt wurde dieses Problem durch die didaktische Form des Unterrichts, die wiederum stark durch die Lehrmittel beeinflusst waren.

Bildungsforschung

In Deutschland gab es eine lange Tradition detaillierter wissenschaftlicher Forschung über die besten Möglichkeiten, den Unterricht spezifischer mathematischer Grundkonzepte anzugehen und zu strukturieren, wie die Addition und Subtraktion von Zahlen bis 20, die Einführung der Multiplikation usw. Das Forschungsziel war, sicherstellen, dass nicht nur die besten 10-20 Prozent, sondern auch die übrigen 80 Prozent einer Klasse das Lehrplanziel ihres Schuljahres im Wesentlichen beherrschen. Das war genau das Problem in Grossbritannien, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Die Forschung hatte einen starken Einfluss auf die kontinentalen Lehrbücher, wobei die Forscher manchmal auch deren Autoren waren.

In angloamerikanischen Schriften wurden generelle Prinzipien abgehandelt, wie ein „gut-strukturiertes Fundament für mathematischen Grundlagen legen“, die „Abhängigkeit der Schüler vom Lehrer verringern“ usw. Vor- und Nachteile verschiedener Ansätze wurden selten diskutiert.

Rechnen mit Rechner oder Fingern

In der hier thematisierten Studie wurden die in englischen, deutschen und Schweizer Primarschulen gebräuchlichen Lehrbücher für Schüler im Alter von ungefähr acht Jahren miteinander verglichen. Der Fokus lag beim Übergang von der Arbeit mit Zahlen bis 20, die von den englischen Erstklässlern mit Fingern oder dem Rechner ausgeführt werden, zur Arbeit mit zweistelligen Zahlen bis 100. Hier wurden die Unterschiede zwischen dem britischen und kontinentalen Unterrichtsansatz besser sichtbar und sie konnten bis zur eigentlichen Einführung der Zahlen bei den Schülern zurückverfolgt werden.

  1. Allgemeine inhaltliche Merkmale englischer und kontinentaler Mathematiklehrbücher

Grösse der Lehrbücher und Anzahl Übungen

Englische Mathematikbücher: umfangreicher, zersplitteter

Auf dem Kontinent erhielt ein Schüler ein Schulbuch pro Fach und Jahr, das den Lernstoff enthielt, der in diesem Jahr gelernt werden musste. Der englische Schüler erhielt zwischen zwei und vier dünne Schul- oder Arbeitsbücher pro Jahr. Die durchschnittliche Seitenzahl der englischen Bücher war ein Drittel grösser (rund 150 gegenüber 110 Seiten). Die Schulbücher auf dem Kontinent waren dichter gedruckt und enthielten rund drei Mal mehr Übungen und Aktivitäten (rund 4500) als die englischen (rund 1500). Der Lehrer auf dem Kontinent hatte eine grössere Auswahl an Übungen in verschiedenen Schwierigkeitsgraden, die er an die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Schüler anpassen konnte. In England wurde weniger darauf geachtet, dass so viel geübt wurde, bis der Stoff beherrscht wurde. Auf dem Kontinent wurde etwa 3 bis 5 Mal mehr Zeit für Übungen und Festigung des bereits eingeführten Mathematik-Stoffes verwendet als für die Einführung von neuem.

Betonung der Arithmetik

Während die mathematischen Themen in den Schulbüchern in allen drei Ländern ungefähr die gleichen waren, wich die Schwerpunktsetzung in England ab. Für deutsche und Schweizer Mathematikbücher war die Beherrschung der arithmetischen Grundlagen von höchster Wichtigkeit.  Sie forderten von achtjährigen Schülern (bei siebenjährigen bis 20) ein gründliches Erfassen ganzer Zahlen bis 100 (Erarbeitung des Zahlenraums) inklusive ihrer Beziehungen zu einander und den arithmetischen Operationen mit ihnen.

Weniger Zeit für Zahlenarbeit in England

In England waren die fünf Lehrplanziele (Verwendung und Anwendung von Mathematik, Zahl, Algebra, Form und Raum, Umgang mit Daten) vom Lehrer gleich zu gewichten, so dass nur ein Fünftel der Zeit für Zahlenarbeit reserviert war. In den englischen Lehrbüchern und Praxis wurde dafür etwa 50 Prozent der Zeit aufgewendet, während es in den deutschen und Schweizer Lehrbüchern über 80 Prozent waren.  Diese Differenzen zeigten, was bei der Gewichtung im englischen Mathematiklehrplan geändert werden müsste.

Alles, was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch. René Descartes (1596–1656)

 

Häufigkeit des Themenwechsels

Ein grösserer Unterschied zwischen den englischen und kontinentalen Lehrbüchern lag in der Reihenfolge der Themen. In englischen Schulbüchern gab es relativ schnelle Wechsel zwischen den Themen, während die kontinentalen grössere zusammenhängende Blöcke zu einem Thema hatten, die in zunehmender Tiefe und Komplexität behandelt wurden, bevor man zum nächsten Thema schritt. In englischen Schulbüchern wechselten die Themen 25 bis 30 Mal pro Jahr, in kontinentalen rund 10 Mal. Ein Thema wurde in den kontinentalen Schulbüchern durchschnittlich auf 12 fortlaufende Seiten behandelt (für Zahlen 16, für Längen und Zeit 5). In englischen Schulbüchern gab es durchschnittlich nur 6 fortlaufende Seiten pro Thema. Schüler auf dem Kontinent hatten damit 6 Mal mehr Übungen zur Verfügung als englische.

Von den einfachen zu den schwierigen Aufgaben

Die stark segmentierte Struktur englischer Schulbücher war mit viel Repetition verbunden, der Fokus lag weniger auf den weiterführenden Schritten oder auf einer gründlichen Festigung des Stoffes. Bereits abgehandelte einfache Grundlagen erschienen immer wieder, während schwierigere Aufgaben, welche ein Verständnis der Grundlagen voraussetzten, oft eingeführt wurden, bevor die Grundlagen beherrscht wurden. In deutschen und Schweizer Schulbüchern wurde ein eingeführtes Thema gründlich gefestigt und es war selbstverständlich, dass danach nur noch limitierte Repetitionen nötig waren. Schwierigere Aufgaben wurden erst eingeführt, wenn man davon ausgehen konnte, dass die grosse Mehrheit der Schüler die einfacheren beherrschten. Die limitierten Repetitionen auf dem Kontinent glichen in keiner Weise den Mehrfachwiederholungen und den unsystematischen Sprüngen zwischen den Themen in den englischen Schulbüchern, bei denen es keinen systematischen Verlauf von den einfachen zu den schwierigeren Aufgaben gab.

  1. Einführung in einen Zahlenbereich

Bei einer der entscheidenden Etappe zur Schaffung der Grundlagen des mathematischen Verständnisses und Kompetenz differierten die kontinentalen und britischen Unterrichtspraktiken in verschiedenen wichtigen Punkten: Das waren der von den kontinentalen Pädagogen entwickelte detailliertere Schritt-für-Schritt Ansatz für das Lernen und Üben, die Verwendung von Standards und abgekürzten Rechnungsmethoden, die Rolle des Übens und der Festigung, die Verwendung von konkretem Material und die Effizienz alternativer Methoden des Auswendiglernens (Kopfrechnen).

In England wurde viel Wert auf das „Entdecken von Lernmethoden“ gelegt, während die direkte Erfahrung bei der Verwendung von Zahlen beim Rechnen (im Unterschied zum blossen Zählen), um ihr Verständnis von Zahlen und ihrer Beziehungen zu einander zu fördern, keine Priorität hatte.

In England wurde der Zahlenraum zwischen 20 und 100 im Alter von sieben Jahren eingeführt, ein Jahr früher als auf dem Kontinent, wo die Schüler auch ein Jahr später mit der Schule begannen. In England wurde viel Wert auf das „Entdecken von Lernmethoden“ gelegt, während die direkte Erfahrung bei der Verwendung von Zahlen beim Rechnen (im Unterschied zum blossen Zählen), um ihr Verständnis von Zahlen und ihrer Beziehungen zu einander zu fördern, keine Priorität hatte.

Konkretisierung (Verständnis, Vorstellung, Begriff) von Zahlen und Stellenwert

Die ungenügende Vorstellung von Zahlen bei britischen Schülern konnte darauf zurückgeführt werden, wie sie mit den Zahlen von 20 bis 100 nach der Einführung vertraut (Festigungsphase) gemacht wurden. Dabei spielte in England das Stellenwert-Konzept (place-value) eine wichtige Rolle. Zum Beispiel wurde die Zahl 52, aus 5 Zehnern und 2 Einern zusammengesetzt.  Auf dem Kontinent wurde 52 als die Zahl 50 plus 2 geübt. Die englischen Schüler zählten die Einer, um die Zehner zu finden während auf dem Kontinent in Zehnern gezählt wurde. Für den englischen Schüler war die Zahl 52 aus 5 und 2 zusammengesetzt, sie rechneten im Kopf nicht mit Mehrfachen von 10, was häufig zu Fehlern und Langsamkeit führte. Auf dem Kontinent verstanden die Schüler 52 als 2 mehr als 50.

Reihenfolge der Zahlen

Im Gegensatz zu England war für die Schulbuchautoren auf dem Kontinent die Ordnung der Zahlen wichtig für die Entwicklung des Verständnisses und der Vorstellung von Zahlen. Englische Schulbücher enthielten keine Übersichtsillustrationen und auch keine visuellen Hilfen (100er Quadrat, Zahlenband) über den neuen Zahlenbereich (1-100). Die Schüler auf dem Kontinent wurden nicht in die grösseren Zahlen eingeführt, bis sie die kleineren Zahlen sicher beherrschten. In englischen Schulbüchern fehlte eine komplette Übersicht über den neuen Zahlenbereich und es hatte kaum Aufgaben zur Einführung und Orientierung.

Quellen:

Helvia Bierhoff: Laying the Foundations of Numeracy: a comparison of primary school textbooks in Britain, Germany and Switzerland. Discussion Paper no. 90, National Institute of Economic and Social Research, London January 1996.

Helvia Bierhoff, S. J. Prais: From School to Productive Work: Britain and Switzerland Compared, University Press, Cambridge 1997.

 

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Krise der Imagination https://condorcet.ch/2019/12/krise-der-imagination/ https://condorcet.ch/2019/12/krise-der-imagination/#respond Sun, 29 Dec 2019 20:22:40 +0000 https://condorcet.ch/?p=3510

«Die digitalen Medien prägen unsere Welt auf umfassende Weise. Bildung bedeutet heute umso mehr, sich von ihrer Dominanz zu lösen», schreibt der Bildungswissenschaftler und Professor der Universität Zürich Roland Reichenbach in seinem Beitrag, den er uns zur Verfügung gestellt hat.

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Professor Roland Reichenbach: Schwarz und weiss, dazwischen gibt es nichts.

Überall «Digitalisierung» – man kann das Wort kaum noch hören. «Facebook liefert die Traumwohnung, Wikipedia die Bildung, LinkedIn den Job, Tinder die Liebe, Twitter die Anerkennung und Youtube macht uns alle zum Star», so Milos Matuschek kürzlich in der NZZ. Die Auswirkungen der Digitalisierung sind «offenbar selbst digital, schwarz und weiss, dazwischen gibt es nichts», hielten Kathrin Passig und Aleks Scholz 2015 in der Zeitschrift «Merkur» fest. Natürlich sei auch das Lernen heute «digital» oder hätte es zu sein, heisst es. Schleierhaft bleibt in der warmen Luft dieses aufdringlichen Diskurses, wie man sich digitale Lernprozesse in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler vorstellen soll.

Die Formel «gerade ein ressourcenarmes Land wie die Schweiz» ist immer passend, wenn Dringlichkeit suggeriert werden soll.

«Gerade für ein ressourcenarmes Land wie die Schweiz ist es wichtig, die Chancen, die sich durch die Digi­talisierung ergeben, bestmöglich zu nutzen», schreibt das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco. Die Armut an natürli­chen Rohstoffen wird immer wieder herangezogen, wenn es um die Bildung geht. Die Bildung, heisst es dann, sei unser Rohstoff beziehungsweise Rohstoffersatz. Wie schade, dass die Schweiz nicht über Erdöl oder wenigstens beispielsweise Zink oder Nickel verfügt, denn wie viele Bildungsanstren­gungen könnten den Schulkindern und Jugendlichen erspart bleiben! Aber ohne natürliche Rohstoffe ist das digi­tale Lernen natürlich unausweichlich. Die Formel «gerade ein ressourcenarmes Land wie die Schweiz» ist immer passend, wenn Dringlichkeit suggeriert werden soll. Also: Die Kinder eines ressourcenarmen Landes sollten keine Gedichte mehr auswendig lernen oder Berg­ und Flussna­men büffeln, sondern vielmehr «digital befähigt» werden.

Mit Sätzlirechnungen zu Äpfeln und Birnen, obsoleter Schönschrift, Aufsätzen über Ferienerleb­nisse, Singen von Quodlibets und altertümlichen Kanons sowie Waldexkursionen werden sie in dieser komplexen Umbruchswelt offenbar nicht bestehen können.

Sätzlirechnungen und Schönschrift

Die Zukunft ist ja digital.

Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innova­tion (SBFI) und die Schweizerische Konferenz der kantona­len Erziehungsdirektoren (EDK) haben die educa.ch mit der Leitung der «Fachagentur für ICT und Bildung» beauftragt. Und aus dieser Fachagentur ist zu vernehmen: «Aufgabe der Schule ist es, Kinder und Jugendliche auf lebenslanges Lernen, eine immer komplexere Gesellschaft und eine Arbeitswelt in dauerndem Umbruch vorzubereiten.» Also schauen wir uns diese kindlichen und jugendlichen Kandi­datinnen und Kandidaten des lebenslangen Lernens in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft, die sich in dauerndem Umbruch befindet, genauer an und überlegen, was sie lernen sollen. Mit Sätzlirechnungen zu Äpfeln und Birnen, obsoleter Schönschrift, Aufsätzen über Ferienerleb­nisse, Singen von Quodlibets und altertümlichen Kanons sowie Waldexkursionen werden sie in dieser komplexen Umbruchswelt offenbar nicht bestehen können. Denn die Welt ist ja digitalisiert und das Lernen mit dazu.

In «20 Minuten» wurde ein «Bildungsexperte» Ende Oktober 2016 gefragt, ob sich die Eltern zu Recht gegen das Auswendiglernen wehren würden. Der Bildungsexperte: «Ja, das klassische Auswendiglernen hat ausgedient. Anstatt wie früher die Namen von Flüssen und Hauptstädten zu pauken, sollten Schüler lernen, wie sie Informationen finden und welchen Quellen sie wie stark vertrauen können. Digital­kunde und richtiges Googeln sollten Schulfächer werden. Ansonsten drohen die Schüler in der Informationslawine zu ersticken.»

20 Minuten: «Warum ist das so?»

Bildungsexperte: «Die Menge an verfügbarem Wissen wächst immer schneller. Heute verdoppelt sie sich jedes Jahr, in zehn Jahren täglich. Wenn Schüler dann etwas auswendig lernen, ist es bereits veraltet, wenn es zur grossen Pause läutet.»

20 Minuten: «Also bleibt Schülern das Lernen von Franzwörtli bald erspart?»

Bildungsexperte: «Leider nicht. Damit man eine Sprache fliessend sprechen kann, ist es selbstverständlich notwendig, dass man über einen Wortschatz verfügt, den man sofort abrufen kann und nicht erst googeln muss. Ganz erspart bleibt den Schülern das Lernen also nicht.»

Bemerkens­wert ist aber auch, dass die Namen der Flüsse und Haupt­städte so schnell veralten. Da sollte man sie besser gar nicht auswendig lernen.

Es ist natürlich wirklich enttäuschend, dass trotz Google noch weiterhin gelernt werden muss! Bemerkens­wert ist aber auch, dass die Namen der Flüsse und Haupt­städte so schnell veralten. Da sollte man sie besser gar nicht auswendig lernen. Ob die brutale Halbwertszeit auch die binomischen Formeln oder den Subjonctif erfasst? Stimmt, selbst die Grammatik und Satzstruktur sowie das Vokabu­lar ändern sich ja sehr schnell, jedenfalls kommt es einem so vor, wenn man manchen Studierenden zuhört oder kor­rigieren muss, was sie geschrieben haben: Das sind ganz neue Ausdrucksweisen, da gibt es Satzzeichen mit bisher unbekannten oder auch ohne Funktionen, Substantive werden klein­ oder grossgeschrieben, je nachdem, das ist heute flexibler, die Sprache ist ja sehr lebendig.

Analoge Schüler mit Wandtafeldienst

Die Wandtafel speichert nichts.

Vor einiger Zeit gab es noch analoge schwarze Tafeln in diesen analogen Schulzimmern, dazu analoge weisse und farbige Kreide. Ein paar analoge Schüler hatten «Wandtafel­dienst», sie mussten die Tafeln immer wieder putzen, das heisst «deleten». Der geschriebene Text oder die Kreide­zeichnung verschwanden jeweils für immer. Die Wandtafel speicherte nichts. Dafür wurde abgeschrieben, abgezeich­net. Die Klasse behandelt das Thema «Hund», die Lehrerin hat am Vorabend einen Hund an die Tafel gemalt, das dauerte, sie hat sich Mühe gegeben. Man erkennt, es ist ein Hund, allerdings ein mittelmässiger Hund. Am nächsten Morgen werden die Tafelflügel geöffnet, eine Art theatrali­sche Inszenierung, und der mittelmässige Hund erscheint. Die Kinder sind beeindruckt: Erstens ist es ein Hund, zwei­tens möchten sie auch so zeichnen können. Später weigern sich die Schüler des Wandtafeldienstes, den Hund wegzuwischen, denn er wird für immer verschwinden. In der Stunde zeichnen die Kinder den Hund in ihre Hefte, das sieht noch mittelmässiger aus, aber sie sind ganz bei der Sache und geben sich Mühe, wie abends zuvor die Lehrerin.

Der schulische IT-Diskurs ist von neomanischem Gerede geprägt: Neu ist besser – und niemand weiss warum.

Hinsehen, um etwas zu reproduzieren, ist etwas ganz anderes, als nur zu schauen. Doch es gibt ja gute Filme über Hunde, Hunderassen, Hundedressur, den vielfältigen Einsatz von Hunden für den Menschen, was man will, Tau­sende von attraktiven Bildern; aber die Kinder wollen nicht, dass dieser im Grunde mickrige Kreidehund gelöscht wird. Es ist, als ob sie mehreren Umständen Anerkennung zollen würden: dass es diesen Hund nur einmal gibt und nur kurz, dass die Lehrerin ihn allein für sie gezeichnet hat, dass sie sich offenbar Mühe gegeben hat, dass sie Zeit «verloren» hat. Sie hätte effizienter sein können, Arbeitsblätter oder ein Film wären informativer gewesen, vielleicht hätten die Kinder auch inhaltlich mehr gelernt. Hier aber haben sie gemerkt: Die Lehrerin investiert viel Zeit in uns, und sicher mag sie Hunde.

Einbilden und erinnern

Lehrmittel zeigen nicht nur die Sache, sondern geben auch Auskunft über die Beziehung zwischen der Lehrperson und den Schülern. Die Lehrmittel sollen den Lernprozess erleichtern, allenfalls zunächst einmal stimulieren.

Etwas veranschaulichen heisst, ein Wissen vor Augen zu führen, damit der Lerner einsichtig werden möge oder zumindest einen Einblick in die Materie erhalte.

Die Lehrmittel sollen den Lernprozess erleichtern, allenfalls zunächst einmal stimulieren.

Während die Lehrmittel der Welt des Sichtbaren zugehö­ren, ist und bleibt der Kern des Lernens unsichtbar. Die Funktion der Lehrmittel ist das Sichtbarmachen dessen, was gelernt werden soll. Etwas veranschaulichen heisst, ein Wissen vor Augen zu führen, damit der Lerner einsichtig werden möge oder zumindest einen Einblick in die Materie erhalte. Die Grundfunktionen von Lehrmitteln sind die Vergegenwärtigungsfunktion und die Kommunikations­funktion. Abwesende/s präsent machen. In der Lehre hat Vergegenwärtigung oft Abbildcharakter, ein nicht präsenter Teil der Welt (des Wissens) wird abgebildet, um einen Zugang zu ihm zu erhalten oder zu simulieren.

Schule dient dazu, die Ver­mögen der Einbildung und des Erinnerns zu stärken, ohne die kulturelle Transmission nicht denkbar ist.

Ein Gegenstand ist allerdings erst dann verstanden, wenn der Lerner sich von diesem Abbild lösen und die Bildlichkeit des Wissens selber erzeugen kann. Das geht nicht ohne Imagination und Erinnerung. Schule dient dazu, die Ver­mögen der Einbildung und des Erinnerns zu stärken, ohne die kulturelle Transmission nicht denkbar ist. Die Kommu­nikationsfunktion dient der Herstellung der Präsenz und Sichtbarkeit von Personen. Virtuelle Lernräume ermögli­chen dies zeitnah und über Distanz und teilweise in schein­barer Unmittelbarkeit.

Sinn und Kohärenz herstellen

Nun sind mit den digitalen Medien beide Funktionen, Ver­gegenwärtigung und Kommunikation, sowohl hinsichtlich Effektivität als auch Effizienz gesteigert und erleichtert worden. Das ist zu begrüssen. Und das medientechnologi­sche Potenzial wird weiter optimiert werden können. Doch unabhängig von Vergegenwärtigung und Kommunikation muss weiterhin gelernt – Wissen und Können angeeignet – werden, und kein noch so raffiniertes Lehrmittel entlastet den Lerner von dieser Aufgabe, aber es mag sie erleichtern. Erleichterung und Optimierung sind gutzuheissen.

Es darf viel behauptet werden.

Kriti­sche Nachfragen beziehen sich auf nicht intendierte Nebeneffekte und die Voraussetzungen günstiger Nutzung von digitalen Medien. Analysen der Technologiefolgen gehören zur reflexiven Moderne. Allerdings sind Wirkungs­analysen höchst komplex, oft unmöglich, und es darf viel behauptet werden, was der empirischen Belegbarkeit ent­behrt. Doch aus einer pädagogischen und bildungstheoreti­schen Perspektive auf Lehre und Unterricht ist der schulische IT­-Diskurs vor allem von neomanischem Gerede geprägt: Neu ist besser – und niemand weiss warum. Ver­gessen wird, dass es (auch) beim schulischen Lernen vor allem auf das Üben ankommt. Mit oder ohne digitale Medien, Üben ist mit Anstrengung verbunden.

Nun sagt man zu Recht, es komme auf den Einsatz der digitalen Medien, auf den Umgang mit ihnen an. Das ist eine oberflächliche, aber gutgemeinte Empfehlung. Viel­ mehr kommt es auf die Voraussetzungen der Lernenden an, ihre Fähigkeit, Sinn und Kohärenz hinter den (oft zu) schnellen Oberflächen herzustellen. Dazu sind Imagina­tions-­ und Erinnerungsfähigkeiten sowie ein Ethos der Anstrengung vonnöten, beim kleinen Schüler ebenso wie bei den Studierenden. Die digitalen Medien prägen unsere Welt auf umfassende Weise. Bildung bedeutet heute umso mehr, sich von ihrer Dominanz zu lösen. Die Krise der Ima­gination hat auch mit der aufdringlichen Präsenz von digi­talen Medien im Kinder­- und im Klassenzimmer zu tun.

Schule und Ausbildung wären die Orte, dieser Krise zu begegnen, statt sie mit naivem Digi­Tech-Optimismus vor­anzutreiben.

 

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