Schulreformen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 12 Apr 2024 06:14:20 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Schulreformen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Ist die Abschaffung von Noten eine sinnvolle Reform? https://condorcet.ch/2024/04/ist-die-abschaffung-von-noten-eine-sinnvolle-reform/ https://condorcet.ch/2024/04/ist-die-abschaffung-von-noten-eine-sinnvolle-reform/#comments Wed, 10 Apr 2024 13:10:21 +0000 https://condorcet.ch/?p=16464

Philippe Wampfler setzt sich seit Jahren für die Abschaffung der Schulnoten ein. Im folgenden Beitrag setzt er sich mit den Gegnern auseinander und erklärt, dass die Abschaffung der Noten auch weitere überfällige Schulreformen in Gang bringen würden. Der Artikel ist auf der Homepage von Herrn Wampfler erschienen und erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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Philippe Wampfler, Lehrer in der Kantonsschule Enge und Experte für Lernen mit Neuen Medien: Kein isolierter Reformschritt.

Diese Woche sind in zwei rechten Publikation in der Schweiz kritische Artikel zur Frage erschienen, ob Noten abgeschafft werden sollen. Das ist erfreulich: Es bedeutet, dass diese politische Bewegung so viel Gewicht hat, dass sie wahrgenommen (und bekämpft wird).

In der NZZ paraphrasiert Katharina Fontana die Argumente konservativer Lehrer (ausschließlich Männer): Die Schule brauche keine weiteren Grossbaustellen, und ohne Noten oder Selektion werde sie in keiner Weise besser.

In seinem Newsletter fordert (Paywall) der Nebelspalter-Chefredaktor Markus Somm in zwei Folgen, Reformen an Schulen einzustellen, weil die PISA-Ergebnisse immer schlechter würden: Würde man dann nicht meinen, es wäre Zeit, einmal innezuhalten? Und eine mit Daten abgestützte Bilanz zu ziehen? Befreit man diese Standpunkte von ihrer Polemik und ihrer ideologischen Rahmung, dann bestehen sie aus einem Argument, das durchaus geprüft werden muss: Könnte es sein, dass die Reformschritte, die von Noten wegführen, so aufwändig sind, dass die erhofften Resultate daneben vernachlässigbar sind?

Dazu möchte ich folgende Gedanken anbieten:

Noten abschaffen ist kein isolierter Reformschritt. Er ist eingebunden in Bestrebungen, schulisches Lernen mit persönlicher Sinnstiftung anzureichern, Schüler:innen stärker einzubeziehen, individueller auf ihre Bedürfnisse einzugehen, Kompetenzen in den Vordergrund zu stellen und Schulen vom Selektionsauftrag wegzubringen. Nimmt man all das ernst, dann ist die Abschaffung von Noten keine Reform an sich, sondern die Konsequenz aus bereits erfolgten und umgesetzten Reformen.

Noten abschaffen ist eine Entlastung für alle.

Noten sind ein Stress für Lernende, Lehrende und auch für die Eltern. In der Diskussion wird oft darauf hingewiesen, dass Alternativen mit viel Aufwand verbunden sind, teilweise mit mehr Aufwand. Das stimmt nicht notwendigerweise: Es ist problemlos denkbar, die durch das Wegfallen des Bewertungszwangs freiwerdende Energie in Feedback-Prozesse zu investieren, die für Lehrer:innen und Schüler:innen einen Wert haben. Die Abschaffung von Noten ist einer der wenigen Vorschläge für eine Verbesserung der Schulen, die nicht mit einem zusätzlichen Aufwand verbunden ist.

Notenverzicht führt zu automatischen Reformen.

Viele der pädagogischen Ideen, die hinter bereits angestrebten Reformen stehen, sollen die Lernqualität verbessern. Viele sind nicht konsequent umgesetzt, nicht genau verstanden oder stehen im Widerspruch zu anderen Funktionen der Schule. Würden Noten wegfallen, würde das viele dieser Projekte vorantreiben, ohne dass das zusätzlicher Steuerung oder Mittel bedürfte. Warum? Orientieren sich Lehrpersonen in ihrer Unterrichtsplanung nicht an Bewertungen und Prüfungen, fokussieren sie automatisch auf Lernprozesse. Sie müssen sich der Frage stellen, wozu und wie Schüler:innen lernen – Prüfungen ersetzen diese Frage. Zudem werden sie automatisch mehr Leistungen von Schüler:innen wahrnehmen, ihr Selbstvertrauen stärken – statt nach Fehlern zu suchen.

Der Wahn der Messbarkeit

Somm und andere verweisen verzweifelt auf die PISA-Studie um ihr Bauchgefühl, die heutige Schule sei schlechter als die, welche sie selber besucht haben, irgendwie objektiv auszudrücken. Dahinter steckt dasselbe Problem wie hinter Noten: Die falsche Vorstellung, die Qualität menschlicher Aktivitäten wie Unterricht oder Lernen ließen sich über Zahlenwerte ausdrücken. Die Lese- und Rechenfähigkeiten von Schüler:innen stehen in komplexen Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen, beruflichen und medialen Transformationen. Sie davon gelöst isoliert zu messen und zu vergleichen – das sagt nichts über die Qualität von Schule aus.

Verbindet man diese Überlegungen, dann ist die Abschaffung von Noten nicht eine weitere, möglicherweise falsche Reform. Sie ist eine längst überfällige, einfach umzusetzende Anpassung, die Energien freisetzt. Die Befürchtung, dadurch sinke die Qualität von Schule und das Kompetenzniveau von Schüler:innen, ist ein konservativer Teufel, der immer wieder an die Wand gemalt wird. Eine ganzheitliche Betrachtung der Schule und ihrer Qualitäten berücksichtigt, dass sinnvolle und angstfreies Lernen für das Leben von Schüler:innen Auswirkungen hat, die sich nicht über Leistungstests in Mathe und Deutsch erfassen lassen.

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Beziehung statt Bildschirm https://condorcet.ch/2023/12/beziehung-statt-bildschirm/ https://condorcet.ch/2023/12/beziehung-statt-bildschirm/#respond Sun, 17 Dec 2023 20:22:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=15515

Carl Bossard ist Condorcet-Autor der ersten Stunde und einer der profundesten Kenner der Schweizer Bildungslandschaft. Nun wurde er im Magazin Zeitpunkt von Samia Guemei, die ebenfalls schon im Condorcet-Blog publizierte, interviewt. In diesem Gespräch warnt der Doyen der Bildung vor Reformen und Tools, die vor allem Kinder aus bildungsfernen Milieus schwächen.

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Zeitpunkt: Herr Bossard, Sie gehören zu den Erstunterzeichnern von Wissenschaftlern, die in Deutschland ein Moratorium für elektronische Geräte (Tablets, Handys) in Schulen und Kitas fordern. In der Schweiz finden sich kaum Politiker oder Organisationen, die Ihr Anliegen unterstützen. Woran liegt das? Und warum haben Sie unterzeichnet?

Carl Bossard: Das Moratorium ist ja erst vor Kurzem publiziert worden – und darum nur wenigen bekannt. Das Anliegen aufgenommen hat die SonntagsZeitung. In einem Interview fordert der Neuropsychologe und Hirnforscher Lutz Jäncke, Universität Zürich: “Delete die Digitalisierung an Schulen!” Er argumentiert aus hirnbiologischer Sicht.

Gastautorin Samia Guemei

Warum ich unterzeichnet habe? Bildungspolitik und Wirtschaft kennen zwei primäre Stossrichtungen: Ökonomisierung und Digitalisierung. Gleichzeitig drängen EdTech-Konzerne (EdTech ist Lernsoftware) und IT-Unternehmen in die Schule. Sie nehmen Einfluss auf Bildungsgehalte. Es ist der Ruf nach dem Digital Turn – mit der forcierten Digitalisierung der (Primar-)Schulen und dem Imperativ des «Bring your own device» (BYOD): jeder und jede mit dem eigenen Gerät im Schulzimmer, seien es Laptops, Tablets oder -Smartphones. Ich erlebe ein einseitiges Denken. Pädagogik aber ist kein Entweder-oder. Sie ist ein pädagogisches “Sowohl-als-auch”. Anders gesagt: Es braucht das Analoge wie das Digitale. Vernünftig digitalisieren, ohne die humane Kraft des Analogen zu vergessen.

 

Was muss geschehen, damit Ihr Anliegen von einer breiten Masse von Entscheidungsträgern vertreten wird?

Ich bin kein Prophet. Der Weg in die Zukunft ist bekanntlich umsäumt von den Skeletten nicht eingetroffener Prognosen.

    Ich hoffe einfach, dass das aktuelle PISA-Resultat mit der fatalen Leseschwäche so vieler Jugendlicher als Warn- und Weckruf wirkt.

Wir kennen die Tendenz ja längst. Seit Jahren wird unsere Schule reformiert und umgebaut – Reform an Reform, und gleichzeitig sinken die Lernleistungen im internationalen Vergleich kontinuierlich.

Da stimmt doch etwas im Kern der Schule nicht, bei den Mikroprozessen des Lernens, beim Aufbau der Basiskompetenzen Lesen, Rechnen, Schreiben. Allein das sollte doch die Verantwortlichen in der Bildungspolitik und den Bildungsstäben hellhörig machen.

 

Ist ein Verbot, wie die Deutsche Gesellschaft für Bildung und Wissen es fordert, mit einer liberalen Geisteshaltung überhaupt vereinbar?

Ich votiere aus einer aufklärerisch-liberalen Haltung heraus. Das Gravitationszentrum pädagogischen Geschehens ist für mich ein aufklärerischer Gedanke: Es ist Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern, ihre Kinder und Jugendlichen zu selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln zu erziehen und zu bilden. Das ist ein dialektischer Prozess. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, mit den neuen Medien vernünftig umzugehen. So etwas geht nur über Anleitung, nicht über Verbote.

 

Selbst Organisationen, die ihren Forschungs- bzw. ihr Tätigkeitsfeld in der frühen Kindheit haben, reden die Gefahren der Bildschirme klein. Sie sagen, die digitalen Geräte gehören nun einmal zu unserer Gesellschaft. Und die Kinder müssten einen angemessenen Umgang mit ihnen lernen. Können Kinder das überhaupt: angemessen mit den elektronischen Geräten umgehen?

Das ist das Kernanliegen: der vernünftige Umgang mit diesen Medien. Doch die Frage in der Primarschule ist wohl die: Wie lernen wir in diesem Alter am besten? Selbständig mit elektronischen Geräten oder im intensiven Austausch mit einem vitalen Gegenüber?

Wir wissen es aus der Unterrichtsforschung: Bildung braucht Bindung und Beziehung, braucht darum ein Gegenüber, von dem Zuversicht und Hoffnung ausgehen. Es ist ein Gegenüber, das mich inspiriert, mich zum Selber-Denken anregt, das mich, wie das der Dichterlehrer Peter Bichsel einmal so schön gesagt hat, “von mir selbst überzeugt”. Es ist ein Gegenüber, das mir klares und konsequentes Feedback gibt. Denken kann ich nur selber, ebenso wie lernen. Dazu brauche ich aber ein Gegenüber, das mich ermutigt und mir etwas zutraut und an mich glaubt. Dieses Zwischenmenschliche lässt sich nicht digitalisieren; das Persönliche bleibt – und ist für die Schule konstitutiv.

Es braucht das Echte, nicht die Konserve.

Zusammengefasst: Lernen ist nach wie vor ein Prozess zwischen Menschen, eine Interaktion zwischen Lehrerin und Schüler, zwischen Schülerin und einem verantwortungsbewussten Gegenüber, ein “Meeting of Minds”. Salopp signalisiert: Es braucht das Echte, nicht die Konserve.

 

Sie haben in vielen Artikeln die sogenannte Kompetenzorientierung des Lehrplans 21 beklagt. Der Lehrer verkommt zum Coach. Statt zu lernen und zu üben, müssen sich die Schüler ihr verzerrtes Wissen am Bildschirm selber beibringen. Mit Ihrer Haltung stossen Sie bei den PHs dieses Landes auf taube Ohren. Was gibt Ihnen Hoffnung, weiterzumachen?

Die Kompetenzorientierung und die Lehrperson als Coach sind zwei verschiedene Dinge. Das Erste, die Kompetenzorientierung: Gegen Kompetenzen kann man gar nichts haben: Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll uns besser denken und handeln lassen. Ich habe mich aber dagegen gewehrt, alles und jedes in der Sprache der Kompetenzen auszudrücken. Meine Überzeugung: Kein Kind interessiert sich für Kompetenzen. Es interessiert sich für Inhalte, für Dinosaurier, für Sterne, für Meerschiffe und Entdeckungsfahrten. Es will etwas wissen, es will etwas können, es will etwas verstehen, zum Beispiel das Werden der EU. Das ist ein Inhalt. Im Lehrplan 21 tönt das dann so: “[Schülerinnen und Schüler] können unterschiedliche Positionen zum Verhältnis Schweiz – Europa skizzieren und selber dazu Stellung nehmen.”

    Daran beisst sich ja selbst der Bundesrat die Zähne aus!

Es gibt in der Pädagogik eben viele Bereich, die sich kompetenztheoretisch gar nicht fassen lassen, dazu zählt beispielsweise die menschliche Grundhaltung. Darum meine Skepsis.

Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte

Das Zweite: Der Lehrer ist nicht nur Coach, die Lehrerin nicht nur Lernbegleiterin. Beide sind auch Pädagogen. Das schöne Wort kommt aus dem Griechischen: paid-agogein. Das heisst: Kinder, Jugendliche führen, sie anleiten und hinleiten. Der Neurobiologe Joachim Bauer spricht von ‘verstehender Zuwendung’ – bei gleichzeitiger Klarheit und Führung. Das ist das Dialektische des pädagogischen Berufs. Diese Ambiguitäten müssen Lehrerinnen und Lehrer annehmen und aushalten.

 

Was könnten die Pädagogischen Hochschulen (PHs) dazu bewegen, den eingeschlagenen Weg zu verlassen?

Meine Meinung ist klar: Wir brauchen eine Volksschule, die nicht in der Definitionsmacht der PHs liegt. Ein Diskurs ist heute leider fast nicht mehr möglich. Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel aus den Pädagogischen Hochschulen hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie – die Definitionsmacht über die Schulen übernommen. Sie bestimmen, was gelehrt und wie unterrichtet werden muss – oft auch gegen die Praktiker. Das bedeutetet eine Marginalisierung der Praxisempirie. Kurz: Die Stimmen der Basis müssten wieder gehört werden. Sie weiss, was in den Schulen nottut. Die Bildungspolitik muss diese Praxiserfahrung aufnehmen.

Ebenso prägend wie die Leidenschaft für die Pädagogik war für mich stets die Freiheit, die ich als Lehrer hatte.

Wenn ich die gesetzlich vorgeschriebenen Lehrmittel in Deutsch und Mathematik betrachte, dann ist es eindeutig: Sie sind wohl für die hochbegabten Akademikerkinder der Autoren geschrieben worden. Statt den Kindern stetes Üben zu vermitteln, lassen sie sie von Fallstrick zu Fallstrick stolpern. Verlierer in diesem System sind eindeutig die Migrantenkinder, die weder auf ein akademisches Zuhause noch auf bezahlte Nachhilfe zurückgreifen können. Noch auf Lehrer, die die Lehrmittel explizit gegen den Strich bürsten und eigenes Material bereitstellen. Das haben auch die neuesten PISA-Ergebnisse gezeigt: 25 Prozent können mit 15 Jahren nicht einmal die einfachsten Texte verstehen. Ist da eine Art versteckter Rassismus am Werk?

Das glaube ich nicht. So etwas kann doch keinem verantwortungsbewussten Menschen einfallen.

Die PISA-Studie 2022 bringt nichts Neues. Wir wissen es schon lange. Was mich bedrückt und was für mich eines der grössten Probleme darstellt: Die unzähligen Schulreformen haben die Chancengleichheit kaum verbessert. Die eher schwächeren Schülerinnen und Schüler leiden am stärksten unter den überfüllten Lehrplänen – und darunter, wenn der Lehrperson Zeit und Möglichkeit fürs Üben und Anwenden fehlen. Ausserdem setzt der Lehrplan stark auf selbständiges Lernen. Das überfordert viele und bevorteilt die eh schon lernstarken Kinder.

Ich formuliere damit ein Plädoyer für einen geführten und strukturierten Unterricht – schülerzentriert, sachorientiert, aber lehrergesteuert. Gerade sozial benachteiligte Kinder sind darauf angewiesen. Oder wie es der kürzlich verstorbene, linksliberale Pädagoge Hermann Giesecke formuliert hat:

 «Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.»

Hermann Giesecke, Pädagoge

 

Sie beschreiben immer wieder sehr treffend, wie dem Lehrerberuf durch den Zwang zu Reporting und Einschränkung auf Methoden des offenen Unterrichts die Freiheit abhandengekommen ist. Mir kommt es so vor, als gehörte diese Ausrottung des Individuums zum Projekt Transhumanismus, in dem sich alle aalglatt durch Algorithmen steuern lassen. Übertreibe ich da?

Ob hinter Ihren Beobachtungen eine Agenda steckt, kann ich nicht beurteilen. Das weiss ich nicht. Ich weiss einfach, wie wichtig die Freiheit im Lehrberuf ist. Ich argumentiere für einmal aus persönlicher Warte: Ich war leidenschaftlich gerne Lehrer. Mich fasziniert es, mit Schülerinnen und Schülern unterwegs zu sein, ihren Gedankenkreis zu erweitern und sie so zu verstehenden Menschen auszubilden.

Mit Freiheit ist Verantwortung verbunden – in diesem Fall die Verantwortung für die Kinder und ihre Lernfortschritte. Verantwortung wahrnehmen braucht Freiheit. Die Leidenschaft fürs Pädagogische und damit die humane Energie kommen aus Freiheit, nicht aus lehrmethodischen Direktiven und engen operativen Vorgaben. Heute gibt es so viele Vorschriften. Die Freiheit wird eingeengt, gar erstickt. Das müsste sich dringend ändern.

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Humane Energie kommt aus Freiheit https://condorcet.ch/2023/06/humane-energie-kommt-aus-freiheit-2/ https://condorcet.ch/2023/06/humane-energie-kommt-aus-freiheit-2/#comments Sat, 24 Jun 2023 07:09:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=14363

Viele Schulreformen kommen in guter Absicht. Nur fragen sie kaum: «Was bedeutet das für die Klasse, für die Lehrperson, für das Gesamte?» Genau das aber fragt Björn Bestgen in seinem bildungspolitischen Weckruf «Wenn jetzt nichts geschieht, geht die Volksschule kaputt». Publiziert hat ihn die «Schweiz am Wochenende» vom 03. Juni 2023 (S. 10-11). Condorcet-Autor Carl Bossard kommentiert in der CH Media vom 13. Juni das aufrüttelnde Interview – dies unter dem Stichwort: Wenn Überkomplexität das Entscheidende der Schulbildung erschwert.

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Börn Bestgen, Schulleiter: «Wenn wir jetzt nichts unternehmen, geht die Volksschule kaputt.

Börn Bestgen ist Schulleiter und kennt die Nöte des pädagogischen Parterres hautnah. Der Praktiker redet Klartext. In seiner nüchternen Analyse fragt er nach den Folgen der vielen Reformen. Sein Fazit: «Unser System ist am Anschlag angelangt.» Wir sind überfordert und gefährden unsere Volksschule. Er verlangt von der Bildungspolitik nur eines: «Weniger ist mehr. Qualität statt Quantität. Wir müssen uns auf das Wesentliche einigen. Das nimmt Druck weg und verbessert die Qualität.»

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Mit dem Umbau erfolgte ein massiver Ausbau des schulischen Überbaus

Bestgen weiss, wovon er spricht. Seit über 40 Jahren steht er in der Schule. Diese Schule sah sich in letzter Zeit einem Feuerwerk an Reformen gegenübergestellt. Die umfangreichen Innovationen wurden meist von oben verordnet, oft gar gegen die langjährige Erfahrung der Praktiker und gegen wissenschaftlich erhärtete Befunde. Der pädagogische Kompass kannte nur eine Richtung: Umbau, Reorganisation und Implementation von Neuem. Die Stichworte heissen: früher Fremdsprachenunterricht, Integration und Inklusion, selbst- und kompetenzorientiertes Lernen, Qualitätsmanagement und Lehrplan 21 «mit seiner gnadenlosen Überforderung aller Beteiligten», so Bestgen wörtlich. Es sind unzählige Teilprojekte. Kaum jemand hat den Überblick. Die Schule wurde nicht nur radikal umgebaut; mit diesem Umbau erfolgte auch ein massiver Ausbau des schulischen Überbaus. Die Schuladministration nahm zu; die Bildungsbürokratie wuchs und entfernte sich von der Praxis. Die Institution Schule ist zum Verwaltungsapparat geworden. Auch darauf verweist Bestgen: «Da wird in einem Verwaltungsbüro irgendetwas entschieden, ohne dass man dort die Realität kennt.» Von den Stäben fühlt er sich darum nicht ernst genommen.

Die Wirkung der Reformen ist ernüchternd. Viele Veränderungen im Schulsystem kranken daran, dass sie selten in ihrer Komplexität betrachtet und kaum zu Ende gedacht wurden.

Mit der Zunahme der Bürokratie nahmen auch die Vorschriften zu. Jede Reform brachte neue Vorgaben, erzeugte zusätzliche Dekrete und Direktiven, produzierte Papier und beanspruchte Berichte. Das alles engt den pädagogisch notwendigen Freiraum ein. Das Verantwortlich-Sein für die komplexen Lernprozesse der Kinder und Jugendlichen aber braucht Freiheit. Humane Energie kommt aus Freiheit, nicht aus Reglementen. Darum sagt Bestgen dezidiert: «Wir sollten die Lehrpersonen administrativ entlasten. Die klagen ja nie über die Kinder, sondern über das Drumherum. Das führt zur Überforderung.»

Nicht an kleinen Stellschrauben drehen

Die Wirkung der Reformen ist ernüchternd. Viele Veränderungen im Schulsystem kranken daran, dass sie selten in ihrer Komplexität betrachtet und kaum zu Ende gedacht wurden. Welche Effekte werden an welcher Stelle ausgelöst? Oder gar in Kauf genommen? Welches sind die Folgen? Am Ende ist es immer die Überkomplexität des Systems; sie relativiert die Reformeffekte oder kehrt ihre beabsichtige Wirkung gar um. Die Überkomplexität des Bildungssystems aufs Wesentliche und Grundlegende zu reduzieren, das wäre Aufgabe einer verantwortungsbewussten Bildungspolitik. An kleinen Stellschrauben wie den Hausaufgaben oder der Notengebung zu drehen genügt nicht. Gefordert ist die bildungspolitische Weitsicht, die Kernelemente einer guten Schule herauszudestillieren und das System neu auszurichten.

Bestgen, der Praktiker aus dem pulsierenden Schulparterre, fordert darum ein «gemeinsames Commitment der Bildung». Ob man aber seinen Mahnruf in der erfahrungsverdünnten Luft der Dachterrassen hört? Wieder ein Rufer in der Wüste? Vielleicht winkt darum Friedrich Dürrenmatt aus dem Grab: «Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.» Die Geschichte um die Folgen der Bildungsreformen ist noch nicht zu Ende. Leider.

An kleinen Stellschrauben wie den Hausaufgaben oder der Notengebung zu drehen genügt nicht. Gefordert ist die bildungspolitische Weitsicht.

 

 

 

 

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“Mit dauernden Alarmierungen lässt sich kein Bildungssystem steuern” – TEIL 1 https://condorcet.ch/2023/06/mit-dauernden-alarmierungen-laesst-sich-kein-bildungssystem-steuern-teil-1/ https://condorcet.ch/2023/06/mit-dauernden-alarmierungen-laesst-sich-kein-bildungssystem-steuern-teil-1/#respond Wed, 14 Jun 2023 04:42:11 +0000 https://condorcet.ch/?p=14296

Der emeritierte Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers sprach mit dem Nebelspalter-Journalisten Daniel Wahl über die massive Reformwelle der letzten 20 Jahre und deren Wirkung. Wir bringen das Interview in zwei Teilen. Hier Teil 1.

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Herr Oelkers, im Kanton Bern wurden innerhalb von 20 Jahren gut 20 Schulreformen eingeleitet. In anderen Kantonen dürften es nicht weniger sein. Haben die Reformer damit die Schule überfordert oder waren die Reformen zwingend?

Jürgen Oelkers: Wer definiert schon, was zwingend ist? Es sind alles Vorstösse in bester Absicht und den Nutzen erkennt man nicht, wenn man Reformen fordert und dann in Gang setzt. In gewisser Hinsicht sind Schulreformen auch unvermeidlich. Die Schulen stehen unter Beobachtung der Gesellschaft und die Bildungspolitik reagiert auf öffentliche Kritik. Lanciert werden die Reformen von unterschiedlicher Seite, manche kommen auch aus der Mitte der Schule, aber nicht jede Reform ist dort – je nach Belastungsfolgen – willkommen.

Aber die Menge erstaunt doch …

Juergen Oelkers, emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich

Ja, im Vergleich zu früheren Zuständen in der Schweiz ist das wirklich bemerkenswert. Sehr viele Akteure wollten in den letzten drei Jahrzehnten die Schule neu definieren oder sie für etwas verantwortlich machen, was die Gesellschaft selbst austragen müsste. Das geschah häufig unkoordiniert, aber alle Reformideen wollten es «besser» machen, was mehr oder weniger starke Defizitannahmen voraussetzt. Defizite kennen keine Grenzen, das erklärt die Zahl. Aber man muss auch homogenisierende oder sich selbst bestätigende Expertendiskussionen voraussetzen.

 

Reformitis an den Schulen am Beispiel des Kantons Bern

Eine kurze Chronik der 20 Berner Schulreformen: durchzogene Bilanz

 

Die Frage ist doch, was die Schule daraus macht?

Bei strukturellen Reformen, wie sie die Einführung der Schulharmonisierung (HarmoS) eine ist, kann die Schule nicht viel machen. Das wird von der Politik vorgegeben. Generell gilt aber: Die Lehrpersonen akzeptieren weitgehend nur das, was sich für den Unterricht verwerten lässt und was für den Betrieb unverzichtbar ist. Daher werden Reformen nach dem Masse der Überzeugung der Lehrerinnen und Lehrer praktisch vorangetrieben. Vieles wird auch gar nicht umgesetzt. Ideen versanden oder erscheinen Jahre später wieder unter neuem Gewand.

Welche Reform bringt die Qualität der Schule am besten voran?

Die Art und Weise, wie man Lehrmittel macht. Diese Antwort mutet vielleicht etwas fremd an. Aber: Der Unterricht hängt wesentlich von den Lehrmitteln ab. Sie wurden lange einfach benutzt und irgendwann ersetzt. Wenn man aber die Lehrmittel im Feld erprobt und vor der Einführung testet, hat man gute Chancen, die Qualität des Unterrichts zu verbessern.

Der Ertrag des Fremdsprachenunterrichts gemessen an den Erwartungen ist eher schmal.

Das sehen aber viele Eltern und Lehrer anders. Die neuzeitlichen teuren und kompetenzorientierten Lehrmittel für Französisch “Mille feuilles” und “Clin d’Oeil” und in Englisch “New World” standen derart in der Kritik, dass sie vielerorts entweder abgesetzt oder dass ihnen bewusst Alternativen zur Seite gestellt wurden.

Wenn sie schlecht sind, sollten sie schnell wieder abgeschafft werden. Doch ich bleibe grundsätzlich dabei: Schulreformen sollten heute bei den Lehrmitteln ansetzen, was durch die Digitalisierung nochmal dringlicher werden wird.

Halten Sie denn die Einführung von Frühenglisch und Frühfranzösisch für eine geglückte Reform?

Das waren Lehrplanreformen – Umschichtungen von Stunden. Man verlagerte Lektionen von der Oberstufe in die Mittelstufe und hatte die Erwartung, dass sich der Erwerb der Fremdsprache dadurch verbessern würde. Der Ertrag des Fremdsprachenunterrichts gemessen an den Erwartungen ist eher schmal, doch letztlich kommt es darauf an, welche Ziele im Unterricht verfolgt werden. Am Ende können die Schüler, wenn es hochkommt, Schulenglisch und Schulfranzösisch (oder Schuldeutsch in der Romandie).  Das Welsch-Jahr war lange der Ausweg. Vielleicht sollte man einen Sprachaufenthalt am Ende der Schulzeit zu einem curricularen Angebot machen.

“Schulreformen sollten heute bei den Lehrmitteln ansetzen.”

Würden Sie deswegen eine Sprachreform der Sprachreform ansteuern?

Das Frühfranzösisch und Frühenglisch in der Primarschule wollte man im Kanton Thurgau, wo ich wohne, wieder abschaffen. Das führte zu einem staatspolitischen Aufschrei. Aber die Frage ist, ob damit der Ertrag verbessert werden kann. Wenn man eine solch einschneidende Entscheidung fällen will, muss man ganz genau hinschauen: Mit welchen Lehrmitteln macht man das? Welche Kompetenzen bringen die Lehrer mit, welche müssen sie noch erwerben?

Was halten Sie von dieser Schulreform: Messung der Schulqualität mittels Pisa-Tests und weiteren Checks?

Der Pisa-Test scheint unvermeidlich und irgendwie muss man da mitmachen. Aber solche Tests nutzen sich über die Jahre ab. Wenn sich nach dem zehnten Pisa-Test zeigt, dass man zwar evaluiert wurde, aber das Ergebnis ungefähr immer dasselbe bleibt, kann man das Testen bleiben lassen. Man weiss ja, was kommt. Bei den Pisa-Tests ist die Schweiz in Mathematik ziemlich oben, bei den Sprachkompetenzen tiefer. Das wird sich auch in den nächsten zehn Jahren nicht ändern. So bleiben solche Tests häufig nur für die Datenanalysten in den Behörden oder in der Forschung spannend. Und: Mit dauernden Alarmierungen lässt sich kein Bildungssystem steuern.

Die Einführung der geleiteten Schulen, beziehungsweise die Einsetzung von Schulleitern – bezeichnen Sie das auch als unvermeidlich?

Die Schweizer Schulen haben damit das angelsächsische Modell übernommen. In Südkorea oder in Frankreich, wo die Schulen von Paris aus gesteuert werden, gibt es das nicht. Aber ich bin überzeugter Föderalist und ich glaube, es ist richtig, wenn man den Schulen eine hohe Autonomie und eigene Leitung zugesteht.

“Ich bin überzeugter Föderalist und ich glaube, es ist richtig, wenn man den Schulen eine hohe Autonomie und eigene Leitung zugesteht.”

Sind geleitete Schulen erfolgreicher als zentralistisch organisierte?

Was heisst erfolgreich? In Bezug auf die gemessenen Leistungen sind die asiatischen Schulen erfolgreicher als unsere. Auch Finnland ist spitze. Aber das ist kaum zu erklären, weil Finnland eine komplett andere Leitungskultur hat als die Südkoreaner. In Finnland gibt es beispielsweise keine Nachhilfestunden. Schweden wiederum steuert sehr schülerbezogen …

… mit anderen Worten sagen Sie: Es spielt keine Rolle, wie sich Schulen organisieren.

Nein. Wir haben Studien zur Schulleitung gemacht. Es gibt für die Schweiz keine flächendeckende Lösung. Doch bei Konflikten brauchten sie eine gute Schulleitung und eine erfahrene Moderation nach innen wie nach aussen. Die Schule wird mit Problemen konfrontiert, die Leitung verlangen, etwa im Blick auf die Folgen des Medienkonsums oder falsche Erwartungen der Öffentlichkeit. Zudem: Ohne ausgebildete Schulleitungen gäbe es kaum die Schulentwicklung, die wir heute haben. Und schliesslich braucht jede Schule eine gute Aussendarstellung.

Halten Sie die Einführung der «integrativen Schule» für geglückt?

Die Inklusion ist zunächst einmal die Gegenbewegung zur Separation, also die Auslagerung der ‘schwierigen’ Fälle. Früher hat man gedacht, dass man spezielle Angebote für Behinderte machen muss, aber das ist dann massiv ausgeweitet worden und hat zur Separation geführt. Inklusion ist die Gegenbewegung. Die Idee klingt gut und auch viele betroffene Eltern stehen dahinter. Bei den Lehrpersonen kommt die integrative Schule jedoch zunehmend schlechter an. Man befürchtet, im Unterricht bestimmte Standards nicht mehr halten zu können. Die integrative Schule braucht ausreichend Ressourcen. Schwerstbehinderte etwa benötigen eine Eins-zu-eins-Betreuung. Auch über «Schulinseln» oder kleine Klassen für bestimmte Lernzeiten in der Schule muss man reden, wenn die Massnahmen im Unterricht nicht greifen. Falsch ist es, Inklusion so zu verstehen, dass unter allen Umständen und unabhängig von den praktischen Erfahrungen einfach nur ein Prinzip verwirklicht werden soll. Man muss einfach lernen, was geht und was nicht.

Der Medienkonsum der Kinder ist unkontrollierbar geworden.

Damit kommen wir zu den Killerkriterien von Schulreformen. Sind die fehlenden Finanzen deren erster Todesstoss?

Nicht zwingend, denn die Ausstattung der Schulen und die Lehrergehälter sind in der Schweiz generell top. Aber für die Umsetzung sehr ehrgeiziger Reformen braucht es zusätzliche Mittel und nicht nur Umschichtungen. Anders lässt sich die Idee der Inklusion kaum umsetzen, aber das ist in den Kantonen eine sehr unterschiedliche Praxis. Zudem: Der Wandel der Schulkulturen in den letzten dreissig Jahren hatte auch Erfolg, niemand will zurück in die autoritäre Schule der Vergangenheit.

Was ist denn Ihr Killerkriterium?

Akzeptanz. Fehlt sie, wird das, was politisch gewollt ist, an der Schule nicht umgesetzt oder zum Dauerproblem. Die wesentlichen Probleme der Schule ergeben sich heute aufgrund des Wandels ihrer Umwelt und der Gesellschaft. Die Kinder werden beispielsweise von medialen Angeboten angezogen und sie vernachlässigen die Schreibfähigkeit, die Rechenfähigkeit. Der Medienkonsum der Kinder ist unkontrollierbar geworden. Das stellt die Schule auf eine harte Probe.

Haben Sie darauf eine Antwort.

Ja. Kontrolle, Einschränkung der Freiheit. Kinder zwischen 6 und 12 Jahren sehen heute Dinge, die sie nicht sehen sollten.

“Fehlt Akzeptanz, wird das, was politisch gewollt ist, an der Schule nicht umgesetzt oder zum Dauerproblem.”

Das müsste aber in erster Linie Aufgabe der Eltern und nicht der Schule sein.

Ja, und da sprechen Sie gleich ein weiteres Problemfeld von reellen Schulreformen an: Schulen betrachten Eltern oft als Ressourcen, die sie nur bei Bedarf miteinbeziehen können. Die Eltern berufen sich heute auf erweiterte Mitspracherechte, weshalb Schulen auf die Eltern zugehen und eingehen müssen – nicht in dem Sinne, dass Eltern den Unterricht oder die Notengebung mitbestimmen können. Aber die Schule muss mit ihnen ein Einverständnis erzielen. In Bezug auf den Medienkonsum heisst das: Schule und Eltern sollten eine gemeinsame Einstellung vertreten, welche Medien zulässig sind und wie der Medienkonsum der Kinder stattfinden kann. Es gilt zu klären, was die Eltern tun können und was die Schule dazu beitragen kann. Das ist allerdings leicht gesagt und schwer getan.

Ende Teil 1 des Interviews. 

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Interview mit einem Reformkritiker, der auch die Reformkritiker kritisiert https://condorcet.ch/2022/10/interview-mit-einem-reformkritiker-der-auch-die-reformkritiker-kritisiert/ https://condorcet.ch/2022/10/interview-mit-einem-reformkritiker-der-auch-die-reformkritiker-kritisiert/#comments Sat, 08 Oct 2022 22:33:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=11883

Die Redaktion hat geschmunzelt und von einem Altherren-Veteranen-Gespräch gesprochen. Trotzdem findet sie dieses Gespräch zwischen den beiden Reformkritikern, Lehrern und Condorcet-Autoren Alain Pichard und Res Aebi aufschlussreich. Es ist nicht nur eine kurzer Abriss über den Kamf gegen unausgegorene Schulreformen, es ist auch eine berührende Geschichte von zwei Freunden, die sich beigestanden, sich überworfen und wieder gefunden haben. Unter anderem im Condorcet-Blog.

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Res Aebi, Französischlehrer, Schulleiter, Fusballtrainer und Buchautor: Du hast Pulver falsch eingeschätzt.
Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Ich habe viel von dir gelernt.

Lieber Res, weisst du noch, wann wir uns kennengelernt haben?

Wann wir uns physisch zum ersten Mal gegenüberstanden, weiss ich nicht mehr. Aber zusammengeführt hat uns der Kampf gegen die Schüler*innen-Beurteilung, die der Kanton Bern im Jahr 2004 über die Lehrer*innen ergossen hatte. Wir bekämpften SchüBE beide, ohne voneinander zu wissen.

Es war in der Tat unglaublich. Zwei Tage zuvor war ich wegen eines SchüBE-kritischen Artikels vom damaligen Bildungsdirektor nach Bern zitiert. Ich sass – nur von meinem Gewerkschaftsvertreter begleitet – acht hochrangigen Personen gegenüber, die mir klarmachen wollten, dass ich Loyalitätspflichten verletzt hatte. Sogar mein Kommissionspräsident war anwesend und mir zutiefst feindlich gesinnt … und zwei Tage später kamt ihr mit eurer Unterschriftensammlung. Damit war der ganze Druck weg. Doch muss ich zugeben, dass ich vor dieser Verhandlung eine schlaflose Nacht hatte. Als Organisator eines Lehrerstreiks und aktiver Gewerkschafter im linken VPOD wäre eine Anstellung in einer anderen Gemeinde kein leichtes Unterfangen gewesen. Für einen dreifachen Familienvater keine einfache Situation.

Es erstaunt mich, dass du so isoliert warst. Sonst ist ja die Vernetzung eine grosse Stärke von dir.

Alain Pichard: Meine Karikatur brachte das Fass zum Überlaufen.

Ist es übertrieben, wenn ich sage, dass du diese unselige SCHÜBE fast im Alleingang gebodigt hast? Es war ein Husarenstück!

Alain, es ist weit übertrieben. Ich war zwar der Initiant und Koordinator der Aktion, wurde aber unterstützt von meiner ganzen Schule. Der damalige Schulleiter (Bernhard Mändli) stellte sich mit Rang und Namen auf die Podien, zu denen wir eingeladen wurden, das Kollegium stand voll hinter uns, und die Schulkommission samt Schulpräsidentin verpackte die Unterschriftenbögen. Zudem unterstützte uns die Sekundarschule Schwarzenburg mit Schulleiter Peter Meyer und seinem ganzen Background gleichwertig bei der Aktion. Am Schluss war es ein Gesamtkunstwerk, an dem viele Players beteiligt waren.

Euer Erfolg war spektakulär, da brachen die Dämme, auch in meinem Kollegium…

Der Husarenstreich, das war sicher unsere Abschluss-PK mit der Übergabe der 5’500 Unterschriften gegen SchüBE: Die Erziehungsdirektion hatte uns für die faktische Beerdigung von SchüBE ihren grössten Sitzungsraum zur Verfügung gestellt. Ich fand das, nach einer schwierigen Vorgeschichte, ein Zeichen von Grösse. Und der Stopp von SchüBE war ein Signal. Er führte dazu, dass der überschäumende Reformeifer des Kantons für ein paar Jahre gebremst wurde – die Lehrpersonen konnten durchatmen.

Ich habe damals viel gelernt von dir … Man muss versuchen, sich breit aufzustellen, Verbündete gewinnen…

SchüBE war unbeliebt und verärgerte die Lehrpersonen. Es gelang uns, die latente Unzufriedenheit aufzunehmen und gebündelt zum Ausdruck zu bringen. Aber dahinter steckte ein grosser  logistischer Aufwand. Wir mussten zum Beispiel irgendwo die ganzen Schuladressen organisieren – 2004 war genau das noch schwieriger als heute.

Andreas Aebi: Ich habe grausam gelitten.

Danach wurden wir Freunde – trotz des Fussballs!

Als YB-Fan litt ich damals grausam unter der Erfolglosigkeit meines Teams. Jahr für Jahr musste ich – meistens im St. Jakobspark – mitansehen, wie meine Gelbschwarzen gegen den FCB ehrenvoll verloren und am Schluss bestenfalls Zweiter wurden. Besonders schmerzvoll waren die Basler Schnitzelbängge, die man sich zu eben diesem Thema im Februar anhören musste. Inzwischen fühle ich mich sportlich markant besser aufgestellt. Aber da mein Fokus sowieso mehr dem Frauenfussball gilt, kann ich auch mal mit einem anderen Meister leben. Sogar mit dem FCZ. Du doch auch?

Die wahre Grösse zeigt sich in der Niederlage. Meine Bindung zum FCB wurde in den Zeiten des Misserfolgs eher noch stärker, denn vorher, in den goldenen Meister-Zeiten, war der FCB drauf und dran, ein Schicki-Micki-Klub zu werden.  Aber kommen wir zu dir zurück. Du wurdest auch Buchautor und ich durfte ganze Passagen deines Buches lektorieren.

Eine Liebeserklärung an unseren Beruf

Ja, ich habe 2013 mit «Hände hoch!» eine Art Hommage an unseren Beruf geschrieben, und darin durftest natürlich auch du nicht fehlen.

Ich durfte ganze Passagen lektorieren …

Ein Kapitel mit dem Titel «Herr Pichard!» ist einem Klassentreffen gewidmet, das wir zwischen dem OSZ Madretsch und der Sek Langnau organisierten. Hier erlebte ich von ganz nahe, was für ein leidenschaftlicher und einfühlsamer Lehrer du bist ­– und welche unterschiedlichen Berufs-Realitäten es im Kanton Bern eigentlich gibt. Hier, in der Multikulti-Schule Madretsch, brauchte es den Multitasker, Troubleshooter und Seelentröster Pichard, der zwischen Schulzimmern, Pausenhof-Schlachtfeldern und Sozialämtern herumraste. Dort, im beschaulichen Emmental, brauchte es einfach einen Lehrer. Ich habe grossen Respekt vor deiner beruflichen Leistung, Alain.

Weisst du, ich glaube, wir waren irgendwie seelenverwandt … zwei Typen, die Freude am Leben hatten, gut unterrichten und auch ein wenig gefallen wollten …

Zum Glück haben wir die veflixte Selbstgefälligkeit inzwischen abgestreift, gäu!  (lacht)

Als dann der Lehrplan kam, lancierten wir das Memorandum 550 gegen 550. Gedacht waren 550 Lehrkräfte, welche sich gegen 550 Seiten wehrten. Unterschrieben haben es schliesslich 1462 Lehrerinnen und Lehrer. Wie hast du diesen politischen Akt in Erinnerung?

Ein Erfolg, aber nicht mehr die gleiche Unterstützung.

Ich war zu Beginn ähnlich engagiert und motiviert wie bei SchüBE. In die redaktionelle Gestaltung des Memorandums war ich ja noch stark involviert. Bald realisierte ich aber, dass mir diesmal die lokale Unterstützung fehlen würde. Vom Gesamtschulleiter, dem unsere Schule mittlerweile unterstellt war, wurde ich als erstes ins Chefbüro zitiert und mit einem Verweis für meine publizistische Tätigkeit sanktioniert. Aber auch sonst harzte es mit dem Support…

Ich habe das vermutlich gar nicht richtig wahrgenommen, die Situation hatte sich geändert, wir stiessen auf viel weniger Support, obwohl auch das Memorandum ein Erfolg war und unter anderem dazu führte, dass der Lehrplan überarbeitet wurde …

Irgendwie konnte ich das nachvollziehen: So ein Lehrplan ist eine heisse Suppe voller Abstraktionen. Die Berner Lehrer*innen löffeln sie traditionellerweise erst im Gazpacho-Zustand aus, wenn überhaupt. Und im Unterschied zur SchüBE, die wir vor der Aktion bereits erprobt und für nutzlos befunden hatten, stand die Umsetzung des LP 21 ja erst bevor.

Er hörte jedem aufmerksam zu, machte kaum Notizen, brachte dann die Verhandlungen aber messerscharf auf den Punkt und fällte Beschlüsse erst dann, wenn sie ausdiskutiert waren.

Danach wurden wir von Bernhard Pulver eingeladen. Nach dem Gespräch lud er dich als Kritiker in das Gremium der Lehrplanmacher ein. Wie siehst du deine Tätigkeit heute?

Damaliger Erziehungsdirektor Bernhard Pulver: Mich überzeugte Bernhard Pulvers Argument, dass man diesen Lehrplan nicht mehr verhindern, aber noch mitgestalten konnte.

Es war eine meiner besten Entscheidungen. Beeindruckend waren auch seine Auftritte im Umsetzungsausschus zum LP 21. Wenn eine Vorlage seiner Direktion nicht dialektisch aufbereitet war, wies er sie zurück. Er hörte jedem aufmerksam zu, machte kaum Notizen, brachte dann die Verhandlungen aber messerscharf auf den Punkt und fällte Beschlüsse erst dann, wenn sie ausdiskutiert waren. Dazu gehörte auch, dass er Leute wie mich, wie die Väter und Mütter im Ausschuss, die gerade eigene Schulkinder hatten, und wie die Vertreter*innen von Bildung Bern wirklich ernst nahm. Im Verbund konnten wir beispielsweise erwirken, dass Eltern und Kinder nicht (schon wieder) mit Beurteilungs-Formularen überFLUTet wurden.

Ich sehe das natürlich immer noch anders. Bei aller Wertschätzung dieses Mannes, als Leiter des Lehrplangremiums war er mitverantwortlich für diese schwurbligen Kompetenzformulierungen, er wollte die überfachlichen Kompetenzen (Kann mit Vielfalt umgehen, Skala 1 -10) einführen und er stand voll hinter dem Passepartout-Blödsinn …

Ich habe ihn im Sitzungszimmer ganz anders erlebt. Er liess sich durch gute Argumente aus der Schulpraxis durchaus von seinen eigenen Positionen abbringen, immer wieder. Auch wenn du DIESE Petition vielleicht erst morgen unterschreibst, Alain: Ich finde, Bernhard Pulver ist ein aussergewöhnlicher Schnelldenker und Pragmatiker. Pulver for Bundesrat!

Ich habe rasch realisiert, dass rechtskonservative Kreise unsere pädagogisch unterlegte Opposition politisch zu instrumentalisieren versuchten.

Schon früh hast du dich über einen Teil der Lehrplankritiker genervt. Vor allem hast du dich konsequent gegen rechts abgegrenzt … Der Reformkritiker wurde auch ein Reformkritiker-Kritiker.

Ich habe rasch realisiert, dass rechtskonservative Kreise unsere pädagogisch unterlegte Opposition politisch zu instrumentalisieren versuchten. Plötzlich wurden wir von Fundamental-Patrioten wie Ulrich Schlüer und von freikirchlichen Kreisen gefeiert, aus sehr spezifischen Motiven.

Übertreibst du da nicht etwas? Ich habe mit diesen Leuten geredet. Sie hatten in ihrer Mehrheit ehrliche Motive und eine andere Sicht von Schule …

Ich bin im Geiste ein naturliebendes, liberales und vielfältiges Geschöpf. Eine Zusammenarbeit mit Leuten, die die Wahrheit für sich gepachtet haben oder gar für ihre Nation, kam für mich nicht in Frage.

Es kam zum Bruch zwischen uns. Wegen meiner permanenten Pulver-Kritik? Habe ich eure Bromance gestört?

Ach, was, das war nebensächlich. Aber ich konnte nicht verstehen, dass du für die «Weltwoche» schreibst und dem Rechtspopulisten Köppel zudienst, nur weil sich der die Flagge der Intellektualität und der Meinungsfreiheit umgehängt hatte.

Wieso soll ich nicht in der Weltwoche schreiben, Bodenmann tut es ja auch.

Wieso denn? Bodenmann, Wermuth, Muschg, ja sogar die Funincello schreiben ja auch für die Weltwoche …

An Köppel stört mich ganz konkret, dass er als landesweit ausgerichteter Journalist einen zweiten Hut trägt, der sich ganz schlecht mit seinem Beruf verträgt: Er ist gleichzeitig Nationalrat. Wenn man die Medien als die vierte Staatsgewalt im Lande betrachtet – und das sind nach Köppels eigener Lesart die Medien ja – dann müsste er spätestens nach seiner Wahl den Job bei der Weltwoche im Sinne der Gewaltentrennung an den Nagel gehängt haben. Hat er aber nicht – im Gegenteil: Wiederholt stand seine parlamentarische Immunität zur Debatte, weil Internas aus Kommissionen plötzlich in der Weltwoche auftauchten. Ein journalistisches No-Go und eines Politikers unwürdig.

Einverstanden, aber ist denn das Problem nicht auch, dass die Mainstream-Medien, und vor allem auch die Linke, diese Bildungsreformen fast bedingungslos unterstützt hatten und viel zu wenig kritisch waren?

Die Mainstream-Medien … das ist auch so ein Begriff von Köppel. Wer soll denn das sein? Du willst doch nicht im Ernst behaupten, Zeitungen und Portale wie «20 Minuten», «Blick» oder der «Bund» seien auf derselben politischen Linie? Das Problem bei den Reformen war das mediale Schweigen. Wen interessiert denn so ein Lehrplan, Alain? Ist doch einfach kein journalistischer Gassenhauer.

Von dir stammte ja der Satz: «Die Genossen scheinen nur noch für die Genossen in den Büros zu kämpfen.»

Zu dieser Aussage stehe ich heute noch. Leider hat sich auch in meiner alten Partei (heute bin ich parteilos) teilweise das Klüngel-Prinzip ausgebreitet. Die SP ist damit zwar beileibe nicht allein, es ist trotzdem stossend.

Was mir wirklich auf die Nerven geht, ist dieses «Guilt by association» , wie die Engländer sagen. In Frankreich lehnen sich ja auch die Linke Badinter und der rechte Finkelkraut gegen die Bildungsreformen auf. Der Franzose sagt dem «Alliance contrenaturelle», niemand käme in Frankreich auf die Idee, Frau Badinter das vorzuwerfen. Es geht doch um die Inhalte.

Hundertprozentig einverstanden. Das Problem ist nur: Wie bringst du diese anspruchsvollen Debatten zur volksdemokratischen Basis, etwa zu den Bildungsabteilungen einer Gemeinde, die oft entscheidende Weichenstellungen vornehmen müssen? Ich weiss das selber nicht.

Der Einspruch: Liberaler und linker Widerstand gegen den Lehrplan 21. Eine Erfolgsstory.

Ich habe mit Beat Kissling und Yasemin Dinekli zwei Broschüren «EINSPRUCH» herausgegeben, mit denen ich vor allem die linke Kritik bündeln wollte. Es schrieben fast nur explizit linke Kritiker in diesen Broschüren. Du nicht. Warum?

Meine eigene Schule wurde in dieser Zeit von Führungswechseln durchgeschüttelt. Ich musste mithelfen, das Kollegium und den Betrieb irgendwie wieder in die Spur zu bringen, zunächst in der Steuergruppe, dann als Interims-Schulleiter. Ausserdem hatte ich alle Hände voll zu tun beim Fussballverband Bern-Jura, wo ich den Frauenfussball voranzubringen versuchte.

Ich habe die Lehrplaninitiative der Kritiker unterstützt. Auch hier gingen unsere Meinungen auseinander. Und du solltest letztlich Recht behalten. Wir gingen mit nur 30% Unterstützung regelrecht unter. Wie siehst du das heute?

Ihr wart erstens zu wenig breit abgestützt …

Kein Wunder, wir wurden ja auch in die Schwefel-Ecke gestellt ….

… zweitens war der Lehrplan inzwischen eingeführt – und fast geräuschlos. Und drittens habt ihr euch zu ideologisch gegen die Kompetenz-Orientierung aufgelehnt. So, wie ihr den Kompetenz-Begriff gebrandmarkt habt, wurde und wird er zum Glück in den meisten Schulen nicht umgesetzt. Ausserdem haben sich namhafte LP-21-Promotoren – auch dank eures Drucks – in der Zwischenzeit korrigiert, indem sie dem Wissen wieder den nötigen Respekt entgegenbringen. War ja schon immer einleuchtend: Ohne (Vor-)Wissen baust du keine Kompetenz auf. Oder wie willst du eine Schraube in die Decke drehen, wenn du nicht weisst, was eine Schraube, ein Schraubenzieher und eine Decke sind? Mit anderen Worten: Eure Initiative wurde versenkt, weil die Stimmbürger*innen an den gesunden Menschenverstand glauben. Ist doch auch nicht schlecht.

Es war nicht meine Initiative, ich habe sie einfach unterstützt …

Mitgehangen, mitgefangen. Das wäre dann ein Klassiker.

Diesen Punkt gewinnst du … Als wir den Condorcet-Blog gegründet haben und ich dich gefragt habe, ob du mitmachst, hast du aber sofort zugesagt. Was findest du an diesem Blog gut?

Er fördert die Vielfalt! Die Verwaltungs- und Fachpresse ist oft eine Hofpresse und neigt entsprechend zur Selbstbeweihräucherung. Und die beackern natürlicherweise nur die Themen mit politischem Zündstoff, womit wir wieder beim Thema Gassenhauer landen. Für die alltäglichen Sorgen, die die Lehrpersonen, die Schüler*innen und ihre Eltern umtreiben, fehlt manchmal eine Plattform. Vor allem aber fördert Condorcet den pädagogischen Dialog. Damit das gelingt, braucht es unterschiedliche Meinungen von jungen und älteren Menschen mit vielfältigem Hintergrund. Ich wünsche weiterhin gutes Gelingen!

Das Wichtigste: Ich werde bis zuletzt mit einem Kribbeln im Bauch in die Schule radeln.

25 Jahre, 20 Bildungsreformen, nächstes Jahr wirst auch du pensioniert. Welche Bilanz ziehst du?

Das Wichtigste: Ich werde voraussichtlich bis zum letzten Schultag mit einem Kribbeln im Bauch zum Schulhaus radeln. Schule geben ist einfach schön. Solches Seelenglück verdanke ich der Vielfalt von Schüler*innen, denen ich begegnen durfte, aber auch den vielen kreativen Kolleg*innen, von denen ich manches abschauen konnte. All die schönen Erfahrungen überstrahlen bei weitem die kleinen Ärgernisse. Unausgegorene Reformen? Alles Peanuts! Man kann ja dagegen kämpfen.

Und zum Schluss: Wer wird Schweizer Fussballmeister bei den Männern und bei den Frauen?

Ich traue den Degen-Brüdern zu, die Transferumtriebe von Sion-Präsident Christian Constantin noch zu übertrumpfen. Meister wird also wieder YB. Die haben irgendwie nicht nur auf dem Spielfeld ein System. Im Frauenfussball wirft Arsenal den FCZ aus der Champions League, womit auch die Basler wieder zufriedengestellt wären. Mir häbe zäme, Alain!

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Klassische Klassen haben ausgedient https://condorcet.ch/2022/09/klassische-klassen-haben-ausgedient/ https://condorcet.ch/2022/09/klassische-klassen-haben-ausgedient/#comments Sun, 25 Sep 2022 12:58:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=11694

Bis 2010 wurden Klassenräume nach Maßen gebaut, die noch von Kaiserin Maria-Theresia festgelegt worden waren. Ab dem nächsten Schuljahr sollen neue Lehrpläne in Kraft treten, die ganz auf neue pädagogische Konzepte setzen, die sich in den alten Gebäuden nicht umsetzen lassen – Stichwort Projektgruppen. Schularchitektur rückt deshalb in den Fokus. Für Kritiker der neuen Bildungsreformen ein Fingerzeig, dass die umstrittenen Elemente nun auch in der Architektur ihre Vollendung finden sollen. Wir bringen einen ziemlich euphrischen Beitrag des ORF-Journalisten Nicola Eller.

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Am Freitag endet die zehnwöchige Begutachtung der neuen Lehrpläne für die Volksschule, Mittelschule und AHS-Unterstufe. Das selbstständige Lernen und kritische Urteilsvermögen der Schülerinnen und Schüler stehen im Vordergrund der neuen pädagogischen Konzepte. Sie orientieren sich nicht nur an der Wissensvermittlung, es geht auch um die Kompetenz, das Erlernte umsetzen zu können. Ab dem Schuljahr 2023/24 sollen die neuen Lehrpläne in Kraft treten.

Der Architekt Georg Poduschka erklärt im Gespräch mit ORF.at: „Wenn wir freies Lernen und Projektunterricht betreiben wollen, dann tun wir uns in den bestehenden neun mal sieben Meter großen Klassenzimmern schwer.“ Diese Größe beruht noch immer auf einer 1774 von Kaiserin Maria Theresia ausgehenden Richtlinie. Bis ins Jahr 2010 wurden fast alle Klassenräume mit den damals eingeführten Maßen gebaut. Ein Quadratmeter für jeden Schüler und jede Schülerin, eineinhalb Quadratmeter für den Lehrer und eineinhalb Quadratmeter für den Ofen.

Verglaste Wände als neuer Standard

Schon seit der Bildungsreform 2017 hat sich an Österreichs Schulen viel verändert. Die Lehrkräfte können ihren Unterricht viel eher als davor nach den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gestalten. Das Eingehen auf die Talente jeder Schülerin und jedes Schülers soll seither im Vordergrund stehen. Doch die Abkehr vom reinen Frontalunterricht erfordert nicht nur motivierte Lehrkräfte, die es verstehen, sich als Team zu organisieren.

Das Modell der Cluster-Schule, bei dem Unterrichts- und Aufenthaltsraume zu einer Einheit zusammengefasst werden, um flexibler mit neuen pädagogischen Formen umgehen zu können, löst das System von Gang und Klassenraum ab. Die Architektur der Schulgebäude spielt eine wesentliche Rolle in diesem Paradigmenwechsel. Auch die Architektur der Schulgebäude spielt dabei eine wesentliche Rolle. Ein Beispiel für die neuen Anforderungen: Durch verglaste Wände können die Pädagoginnen ihrer Aufsichtspflicht nachkommen, auch wenn sie wegen der Unterteilung in Kleingruppen nicht mit allen ihren Schützlingen beisammen sind.

Die Gangschule ist Geschichte

Die SchülerInnen suchen sich ihren Platz zum Lernen selbst.

Von den 6.000 Schulen in Österreich entsprechen nur wenige diesen neuen Anforderungen. In vielen Einrichtungen wird daher improvisiert. Der Projektunterricht findet häufig auf Fleckerlteppichen im Gang vor den Klassenzimmern statt. Wohnliche Räume fehlen noch vielerorts. Es wird also noch viel in hochwertige Umbauten und Neubauten investiert werden müssen, sind sich Architektinnen und Architekten einig.

2020 startete das Bildungsministerium unter ÖVP-Minister Heinz Faßmann das Schulentwicklungsprogramm (SCHEP 2020). 2,4 Milliarden Euro fließen in den nächsten Jahren in den Neu- und Umbau sowie Sanierungen der Bundesschulen. Schulerhalter für die Pflichtschulen sind Länder und Gemeinden. Die Bürgermeister als oberste Bauinstanz sind da gefordert, qualitätssichernde Prozesse wie etwa Architekturwettbewerbe zu garantieren.

Schon jetzt gibt es positive Beispiele. In der Volksschule „Dorf“ in Lauterach in Vorarlberg etwa herrscht eine gemütliche Atmosphäre. Ein paar Kinder kommen aus ihrem Klassenzimmer in den großen, offenen Gemeinschaftsraum. Alles ist hier aus Holz und natürlichen Materialien gebaut. Die Schülerinnen und Schüler schnappen sich jeweils einen kleinen Teppich und breiten darauf ihre Lernsachen aus. „Wir bekommen einen Wochenplan und dürfen uns aussuchen, mit welchen Aufgaben wir anfangen. Wenn du Bock hast auf Mathe, dann kannst du Mathe machen“, erklärt Ida aus der dritten Klasse.

Die Natur auf Augenhöhe

Eine offene Schule mit gemütlichen Ecken zum Lesen und Spielen hat sich die heute pensionierte, ehemalige Direktorin Karin Flatz gewünscht. Das 80 Jahre alte Schulgebäude war für einen zeitgemäßen Betrieb nicht mehr geeignet. Die Gemeinde entschied sich, den Altbau zu erhalten und die Schule mit einem Neubau zu erweitern. Die Architektinnen Susanne Fritzer und Wolfgang Feyferlik entschieden sich für ein einstöckiges Gebäude.

„Die Schwellenlosigkeit von innen nach außen ist in der Elementarpädagogik von großer Bedeutung“, betont Feyferlik. Überall im Schulgebäude können die Kinder auf Augenhöhe in die Umgebung sehen. Als klimatischer Puffer gibt es vor jedem Klassenzimmer eine verglaste Fläche, den Wintergarten.

Ein Anrecht auf den Außenraum

Die Natur ins Klassenzimmer bringen, das geht auch in einer dicht besiedelten Gegend im zwölften Bezirk in Wien. Für die Ganztagesvolksschule Längenfeldgasse, die in den oberen Stockwerken auf der Berufsschule Platz bietet, entschloss sich das Architekturbüro PPAG, in die Höhe zu bauen. Dadurch konnte nicht nur Bauplatz gespart und der Obstgarten erhalten bleiben. Die Fensterfronten der Klassenzimmer sind bis zum Boden verglast, sodass die Kinder die Bäume im Blick haben.

Blick in die Bäume in einer Klasse der Volksschule Längenfeldgasse.

Einrichtung einer Schule

„Das sind positive Reize, die sehr wichtig sind für die Entwicklung eines kindlichen Gehirns.“ Hemma Fasch hat mit ihrem Kollegen Jakob Fuchs knapp 20 Schulgebäude in Österreich errichtet. Darunter den Campus Neustift in Tirol, der wie ein Lernteppich in die Landschaft eingebettet ist und wo die nächsten ProfiskifahrerInnen ausgebildet werden. „Wenn ich den Außenraum sehe, dann möchte ich ihn auch unmittelbar betreten können“, so Fasch.

Freies Lernen in flexiblen Räumen

Gut durch die Pandemie ist man im Bildungscampus Sonnwendviertel gekommen. In der Volksschule und Mittelschule in Wien Favoriten hat jede Klasse einen Zugang ins Freie, ob auf eine Terrasse oder in den Garten. Dort erledigen die SchülerInnen ihre Arbeiten und verbringen auch ihre Freizeit. Der Bau des Architekturbüros PPAG aus dem Jahr 2014 war der erste Schulbau in Wien, der neue Maßstäbe im Bildungsbau gesetzt hat.

„Früher sind wir als Kinder von der Schule in den Hort gewandert“, erinnert sich Anna Popelka. „Heute haben wir einen ganztägig verschränkten Unterricht, wo sich Lernen und Freizeit abwechseln. Dazu brauchen wir wandelbare Räume, die eine gewisse Wohnlichkeit haben.“

Christian Kühn ist Experte für Bildungsbau und Leiter der Architekturtage, die sich heuer dem Bildungsbau verschrieben haben: „Diese Flexibilität ermöglicht, den SchülerInnen, sich ihre Lernwelt herzurichten und damit auch Entscheidungen zu treffen. Sie bemerken, dass sie wirksam sein können.“

Anarchistische Schulmöbel

Bewegung und Lernen sind in der modernen Pädagogik eng verknüpft. In den neu errichteten Schulgebäuden ist die Pausenglocke Geschichte. Nach der „Input-Phase“, in der die Lehrpersonen den Lernstoff vortragen, suchen sich die Schülerinnen ihren Ort, um das Erlernte zu vertiefen. Dazu gibt es Projekträume und Bereiche vor den Klassenzimmern, mit Sitzsäcken und mobilen Möbeln.

Apropos Möbel: Für den Campus Sonnwendviertel haben PPAG polygonale Tische entworfen, die an einen Rochen erinnern und an denen mehr als zwei Kinder sitzen können. „Manta-Tische“ nennen sie die Architekten. Wie man sie auch dreht und wendet, sie lassen sich nicht in eine Linie bringen. Der klassische Frontalunterricht, bei dem alle Augenpaare nach vorne gerichtet sind, ist so unmöglich.

Chancengleichheit bauen

Im Campus Schendlingen, einem Bezirk von Bregenz, haben 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht Deutsch als Erstsprache. Viele Kinder und Jugendliche erfahren zu Hause kaum schulische Unterstützung. „Wir versuchen, ihnen also tatsächlich eine Art Tagesfamilie zu sein, die Halt und Anker bietet. Die Beziehungsarbeit zwischen den Lehrpersonen und den Jugendlichen ist überhaupt der zentrale Faktor hier an dieser Schule”, sagt Tobias Albrecht, Schulleiter der Mittelschule Schendlingen.

Jede Klasse des Campus Sonnwendviertel hat einen Zugang ins Freie.

Die Zusammengehörigkeit fördert die Aula, wo die Schüler und Schülerinnen an langen Holztischen gemeinsam essen und zu anderen Zeiten miteinander lernen. Überall laden Sofas zum Entspannen ein. Das Schulgebäude, entworfen von einer Arbeitsgemeinschaft dreier Vorarlberger Architekturbüros, setzt in den Materialien auf eine Wohlfühlatmosphäre. Unbehandeltes Holz und Schafwolle, wohin das Auge blickt.

So viel Glas, lenkt das nicht ab?

Anfangs waren die Lehrerinnen und Lehrer noch skeptisch, ob die Schüler und Schülerinnen durch die Aus- und Einblicke vom Unterricht abgelenkt werden. Heute ist für sie der Unterricht ohne die transparenten Räume undenkbar. „In der ersten Woche waren die Kinder vom Bagger vor dem Fenster noch abgelenkt, aber dann war es kein Thema mehr“, erinnert sich Andreas Gruber, der Direktor der Mittelschule Sonnwendviertel.

„Es gibt keine Aufregung mehr, wenn draußen was passiert. Es ist ganz normal, dass man von einem Bildungsraum in den anderen schauen kann. Und es gibt nicht nur Luft und Licht, sondern auch dieses Freiheitsgefühl. Ich bin nicht eingesperrt, auch wenn einmal alle Türen zu sind.“

Anreize für die Umgebung

Geht man durch Bildungsbauten wie jene in Lauterach und im Sonnwendviertel hat man das Gefühl, in einem Dorf zu sein. Mit Wegen und Plätzen, wo sich die Schüler treffen und aufhalten können. Es ist für das Selbstbewusstsein wichtig, dass es nicht nur einen Weg vom Haupteingang zum Klassenzimmer gibt“, beschreibt Popelka ihr Konzept. Die Jugendlichen können zwischen mehreren Wegen wählen. Für den 13-jährigen Filip bietet das auch die Möglichkeit, wie er mit einem Augenzwinkern zugibt, dem Direktor aus dem Weg zu gehen, wenn man mal zu spät in die Schule gekommen ist.

Für Kühn haben Schulen eine wichtige Bedeutung für die Umgebung. „Das sollte für jede kleine Gemeinde und jede Stadt ein Anliegen sein, dass die Schule eines der schönsten Häuser ist. Er plädiert dafür, dass sich Schulen viel weiter öffnen und etwa öffentliche Bibliotheken integrieren. Viele Vereine nützen schulische Sporthallen schon heute. In Schendlingen geht man noch weiter. Der Sportplatz vor der Schule ist nicht eingezäunt. Alle Menschen des Viertels können ihn gratis nützen. Konsumfreie Zonen im öffentlichen Raum sind ein wertvolles Gut, das es zu schützen gilt.

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Bildungsdebakel und neoliberale Konzepte https://condorcet.ch/2022/09/bildungsdebakel-und-neoliberale-konzepte/ https://condorcet.ch/2022/09/bildungsdebakel-und-neoliberale-konzepte/#respond Mon, 12 Sep 2022 09:36:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=11500

Dr. Eliane Perret knüpft an die Ausführungen des Sekundarlehrers Iten an, der sich mit den Ursachen des Lehrkräftemangels beschäftigte (https://condorcet.ch/2022/09/lehrkraeftemangel-falsche-ursachen-verkehrte-schlussfolgerungen/). Auch sie legt den Fokus auf die neoliberalen Reformen der Vergangenheit.

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Der Mangel an Lehrkräften, die hohe Fluktuation in den Schulhäusern, fach- oder stufenfremdes Unterrichten und Burnouts sind seit einigen Jahren Probleme unserer Schulen. Eine Analyse der Ursachen (1) braucht den Blick auf die Vorgänge im Bildungswesen während mindestens der letzten drei Jahrzehnte. In dieser Zeit ist ein Tornado über die Schulen hinweggefegt. Zuvor war den Schweizer Schulen im internationalen Vergleich stets sehr hohe Qualität attestiert worden. Das änderte sich Mitte der 90er Jahre, als die OECD die Unesco (auf Druck der USA) aus deren Führungsaufgabe drängte. Die Wirtschaftsorganisation arbeitete fortan die Indikatoren aus, mit denen Bildungssysteme international verglichen werden sollten. Dazu konzipierte sie die Pisa-Tests. Sie hatten keinerlei Zusammenhang mit der europäischen Bildungstradition und den nationalen Bildungskonzepten und Lehrplänen, sondern gründeten auf dem anglo-amerikanischen Bildungssystem. Trotz des damit verbundenen Theorie- und Kulturbruchs gegenüber der europäischen Bildungstradition segneten die OECD-Länder das Pisa-Konzept ab. Der Schock über die unerwartet schlechten Resultate des ersten Pisa-Tests wirkte als Katalysator einer Reformkaskade, mit denen unser Volkschulsystem aus seinen demokratischen Strukturen herausgelöst wurde. Es kam zu Volksabstimmungen mit wenig transparenten, gesetzlichen Vorlagen, die ausreichend Spielraum für Verordnungen aufwiesen und mit denen umstrittene Massnahmen eingeführt werden konnten. Beispiele waren die Abstimmungen 2006 über einen  Bildungsartikel in der Bundesverfassung und die Errichtung des HarmoS-Konkordats. In einer der wenigen unabhängigen Studien wunderte man sich, wie locker diese grundlegenden Reformen in der Schweiz möglich waren (2).

Das Bildungwesen wurde damit zu einem Objekt neoliberaler Konzepte, welche aktueller Fehlentwicklungen bestimmen.

Einige Zeit zuvor (1995) waren von Welthandelsorganisation WTO globale Freihandelsverträge beschlossen worden. Eines dieser Abkommen war das General Agreement on Trade in Services GATS (=Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen). Es fordert einen laufenden Prozess der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, auch des Bildungswesens. Die Schweiz unterzeichnete dieses Abkommen 1995 und belegte es mit keiner der möglichen Ausnahmeklauseln. Das Bildungwesen wurde damit zu einem Objekt neoliberaler Konzepte, welche aktueller Fehlentwicklungen bestimmen.

Schulen und Universitäten als kundenorientierte Dienstleistungsunternehmen

Ernst Buschor, ehemaliger Professor für Betriebswirtschaftslehre an der HSG

NPM, diese drei Buchstaben stehen für New Public Management, zu deutsch Reform der öffentlichen Verwaltung (3). Es ist das Werkzeug neoliberaler Regierungen, mit dem öffentliche Ausgaben reduziert und aus dem Staat ein kundenorientiertes Dienstleistungsunternehmen gemacht werden soll. Mit NPM erfolgte nun die Umgestaltung unseres demokratisch organisierten und kontrollierten Bildungswesen zu einem betriebswirtschaftlichen gemanagten Schulbetrieb. Es ging um Sparprogramme, Effizienz und Effektivität. Im Kanton Zürich ist damit der Name des damaligen Regierungsrats Ernst Buschor verbunden. Der ehemalige Professor für Betriebswirtschaftslehre an der HSG übernahm 1995 die Leitung des Zürcher Erziehungsdepartements unter der Bedingung, es mit diesen Methoden umgestalten zu können. Es folgte ein Reformsturm – immer begründet mit Finanzknappheit, Spardruck und dringend notwendiger Modernisierung. (4)

Entdemokratisierung, Firmenstrukturen und CEOs

NPM gab also den Fahrplan vor, mit dem unsere Schulen zu Dienstleistungsunternehmen mit Globalbudgets und entsprechenden Hierarchieebenen umstrukturiert wurden. Dazu gehörten Firmenstrukturen: An Stelle des bisherigen Kollegialitätsprinzips traten Schulleitungen (=CEOs), die heute von Managern ohne Lehrbefähigung  und Unterrichtserfahrung übernommen werden können. Ein sehr wichtiger Reformpunkt war die Abschaffung der subsidiär organisierten Behördenstrukturen durch zentralisierte Verwaltungsbehörden: Schulleitungen statt Schulpflegen, Fachstellen für Schulbeurteilung statt Visitatoren usw. Sie machten eine Top-Down-Strategie zur Durchsetzung der Reformen möglich.

Viele LehrerInnen hatten genug, sie stiegen aus dem Beruf aus, übernahmen nur noch kleine Pensen oder suchten sich pädagogische Nischen.

Berufsbild völlig verändert.

Die Lehrkräfte wurden neu mit in der Privatwirtschaft üblichen Verträgen eingestellt, lohnwirksamen Mitarbeiterbeurteilungen unterzogen und erhielten einen neuen Berufsauftrag. Die Lehrerausbildung wurde im Kontext der von der OECD und dem Aktionsrahmen Bildung 2030 der Unesco neu konzipiert. An Stelle der Seminarien traten die  Pädagogische Hochschulen, an denen heute die Studierenden vorrangig in die methodischen und inhaltlichen Unterrichtsprinzipien (individualisierte Lernprogramme und Classroom-Management) aus dem anglo-amerikanischen Raum eingeführt werden. Das führte zu einem völlig veränderten Berufsbild von LehrerInnen.

Eine ehrlich geführte öffentliche Debatte über diesen Kulturwandel unseres Bildungswesens fand nie statt. Im Gegenteil, die kritischen Einwände und fundierten Analysen wurden nicht nur in den Wind geschlagen und als Verschwörungstheorien abgetan, sondern über Jahre hinweg mit einer für die Schweiz unüblichen, hässlichen Medienkampagne ausgeschaltet. Viele LehrerInnen hatten genug, sie stiegen aus dem Beruf aus, übernahmen nur noch kleine Pensen oder suchten sich pädagogische Nischen.

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Bildungspolitischer Rückzug ins Funktionale https://condorcet.ch/2022/08/bildungspolitischer-rueckzug-ins-funktionale/ https://condorcet.ch/2022/08/bildungspolitischer-rueckzug-ins-funktionale/#respond Sun, 28 Aug 2022 10:54:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=11222

Noch vor Kurzem fehlten Hunderte von Lehrkräften. Nun startet das neue Schuljahr, die meisten Stellen sind besetzt – viele mit sogenannten Laienlehrpersonen, LLP. Courant normal? Und kann die Bildungspolitik einfach weiterfahren wie bisher?, fragt Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard:Was ich nötig hatte, waren die Lehrer.

Beim Beginn der Sommerferien waren allein im Kanton Zürich 260 Stellen nicht besetzt. Händeringend suchten Schulgemeinden nach Lehrpersonen; verzweifelt wurden Pensionierte angeschrieben, Inserate publiziert und Videos aufgeschaltet. In ihrer Not stellten die Verantwortlichen auch Leute ohne Diplom ein. Über 300 sogenannte Laienlehrpersonen LLP, kurzfristig rekrutiert, sind in diesen Tagen an den Zürcher Schulen gestartet.

Das Wesentliche der Schule geschieht im Kernbereich

Noch vor Kurzem verlangten die Pädagogischen Hochschulen für die Kindergärtnerinnen und die Primarlehrer eine Ausbildung mit mindestens neun Semestern und einem Master-Abschluss. Der Beruf sei äusserst anforderungsreich geworden, und die Gesellschaft verlange es, wurde argumentiert. Nun genügen das Interesse und die Freude an Kindern, der Spass am Unterrichten und das Gefühl: «Das traue ich mir zu!» Und schon kann man vor eine Schulklasse treten, die Kinder ins Können und Wissen einführen und junge Menschen auf ihrem Lern- und Lebensweg begleiten. Wie wenn es das Einfachste der Welt wäre und ein einwöchiger Crashkurs genügte!

Doch wer in den Unterricht hineinzoomt, entdeckt etwas höchst Anspruchsvolles, ein magisches Dreieck. Es ist der elementare Kern jeder Schule: die Trias zwischen Lehrerin/Ausbildner – Schülerin/Schüler – Unterrichtsinhalt. Ein geheimnisvoller Dreiklang mit drei Achsen: die tragende und prägende pädagogische zwischen der Lehrperson und den Jugendlichen einerseits, die eminent wichtige fachdidaktische Komponente anderseits und als Drittes das fachliche Fundament. Diese drei Achsen bilden den Resonanzraum. Da drin ereignet sich das Eigentliche und Wesentliche von Schule und Unterricht; hier erfolgt das A und O des pädagogischen Alltags: die Grundbildung als Basis für alles weitere Lernen.

Noch vor Kurzem verlangten die Pädagogischen Hochschulen für die Kindergärtnerinnen und die Primarlehrer eine Ausbildung mit mindestens neun Semestern und einem Master-Abschluss.

Die Kinder unterrichten und sie nicht einfach begleiten

Es sind die Mikroprozesse des Lernens: Dazu gehören das Aufbauen mit dem Verstehen, das Konsolidieren mit dem Festigen und Üben, sei es von Wissen oder Können, sowie das Anwenden des Gelernten – und das Zusammenspiel dieser Teilprozesse mit all den vielfältigen, filigranen Verknüpfungen im aktivierten Gedächtnis.

Unterrichten, nicht einfach betreuen.

Für den systematischen Aufbau der Grundfertigkeiten ist dieses schulische Kerngeschehen grundlegend. Gute Lehrerinnen und Lehrer wissen dies; sie wissen, worauf es bei diesen Mikroprozessen des Lernens ankommt. Sie fokussieren bei ihrer Arbeit auf diese Aspekte; sie organisieren nicht einfach Unterricht, sie verabreichen nicht einfach Arbeitsblätter, sie begleiten nicht einfach digitale Lernprogramme. Nein, bei ihnen kommen Kinder mit dem Denken in Berührung; sie werden, wie es heisst, kognitiv aktiviert. Diese Lehrpersonen organisieren strukturierte Lernprozesse; sie konzentrieren sich auf die Qualität ihres pädagogischen Wirkens – und damit auf ein effizientes individuelles und soziales Lernen ihrer Kinder. Das verlangt viel. Wer seinem Unterricht diesen Fokus zugrunde legt, trägt ganz im Stillen, aber äusserst wirksam zur Chancengleichheit bei.

Während Jahren war die Schule eine Baustelle. Reform über Reform. Hunderte von Innovationen? Und der Effekt? Die Wissenschaft kann ihn nicht benennen.

Lehrermangel: Die Qualität der Schule leidet nicht

Im pädagogischen Handeln prägt vermutlich das Wie jedes Was: Wie ich als Lehrer meinen Schülerinnen und Schülern gegenübertrete und als Pädagogin mit ihnen ins Gespräch komme und mit den Inhalten vertraut mache – wie ich sie ermutige, wie ich sie zu sich selbst führe und damit zum Denken als innerem Dialog zwischen mir und mir selbst. Das alles geschieht in diesem pädagogischen Dreieck. Hier liegt die Qualität des Unterrichts. Das erfordert hohes berufliches Wissen und Können.

Matthias Weisenhorn, Abteilungsleiter Lehrpersonal, Kt. Zürich: Qualität leidet nicht!

Doch davon ist im Moment kaum die Rede. Die verantwortlichen Bildungsfunktionäre schauen weg. Ob die Qualität der Zürcher Schule wegen des Lehrermangels leide, wurde der kantonalzürcherische Abteilungsleiter Lehrpersonal, Matthias Weisenhorn, gefragt. „Nein!“, lautete seine Antwort.[1] Er tut so, als ob alles in Ordnung sei: Hauptsache, die Stellen sind irgendwie besetzt. Dabei unterrichten gegen dreissig Prozent der Lehrerinnen und Lehrer auf einer Stufe oder in einem Fach, ohne dafür ausgebildet zu sein. Doch kaum jemand aus den Bildungsdirektionen will dieses Faktum als das hinstellen, was es ist: eine Notmassnahme, die sich seit Jahren angekündigt hat und der niemand rechtzeitig entgegengetreten ist. Von den Folgen für die Schülerinnen und Schüler ganz zu schweigen!

Warum verharrt die Bildungspolitik in Schockstarre?

Dabei stellen sich viele Fragen: Wird der Notfall zur Normalität? Und was hat das – beim ramponierten Lehrerimage – für Konsequenzen auf die gut ausgebildeten Lehrkräfte? Warum benennen die politischen Verantwortungsträger und die Bildungsstäbe die aktuelle Situation nicht deutlicher? Und warum beschönigen die Verantwortlichen und sprechen euphemistisch von «gut qualifizierten Personen ohne anerkanntes Diplom»?

Während Jahren war die Schule eine Baustelle. Reform über Reform. Hunderte von Innovationen? Und der Effekt? Die Wissenschaft kann ihn nicht benennen.[2] Im Alltag zeigen sich die Folgen der Reformen auch auf Pädagogenseite: Dem akuten Lehrermangel ging die Flucht aus dem Schulzimmer voraus. Daraus ergibt sich die wohl wichtigste Frage: Warum werden die Zustände in der Schullandschaft nicht kritisch analysiert und daraus gezielt und zügig mutige Reformschritte eingeleitet?

«Ohne Lehrer wäre ich ärmer»

«Was ich […] nötig hatte, das waren Lehrer», schreibt der Schriftsteller Lukas Bärfuss.[3] Gut ausgebildete und engagierte. Und die fehlen im Moment zu Hunderten. Sie kehrten der Schule den Rücken. Darum darf es keine Rückkehr zum Courant normal geben. Es wäre dringend Zeit für eine umfassende Reform der vielen Reformen. Der Fokus muss im pädagogischen Dreieck liegen. Hier erfolgen die Kernprozesse des Lernens. Diese Kernprozesse steuern und strukturieren verlangt hohes pädagogisches Geschick.

«Ohne Lehrer wäre ich ärmer», ist Bärfuss überzeugt.[4] Dem ist wohl nichts beizufügen.

[1] Nils Pfändler, «Keine Bewerbungen. Null», in: NZZ, 04.07.2022, S. 11.

[2] Martin Beglinger, «Das ist vernichtend», in: NZZ, 31.08.2018, S.53.

[3] Lukas Bärfuss (2018), Stil und Moral. Essays. München: btb Verlag, S. 152.

[4] Ebenda, S. 160.

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Eine kurze Chronik der 20 Berner Schulreformen: durchzogene Bilanz https://condorcet.ch/2021/10/eine-kurze-chronik-der-20-berner-schulreformen-durchzogene-bilanz/ https://condorcet.ch/2021/10/eine-kurze-chronik-der-20-berner-schulreformen-durchzogene-bilanz/#respond Tue, 12 Oct 2021 15:08:29 +0000 https://condorcet.ch/?p=9487

Haben wir nun eine "Reformitis" oder nicht? Condorcet-Autor Alain Pichard hat in seinem Kanton Bern rückblickend recherchiert, 20 Reformen herausgepickt, deren Zielsetzungen festgehalten und ihr Ergebnis bewertet.

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1: Sind das Bildungsinvestitionen?

Das Jahr 1996 darf aus heutiger Sicht als Startpunkt für die einsetzende «Reformitis» in der bernischen Bildungslandschaft bezeichnet werden. In diesem Jahr wurde im Kanton Bern die von der Bevölkerung gutgeheissene 6/3-Initiative umgesetzt, welche den Sekundarschulübertritt von der 4. Klasse auf Ende des 6. Schuljahres verlegte. Die Verschiebung des Sekundarschulübertritts beinhaltete mehrere organisatorische Folgereformen, wie zum Beispiel die Bildung der Oberstufenzentren. Es folgte eine Kaskade von weiteren Neuerungen, deren Sinn und Nutzen stark variierten. Nachfolgend möchte ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben –  die einzelnen Reformen auflisten, ihre Ziele stichwortartig darlegen und ihre Wirkung bewerten.

1. 1996 – Einführung des 6/3 Modells

Ziel: Durchlässigkeit erhöhen, spätere Selektion

Bewertung: überfällige Strukturreform; sinnvoll

2. 1996 – Abschaffung des Beamtenstatus, Einführung der öffentlich-rechtlichen Anstellung

Ziel: flexiblere Anstellungen, Möglichkeit der Entlassung der Lehrkräfte, Abschaffung der Lehrerkategorien

Bewertung: sinnvolle Gesetzesreform mit dem Effekt, dass die Lehrkräfte keine Beamten, sondern öffentlich-rechtliche Angestellte wurden. Die starre 2-Klassen-Gesellschaft der Lehrpersonen (definitiv gewählte vs. provisorisch gewählte Lehrpersonen) wurde abgeschafft.

3. 1996 – Einführung der geleiteten Schulen

Ziel: stringente Führung eines Kollegiums, Definition von Zuständigkeiten und Kompetenzen, bessere Kontrolle der Lehrkräfte, Lehrpersonenwahl neu bei Schulleitung, erweiterte Kompetenzen im pädagogischen Bereich und in der Schlichtung von Konflikten

Bewertung: zwiespältig, einerseits notwendige Effizienzsteigerung, andererseits Gefahr der Fremdsteuerung und Willkür. Wer kontrolliert die Schulleitungen?

4. 1996 – Neugestaltung der Schulaufsicht: Gemeinden können Schulkommissionen abschaffen. Schulaufsicht wird professionalisiert und nicht gewählten Beamten übergeben.

Ziel: modernere betriebswirtschaftliche Führung von Schulen, Teilautonomie, Erhöhung von Karrierechancen für Lehrkräfte, schnellere und professionellere Entscheidungsfindung

Bewertung: grundsätzlich positiv, oft bessere und schnellere Entscheidungen bei Lehrerwahlen und Konflikten, mehr Autonomie für die Schule. Negativ: direkte Kontrolle durch die Träger des Schulwesens nicht mehr möglich, mehr Macht für die Verwaltung

5. 1998 – Einführung von Qualitätsmanagement an den Schulen

Ziel: bessere Unterrichtsqualität und transparente Abläufe

Bewertung: versandete Reform, zu kompliziert und zu kostspielig; wurde eingestellt

6. 1999 – Umgestaltung des 9. Schuljahres

Ziel: die Zahlen zum 10. Schuljahr senken

Bewertung: im Ansatz interessante, aber versandete und konterkarierte Reform. Es gabe mehrere Pilotschulen. Durch die Senkung des Schuleintrittsalters steigen die Zahlen ins 10. Schuljahr wieder, obwohl die Lehrstellensituation derzeit sehr gut ist.

7. 1999 – Bologna-Reform

Umstellung der Universitäten auf ein angelsächsisches Modell von Bachelor und Master-Abschlüssen. Die Leistung der Studierenden wird nach jeder einzelnen Veranstaltung mit Kreditpunkten bewertet, was als einheitliche Währung in Europa dienen soll.

Ziel: die internationale Mobilität erhöhen, die Abbruchquote der Studierenden vermindern und die Studiendauer verkürzen

Bewertung: undemokratisch eingeführt, massive Änderungen im Universitätsbetrieb. Ziele wurden verfehlt.

8. 2002 – Abschaffung der Seminare, Einführung der PH

Ziel: Erhöhung der Ausbildungsqualität und Verbesserung der Umstiegschancen durch eine universitäre Ausbildung

Bewertung: gute Grundabsichten, verheerende Umsetzung. Die PHs haben ein Image- und Qualitätsproblem und wurden zu Playern im Reformprozess.

9. 2003 – Neue Schülerbeurteilung

Ziel: Unter dem Stichwort FLUT sollte die Beurteilung förderorientiert, leistungsorientiert, umfassend und transparent erfolgen.

Bewertung: ein komplettes Desaster. Lehrkräfte sollten pro Schüler Dutzende von Bewertungen in Form von Kreuzchen abgeben. Grosse Proteste und eine imposante Unterschriftensammlung erzwangen den Rückzug der Vorlage. Die Beurteilung wurde überarbeitet und vereinfacht.

10. 2004 – Integrationsartikel

Ziel: Integration von schwächeren und behinderten Kindern in den Regelunterricht

Bewertung: unterschiedliche Umsetzung, holistische Gründe, die sich auf die UN-Erklärung von Salamanca abstützten. Viele Gemeinden schafften die Kleinklassen ab. Unüberlegte und zu ambitionierte Reform.

11. 2009 – Obligatorischer Kindergarten ab 4 Jahren, Harmos-Vereinbarung

Ziel: Erhöhung der Chancengerechtigkeit, Verbesserung der Sprachkompetenz für Migrantenkinder

Bewertung: sehr umstritten, für viele Kinder zu früh, teilweise grosser Widerstand, unterschiedliche kantonale Umsetzung

12. 2010 – Neue Finanzierung der Massnahmen für die sogenannten Pool1- und Pool2-Kinder

Ziel: die individuelle Betreuung leistungsschwächerer und behinderter Kinder in den Regelklassen garantieren

Bewertung: teuer und ineffizient. Die Pool-Budgets waren in kürzester Zeit aufgebraucht, die im Einzelfall vorgesehene Lektionenzahl musste gesenkt werden.

13. 2008 – Installierung zweisprachiger Schulen auf Ebene Volksschule (Filière Bilingue) und Gymnasien

Ziel: Verbesserung der jeweiligen Landesprachkenntnisse

Bewertung: ein Marketinggag zulasten der Schulen in Brennpunktquartieren; eine staatlich subventionierte Privatschule

14.  2012 bis 2016 – Einführung des neuen Lehrplans

Ziel: Harmonisierung des Schulsystems, Einführung der Kompetenzorientierung, Bildungsmonitoring mittels standadardisierter Tests, neue Stundenpläne, Umwandlung von Schulfächern, Sammelfächer, neue Beurteilung, PISA-Tauglichkeit

Bewertung: Gigantischer Versuch der Umkrempelung ist nur teilweise gelungen und wird von den Lehrkräften unterlaufen. Lehrplan mit über 2200 Kompetenzen wird von vielen als Monstrum empfunden.

15. 2012 – Einführung von Frühfranzösisch und Frühenglisch

Ziel: wurde nie richtig definiert.

Bewertung: Die angestrebte Harmonisierung des Schweizer Schulsystems wird mit dieser Reform in einem entscheidenden Bereich (Fremdsprachen) in ihr Gegenteil verkehrt. Massive finanzielle Investitionen, keine Verbesserung der Fremdsprachenkompetenzen.

16. 2012 – Einführung einer neuen Sprachdidaktik auf konstruktivistischer Basis: Passepartout Lehrmittel

Ziel: mehr Freude am Unterricht, bessere Kommunikation

Bewertung: teures Desaster, fällt in allen relevanten Standard-Checks durch

17. 2016 – Abschaffung des Semesterzeugnisses

Ziel: Entlastung der Lehrkräfte, weniger Noten

Bewertung: schwierig bei der Zuweisung zur Sekundarstufe 1 oder 2, die jeweils im Winter erfolgt. Nicht durchdacht.

18. 2016 – Erneute Beurteilungsreform

Ziel: Anpassung an den kompetenzorientierten Lehrplan, Einführung der Beurteilung von überfachlichen Kompetenzen

Bewertung: wurde nach heftiger Kritik zurückgezogen und als freiwillig erklärt. Charakter dürfe nicht beurteilt werden.

19. seit 2015 – Einführung von Frühförderungskursen.

Ziel: Sprachkompetenz der Migrantenkinder verbessern, Illetristenrate senken

Bewertung: vielfach lokale Umsetzungen, Wirkung umstritten. Mmüsste genau evaluiert werden, wird es aber kaum.

20. Einführung von Tagesstrukturen

Ziel: berufstätige Eltern bei der Betreuung unterstützen, Hausaufgaben in der Schule machen

Bewertung: sinnvolle und nötige Reform

In den Schaltstellen sitzen Experten, die den Herausforderungen des Unterrichts oft nicht gerecht werden.

Bilanz:

Die Reformtätigkeit im Kanton Bern ist durchzogen. Neben durchaus sinnvollen Reformen kam es zu regelrechten Abstürzen, teuren Fehlentwicklungen, fragwürdigen pädagogischen Neuerungen und überhasteten Eingriffen in den Schulalltag. Die direkt beteiligten Akteure in der Bildungslandschaft, Lehrkräfte, Eltern und SchülerInnen, werden regelmässig in den Reformprozessen übergangen. Lehrkräfte mutieren vielfach zu Vollzugbeamten. In den Schaltstellen der Bildungsverwaltung sitzen Experten, die den Herausforderungen der Praxis häufig nicht gerecht werden. Die Reformbestrebungen haben ihre tiefere Ursache in der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung. Die Rolle des Staates hat an Bedeutung gewonnen, immer mehr Stellen im Überbau der Schule haben ein Heer von Planern, Entwicklern, Beratern und Kommunikationsspezialisten entstehen lassen. Eine Allianz von Politik, Verwaltung und «Wissenschaft» hat sich gebildet, der es um Steuerung und vor allem um Auftragssicherheit geht. Das ist oft nicht ressourcenschonend, und es kommt in diesen Kreisen zu heftigen Verteilungskämpfen. Interessant und vielsagend ist die Tatsache, dass den meisten dieser Reformen von unseren beiden Berufsverbänden, Bildung Bern und VPOD, begeistert zugestimmt wurde.

 

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Die Starke Schule – geboren aus der Notwendigkeit https://condorcet.ch/2021/04/die-starke-schule-geboren-aus-der-notwendigkeit/ https://condorcet.ch/2021/04/die-starke-schule-geboren-aus-der-notwendigkeit/#respond Sat, 03 Apr 2021 06:16:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=8169

KritikerInnen der Starken Schule beider Basel setzen die Eltern- und Lehrkräfteorganisation zuweilen gleich mit Jürg Wiedemann. Diesen Namen wiederum glauben sie als Synonym für Sturheit, Polarisierung und Kompromisslosigkeit zu erkennen. Condorcet-Autor Felix Hoffmann widerspricht dem energisch.

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Die korrekte Verortung der Charakteristika

Vergegenwärtigen wir uns anhand der Kompetenzorientierung und Passepartout als deren Produkt die Bildungspolitik der letzten beiden Jahrzehnte, begegnen wir exakt jenen drei Wesenszügen.

Weder die nationale noch die kantonale Bildungspolitik waren für vernunftbasierte Argumente zugänglich.

Beide Reformvorhaben wurden gegen auch noch so gut begründete Opposition durchgedrückt. Weder die nationale noch die kantonale Bildungspolitik waren für vernunftbasierte Argumente zugänglich. Ohne die Initiative der Starken Schule für Lehrmittelfreiheit wäre der Widerstand gegen die absurde Fremdsprachenideologie ergo an der Sturheit der dafür bildungspolitisch Verantwortlichen gescheitert.

Zur Durchsetzung des Passepartout-Methodenmonopols schreckten deren PromotorInnen auch vor der Polarisierung des Baselbieter Lehrkörpers nicht zurück, indem anlässlich der Passepartout-«Weiterbildung» Primar- gegen Sekundarlehrkräfte ausgespielt wurden.

Und im Kampf um die für Lehrpläne absolut unabdingbaren Stoffinhalte und damit gegen eine ausschliessliche Kompetenzorientierung bedurfte es zweier Initiativen der Starken Schule, um die Kompromisslosigkeit der Bildungsdirektion unseres Kantons zu durchbrechen.

Jürg Wiedemann hält der Bildungspolitik den Spiegel vor. Was diese darin erkennt, gefällt ihr nicht, weswegen sie es auf den ehemaligen Landrat überträgt.

Man schlägt den Sack und meint den Esel

Jürg Wiedemann, Gründungsmitglied der Starken Schule beider Basel …
… hält der Bildungspolitik den Spiegel vor

Die drei eingangs erwähnten Attribute, Sturheit, Polarisierung und Kompromisslosigkeit, entpuppen sich in der Folge als Reflexion. Jürg Wiedemann hält der Bildungspolitik den Spiegel vor. Was diese darin erkennt, gefällt ihr nicht, weswegen sie es auf den ehemaligen Landrat überträgt. In der Psychoanalyse spricht man in diesem Zusammengang von Projektion, also der Übertragung von Eigenem auf andere. Was der Bildungspolitik guttäte, wäre allerdings die Introspektion, ergo die in sich kehrende Selbstbeobachtung zur anschliessenden Korrektur des eigenen Handelns und Denkens. In der Folge würden die KritikerInnen erstens erkennen, dass sich die Starke Schule nicht auf einen Namen beschränken lässt. Zweitens würden sich ihnen die folgenden weiter reichende Einsichten eröffnen.

Sturheit? Eher Hartnäckigkeit und Reflexion.

Eine nicht zu Ende gedachte Kritik

Was Sturheit betrifft, meinte die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach: «Der Klügere gibt nach – Eine traurige Wahrheit: Sie begründet die Weltherrschaft der Dummen.» Aus dieser Warte betrachtet ergibt sich eine vom Üblichen abweichende Wertung des Phänomens der Sturheit.

Die zuweilen ideologische Verbissenheit der bildungspolitischen Exekutive pariert die Starke Schule mit Pragmatismus, der ihr eigenen Beharrlichkeit und dem demokratischen Instrument der Initiative. Gerade bei letzterem kommt es entgegen des Vorwurfs der Kompromisslosigkeit immer wieder zu Kompromissen, wie sich der «Geschichte der Starken Schule beider Basel» entnehmen lässt. Exemplarisch hierfür sind u.a. die Reduzierung der Klassengrössen, die Ausbildung der Lehrpersonen der Sekundarstufe I, die Lehrmittelfreiheit, aber auch die aktuelle Ausgestaltung der Lehrpläne. Die Auseinandersetzung zwischen den Verantwortlichen der Bildungspolitik und der Starken Schule ist tatsächlich zu einem grossen Teil eine Geschichte der Kompromisse.

Aber auch der Vorwurf der Polarisierung ist im Rahmen eines demokratischen Staatswesens absurd. Denn letzten Endes gestaltet sich jede Demokratie entlang der beiden Pole JA oder NEIN. Das im Kontrast dazu autoritäre Selbstverständnis vieler AkteurInnen der Bildungspolitik geht nicht zufälligerweise einher mit der Art der Implementierung von Schulreformen: Sie treten stets auf als nicht partizipativ legitimiertes Diktat von oben. Kaum erstaunlich, dass die meisten denn auch scheitern.

Die Bildungspolitik auf dem Holzweg

Starke Schule beider Basel: Mehr als nur Jürg Wiedemann

Möchte man die Starke Schule tatsächlich auf aktive NamensträgerInnen reduzieren, müssten neben Jürg Wiedemann ebenso Alina Isler, Saskia Olsson, Regina Werthmüller, Kathrin Zimmermann und Michael Pedrazzi Erwähnung finden. Sie alle verwenden einen beachtlichen Teil ihrer Zeit und Energie auf die Bildungsorganisation. Doch auch damit wäre dem Stosstrupp längst nicht Genüge getan. Warum ist die Starke Schule denn seit einem Jahrzehnt erfolgreich? Weil Tausende von Eltern und Lehrkräften, aber auch viele Politikerinnen und Politiker hinter ihr stehen und sie finanziell unterstützen. Und warum tun sie dies? Weil die Bildungspolitik seit rund zwei Jahrzehnten geldversessen auf Irrwegen stolpert. Dabei wird auf staatlicher Seite gespart und auf privater verdient.

Der Auftakt zur Einführung der Kompetenzorientierung vor 20 Jahren war nichts anderes als der neoliberale Startschuss für die Umwandlung der öffentlichen Schule in ein lukratives Geschäftsfeld auf dem Buckel der Lernenden und SteuerzahlerInnen.

Gegen die Kommerzialisierung der öffentlichen Bildung

Der Auftakt zur Einführung der Kompetenzorientierung vor 20 Jahren war nichts anderes als der neoliberale Startschuss für die Umwandlung der öffentlichen Schule in ein lukratives Geschäftsfeld auf dem Buckel der Lernenden und SteuerzahlerInnen. Die dadurch ausgelöste Umstellung des Schulbetriebs füllt Verlagen, Weiterbildungsinstituten und Fachhochschulen die Auftragsbücher bzw. Stellenetats. Und da der ausschliessliche Fokus auf Kompetenzen nicht funktioniert -siehe Passepartout- besteht fortlaufender Handlungsbedarf, wodurch das erwähnte Auftrags- bzw. Stellenvolumen auf lange Sicht garantiert ist.

Dass Baselland im Vergleich zu den meisten anderen Kantonen bisher von den schlimmsten bildungspolitischen Auswüchsen immer wieder verschont bleibt – beispielsweise Sammel- bzw. Einstundenfächer –, ist zu einem grossen Teil dem Engagement der Starken Schule zu verdanken.

Bei diesem Paradigmenwechsel ging es nie um die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen, was beispielhaft anhand des sogenannten «Selbstorganisierten Lernens» (SOL) deutlich wird. Diese Pseudomethode läuft den entwicklungspsychologischen Voraussetzungen von Kindern diametral zuwider. Hauptsache aber, diverse Verlage und Weiterbildungsinstitute konnten dazu ihre zahlreichen Wegleitungen bzw. Lehrgänge verkaufen. Mittlerweile redet wegen dessen Untauglichkeit kaum noch jemand von SOL, aber die nächste lukrative Schnapsidee ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Dass Baselland im Vergleich zu den meisten anderen Kantonen bisher von den schlimmsten bildungspolitischen Auswüchsen immer wieder verschont bleibt – beispielsweise Sammel- bzw. Einstundenfächer –, ist zu einem grossen Teil dem Engagement der Starken Schule zu verdanken.

Richtet die Bildungspolitik ihren Fokus endlich wieder auf die Schülerinnen und Schüler, wird die Eltern- und Lehrkräfteorganisation kein weiteres rundes Jubiläum feiern.

Richtet die Bildungspolitik ihren Fokus endlich wieder auf die Schülerinnen und Schüler, wird die Eltern- und Lehrkräfteorganisation kein weiteres rundes Jubiläum feiern. Bis es soweit ist, wünsche ich ihr weiterhin den notwendigen Erfolg zum Wohle unseres Nachwuchses und somit letztlich auch zugunsten unserer Wirtschaft.

An dieser Stelle sollte ein Zitat zum Begriff der Kompetenz folgen, aber sinnigerweise gibt es dazu kaum welche, dafür umso mehr zur Bildung. Zum Beispiel:

Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung, keine Bildung. John. F. Kennedy

 

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