Sprache - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 23 Apr 2024 07:05:14 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Sprache - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Frühjahrsputz im Bildungswesen: Was muss weg? Was muss her? https://condorcet.ch/2024/04/fruehjahrsputz-im-bildungswesen-was-muss-weg-was-muss-her/ https://condorcet.ch/2024/04/fruehjahrsputz-im-bildungswesen-was-muss-weg-was-muss-her/#comments Tue, 23 Apr 2024 07:05:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=16563

Viele neue Lernkonzepte entmutigen die Schüler und verringern ihre Kompetenzen. Daher wäre es richtig, ein paar bewährte Bildungsprinzipien zu rehabilitieren. Und zwar in Kombination mit modernsten Mitteln. Die Heilpädagogin und Dozentin Mirjam Stiehler nimmt sich im 5. Teil ihrer Kritik am deutschen Bildungssystem diesmal die Bildungsforscher und -planer vor. Vom Kindergarten bis zum Abitur hat ein ideologisch begründeter Wandel stattgefunden, der die Qualität von Erziehung und Unterricht gesenkt hat. Die Einstellungen der Bildungspolitiker und -forscher müssen sich ändern, damit unsere Kinder wieder etwas Handfestes lernen können.

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Neue Besen kehren gut. Aber die alten wissen, wo der Dreck sitzt! Das gilt in vielerlei Hinsicht für unsere Schulen. Bevor es nun heißt, die Stiehler will zurück zur Rohrstockpädagogik: Nichts läge mir ferner. Aber die neuen konzeptuellen Besen haben sich als fadenscheinige Waschlappen entpuppt, die Schüler entmutigen und Kompetenzen verringern statt aufzubauen.

Gastautorin Mirjam Stiehler, Heilpädagogin, Dozentin und Schulleiterin

Daher sollten wir ein paar bewährte Bildungsprinzipien rehabilitieren. Und zwar in Kombination mit modernsten Mitteln – für mich ist es kein Widerspruch, gezielte Diktate und zugleich die Messung der Lesegeschwindigkeit einzuführen; mehr Handschrift zu fordern und zugleich das elende Vokabelheft flächendeckend durch Apps abzulösen; Schüler gezielt nach Leistungsfähigkeit zu gruppieren, aber zugleich die Anwesenheitspflicht durch eine Lernpflicht zu ersetzen.

Es geht mir nicht um eine Methodensammlung, sondern ein grundlegendes Umdenken: Nicht nur “Was müssen wir tun?”, sondern auch “Wie müssen wir sein?” (Paul Moor). Das Leitprinzip darf nicht länger Unlustvermeidung sein, sondern Mut zur Tatkraft und zur Leistung. Solches Umdenken ist nicht für Geld zu haben. Es erfordert eine veränderte Einstellung von der Schwangerschaft bis zum Abitur, und zwar bei einer Mehrheit von Bildungspolitikern, Eltern, Ärzten und Pädagogen. Dieses Umdenken müsste sich in konkreten Änderungen zeigen:

Selbsterziehung der Eltern von Tag 1 an fördern

Viele frischgebackene Eltern können schlecht unterscheiden, ob ihr Kind aus Unlust, Trauer oder Angst schreit. Sie glauben, gute Eltern dürften ihren Kindern keine dieser Emotionen zumuten. Angst und Trauer sollten tatsächlich die Ausnahme sein – das Erleben und Aushalten von Unlust hingegen ist notwendig und erstrebenswert, denn Unlust gelassen auszuhalten ist Frustrations-Toleranz. Es ist so unvermeidbar wie harmlos, seinem Kind täglich vielfach Unlust zu bereiten, denn Kinder sind zunächst sehr lustgetriebene Wesen. Sie müssen erst lernen, einem größeren Ziel zuliebe auf Triebbefriedigungen zu warten oder zu verzichten.

Das Leitprinzip darf nicht länger Unlustvermeidung sein, sondern Mut zur Tatkraft und zur Leistung. Solches Umdenken ist nicht für Geld zu haben.

 

In diesem Sinne müssen Hebammen aufhören, die Mär vom Stillen und Schlafen nach Bedarf zu verbreiten. Wir müssen kindliche Antriebe mit Maß und Rhythmus befriedigen, damit Kinder Resilienz entwickeln. Eltern müssen Taktgeber sein, denn berechenbare Rhythmen geben seelischen Halt – und nur wer ausgeschlafen ist, kann sich kognitiv gut entwickeln.

Kinderärzte müssen aufhören, Bachblüten und Globuli zu verkaufen und Eltern davor warnen, beim Sturz aufs Knie dramatisch die Rescue-Creme zu zücken. Ein Pflaster und ein aufmunterndes Wort stärken. Wer immer gleich Tabletten einwirft, fokussiert auf sein Leid. Hospitäler sollten Schwangeren weder den Wunschkaiserschnitt noch die PDA pauschal andienen, denn auch elterliche Resilienz ist ein hohes Gut.

Ich spreche hier nicht von Notfällen, sondern ganz normalen Schwangerschaften. Die Vorbereitung auf eine natürliche Geburt hilft Eltern bei der Selbsterziehung, bei ihrem eigenen Umgang mit Unlust und Ängsten, bei der Abkehr von einer Full-Service-Mentalität. Und nur wer sich selbst erzieht, kann andere erziehen.

KiTas: Weniger Wohlstandsverwahrlosung, mehr Qualität

Im Kindergarten ist eine Abkehr vom Situationsansatz, von “romantischen Vorstellungen” und falsch verstandenem Konstruktivismus nötig (Verbeek). Konzepte, die den Erzieher zur Passivität verurteilen, führen zu einer “für das Kindeswohl gefährlichen Mischung zwischen Verwöhnung und Vernachlässigung” (ebd. 99). Wir brauchen nicht bloß mehr Personal, sondern klügeres, leistungsbereiteres und kenntnisreicheres. Prof. Veronika Verbeek bildet seit 30 Jahren Fachkräfte für KiTas aus und konstatiert, dass dem Gros der Fachkräfte die Anstrengungsbereitschaft und die kognitiven Kompetenzen fehlen, um in ihrem Fach schlussfolgernd zu denken oder wichtige Konzepte in die Anwendung zu übertragen (ebd. 160).

Werden Kinder nur halbtags betreut, können Familien Mängel in der Betreuungsqualität ausgleichen. Aber weder Eltern noch KiTas sollten sich einbilden, dass man neun Stunden Betreuung anbieten kann, ohne systematischer Elternersatz zu sein. Ganztägig betreute Kinder müssen vom Händewaschen bis zur deutschen Sprache fast alles in der KiTa lernen. Die meisten Eltern wollen ihr Kind in den verbleibenden drei Wachstunden “genießen”, statt die anstrengenden ungelösten Erziehungsaufgaben anzupacken oder mit ihm zu üben, wie man mit der Schere schneidet und Wörter reimt.

Wir brauchen nicht bloß mehr Personal, sondern klügeres, leistungsbereiteres und kenntnisreicheres.

 

Solange Kinder aber in der KiTa primär nach den Lustprinzip leben, sind sie am Abend besonders anstrengend, worauf viele Eltern wiederum mit Verwöhnung oder Ablenkung reagieren. Das verstärkt Egozentrik und narzisstische Überempfindlichkeit weiter, statt ein Gegengewicht zu schaffen. Wer zugunsten der Erziehungsarbeit beruflich nicht kürzer treten möchte, wäre oftmals mit einer ehrenamtlichen Tätigkeit oder einem Haustier besser bedient.

Sprachdefizite verschlimmern die Lage zusätzlich. Wer mit Kindern einwandern will, sollte deshalb vorher seine Deutschkenntnisse unter Beweis stellen müssen, und wer bereits hier lebt und Kindergeld beziehen will, erst recht. Anstatt zu versuchen, alles irgendwie aufzufangen, müssen wir ausländischen Eltern klar machen, dass Schulbildung ohne sehr gute Deutschkenntnisse einfach nicht machbar ist. Ich wandere auch nicht nach Gouadeloupe aus, ohne vorher mit meiner Familie Französisch zu lernen – Sprachlern-Apps und Lehrbücher gibt es genug.

Dass ich einen gewissen Kenntnisstand und ein eigenes Einkommen nachweisen muss, ehe ich Ressourcen des Gastlands nutzen darf, wäre nur logisch. Alternativ gibt es teure, private internationale Schulen. Wenn ich mir die nicht leisten kann und die Sprache nicht auf eigene Faust lernen möchte, scheidet das Einwanderungsziel aus.

Grundschulen: Lesen, Schreiben, Rechnen aus dem Effeff

Die Grundschulen müssen sich auf die Grundkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen zurückbesinnen und hier nicht bloß rudimentäre Kenntnisse, sondern felsenfeste Routine erreichen. Zusätzliche Stunden lassen sich gewinnen, indem man Religionsunterricht durch eine Stunde verbindlichen Ethikunterricht ersetzt und das in seiner Effektivität sehr umstrittene Frühenglisch streicht. Den Werkunterricht hingegen sollte man m.E. nicht kürzen wie in Bayern, sondern ausbauen, da handwerkliche Tätigkeiten wichtig sind und schon jetzt zu wenig Zeit ist, um ausgiebig zu üben und anschließend ein Werkstück anzufertigen, auf das man stolz sein kann.

Anstatt zu versuchen, alles irgendwie aufzufangen, müssen wir ausländischen Eltern klar machen, dass Schulbildung ohne sehr gute Deutschkenntnisse einfach nicht machbar ist.

 

Besonders die schwächeren Schüler sollten derweil in homogenen, aber durchlässigen Klassen gefördert werden, nicht in leistungsgemischten Klassen. Eine große soziologische Studie zeigt, dass dies negative Herkunftseffekte stark verringert. Bei intelligenteren Schülern hingegen können gemischte Gruppen förderlich sein, zumindest schaden sie weniger. Wo der Zugang zu den weiterführenden Schulen anhand von Leistung und Intelligenz streng geregelt ist, lernen die Kinder auf allen weiterführenden Schularten besser.

Ein Pilotversuch in Franken zeigte ganz konkret, dass Kinder mit Legasthenie-Diagnose innerhalb von nur einem Halbjahr einen normalen Leistungsstand im Lesen und Schreiben erreichten, also “geheilt” waren, sobald sie für drei Stunden pro Tag die Fördergruppe einer gut ausgebildeten Lehrkraft besuchen durften. Eltern, Lehrer und Schüler waren begeistert. Dennoch verbot das Kultusministerium die Fortsetzung dieser Fördermaßnahme, da sie “segregativ” sei und nicht mit der Inklusions-Ideologie vereinbar. Sprich: Was zählt, ist die irrationale Selbstdarstellung der Bildungspolitik und nicht der Lernerfolg der Kinder.

Sachgemäß statt spielerisch rechnen und schreiben

Im Bereich Mathematik sollten Experten aus der Dyskalkulie-Forschung an Unterrichtskonzepten mitarbeiten. Im ersten Halbjahr müssen alle Erstklässler das kleine EinsPlusEins und EinsMinusEins (1+ 9  = 10, 2 + 8 = 10…) auswendig beherrschen, ohne dabei zu zählen. Das Dezimalsystem muss als Prinzip und daher bis zur 100 im zweiten Halbjahr erarbeitet werden. Materialien wie Muggelsteine, die zum Zählen verleiten, sollten keinen Platz im Unterricht haben.

Was zählt, ist die irrationale Selbstdarstellung der Bildungspolitik und nicht der Lernerfolg der Kinder.

 

Die Handschrift muss gestärkt werden: Grundschüler schrieben in den 1960er Jahren etwa sieben Mal so viel wie heute pro Woche. Man weiß inzwischen, dass solche Routine die Auslastung des Gehirns um den Faktor 50 bis 100 senkt und Prüfungsangst verringert. Kinder müssen daher wieder wesentlich mehr schreiben, und zwar als Fließtext, anstatt Lücken auf Arbeitsblättern auszufüllen.

Nachschriften und Diktate sind zur Übung sehr sinnvoll, wenn in ihnen die aktuell thematisierte Rechtschreibregel sehr häufig vorkommt, aber wenige andere Schwierigkeiten. Dabei sollte die Rechtschreibung auf Basis von Ortho- und Basisgraphemen vermittelt werden, anstelle des Silbenkonzepts und des unkorrigierten Schreibens nach Gehör. Schüler müssen ab der 2. Klasse systematisch lernen, ihre eigenen Fehler zu analysieren und deren Schwere einzuschätzen.

In normalem Sprechtempo lesen lernen

Im Lesen muss ein verbindliches Ziel für die Lesegeschwindigkeit pro Trimester eingeführt werden. Aktuell kann die Mehrheit der Schüler nach vier Jahren Unterricht noch nicht einmal in normaler Sprechgeschwindigkeit lesen. Dieses Tempo entspricht 150 Wörtern pro Minute (WPM). Fleißige Leser erreichen dies bereits in der 2. Klasse, zum Ende der 4. Klasse muss es das Ziel für alle normal intelligenten Kindern sein.

Dazu sind wesentlich mehr verpflichtende Lesezeiten und eine strengere Regelung des Medienkonsums zuhause notwendig. In Sprechgeschwindigkeit lesen zu können ist sowohl entscheidend für das genussvolle, noch schnellere stille Lesen als auch für die Informationsaufnahme in der weiterführenden Schule. Nur, wer schneller als Sprechgeschwindigkeit liest, kann in einer Stunde das lesen, was andere aus drei Stunden Videos entnehmen.

Gezielte Förderung statt Medikalisierung

Eltern, Lehrer und Psychiater müssen sich bei der Diagnose von Legasthenie und Dyskalkulie stärker zurückhalten. Diese Diagnosen sind oft nicht kriteriumsgemäß, perpetuieren Lernrückstände und verstärken, im Sinne J. Haidts, das Selbstbild als machtloses Opfer. Wie man im o.g. Projekt sieht, kann man erfolgreich die Zuständigkeit fürs Lesen, Schreiben und Rechnen aus der Psychiatrie zurück an die Schulen verlagern, wo sie hingehört. Schließlich besteht die Therapie dieser “Störungen” ausschließlich in einem ermutigenden, qualifizierten Unterricht mit hohem Übungsanteil.

Es ist besser, an der Mittelschule der Klassenbeste zu sein als sich mit Gewalt durchs Gymnasium zu quälen.

 

Mit diesen Veränderungen würden wir erreichen, dass alle Kinder auf Basis ihrer angeborenen Möglichkeiten ein gutes Leistungsniveau erreichen und die weiterführende Schule wählen können, die zu ihnen passt. Wenn man die richtige weiterführende Schule gewählt hat, sollte man dort mit etwas Fleiß gute Noten erlangen. Es ist besser, an der Mittelschule der Klassenbeste zu sein als sich mit Gewalt durchs Gymnasium zu quälen. Für die weiterführenden Schulen wünsche ich mir noch radikalere Veränderungen – zu lesen im nächsten und letzten Teil dieser Serie.

 

Literatur:

Esser, Hartmut und Seuring, Julian: Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit. In: Zeitschrift für Soziologie 49, 2020.

Gaidoschik, Michael: Rechenschwäche – Dyskalkulie: Eine unterrichtspraktische Einführung für LehrerInnen und Eltern (1. bis 4. Klasse)

Moor, Paul: Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehrbuch. Bern, 1965

Thomé, Günther: Deutsche Orthographie – Historisch, systematisch, didaktisch. Oldenburg 2023

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“Es ist zum Teil erschreckend” https://condorcet.ch/2023/12/es-ist-zum-teil-erschreckend/ https://condorcet.ch/2023/12/es-ist-zum-teil-erschreckend/#comments Sun, 10 Dec 2023 07:49:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=15442

Eben ist der neue Pisa-Test herausgekommen. Die Leseleistung kletterte in der Schweiz zwar wieder über den OECD-Durchschnitt. Allerdings sank dieser im Vergleich zur letzten Studie vor vier Jahren deutlich. Die Leseleistung der Schulabgänger bleibt bedenklich. Schon frühere Ergebnisse zeigten: Fast jeder zweite Schulabgänger in der Schweiz kann kaum lesen. Warum ist das so? Sekundarlehrer Daniel Kachel erzählt von seinem Alltag. Journalistin Nadja Pastega hat seine Beobachtungen in einem Bericht aufgezeichnet, der in der Sonntagszeitung erschienen ist.

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Ich bin seit 23 Jahren Lehrer. Wenn ich gefragt werde, was sich in allen diesen Jahren stark verändert hat, muss ich sagen: die Beherrschung der Sprache. Machen junge Menschen heute wirklich mehr Rechtschreibfehler als früher, haben sie mehr Mühe mit dem Lesen, und können sie sich weniger gut ausdrücken? Meine Antwort: leider ja.

Gastautorin Nadja Pastega, Journalistin der Sonntagszeitung

Der Sprachgebrauch hat sich in den letzten Jahren geändert, auch zu Hause. Eltern reden weniger mit ihren Kindern. Das fängt schon damit an, dass Vater und Mutter den Kinderwagen stossen und am Handy-Bildschirm kleben, statt mit ihren Kindern zu reden. Wie soll der Nachwuchs so lernen, sich sprachlich auszudrücken?

Wenn die jungen Menschen dann später Konflikte haben, tragen sie das körperlich aus: “Ich muss dich jetzt würgen”, “ich kicke in dein Velo”. Wie anders sollen sie ihre Gefühlslage ausdrücken? Das haben sie nie gelernt.

Jüngst kam der neue Pisa-Test heraus. Die letzte Erhebung hat gezeigt, dass fast die Hälfte der 15-jährigen Schulabgänger so schlecht lesen können, dass sie für den Alltag nicht genügend gewappnet sind. Sie verstehen wichtige schriftliche Informationen nicht. Das hat sich in den letzten vier Jahren nicht wirklich verbessert – und betrifft längst nicht nur Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien, sondern auch “Einheimische”. Und es geht nicht nur um Sek-B- und -C-Schüler. Auch in den A-Klassen hapert es zum Teil gewaltig.

Schüleraufsatz zum Thema “Eine Übernachtung im Freien”, Oberstufe Bassersdorf ZH.

Wir versuchen alles, um Migrantenkindern Deutsch beizubringen. Sie bekommen entsprechenden Sprachunterricht. Oft ist es aber so, dass die zugewanderten Eltern zu Hause mit ihren Kindern kein Deutsch sprechen, weil sie den Bezug zu den eigenen Wurzeln vermitteln wollen.

Es gibt Schüler, deren Eltern schon länger in der Schweiz sind, die aber im Unterricht ständig nach einem “Translator!” rufen, einem Übersetzer.  Da muss ich dann auch mal sagen: Nein, es gibt jetzt keinen Übersetzer mehr – der Translator ist in deinem Kopf.

Das Problem: Deutschkenntnisse braucht man überall im Alltag, auch in der Schule. Nehmen wir den Mathematikunterricht. Da geht es heute nicht mehr nur um das Lösen von Stöckli-Rechnungen, es gibt auch Textaufgaben. Da scheitern manche Schülerinnen und Schüler schon daran, dass sie die Aufgabe rein sprachlich nicht verstehen.

Schüleraufsatz zum Thema “Ein Spitalbesuch”, Oberstufe Bassersdorf ZH.

Ich möchte nicht verallgemeinern. Es gibt Jugendliche, die es erfreulich gut machen. Aber zum Teil ist es erschreckend. Wir reden hier nicht von Adverbial- und Partizip-Konstruktionen. Sondern von Grundsätzen auf Deutsch. Wie etwa Rechtschreibung.

Orthografie? Who cares! Interpunktion? So was von gestern.

Die Schülerinnen und Schüler schreiben, wie sie denken und reden. Ohne Punkt und Komma. Und meist in Mundart. Gross- und Kleinschreibung? Kann man vergessen. Bei manchen Erwachsenen ist es heute auch nicht besser.

Da spüre ich als Lehrer auch die Folgen der sozialen Medien mit Kurznachrichten über Whatsapp. Man schaut weniger genau hin, was man geschrieben hat. Orthografie? Who cares! Interpunktion? So was von gestern.

Regelmässiges Lesen wäre wichtig, um die Sprachkompetenz zu entwickeln. Aber die Leselust der Jugendlichen ist meist nicht sonderlich gross. Sie ziehen sich lieber eine Serie rein oder konsumieren bequeme Unterhaltung. Wenn sie lesen, dann meist nur Posts und Reposts auf Whatsapp oder anderen Internet-Plattformen, deren sprachliche Reichhaltigkeit zu wünschen übrig lässt. Darum gehe ich regelmässig mit meinen Schülern in Bibliotheken – das ist für sie oft der einzige Zugang zu qualitativ guter Lektüre.

Ich möchte, dass sich die Schülerinnen und Schüler mündlich ausdrücken und einander zuhören können. Eine Selbstverständlichkeit, könnte man meinen.

 

Man muss sich natürlich heute an den Schulen fragen, wofür man die immer knapper werdende Unterrichtszeit einsetzen soll. Ich heisse es nicht gut, wenn man die Rechtschreibung nicht mehr beherrscht. Aber gleichzeitig muss man aufpassen, dass man nicht an den künftigen Anforderungen vorbei unterrichtet. Diktate sind ein gutes Beispiel. Als junger Lehrer habe ich das öfter gemacht, heute noch einmal pro Jahr. Heute gibt es Rechtschreibprogramme und künstlichen Intelligenz, die ganze Texte verfasst. Soll ich da tatsächlich Orthografie pauken?

“Hey, mach einen ganzen Satz.”

Stattdessen möchte ich, dass sich die Schülerinnen und Schüler mündlich ausdrücken und einander zuhören können. Eine Selbstverständlichkeit, könnte man meinen. Aber das ist leider nicht mehr der Fall. Wenn die Jugendlichen miteinander reden, tun sie das oft fragmentarisch: “Gömmer Glatt”, “simmer Migros gsi”. Wenn sie so mit mir reden, sage ich jeweils: “Hey, mach einen ganzen Satz.”

Auch die Eltern sind hier gefordert. Ich möchte die Mütter und Väter dazu aufrufen, wieder mehr mit ihren Kindern zu reden – statt mit dem Nachwuchs nur noch ständig über das Smartphone zu kommunizieren!

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Sprachwandel oder Sprachdiktat? https://condorcet.ch/2023/07/sprachwandel-oder-sprachdiktat/ https://condorcet.ch/2023/07/sprachwandel-oder-sprachdiktat/#respond Sun, 02 Jul 2023 08:02:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=14439

Das Gendern der Sprache ist in den Schulen – vorwiegend noch an den Gymnasien und universitären Studiengängen – ein Thema. Unser Doyen und Germanist Professor Mario Andreotti kritisiert die Gleichsetzung bzw. die Verwechslung von Genus und Sexus.

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Dass sich unsere Sprache dauernd wandelt, ist längst ein Gemeinplatz. Wörter und ihre Bedeutungen haben sich im Verlaufe der Geschichte verändert und verändern sich weiter. Unser Wort “Dirne” etwa meinte in mittelhochdeutscher Zeit, ja noch bis zu Goethe so viel wie “Jungfrau”; und heute, da ist eine Dirne wohl alles andere als eine Jungfrau. Sprachwandel ist ein Vorgang, der sich nicht gezielt lenken lässt, der sich ganz im Gegenteil der bewussten Steuerung durch die Sprecher weitgehend entzieht.

Professor Mario Andreotti, Germanist

Was aber die sog. gendergerechte Sprache betrifft, hat mit Sprachwandel, obwohl dies von den Befürwortern immer wieder behauptet wird, nichts zu tun, ist vielmehr bewusste Sprachlenkung, ja Sprachdiktat. Es ist eine feministische Minderheit, die der Sprachgemeinschaft das Gendern aufoktroyiert hat, um so eine angebliche Gleichstellung der Geschlechter durch die Sprache zu bewirken. Das aber entspricht nicht der Realität: Die Sprache reagiert erst auf Veränderungen in der uns umgebenden Welt und nicht umgekehrt. Die Unterscheidung von Frau und Fräulein verschwand beispielsweise erst, nachdem auch die unverheiratete Frau gesellschaftlich emanzipiert war.

Es ist eine feministische Minderheit, die der Sprachgemeinschaft das Gendern aufoktroyiert hat, um so eine angebliche Gleichstellung der Geschlechter durch die Sprache zu bewirken.

Die Befürworter des Genderns argumentieren damit, dass im Deutschen grammatisches und natürliches Geschlecht gerne gleichgesetzt würden. Wie kam es aber zu dieser Gleichsetzung, ja Verwechslung von Genus und Sexus? Ein Blick in die deutsche Sprachgeschichte kann uns da Aufschluss geben. Im 17.Jahrhundert, zurzeit der barocken Sprachgesellschaften, übersetzten deutsche Grammatiker, unter ihnen Justus Georg Schottelius, das lateinische Wort “Genus” mit (grammatisches) “Geschlecht” und nannten den Artikel “Geschlechtswort”.

Das öffnete der Verwechslung mit “Sexus” Tür und Tor, und dies umso mehr, als die Genera nun männlich (der), weiblich (die) und sächlich (das) genannt wurden. Johann Christoph Adelung, der bedeutendste deutsche Grammatiker des 18. Jahrhunderts, nannte die Neutra “Wörter ungewissen Geschlechts” und “geschlechtslos”, wobei er das dritte Geschlecht unserer Tage noch nicht im Auge hatte. So wurde die deutsche Grammatik durch eine fragwürdige Übersetzung gleichsam sexualisiert, indem ein Fachbegriff eine alltagssprachliche Zusatzbedeutung erhielt. Die meisten Kinder hören im Sprachunterricht noch heute vom Hauptwort und dessen Geschlecht.

Dabei wissen wir längst, dass grammatisches und natürliches Geschlecht in der deutschen Sprache, aufs Ganze gesehen, wenig miteinander zu tun haben.

Diese Zusatzbedeutung liegt dem vor allem von Feministinnen geschürten Streit über die angebliche Diskriminierung der Frauen bei der Unterlassung weiblicher Wortformen zugrunde. Dabei wissen wir längst, dass grammatisches und natürliches Geschlecht in der deutschen Sprache, aufs Ganze gesehen, wenig miteinander zu tun haben. “Spitzel” als grammatisches Maskulinum bezeichnet ebenso wenig nur Männer, wie etwa “Person” als Femininum nur Frauen meint. Und ein “Lehrerzimmer steht Lehrern wie Lehrerinnen offen; ein Führerschein berechtigt Frauen wie Männer zum Autofahren. So gesehen, entpuppt sich das Genderproblem am Ende als das, was es ist: als Scheinproblem.

Am Ende nur ein Scheinproblem

Trotzdem fordern heute vermeintlich emanzipierte Kreise beinahe stereotyp, es dürften nur noch Wörter verwendet werden, die nicht a priori “männlich” zu verstehen seien, ordnen Arbeitgeber und Behörden an, ihre Mitarbeiter hätten sich im Dienstbetrieb einer gendergerechten Sprache zu bedienen. So kam es schliesslich zu Texten, die uns in dumpf aufgeblähter, mit Gendersternen oder Sprechpausen verunstalteter Sprache begegnen oder die nur noch aus z.T. schwerfälligen neutralen Partizipien (Zu-Fuss-Gehende statt Fussgänger) bestehen.

Doch all diese Vorschläge sind im Grunde keine Lösungen, da sie zum einen in der gesprochenen Sprache nicht funktionieren und zum andern partizipiale Formen sich längst nicht bei allen Nomen herstellen lassen. Die “Abgeordneten” erlauben das beispielsweise nicht. Und das Bedenklichste daran: Die Suche nach einer gendergerechten Sprache hat nicht zur gewünschten Gleichberechtigung der Geschlechter geführt, sondern zu zerstörerischen Eingriffen in die deutsche Sprache.

 

Prof. Dr. Mario Andreotti, ehem. Gymnasiallehrer und heute Dozent für Neuere deutsche Literatur, ist ein profunder Kenner der schweizerischen Bildungs- und Sprachlandschaft. 2019 veröffentlichte er im Verlag FormatOst dazu das vielbeachtete Buch “Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache”.

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Mario Andreottis «Struktur der modernen Literatur», eine Erfolgsgeschichte https://condorcet.ch/2022/09/mario-andreottis-struktur-der-modernen-literatur-eine-erfolgsgeschichte/ https://condorcet.ch/2022/09/mario-andreottis-struktur-der-modernen-literatur-eine-erfolgsgeschichte/#respond Fri, 02 Sep 2022 12:41:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=11337

Die seit langem angekündigte Besprechung des Buches von Mario Andreotti «Struktur der modernen Literatur. Neue Formen und Techniken des Schreibens: Erzähl-prosa und Lyrik», ist nun endlich vollbracht. Gastautorin Christiane Matter würdigt dieses Werk als Longseller und erklärt, warum es heute immer noch zu begeistern vermag.

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Dass Fachbücher sich zum Bestseller entwickeln, kommt nicht häufig vor, dass sie es zum Longseller schaffen, ist sogar eine Rarität. Dem St. Galler Lehrbeauftragten für Sprach- und Literaturwissenschaft, langjährigen Referenten in der Fortbildung für Mittelschullehrkräfte und anerkannten Experten für die Literatur der Moderne gelang dies mit seinem Lebenswerk «Struktur der modernen Literatur. Neue Formen und Techniken des Schreibens: Erzählprosa und Lyrik», welches 1983, also vor gut 40 Jahren, seine erste Auflage erlebte.

In der im Februar 2022 neu erschienenen 6. Auflage wurden nicht nur Inhalte erneuert und aktualisiert, sondern auch das Format verändert. Das neue, grössere Buchformat (15 x 21,5 cm) macht das Werk handlicher. Die Grafiken, Bilder und Tabellen sind somit noch leserfreundlicher gestaltet und kommen gut zur Geltung. Auch auf das ansprechende Titelblatt mit einer Collage mit modernen Autoren darf hingewiesen werden.

So gleicht keine Auflage der vorherigen, jedes Buch weist neue Kapitel und aktualisierte Textbeispiele auf.

Mario Andreotti erlaubt durch seine strukturale Herangehensweise einen tiefen Einblick in das Wesen moderner Werke und damit ihr besseres Verständnis. Er versammelt in seinem Werk unendlich viele Aspekte, von literaturgeschichtlichen Themen über die Merkmale und Analyse moderner Prosa und Lyrik bis hin zu ökonomischen Aspekten des Literaturbetriebes. Dabei zeichnet sein Schaffen aus, dass er über 40 Jahre hinweg beständig die Neuerungen der Moderne und Postmoderne nah am Puls mitverfolgte und oft zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieb. So fand die Spoken Word Literatur sehr schnell Eingang in sein Werk wie auch Formen der digitalen Literatur, z.B. der «Handyroman» oder die «Twitterlyrik». Die meisten deutschsprachigen Neuerscheinungen wurden vom Autor rezipiert und auf Innovationen abgeklopft, welche dann als Textbeispiele oder sogar als ganz neue Kapitel in die nächste Auflage seines Werkes Einzug fanden. So gleicht keine Auflage der vorherigen, jedes Buch weist neue Kapitel und aktualisierte Textbeispiele auf.

Mario Andreottis «Struktur der modernen Literatur», 6. Auflage

Als Novität wartet die 6. Auflage mit zwei neuen Haupt- und fünf neuen Unterkapiteln auf. Der Abschnitt «Buch und Markt» erlaubt zum Beispiel Einblicke in die Gesetze des Literaturbetriebes, besonders in die ökonomische Situation der Schriftsteller und ihre Schwierigkeiten bei der Verlagssuche. Der Druck auf die Autoren, sich marktgerecht zu verkaufen und trendige Themen abzuhandeln, wird kritisch unter die Lupe genommen, wie auch die Literaturinstitute, die sich der Professionalisierung des Schreibens widmen.

In einem anderen neu konzipierten Kapitel untersucht Mario Andreotti neben der neu aufkommenden filmischen Schreibweise, gekennzeichnet durch abrupte Szenenwechsel, die sprachliche Vielfalt im modernen Erzählen, welche sich durch die Annäherung der poetischen Sprache an die Alltagssprache, den sogenannten Parlandostil, und die Enttabuisierung der Sprache auszeichnet. Hierfür analysiert er aktuelle Textbeispiele der deutschsprachigen Literatur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, wie z.B. Judith Zanders Debütroman «Dinge, die wir heute sagten» (2010), Peter Stamms Erzählband «Seerücken» (2011) oder auch Helene Hegemanns «Axolotl Roadkill» (2018). Das Phänomen des Code-Switching wird an Arno Camenischs Roman «Der letzte Schnee» (2018) demonstriert.

Monika Schnyder und ihr Gedichtband “Auch Götter haben Gärten”.

Im Kapitel über die moderne Lyrik als entpersönlichte Lyrik wurde u.a. das Unterkapitel «Der Kodewechsel im modernen Gedicht» hinzugefügt. Kodewechsel bezeichnet das Phänomen, dass in der modernen Lyrik immer öfter die Sprachebene oder sogar die Sprache selbst gewechselt wird, wie man in dem Gedicht «Fanfare auf Hoher» aus dem Band «Auch Götter haben Gärten» (2019) der St. Galler Lyrikerin Monika Schnyder sehen kann.

 

 

 

see medusen im fransenhut

lachende delphine

ti prendo et ti porta via

regentrompeten

rieselndes zwielicht. wir

fliegen

 

Besonderen Wert legt Mario Andreotti auf die leichte Lesbarkeit und Verständlichkeit sowie auf die Benutzerfreundlichkeit, die auch einem nicht akademischen Publikum den Zugang zum Buch ermöglicht.

Auch in den schon bestehenden Kapiteln wurden viele Textbeispiele durch aktuelle Neuerscheinungen ersetzt, so wird z. B. das Simultanitätsprinzip der modernen Literatur – welches die chronologische Abfolge traditionellen Erzählens durchbricht – anhand von Auszügen aus dem Werk «das alles hier, jetzt» der Gewinnerin des Schweizer Buchpreises 2020, Anna Stern, erklärt.

Besonderen Wert legt Mario Andreotti auf die leichte Lesbarkeit und Verständlichkeit sowie auf die Benutzerfreundlichkeit, die auch einem nicht akademischen Publikum den Zugang zum Buch ermöglicht. So werden beispielsweise alle Fachbegriffe erklärt und zusätzlich nochmal im Glossar aufgeführt.

Das Werk richtet sich zum einen als Lehrbuch für den Literaturunterricht und das Studium der Literaturwissenschaft an Schüler, Studenten, Lehrer und Dozenten. Extra für die zwölf Kapitel des Buches erstellte Arbeitsvorschläge mit Lösungshinweisen sind im Internet abrufbar. Daneben kann es als Nachschlagewerk für ein literarisch interessiertes breiteres Publikum dienen und nicht zuletzt als Anregung für praktizierende Autoren und Autorinnen, die nach neuen Formen des Schreibens suchen.

Ich kann das Buch allen Liebhabern der modernen wie auch der traditionellen Literatur, die komplexe Inhalte gut und verständlich aufgearbeitet und sprachlich ansprechend formuliert schätzen und die zugleich einen Ein- und Überblick über die neuesten literarischen Entwicklungen und Neuerscheinungen im deutschsprachigen Raum suchen, wärmstens ans Herz legen.

Christiane Matter

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Wie schreibt man einen Bullshit-Text – oder wie “profil” einen nichtssagenden Text veröffentlicht https://condorcet.ch/2022/04/wie-schreibt-man-einen-bullshit-text-oder-wie-profil-einen-nichtssagenden-text-veroeffentlicht/ https://condorcet.ch/2022/04/wie-schreibt-man-einen-bullshit-text-oder-wie-profil-einen-nichtssagenden-text-veroeffentlicht/#comments Mon, 11 Apr 2022 18:56:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=10788

Manchmals sagt das Nichtssagende alles. Condorcet-Autor Alain Pichard stolperte über einen Text, der aus der Potemkinschen Küche der Bürobildungselite stammt.

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Alain Pichard, frisch pensionierter Lehrer, Mitglied der Condorcet-Redaktion: Reines Geschwafel
Bild: fabü

Gibt man untenstehenden Text in den BlablaMeter ein ( http://www.blablameter.de/index.php ) erhält man folgenden Kommentar:

Ihr Text riecht schon deutlich nach heißer Luft. Sie wollen hier wohl offensichtlich etwas verkaufen oder jemanden tief beeindrucken.

In der Tat ist dieser Text, der im Magazin “profil” erschienen ist (https://www.profil-online.ch/) eine Ansammlung der nichtssagenden und dennoch hochtrabenden pädagogischen Neusprech-Wunschprosa. Das Magazin «profil» ist eine Publikation des Lehrmittelverlags plus, desjenigen Unternehmens der auch die Flop-Serie des Passepartout-Lehrmittel zu verantworten hat. Profil, das jeder Lehrkraft viermal im Jahr im Briefkasten gelegt wird, lobt sich selber als “… die einzige fächer- und stufenübergreifende Publikation mit einem unbedingten Fokus auf Unterricht und unterrichtsleitende Lehrmittel. «profil» zeigt, wie auf der Basis der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und der neuen, eben erst in den Schulen eingeführten Lehrmitteln wirksamer und erfolgreicher Unterricht gemacht werden kann.

Der Text enthält 192 Wörter (rund 1’400 Zeichen), die im Kern nichts sagen, lupenreines Geschwafel. Überzeugen Sie sich selbst:

Schulen im Aufbruch
Die Einführung des Lehrplans 21 hat vielenorts Unterrichtsentwicklungen ausgelöst. Weil die Kompetenzorientierung das Lernen der Kinder ins Zentrum rückt, gerät die Unterstützung und Begleitung der Lernenden durch die Lehrpersonen automatisch auch in den Fokus. Sinnbildlich für diese Entwicklungen sind die Stärkung der formativen Beurteilung und die Probleme mit der traditionellen summativen Beurteilung.
Die Aufbruchstimmung und die zahlreichen Initiativen zu neuen Visionen von Schule und Unterricht sind getrieben von der Diskussion um die Digitalisierung. Die Folgen der zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche und die damit aufkommenden Fragen für das Lehren und Lernen sind seit Jahren ein dominantes Thema im Bildungsbereich. Die Erfahrungen mit Fernunterricht haben aber der Diskussion eine neue Richtung und mehr Tiefe gegeben, weil die soziale Funktion von Schule für die Kinder, deren Familien und die Gesellschaft insgesamt wieder sichtbar wurde. Sie haben eindringlich aufgezeigt, wie wichtig Kommunikation, Kooperation, Kreativität und kritisches Denken für die Gestaltung des menschlichen Lebens sind – für die Kinder und Jugendlichen genauso wie für die Lehrpersonen, digital ebenso wie analog. In den nächsten Ausgaben rückt «profil» Schulen in den Fokus, die daran sind, die genannten Kompetenzen Schritt für Schritt umzusetzen, die den Aufbruch wagen. Die Zeit ist reif dafür.

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Weniger Bildungspathos, bitte! https://condorcet.ch/2022/01/weniger-bildungspathos-bitte/ https://condorcet.ch/2022/01/weniger-bildungspathos-bitte/#comments Mon, 31 Jan 2022 16:24:32 +0000 https://condorcet.ch/?p=10440

Die Unterrichtssprache verändert sich. Das ist nichts Neues; neu hingegen ist das sprachliche Imponiergehabe im Bildungswesen. So wird die schulische Integration per se als Menschenrecht deklariert. Ein Plädoyer für mehr Bescheidenheit von Carl Bossard.

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Carl Bossard: Viele Begriffe sind schwammig, Sprache und Stil kompliziert und oft wenig verständlich.

Es war einmal eine Kindergärtnerin. Was ist sie heute? Eine Bachelor of Arts in Pre-Primary and Primary Education. So mindestens lautet der Lehrgang an verschiedenen Pädagogischen Hochschulen. Und was ist aus dem Lehrer geworden? Natürlich ein Bachelor of Arts in Primary Education. Aufbau von Wissen und Können, Prüfungen, Schule des Denkens: Das waren vertraute Bildungsbegriffe. Wie heissen sie aktuell? Kompetenzorientierung, Lernzielevaluationen, kognitive Operationsmodi.

Mundgerechte Fast Food-Statements verkennen die Sache

Nun zweifelt niemand, dass Fachwissenschaften ihre ganz spezifische Fachsprache sprechen müssen. Niemand kann die Ergebnisse der Humangenetik und der Nuklearmedizin, der Atomphysik und der Biochemie, der Pharmazeutik und der Computerwissenschaften in jener Alltagssprache wiedergeben, die allen vertraut ist. Auch philosophische Erkenntnisse, juristische Sachverhalte, ökonomische Einsichten fallen nicht einfach vom Himmel – man muss sie in zähem Ringen erwerben und kann sie in der jeweiligen Fachsprache präziser fassen.

Oder anders gesagt: Wissenschaften haben ihre eigenen Probleme, die aus der Sache kommen – und darum ist auch ihre Sprache und sind ihre Begriffe nicht in Windeseile pfannenfertig zu präsentieren. Mundgerechte Fast Food-Statements verkennen oft den Kern der Sache. Das gilt auch für die Pädagogik.

Unser Projekt arbeitet deshalb prototypische Reflexionsmuster heraus, wie angehende Lehrpersonen kulturelle Unterschiede spezifisch im schulischen Kontext reflektieren, und verdichtet diese Reflexionsmuster zu einem Stufenmodell der Normalitätsreflexionen. Damit werden unterschiedliche Reflexionstiefen bezüglich kultureller Unterschiede im monokulturell geprägten schulischen Kontext beschrieben, die in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung diagnostiziert und gezielt bearbeitet werden können.

Terminologischer Schwulst und Verklausulierungssucht

Und doch ärgert die Sucht vieler Bildungsfachleute, alles und jedes in einer Sprache auszudrücken, die zwar wissenschaftlich ist oder wenigstens so klingt. Doch oft ist es gar keine Wissenschaft, oft sind es nur Worthülsen und damit nicht viel mehr als fachliches Imponiergehabe.

Ein konkretes Beispiel, wie eine Pädagogische Hochschule ihre Studierenden auf die soziale Vielfalt im Schulalltag vorbereiten will: «Mit der Selbstverständlichkeit kultureller Heterogenität in Gesellschaft, Schule und Unterricht sieht sich die Lehrerinnen- und Lehrerbildung herausgefordert, Lehrpersonen den Erwerb von Fähigkeiten zu ermöglichen, die eine produktive Gestaltung von Schule und Unterricht im multikulturellen Kontext erlauben. [Unser Projekt] arbeitet deshalb prototypische Reflexionsmuster heraus, wie angehende Lehrpersonen kulturelle Unterschiede spezifisch im schulischen Kontext reflektieren, und verdichtet diese Reflexionsmuster zu einem Stufenmodell der Normalitätsreflexionen. Damit werden unterschiedliche Reflexionstiefen bezüglich kultureller Unterschiede im monokulturell geprägten schulischen Kontext beschrieben, die in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung diagnostiziert und gezielt bearbeitet werden können.»

Der Ausweis der Wissenschaftlichkeit erfolgt durch den Nachweis der Unverständlichkeit.

Wissenschaftlichkeit dank Unverständlichkeit?

Wolf Schneider, Schriftsteller: Der Ausweis der Wissenschaftlichkeit erfolgt durch den Nachweis der Unverständlichkeit.

Ob jemand diese Sätze versteht? Die meisten schweigen wohl ehrfürchtig. Ein pseudowissenschaftliches Sprachgewölk! Das wortreiche Getöse erinnert an die berühmte Aussage des Schriftstellers Wolf Schneider: «Der Ausweis der Wissenschaftlichkeit erfolgt durch den Nachweis der Unverständlichkeit.»[i]

Man könnte getrost darüber hinwegsehen und solche Texte mit einer Prise Ironie hinnehmen, hätte diese Sprache, hätte dieser fast unkontrolliert wuchernde Fachjargon nicht Folgen. Der Drang, alles zu verwissenschaftlichen, hat Bildung und Erziehung in Atemnot gebracht. Das zeigt sich auch bei der Lektüre des gemeinsamen Lehrplans der 21 deutsch- und mehrsprachigen Kanton der Schweiz, kurz Lehrplan 21. Viele Begriffe sind schwammig, Sprache und Stil kompliziert und oft wenig verständlich.

Sprachlicher Schamanenzauber!

Ein beliebiges Beispiel: «Idealerweise bieten gestaltete Lernumgebungen mannigfaltige durch Lehrpersonen und Lehrmittel unterstützte Lerngelegenheiten, einzelne oder verschiedene Facetten einer Kompetenz zu erwerben, zu festigen und in Anwendungssituationen zu nutzen. Durch ihre Ausrichtung auf die aktive Auseinandersetzung mit Gegenständen und Aufgaben, werden bei Schülerinnen und Schülern vielfältige rezeptive und gestalterische Arbeits- und Denkprozesse angeregt.» Was sollen Eltern und Lernende mit solchen Sätzen zur Lernsystematik anfangen?

Eine Art sprachlicher Schamanenzauber! Kurz, klar und konkret wäre wohl: «Lehrerinnen und Lehrer gestalten vielfältige Lernsituationen; sie führen so die Kinder zu neuem Wissen und Können. Dazu gehören die Impulse zum Nachdenken, das Üben und Festigen des Gelernten sowie das Anwenden in veränderten Bezügen.» Für zünftige Lehrplangestalter ist das vermutlich zu simpel, zu verständlich, zu wenig beeindruckend.

Wenn eine Unterrichtsform zum Menschenrecht wird

Beeindruckend dagegen, wie ein bestimmtes Schulsystem als Menschenrecht deklariert wird. Gemeint ist der integrative bzw. inklusive Unterricht. Darunter wird die möglichst umfassende gemeinsame «Schulung von Kindern mit und ohne besonderen Bildungsbedarf in der Regelschule verstanden».[ii] Sie geht auf die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 zurück. Die Schweiz hat sie 2014 ratifiziert. In Artikel 24 heisst es: «Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten [sie] ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen.»

 

«Es geht um Menschenrechte» (Markus Matthys)

Im eidgenössischen Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) steht unter Artikel 20, Absatz 1 & 2: «Die Kantone sorgen dafür, dass behinderte Kinder und Jugendliche eine Grundschulung erhalten, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist. [Sie] fördern, soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden Schulungsformen die Integra­tion behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule.»

 

Aus diesem Passus wird nun ein Menschenrecht extrapoliert. Dazu die Züricher Bildungsdirektorin Silvia Steiner wörtlich: «Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein Menschenrecht.»[iii] Noch deutlicher wird Prof. Markus Matthys, Dozent an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik. «Es geht [hier] um Menschenrechte», behauptet er kühn[iv] und stipuliert dieses Menschrecht auch für die totale Integration aller Kinder und Jugendlichen in Regelklassen, die Inklusion. Für alle das Gleiche. Allerdings kann die durch Gleichheit scheinbar gewonnene Gerechtigkeit leicht in Ungerechtigkeit umschlagen. Auch der Gleichheitssatz der eidgenössischen Bundesverfassung impliziert ja in der Rechtspflege ein Differenzierungsgebot: Nicht nur ist Gleiches gleich zu behandeln, sondern auch Ungleiches ungleich.[v]

Etwas mehr Bescheidenheit, bitte!

Das ethisch so bedeutsame Anliegen der Integration führt uns ins moralische Dilemma zwischen dem Prinzipiellen und dem systemisch Machbaren und individuell Verantwortbaren. Doch mit der Konnotation der Integration und Inklusion als Menschenrecht wird im kommunikativen Handeln ein absoluter Geltungsanspruch erhoben. Das wichtige Postulat der Integration entzieht sich so jedem Diskurs. Dieses Dogmatische irritiert. Wer auch nur einen kleinen, kritischen Einwand gegen das momentane Modell des integrativen Unterrichts ins Feld führt, verstösst damit gegen Menschenrechte. Vergessen geht der hohe pädagogische und psychologische Anspruch an diese Unterrichtsform. Die Dynamik einer solchen Klasse kann schnell zur Überforderungssituation führen. Das Risiko ist gross. Nicht selten ist ein gemeinsamer, geordneter Klassenunterricht gar nicht mehr möglich.[vi] Dabei leiden meist die Lernschwächeren. Das zeigt die Forschung. Die Integration bzw. Inklusion eines behinderten Kindes in die Regelklasse wird seinem menschenrechtlichen Anspruch auf eine gute Bildung nicht automatisch gerecht.

Auch das wäre mit zu bedenken. Ein bisschen mehr Bescheidenheit täte darum dem Bildungsdiskurs gut – in mancher Beziehung!

[i] Wolf Schneider, Korrektes Deutsch – das ist zu wenig in: NZZ Folio 31.12.2011

[ii] Definition der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK.

[iii] Nils Pfändler, Lena Schenkel, «Ich glaube nicht an Visionen für die Zukunft der Schule». Interview mit Silvia Steiner, in: NZZ, 28.01.2019, S. 15.

[iv] In: Julia Hofer, Tohuwabohu im Klassenzimmer, in: Beobachter 25/2021, S. 92.

[v] Jörg Paul Müller (1999), Grundrechte in der Schweiz. Im Rahmen der Bundesverfassung von 1999, der UNO-Pakte und der EMRK. Bern: Stämpli Verlag AG, S. 397.

[vi] Hofer, ebda., S. 94.

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Jasmin Frey, Sozialpädagogin aus Basel, antwortet unserem Condorcet-Autor auf dessen Kritik an der Gendersprache (Gendersprache: Hundertprozentig korrekt, gerecht, aber seelenlos öde. 19.5.21). Die aktuelle Sprache ist für sie ausschliessend, das Neue fliessend, human und kreativ.

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Sprache lenkt unsere Wahrnehmung der Welt, sie konstruiert Realitäten, formt unser Bewusstsein. Dies belegen immer mehr Studien. Und sie beeinflusst in grossem Masse unsere Wahrnehmung der Geschlechter. Wenn Berufe in einer geschlechtergerechten Sprache dargestellt werden (Nennung der männlichen und weiblichen Form, zum Beispiel «Ingenieurinnen und Ingenieure» statt nur «Ingenieure»), schätzen die meisten befragten Kinder traditionell männliche Berufe als erreichbarer ein und trauen sich selbst eher zu, diese zu ergreifen.[1] In einer Welt, in der der nicht-behinderte, cis-hetero weisse Mann immer noch als Normalfall gilt, fühlen sich viele, die nicht in dieses Schema passen, ausgegrenzt, ausgeblendet, unsichtbar gemacht. Selbst Männer können durch eine Sprache, die überholte und zum Teil schädliche Geschlechterstereotypen reproduziert, unter Druck gesetzt werden. Das generische Maskulinum wird in der deutschen Sprache häufig verwendet mit dem Argument, Frauen seien mitgemeint. Ausserdem würde sich die Nennung von Männern und Frauen negativ auf die Lesbarkeit von Texten auswirken. Beides ist wissenschaftlich widerlegt.[2] Auch Sprache beeinflusst die Gleichberechtigung der Geschlechter. Und wenn Frauen nicht explizit genannt werden, werden sie auch nicht mitgedacht. Das Spektrum der Geschlechter geht über Mann und Frau hinaus, auch non-binäre und intersex Menschen existieren in unserer Gesellschaft, obwohl sie im alltäglichen Sprachgebrauch kaum mitbedacht und angesprochen werden.

Die Schule ist der Ort, an dem ein Grossteil der Persönlichkeitsentwicklung stattfindet.

Kinder die nicht der Norm entsprechen, kommen unter Druck.

Gerade im Bereich von Schule und Bildung kann der gendersensiblen Sprache eine grosse Bedeutung beigemessen werden. Die Schule ist der Ort, an dem ein Grossteil der Persönlichkeitsentwicklung stattfindet. Dazu gehört die Entwicklung der eigenen Geschlechtsidentität und der sexuellen Orientierung. Sie ist aber auch ein Ort, an dem Jugendliche, die nicht der (cis-hetero) Norm entsprechen, die vorgeblich geschlechtsuntypische Verhaltensweisen zeigen oder gleichgeschlechtliche Eltern haben, Diskriminierungen und Gewalt ausgesetzt sind.

Das Verwenden der richtigen Pronomen für Transgenderpersonen ist Suizidprävention.

Wenn Schulen nicht in der Lage sind, Machtverhältnisse aufzubrechen, können eine Verinnerlichung von Abwertung, Rückzug, Depression und Selbstmord(versuche) die Folge sein. Das Verwenden der richtigen Pronomen für Transgenderpersonen ist Suizidprävention. So wichtig ist die Rolle, die Sprache und Geschlecht spielen. Nicole Kastirke und Jochem Kotthaus konstatieren, dass die Schule als Institution derzeit keinen besonders geeigneten Rahmen bietet, um diskriminierungs- und angstfrei eine gesunde sexuelle Identität zu entwickeln.[3]  Gerade wir Pädagog*innen können unseren Teil dazu beitragen, dies zu ändern.

Der Gender_gap, das Gender*sternchen, Binnen-I oder Doppelpunkt sind Möglichkeiten, Formulierungen inklusiver zu gestalten.

Es handelt sich um Vorschläge.

Eine gendersensible Sprache ist eine, die alle anspricht und sichtbar macht. Dabei geht es nicht um Pedanterie oder Perfektion, sondern um Empathie, Respekt und Gleichberechtigung. Sprache ist etwas Lebendiges, das sich verändert und entwickelt. Das gendergerechte Deutsch gibt es (noch) nicht, genauso wenig wie die gendergerechte Gesellschaft, in der es keine Diskriminierung und Marginalisierung gibt. Sie lässt sich auch nicht von heute auf morgen erfinden und umsetzen. Der Gender_gap, das Gender*sternchen, Binnen-I oder Doppelpunkt sind Möglichkeiten, Formulierungen inklusiver zu gestalten. Vielfach können gegenderte Bezeichnungen durch geschlechtsneutrale oder kreative Formulierungen ersetzt werden. Diese Option ist schliesslich als einzige auch barrierefrei, denn Sonderzeichen können für Screenreader, wie sie von Personen mit einer Sehbehinderung verwendet werden, ein Problem darstellen.

Alle Menschen, die eine Sprache sprechen und dadurch an ihr teilhaben, verändern sie. Die aktuelle Sprache ist exklusiv und benachteiligend. Das, finden viele, soll sich ändern. Ich versuche, wie viele andere Menschen, mich gendersensibel auszudrücken, um meinen Teil zur Sprachentwicklung beizutragen. Ich bin mir sehr bewusst, welchen Einfluss meine Ausdrucksweise auf die Kinder und Jugendlichen, mit denen ich arbeite, haben kann. Sie entscheidet, ob man mir vertraut, sich bei mir sicher, akzeptiert und ernstgenommen fühlt. Der Wandel hin zu einer inklusiveren Gesellschaft wird nicht durch Sprache allein bestimmt, doch sie ist ein nicht unbedeutender Teil davon.

So hat zum Beispiel bis jetzt niemand ernsthaft das Wort Menschin oder Mitgliederin einzuführen versucht. Hier wehren sich die Schreibenden gegen Missstände, die sie selbst erfunden haben.

Natürlich gibt es auch diejenigen, die solche Bemühungen zu anstrengend, radikal oder irritierend finden und sie gerne «den anderen» überlassen, während sie es sich auf dem Podium der eigenen Privilegien gemütlich machen. Die Kommentarspalten im Internet und die Kolumnen von Zeitungen sind voll von Männern, die sich persönlich angegriffen fühlen, wenn sich für einmal nicht alles nur an ihnen orientiert. Die sich gegen Exzesse wehren, die so nicht existieren. So hat zum Beispiel bis jetzt niemand ernsthaft das Wort Menschin oder Mitgliederin einzuführen versucht. Hier wehren sich die Schreibenden gegen Missstände, die sie selbst erfunden haben. Meine Hoffnung ist, dass auch sie sich trauen, ihre eigene Haltung kritisch zu hinterfragen und versuchen, die Welt aus anderen Perspektiven als der eigenen zu sehen. Dass sie zuhören und Raum geben, wenn andere von ihrer gelebten Realität erzählen. Dass sie positiver Veränderung doch zumindest nicht im Wege stehen, wenn sie schon nichts dazu beitragen möchten, weil ihnen das alles zu belanglos und pedantisch vorkommt und es ihrer Meinung nach dringendere Probleme gibt (um die sie sich freilich in aller Regel auch nicht kümmern möchten).

Abschliessen möchte ich mit einem Zitat der Kognitionswissenschaftlerin Lera Boroditsky:

Lera Borodytsky: Sprachliches Erbe hinterfragen.

„Ich hoffe, dass uns das Wissen darüber, wie Sprache unser Bewusstsein formt, die Möglichkeit eröffnet, unsere Gedanken und Wirklichkeiten stärker zu hinterfragen. Sie sind ja durch Sprache und Kultur konstruiert – und wir haben sie von unseren Vorfahren mitbekommen. Dieses Erbe sollten wir mehr hinterfragen, und nicht diesem ‚naiven Realismus‘ folgen, der besagt, dass alles, was ich erlebe – und wie ich es erlebe –, die wahre Wirklichkeit ist. Das würde nämlich bedeuten, dass alle anderen falsch liegen – und das ist nicht richtig. Ich hoffe, dass Menschen über Sprache und das Wissen darüber lernen und erfahren können, dass die Dinge anders sein können; dass sie sich öfter fragen, ob sie die Dinge nicht auch aus einer anderen Perspektive betrachten könnten, und dies dann auch tun, weil es sie verändern und die Welt für sie zu einem größeren Ort mit mehr Möglichkeiten machen wird.“[4]

In diesem Sinn wünsche ich allen Leser*innen des Condorcet-Blogs die Erkenntnis, dass «jedes Sehen perspektivisches Sehen ist» (Friedrich Nietzsche) und die Bereitschaft, möglichst viele Perspektiven zuzulassen.

Jasmin Frey, Sozialpädagogin, Basel.

[1] Vervecken, D., & Hannover, B. (2015). Yes I can! Effects of gender fair job descriptions on children’s perceptions of job status, job difficulty, and vocational self-efficacy. Social Psychology, 46, 76-92.

[2] https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.gleichberechtigung-in-der-sprache-nur-wer-von-frauen-spricht-meint-sie-auch.39a3ca8e-d760-4eac-a9ad-c50ca1e64966.html

[3] Kastirke, Nicole / Kotthaus, Jochem (2014). Jugendliche Sexualität und sexuelle Identität. In: Jörg Hagedorn (Hrsg.) Jugend, Schule und Identität. Selbstwerdung und Identitätskonstruktion im Kontext Schule. Springer Verlag.

[4] https://www.forbes.at/artikel/wirklichkeiten-konstruieren.html

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Gendersprache: Hundertprozentig korrekt, gerecht, aber seelenlos öde. https://condorcet.ch/2021/05/gendersprache-hundertprozentig-korrekt-gerecht-aber-seelenlos-oede/ https://condorcet.ch/2021/05/gendersprache-hundertprozentig-korrekt-gerecht-aber-seelenlos-oede/#respond Wed, 19 May 2021 19:34:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=8611

Lenkt das Bemühen um eine gendergerechte Sprache von den wirklichen Problemen ab? Dezidiert dieser Meinung ist unser Condorcet-Autor Felix Schmutz. Sie erreicht nicht nur nicht ihre eigentlichen Ziele, sie ist auch penetrant moralisch, elitär, ausschliessend und führt zu einer Verödung der Sprache.

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Felix Schmutz, Baselland: Sprache als Komplizin

Die Gleichstellung der Geschlechter ist zwar in der Verfassung verankert, im beruflichen, politischen und gesellschaftlichen Leben aber noch lange nicht vollständig verwirklicht. Auch sexuell motivierte Gewalt und sexistische Diskriminierung sind nach wie vor präsent und fordern Opfer. Im Rahmen der Bemühungen um den Abbau von Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen steht immer mehr der Sprachgebrauch im Fokus. Die Sprache wird als Komplizin in der Ungleichbehandlung und Unterdrückung ausgemacht, so wie sie auch angeprangert wird, dem Rassismus Vorschub zu leisten. Zur Herstellung der Gerechtigkeit und zur Vermeidung von Diskriminierung wird deshalb verlangt, der Nennung von Personen besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

So empfiehlt der Duden als schriftliche Form: Kolleg(inn)en, Schüler/-innen zur Vermeidung von Doppelnennungen. Hingegen sind Formen wie Sänger*innen (Genderstern), LeserInnen (wortinterne Grossschreibung), Lehrer_innen oder Lehrer:innen (Unterstrich; Doppelpunkt) noch nicht «amtlich abgedeckt», obwohl sie inzwischen extensiv angewendet werden. Ebenso wenig akzeptiert sind die Vereinfachung Ärzt/-innen, Beamt*innen, da hier die maskuline Form falsch wiedergegeben wird, stattdessen müssen Doppelnennungen erfolgen: Ärzte und Ärztinnen, Beamte und Beamtinnen. Dudenkonform sind im Übrigen geschlechtsneutrale Ausdrücke (Lehrperson, Verwaltungsmitglied) oder substantivierte Partizipien und Adjektive (Kranke, Studierende, Verwitwete).1

Statt Fussgängern heisst es die Zufussgehenden, statt Autofahrern die Autofahrenden, statt Verkehrsteilnehmern die Verkehrsteilnehmenden, statt Gästen die Eingeladenen, bzw. die Gasthaus-Besuchenden, statt Migranten Menschen mit Migrationshintergrund, statt Opfer Gewaltbetroffene, statt Schweizern Menschen mit schweizerischer Nationalität, etc.

Statt Fussgängern heisst es die Zufussgehenden.

In der medialen Öffentlichkeit überbieten sich die Leute mit gendergerechten Personennennungen. Im Kulturbereich trifft man auf Tanzschaffende, Kunstschaffende, Liedschaffende, Theaterschaffende, etc. In der Schule unterrichtet das Lehrpersonal Lernende, das Kollegium trifft sich im Lehrkräftezimmer, im Laden bedient das Verkaufspersonal die Kundschaft. Statt Fussgängern heisst es die Zufussgehenden, statt Autofahrern die Autofahrenden, statt Verkehrsteilnehmern die Verkehrsteilnehmenden, statt Gästen die Eingeladenen, bzw. die Gasthaus-Besuchenden, statt Migranten Menschen mit Migrationshintergrund, statt Opfer Gewaltbetroffene, statt Schweizern Menschen mit schweizerischer Nationalität, etc.

Mitgliederinnen?

Mit Verlaub: Das klingt alles entweder hochtrabend oder gesucht und schwerfällig. Hyperkorrektes Gendern zeigt sich, wenn Doppelnennungen wie Mitglieder und *Mitgliederinnen erfunden werden, weil das neutrale Wort wegen der -er-Endung als männlich interpretiert wird, oder wenn Menschen mit *Menschinnen ergänzt wird, obwohl das männliche Genus von Mensch rein grammatikalisch ist und selbstverständlich alle Geschlechter des Homo sapiens umfasst. So wie es weibliche Wörter gibt, die auch das männliche und alle weiteren Geschlechter abdecken, wie z.B. Person. Niemand hat bisher gefordert, die Form *Personer zu bilden, damit das männliche Geschlecht nicht vernachlässigt wird: die Personen und die *Personer.

Anstatt mehr Menschen sprachlich einzuschliessen, wird die Ausdrucksweise entpersönlicht, versachlicht, entmenschlicht.

Gendergerechte Sprache hat die Tendenz, sich zur Manie und zur Pedanterie zu entwickeln. Zur Umgehung des Maskulinum wird mit Sachbezeichnungen, Substantivierungen von Partizipien und Adjektiven und Umschreibungen operiert. Der Effekt ist tatsächlich das Gegenteil des Erwünschten: Anstatt mehr Menschen sprachlich einzuschliessen, wird die Ausdrucksweise entpersönlicht, versachlicht, entmenschlicht. Menschen werden auf eine Abstraktionsstufe gehoben, auf der das eigentlich Personenbezogene verloren geht. Damit verliert die Sprache an Direktheit und Lebendigkeit. Sie bekommt einen Anstrich von dürrem Amts- und Juristendeutsch. Ein Horror für Sprachaffine.

Grundsätzlich stellen sich zwei Fragen:

  1. Trifft es zu, dass generische Formen wie die Bauern, die Kunden, die Leser das weibliche und alle andern Geschlechter durch Nichtnennung ausschliessen, sei es aus purer Gedankenlosigkeit oder zur Zementierung der männlichen Vorherrschaft?
  2. Wird die gendergerechte Sprachregelung das Bewusstsein der Menschen im Hinblick auf mehr Gerechtigkeit verändern und sich auf das gesellschaftliche Postulat der Gleichstellung und Diskriminierungsvermeidung gewinnbringend auswirken?

Whorf postulierte, dass die sprachlichen Begriffe das geistige Erfassen der Welt prägten, aber auch limitierten3.

  1. Die generischen Formen

Die Kritik an Pluralformen wie Gäste, Kunden, Leser, Anwälte, Franzosen, Arbeiter, Wirte fusst auf der jahrhundertealten Diskussion um das Verhältnis von Sprache und Denken. Schon Platon sah das Denken als inneren Monolog2. Whorf postulierte, dass die sprachlichen Begriffe das geistige Erfassen der Welt prägten, aber auch limitierten3.

Daraus folgern Gendereifrige nun, dass Pluralformen, die sprachlich mit der männlichen Endung zusammengefallen sind wie die oben genannten, automatisch ans männliche Geschlecht gebunden seien und damit die andern Geschlechter übergangen würden. Frauen fehlten im Bewusstsein, wenn sie nicht immer explizit genannt würden.

Zum Beweis werden Befragungen angeführt, bei denen Probanden z.B. aufgefordert wurden, Namen von Schauspielern zu nennen, worauf die Testpersonen nur Männer nannten. Allerdings sind diese Befunde fragwürdig, denn die Aufforderung war schon geschlechtsspezifisch suggestiv formuliert, wenn nach Namen von Schauspielern gefragt wurde4.

Beschränkte Auswirkung auf das Bewusstsein.

Tatsächlich neige ich zur Ansicht, dass die Pluralform Kunden, Leser, etc. einen beschränkteren Einfluss auf das Bewusstsein haben, als angenommen wird. Wenn Menschen nicht direkt angesprochen werden (Liebe Leserinnen und Leser), sondern über sie referiert wird, dürften die Leute in erster Linie an die Funktion, die Tätigkeit der Genannten denken und nicht an das Geschlecht: Viele Kunden haben sich beschwert… (Leute, die einkauften), einige Leser haben geantwortet… (Leute, die den Text gelesen haben).

Bei einem Grossverteiler ertönt alle zehn Minuten die Durchsage von der Maskenpflicht: «Einigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie einigen Kunden ist es aus medizinischen Gründen nicht möglich, eine Maske zu tragen…» Obwohl die Durchsage offensichtlich auf Genderachtsamkeit ausgerichtet ist, wird bei Kunden nur das männliche Geschlecht genannt, was jedoch offenbar zu keinen Protesten oder Widerstandsaktionen von Kundinnen geführt hat. Alle scheinen zu begreifen, dass mit Kunden alle Einkaufenden gemeint sind, Frauen, Männer und alle LGBTQ.

Vorstellungen zum Geschlecht dürften viel stärker, unabhängig von der sprachlichen Form, von der gesellschaftlichen Realität geprägt sein.

Weit und breit keine Frau

Vorstellungen zum Geschlecht dürften viel stärker, unabhängig von der sprachlichen Form, von der gesellschaftlichen Realität geprägt sein: Vor meinem Fenster liegt ein riesiger Bauplatz mit etwa 30 oder 40 Beschäftigten: Maurer, Schreiner, Eisenleger, Kranführer, Spengler, Elektriker. Weit und breit ist keine einzige Frau zu sehen. Das Wissen, dass diese Berufe immer noch vorwiegend von Männern ausgeübt werden, prägt unsere Vorstellung stärker als die maskuline Sprachform. Genderkorrektes Formulieren würde verlangen, Maurer*innen, Eisenleger:innen, Kranführer/-innen, Spengler(innen), SchreinerInnen, Elektriker*innen zu schreiben, was angesichts der Realität schon fast zynisch wäre, es sei denn, einige der Fachleute fühlten sich als Trans-/Bi-/Homo-/Pädo-/ oder sonst irgendwie Anderssexuelle und möchten explizit als solche mitbedacht werden.

Sprache als Vehikel

Die Digitalisierung operiert inzwischen mit einem andern Verständnis von Sprache und Denken. Menschen sollen sich das «Computational Thinking» zu eigen machen, das Denkprozesse in logische Fraktale zerlegt, die wiederum in Befehle an Computer und Roboter umgemünzt werden können. So bestimmen nicht mehr die sprachlichen Konnotationen das Denken. Die Logik und die Ideologie der Informatiker-/innen fliessen in die algorithmischen Formeln ein. Die Sprache wird zu deren Vehikel degradiert. Um Diskriminierungen zu vermeiden, würde ein Genderautomatismus dafür sorgen, dass stets alle Geschlechter berücksichtigt würden.

Genau das scheint mit der gendergerechten Sprache Wirklichkeit zu werden. Wir werden getrimmt auf einen Automatismus, die gendergerechten Nennungen konsequent einzuhalten: hundertprozentig korrekt, gerecht, aber seelenlos öde, jedenfalls unpersönlicher als mit den generischen Formen. Das Bewusstsein, das Denken, das Bauchgefühl wird von der Sprache abgespalten. Die Sprache spult ihre Mechanismen ab, während das Denken eigene Wege geht.

Die einfachste und sprachlich eleganteste Lösung wäre wohl, einem Text die Bemerkung voranzuschicken: «Die Pluralformen schliessen im folgenden Text alle Geschlechter, sexuellen Orientierungen, kurz alle Hominidinnen und Hominiden dieser Welt mit ein, wenn nicht ausdrücklich das Geschlecht betont werden soll.»

  1. Die Funktion der gendergerechten Sprache

Die Radikalität, mit der gendergerechte Sprache durchgesetzt werden soll, irritiert. Manche mögen sich fragen, ob sich die Menschen keine dringenderen Probleme in der Gleichstellung vorstellen können als die Einhaltung der Sprachregelungen und ob damit wirklich etwas erreicht werden kann.

Der «Bildersturm» gegen sprachliche Formen ist jedoch seinerseits eine Art der eifernden Ausgrenzung.

2.1 Stigmatisierung

Die sprachliche Genderbewegung umgibt sich mit einem penetrant moralischen Anspruch, die besseren Menschen zu sein. Leute, die keine gegenderten Formen verwenden, werden selbstgerecht als Verfechter männlicher Dominanz, Bewahrer ungerechter Machtverhältnisse und Anhänger diskriminierender Vorurteile gebrandmarkt und ständig besserwisserisch belehrt. Der «Bildersturm» gegen sprachliche Formen ist jedoch seinerseits eine Art der eifernden Ausgrenzung und der Verurteilung, indem sprachliche Formen mit ideologischer Gesinnung gleichgesetzt werden, obwohl die Personennennungen zunächst rein traditioneller Sprachökonomie entsprechen. Die negativen Konnotationen werden in die Sprache hineininterpretiert, das Weltbild an der Sprache festgemacht und von vorneherein unterstellt. Das kann zwar so sein, muss aber nicht.

2.2  Kathartische Funktion.

Gleichzeitig dient die Genderpedanterie dazu, sich selbst vom Verdacht der Geschlechterdiskriminierung reinzuwaschen. Die sprachliche Gendermode ist zunächst rein äusserlich. Sie ist noch kein Beweis dafür, dass Denken und Einstellung tatsächlich genderneutral und frei von Vorurteilen sind. Es ist eine reine Zurschaustellung politischer Korrektheit, um in der Gesellschaft der «Gendergerechten» nicht anzuecken. Mit den Wölfen heulen, heisst die Devise. Erstaunlich, wie viele Leute sich ein schlechtes Gewissen einreden lassen und geflissentlich mit-gendern.

Die Übel verschwinden nicht durch Umgestaltung der Sprache, sondern durch Änderung der Überzeugung.

2.3 Revolution durch Sprache.

Mit sprachlichem Gendern soll das Denken derart revolutioniert werden, dass Gendergerechtigkeit und Verstösse dagegen ständig im Bewusstsein präsent sind, in der Hoffnung, die gesellschaftliche Realität würde nachziehen, alle Übel könnten durch Sprachregelungen aus der Welt geschafft werden.

Leider haben sprachliche Eingriffe und Umbenennungen noch nie das Denken und die Realität verändert. Nach wie vor gibt es Rassisten, Antisemiten, anzügliche Witze über Frauen, Anmache, Diskriminierung von Homosexuellen, etc., obwohl entsprechende Äusserungen schon längst tabuisiert sind. Die Übel verschwinden nicht durch Umgestaltung der Sprache, sondern durch Änderung der Überzeugung. Denken und Handeln werden nicht automatisch durch den Sprachgebrauch in die gewünschte Bahn getriggert.

Reiner Formalismus

2.4 Elitärer Akademismus

Während in der Öffentlichkeit Anstrengungen unternommen werden, Sprache zu vereinfachen, damit auch Nicht-Intellektuelle wichtige Texte verstehen können, postuliert die gendergerechte Sprache langatmige Doppelungen, zungenbrecherische Partizipialformen und hoch abstrakte Kollektivausdrücke. Dadurch erhält sie den Geruch des Elitären, vornehmlich benützt in politischen, amtlichen, studentischen und journalistischen Kreisen. Sprachlich weniger Versierte bleiben auf der Strecke und verlieren sich im Gestrüpp des redundanten Genderblabas.

Es geht im Gleichstellungsdiskurs nicht mehr hauptsächlich um brisante Inhalte, politische Anliegen, ums Aufdecken von Missständen, sondern um die formale Frage der gendergerechten Formulierungen.

2.5 Formalismus, ein Ablenkungsmanöver

Das Auffälligste: Es geht im Gleichstellungsdiskurs nicht mehr hauptsächlich um brisante Inhalte, politische Anliegen, ums Aufdecken von Missständen, sondern um die formale Frage der gendergerechten Formulierungen. Das Ringen um korrekte Personennennungen überdeckt die wirklich wichtigen Fragen. Während bis vor Kurzem Fragen wie Lohngleichheit, Rollenverständnis, Frauenquoten in Gremien die Diskussion dominierten, verlagert sich das Interesse auf die gendergerechte Sprache. Artikel, Radiosendungen, Leitfäden für Journalisten, Linguistikseminare widmen sich dem Thema. Was aber ist der Gewinn für die Gleichstellung? Schon Faust wusste es, wenn er in Marthens Garten sagt: «Der Name ist Schall und Rauch.»

 

1 Duden, Die deutsche Rechtschreibung, 28. Auflage, Berlin 2020, S. 112f.

2 «Also Gedanken und [E] Rede sind dasselbe, nur dass das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, was ohne Stimme vor sich geht, von uns ist ‘Gedanke’ genannt worden.»

Platon Sophistes 263E, http://www.opera-platonis.de/Sophistes.pdf

3 Benjamin Lee Whorf Language, Thought, and Reality, second edition MIT Press, 2012

4 «Tests dieser Art sagen nichts aus über eine generell mit dem generischen Maskulinum assoziierte mentale Sexus-Zuweisung», in: Gisela Zifonun: Die demokratische Pflicht und das Sprachsystem: Erneute Diskussion um einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch. In: Sprachreport. Jahrgang 34, Nr. 34, 2018, S. 44–56 (PDF: 1,1 MB, 13 Seiten auf bsz-bw.de).

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«Leichte Sprache»: herablassend und dumm https://condorcet.ch/2021/02/leichte-sprache-herablassend-und-dumm/ https://condorcet.ch/2021/02/leichte-sprache-herablassend-und-dumm/#comments Tue, 02 Feb 2021 10:00:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=7612

Professor Mario Andreotti gilt bei uns als ein Anwalt der Sprachpflege. Die zunehmenden Bemühungen, leseuntüchtigen Bürgerinnen und Bürgern möglichst leichte Texte zu unterbreiten, sieht er skeptisch.

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Mario Andreotti, Germanist, Kolumnist und Autor: Die Simplifizierung ist bedenklich.

Dass viele Jugendliche, aber auch Erwachsene grosse Mühe mit dem Lesen und Schreiben haben, d.h. selbst einfache Texte nicht verstehen und nicht schreiben können, ist hinreichend bekannt. Was das für das Schicksal jedes einzelnen Betroffenen bedeutet, kann sich ausmalen, wer überlegt, welche Rolle sprachliche Kompetenz in seinem eigenen Lebensalltag spielt. Daher kann es auf den ersten Blick nur verständlich sein, wenn immer mehr öffentliche Institutionen und Ämter dazu übergehen, ihre Informationen nicht nur in Normalsprache, sondern auch in sogenannt «leichter Sprache» herauszugeben, damit auch Menschen mit kognitiv bedingten Leseschwierigkeiten sie verstehen.

Trotzdem ist das Unterfangen bedenklich, und zwar sowohl aus linguistischer als auch aus sozialer Sicht. Nehmen wir die linguistische Sicht vorweg: Bei der «Leichten Sprache» geht es um eine gänzliche Reduktion der Standardsprache, ja um eine Simplifizierung der Sprache. So werden nur kurze Sätze verwendet, wobei jeder Satz lediglich eine Aussage enthält («Ich bin Hans Maier. Ich bin aus Bern. Jetzt wohne ich in Luzern.»). Und so werden Sätze in der Passivform («Susi wird begrüsst.»), aber auch der Konjunktiv (Man müsste mehr tun.») vermieden, wird der Genitiv in den meisten Fällen durch die präpositionale Fügung «von» ersetzt (nicht «der Besitz des Vaters», sondern «der Besitz vom Vater»). Selbst Metaphern, also bildstarke Ausdrücke, sind «verboten». Dabei wissen wir aus der kognitiven Linguistik, dass gerade Metaphern das Verständnis unserer komplexen Welt erleichtern. Wer hat schon eine wirkliche Vorstellung von einer Kernwaffenexplosion! Aber wenn ich dafür die Metapher «Atompilz» verwende, kann sich jeder ein Bild von der ungeheuren Wirkung einer solchen Explosion machen.

Witz, Ironie, Zweideutigkeiten und Metaphern gehen verloren.

Keine Frage: «Leichte Sprache» führt zu einer Verarmung unserer Sprache. Ironie, Witz und all die Zwischentöne, von denen Texte nun einmal leben, lassen sich nur schlecht oder gar nicht in sie übersetzen. Zudem macht die dauernde Wiederholung von Wörtern in der «leichten Sprache» («Max arbeitet im Büro. Das Büro ist im dritten Stock.») einen Text langweilig und damit gerade weniger leicht zugänglich. Aber nicht nur das: «Leichte Sprache» führt auch zu einer Verfälschung der Sprache. Einmal abgesehen davon, dass sich komplexe Inhalte kaum in «leichter Sprache» wiedergeben lassen, ist die Übersetzung von der Standardsprache in diese Sprachform stets mit einer Veränderung, ja mit einem Verlust an Information verbunden. Wer beispielsweise Aussagen auf das Nebeneinander von Hauptsätzen beschränken muss, kann keine Kausalbezüge mehr herstellen: «Hanna zieht nach Aarau, weil sie dort arbeitet».

Das führt zu einer höchst problematischen intellektuellen Zweiteilung unserer Gesellschaft und damit zwingend zu sozialer Diskriminierung.

Zu den linguistischen Bedenken treten soziale Vorbehalte: Die «leichte Sprache» wendet sich, wie eingangs bereits gesagt, an Menschen, die über eine geringe Kompetenz in der deutschen Sprache verfügen. Das führt zu einer höchst problematischen intellektuellen Zweiteilung unserer Gesellschaft und damit zwingend zu sozialer Diskriminierung: Hier die sprachlich Gebildeten, dort die Sprachbehinderten.

Es darf nicht sein, dass jeder fünfte Jugendliche die Schule ohne ausreichende sprachliche Kenntnisse verlässt.

Gutes Deutsch ist verständliches Deutsch

Viel nützlicher und vor allem nichtdiskriminierend wäre allgemein eine verständliche Sprache. Angesprochen sind dabei vor allem die öffentlichen Institutionen und Ämter, deren Texte häufig in Fachausdrücken und Fremdwörtern schwelgen oder sich in Schachtelsätzen verstricken, so dass man sie kaum noch versteht. Ihnen muss immer wieder in Erinnerung zu gerufen werden, dass gutes Deutsch verständliches Deutsch ist. Und wenn schon Kritik angebracht ist, dann auch am Deutschunterricht an unseren Schulen, in dem vor lauter Stoffhuberei für das Kerngeschäft, das Einüben von Lese- und Schreibkompetenz, oft kaum mehr Zeit bleibt. Es darf nicht sein, dass jeder fünfte Jugendliche die Schule ohne ausreichende sprachliche Kenntnisse verlässt.

«Leichte Sprache als» Ausweg aus dem Dilemma? Wohl kaum, denn es braucht sie nicht. Sie liest sich wie eine Parodie auf behinderte Menschen, die wohlmeinend daherkommt.

Prof. Dr. Mario Andreotti

Dozent für Neuere deutsche Literatur und Buchautor («Eine Kultur schafft sich ab»)

 

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(Auf-)Bauen macht Schule https://condorcet.ch/2020/08/auf-bauen-macht-schule/ https://condorcet.ch/2020/08/auf-bauen-macht-schule/#respond Wed, 26 Aug 2020 18:29:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=6175

Die Corona-Situation erforderte vielerorts Um- und Ausbauten. Aufbauen, das gilt für die Schule im Doppelsinn des Wortes. Gedanken zur Metapher des Bauens am Beginn eines speziellen Schuljahres, formuliert von Condorcet-Autor Carl Bossard

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Entdeckt in einem Primarschulhaus: Ein farbenfrohes Bild mit dem Hundertwasser-Haus in Wien, gemalt vom Künstler selber, verziert die Tür zum Klassenzimmer. Auf den einzelnen Wohnungen leuchten 22 Kindergesichter. Jedes schaut verschmitzt unter dem gelben Schutzhelm hervor. Mitten drin der Lehrer als munterer Bauleiter. Und darüber ihr gemeinsames Motto fürs neue Schuljahr: „Wir bauen an unserer Zukunft – einzeln und im Team.“

Welt rezipieren und seine Identität finden

Bauen ist eine aussagekräftige Metapher, ein einprägsames Bild – auch für die Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern. Wer ausbildet und bildet, wer unterrichtet und mit Kindern auf ihrem Lernweg unterwegs ist, hilft verantwortlich mit am Bau persönlicher Lebenswelten.

„Jeder muss seine eigene Welt aufbauen.“[1] So raten die Einsager und Einflüsterer in Peter Handkes melodramatischem Stück „Kaspar“. „Jeder muss seine eigene Welt aufbauen.“ Das muss auch der Findling Kaspar Hauser nach seinem rätselhaften Auftauchen vor bald 200 Jahren, damals in Nürnberg 1828. Ein junger Gymnasiallehrer nimmt den ausgesetzten und beinahe sprachlosen Knaben bei sich auf. Der Pädagoge arbeitet mit ihm und führt ihn aus seiner begrenzten Welt zu ersten Erkenntnissen. Der 16-jährige Kaspar, der als Mensch ohne Mitmenschen aufgewachsen ist, lernt reden und schreiben; er rezipiert staunend die Welt und findet seine Identität.

Kaspar Hauser: Ohne Mitmenschen aufgewachsen

„Wer bin ich?“, lautet darum das Kaspar-Hauser-Motiv. Diese Frage, die auf den Kern des Menschlichen weist, verbindet sich mit Martin Heideggers Metapher vom „Haus der Sprache“: Um sich die Welt zu erschliessen, im weiteren Sinn also zu „konstruieren“, braucht der Mensch die Sprache wie ein Haus.

Verknüpfung von „Ich“ und „Welt“

Das Individuum kann sich nicht aus sich selbst heraus bilden, sondern nur im geführten Dialog mit der Welt. „Kaspar“ zeigt es; der Gymnasiallehrer praktiziert es. Wilhelm von Humboldt spricht von der notwendigen Verknüpfung von „Ich“ und „Welt“. Familie und Schule regen diesen Dialog an, der das Ich und die Welt konstruiert und verknüpft.

Lehrerinnen und Lehrer bauen darum an der individuellen Zukunft von Kindern und Jugendlichen. Sie arbeiten nicht mit Steinen und Zement, nicht mit Maurerkelle und Mörtel, nicht mit Beton und Borer. Wissen und Können aufbauen, Verstehen und Verhalten fördern, das ist ihre Aufgabe – mit Erklären und Ermuntern, mit Üben und Rückmelden. So bauen sie mit an der Welt ihrer Schülerinnen und Schüler, an deren ganz persönlicher.

Lehren und Lernen als komplexe Prozesse

Bauen ist ein komplexer Vorgang; er muss sorgfältig geplant und realisiert sein. Sorgsam zu planen sind auch die anspruchsvollen Prozesse des Lehrens und Lernens – also der Erwerb von Wissen und Können oder von sogenannten „Kompetenzen“. Additiv Lerninhalte zusammenfügen ist zu wenig. Fähigkeiten wie ‘denken können’ benötigen klare Wissensstrukturen; Jugendliche brauchen darum kognitive Ordnungsstrukturen. Sie müssen systematisch aufgebaut werden.

Lernen ist ein komplexer Prozess.

Gutes Lernen ist ein vielschichtiger und auch inhaltsspezifischer Prozess. Mathematische Denkhandlungen beispielsweise laufen in vielerlei Hinsicht anders ab als die sprachlichen Lernprozesse oder der Erwerb von historischem oder biologischem Wissen und wieder anders als diejenigen, die manuelle Fertigkeiten sicherstellen. Schnellrezepte helfen den Lehrpersonen wenig. Diese Lehr-Lernvorgänge erfordern differenziertes kognitionspsychologisches und lerntheoretisches Können; notwendig ist ein hohes Bewusstsein für den Prozesscharakter des Lernens. Bei der aktuell dominierenden Kompetenzorientierung kommt dieser Aspekt zu kurz.

 

Reale Bauprozesse bestehen aus vielen konstituierenden Mikroprozessen. Genau gleich ist es beim Lehren und Lernen in der Schule.

Lernen ist Konstruktion und Konsolidierung

Lernen im Rahmen der Schule bedeutet immer zwei Dinge: Aufbau von Neuem – mit dem Ziel des Verstehens – sowie systematisches Konsolidieren oder intensives Üben des Gelernten, dies von ganz verschiedenen Arten an Wissen und Können. Dazu gehören beispielsweise begriffliches Wissen, Handlungswissen oder konditionales Wissen, das Wissen ‘warum’.[2]

Und falls die Lernergebnisse nicht stimmen, justiert die Lehrerin.

Reale Bauprozesse bestehen aus vielen konstituierenden Mikroprozessen. Genau gleich ist es beim Lehren und Lernen in der Schule. An konkreten Einzelinhalten wie zum Beispiel dem Zehnerübergang oder beim Einführen ins Schreiben werden Lernprozesse angestossen. Der Lehrer begleitet diese individuell geprägten Prozesse und bewertet oder evaluiert das erworbene Wissen und Können. Und falls die Lernergebnisse nicht stimmen, justiert die Lehrerin. Dieses Nachfassen ist bedeutsam; nicht selten geht es vergessen. Das kann fatale Folgen haben.

Aufbau von verstandenem Wissen

Neues Wissen und Können verständlich aufbauen …

 

 

Neues Wissen und Können verständlich aufbauen und übers Üben das Behalten konsolidieren – das gehört konstitutiv zum Lernen. Grundlegende Teilprozesse jeder Aufbauarbeit sind darum das Verstehen und Behalten, das Abrufen und Anwenden von Wissen und Können.

Diese vier Teilprozesse – Verstehen, Behalten, Abrufen und Anwenden – stehen in einem interaktiven Verhältnis zueinander. Es sind Faktoren, die das Lernresultat generieren. Falls nur einer von ihnen minim ausgebildet ist, wird das ganze Ergebnis schwach ausfallen. Es ist die simple Formel: L(ernen) = V(erstehen) x B(ehalten, üben, festigen,) x A(brufen können). Leicht zu erkennen sind die Konsequenzen, wenn ein Faktor gegen null strebt – wenn beispielsweise das Verstehen oder die Festigungsphase beim Aufbau fehlt.

In der Schule geht es aber auch darum, dass sich junge Menschen auf eine gemeinsame Welt ausrichten.

Eigene und die gemeinsame Welt

Die Schule hat wieder begonnen – unter erschwerten Umständen. Die Kinder kehren in den Unterricht zurück. Da ist einerseits die ganz persönliche, kleine Welt jedes einzelnen Kindes, sein eigenes Leben mit allen Freuden und Sorgen. Anderseits ist da die grosse Welt – mit all ihren Schönheiten und Schattenseiten, mit ihren Anforderungen und Erwartungen. Und dazwischen die Lehrerin, der Lehrer.

Corona belastet den Schulalltag; der pädagogische Doppelauftrag der Lehrpersonen aber bleibt: die Kinder beim Aufbau ihrer Lern- und Lebenswelt führen und anleiten: „Jeder muss seine eigene Welt aufbauen.“ In der Schule geht es aber auch darum, dass sich junge Menschen auf eine gemeinsame Welt ausrichten. Darin liegt der tiefere Sinn des Lernens in der Klasse, des Arbeitens im Kollektiv: Verantwortung füreinander tragen – Rücksicht aufeinander nehmen, miteinander vorwärtskommen. Auch an dieser Haltung arbeiten und bauen Lehrerinnen und Lehrer.

„Wir bauen an unserer Zukunft – einzeln und im Team.“ So heisst es über der Eingangstür einer Primarklasse.

 

[1] Peter Handke (1968), Kaspar. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 36.

[2] Gerhard Steiner (2007), Der Kick zum effizienten Lernen. Erfolgreich und nachhaltig ausbilden dank lernpsychologischer Kompetenz – vermittelt an 30 Beispielen. Bern: hep verlag.

 

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