PISA - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 21 Apr 2024 15:34:39 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png PISA - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Piesacken https://condorcet.ch/2024/04/piesacken/ https://condorcet.ch/2024/04/piesacken/#comments Fri, 19 Apr 2024 11:12:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=16511

Satire ist Humor, der die Geduld verloren hat. Dies sagte nicht nur Tucholsky, dieser Ansicht ist auch der Progymnasiallehrer und frühere LVB-Präsident Roger von Wartburg. Zum Lachen! Aber nicht nur.

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Nach der Publikation der Ergebnisse des Pisa-Tests von 2022, die für Schweizer Schülerinnen und Schüler einen Abwärtstrend ausweisen, hat die EDK umgehend reagiert und das Projekt «Hopp Schwiiz» ins Leben gerufen, mit dem Ziel, bei der nächsten Durchführung der Pisa-Erhebungen besser dazustehen. Dem LVB wurden Unterlagen der wissenschaftlichen Projektleitung «Tecnocratica» zugespielt, die an dieser Stelle exklusiv auszugsweise veröffentlicht werden:

Roger von Wartburg, Lehrer am Progymnasium, ehemaliger Präsident des lvb: Nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

Fremdsprachen

Vorab möchte die wissenschaftliche Projektleitung festhalten, dass die EDK bereits im Jahr 2000, nach Bekanntwerden der Resultate des allerersten Pisa-Tests, höchst vorausschauende Massnahmen in die Wege geleitet hat, um dem Ungenügen des schweizerischen Bildungssystems beizukommen. Und dies sogar in Bereichen, die Pisa gar nicht testet, wie etwa den Fremdsprachen. So ein Vorgehen beweist die visionäre Tatkraft der Schweizer Bildungspolitik. Explizit zu nennen ist das EDK-Sprachenkonzept, welches zum Modell «3/5» (Passepartout) führte, demgemäss die erste Fremdsprache im dritten und die zweite Fremdsprache im fünften Primarschuljahr einzusetzen hat.

Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt vor, das bestehende Modell auf ein «1/3/5» auszuweiten. Konkret soll neu ab dem ersten Primarschuljahr Rätoromanisch gelernt werden. Wie eine Studie der Pädagogischen Höchstschule Nordsüdostwestschweiz (PH NSOWCH) mit Verweis auf die Hirnforschung zeigt, sind Erstklässler*innen besonders dafür geeignet, vom Aussterben bedrohte Sprachen zu lernen.

Die PH NSOWCH hat bereits damit begonnen, Avatare zu entwickeln, mit deren Hilfe die Erstklässler*innen dereinst im Cyberspace Rätoromanisch erlernen werden. Die Kinder werden wählen können zwischen Fadri, Bigna, Curdin, Ladina und Ursin, wobei sämtliche Avatare genderfluid ausgestaltet sind. Für das Pilotprojekt «Rumantsch First!» haben sich schon 284 Schulen aus der Deutschschweiz angemeldet – ein überwältigendes Bekenntnis zur mehrsprachigen Schweiz!

Digitalität

Das zuvor umrissene Projekt des Rätoromanisch-Lernens im Cyberspace ist Ausdruck eines umfassenden Verständnisses von Schule als Lernort, der sich in die Kultur der Digitalität des 21. Jahrhunderts einfügt. Die wissenschaftliche Projektleitung plädiert vorbehaltlos für das Beschreiten dieses Wegs, damit sich schulisches Lernen auch für die Generation Alpha und spätere Generationen noch sinnvoll anfühlen kann. Die Gegenwart ist digital, die Zukunft ist digitaler. Wer Kinder und Jugendliche verantwortungsbewusst fitmachen will für diese Zukunft, der bekennt sich zur schulischen Digitalität!

Ungeahnte Möglichkeiten!

Aktuell laufen in verschiedenen Kantonen Bestrebungen, den Unterricht stärker zu digitalisieren. Nach Einschätzung der wissenschaftlichen Projektleitung gehen diese Bemühungen jedoch zu wenig weit – so werden etwa der Kindergarten und die Unterstufe in digitaler Hinsicht an vielen Orten noch viel zu stiefmütterlich behandelt – und es fehlt an einem koordinierten Vorgehen. Zu diesem Zweck fordert die wissenschaftliche Begleitgruppe die Schaffung einer nationalen Taskforce «Digitalität jetzt!». Erste Sondierungsgespräche mit den international anerkannten Koryphäen Mick Rosoft, Will Applegates, Marc Ator und Bert Elsmann haben bereits stattgefunden. Ebenfalls mit an Bord sind das Institut für marktorientierte Bildungsökonomie der HSG sowie Economiesuisse.

Nicht unterschlagen werden darf in diesem Kontext die ökologische Komponente: Mit der flächendeckenden Implementierung digitaler Unterrichts- und Lehrkonzepte kann aus der Vision der «papierlosen Schule» schon bald Realität werden!

Die wissenschaftliche Projektleitung favorisiert ohnehin ein grundsätzliches Abrücken vom Konzept der «Schule vor Ort». Stattdessen soll die Schule der Zukunft gänzlich online stattfinden. Die wegfallenden Kosten für teure Schulbauten können in die digitale Infrastruktur investiert werden. Und als zusätzlicher Benefit würde die Anzahl Verkehrsunfälle mit Kindern drastisch gesenkt. Die wissenschaftliche Projektleitung hat hierzu eine Machbarkeitsstudie bei der Schmähdagogischen Hochschule Mittelland in Auftrag gegeben.

Inklusion international

Die wissenschaftliche Projektleitung anerkennt wohlwollend, dass in der Schweiz die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten, Lernstörungen oder anderen Ausprägungen besonderen Bildungsbedarfs in Regelklassen im letzten Jahrzehnt vorangetrieben wurde. Als weiterführendes Kapitel dieser beispiellosen Erfolgsgeschichte empfiehlt die wissenschaftliche Projektleitung eine Kontextualisierung des Inklusionsgedankens mit den Resultaten der Pisa-Tests.

Damit sie sich verständigen können, stellt die EDK entsprechende KI-Tools zur Verfügung. Für das Pilotprojekt «Inklusion international» haben sich innert weniger Wochen 837 Deutschschweizer Schulen angemeldet. Die schulische Zukunft ist nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

OECD-Schlusslichter der Pisa-Erhebungen 2022 sind Mexiko, Costa Rica und Kolumbien. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt vor, dass jede Schweizer Schulklasse jeweils ein Kind aus den drei genannten Ländern online am Unterricht der Schweizer Klasse teilnehmen lässt. Ein beschleunigtes Abrücken vom schulischen Unterricht vor Ort, wie es weiter oben ausgeführt wurde, würde dieses revolutionäre Konzept begünstigen.

Die Schweizer Lehrpersonen werden den Unterricht künftig mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus Mexiko, Costa Rica und Kolumbien gemeinsam vor- und nachbereiten. Damit sie sich verständigen können, stellt die EDK entsprechende KI-Tools zur Verfügung. Für das Pilotprojekt «Inklusion international» haben sich innert weniger Wochen 837 Deutschschweizer Schulen angemeldet. Die schulische Zukunft ist nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

Ausbildung

Seit Beginn dieses Jahrhunderts haben in der Schweiz – endlich! – die sehr wissenschaftlichen Pädagogischen Hochschulen die gänzlich unwissenschaftlichen Lehrerseminare abgelöst. Dennoch ortet die wissenschaftliche Projektleitung auch hier zusätzlichen Optimierungsbedarf, denn noch immer – wenn auch in stetig weiter sinkender Anzahl – gibt es unter den Dozent*innen Exponent*innen mit einem ausgeprägt berufspraktischen Hintergrund, die den Studierenden unwissenschaftlich rezepthafte Unterrichtskonzepte nahelegen. Dies stellt einen Affront gegenüber der ausdrücklich wissenschaftlichen Ausrichtung dieser Institutionen dar!

Die wissenschaftliche Projektleitung rät aus Qualitäts- und Professionalisierungsgründen dringend dazu, solche Dozent*innen schnellstmöglich aus ihren Funktionen zu entfernen. Eine zukunftsgerichtete Erziehungswissenschaft hält sich nicht mit überholten Konzeptionen auf, sondern baut allein auf moderne Forschungsmethoden und -ergebnisse. Wer nicht mit der Zeit gehen mag, der hat zeitnah zu gehen! Damit sich Dozent*innen gänzlich vorurteils- und prägungsfrei ihrer wichtigen wissenschaftlichen Aufgabe widmen können, empfiehlt die Projektleitung überdies eine bevorzugte Anstellung von Wissenschaftler*innen, die mit dem dualen schweizerischen Bildungswesen wenig bis gar nicht vertraut sind.

Wie die neuesten Pisa-Ergebnisse zeigen, vermag der unter Federführung der Dadagogischen Hochschulen wissenschaftlich hervorragend ausgearbeitete Lehrplan 21 den aktuellsten Entwicklungen nicht mehr vollumfänglich zu genügen. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt daher die Schaffung eines Lehrplans 22 vor.

Lehrplan 22

Wie die neuesten Pisa-Ergebnisse zeigen, vermag der unter Federführung der Dadagogischen Hochschulen wissenschaftlich hervorragend ausgearbeitete Lehrplan 21 den aktuellsten Entwicklungen nicht mehr vollumfänglich zu genügen. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt daher die Schaffung eines Lehrplans 22 vor. Eine Mitwirkung der Berufspraxis ist nicht erforderlich, vielmehr gilt es, der Expertise der Wissenschaftler*innen bei der Erarbeitung des Lehrplans zur vollständigen Entfaltung zu verhelfen.

Da sich zum Leidwesen der wissenschaftlichen Projektleitung in absehbarer Zeit das Konzept einer Maturität für alle Jugendlichen in der Schweiz politisch kaum realisieren lässt, ist es aus Gründen der Chancengerechtigkeit unabdingbar, sämtliche Lehrgegenstände der Tertiärstufe in die Lehrpläne der Volksschule zu integrieren – je früher, desto besser! Dementsprechend werden sich im Lehrplan 22 zusätzlich Kompetenzbereiche wie Quantennanophysik, Artificial General Intelligence und Pharmakoepidemiologie finden lassen.

Eine Vorstudie der Gagadogischen Tiefschule Hintermond kommt zum Schluss, dass der Lehrplan 22 zur Erreichung der genannten Ziele einen ungefähren Umfang von 47’300 Seiten, 36’800 Kompetenzen und 455’820 Kompetenzstufen erfordert. Die wissenschaftliche Projektleitung beantragt der EDK, eine entsprechende Projektstruktur aufbauen zu dürfen.

Für die wissenschaftliche Projektleitung:

  • Prof. Dr. Dr. Turmina von Elfenbein, Titularprofessorin am trinationalen Zentrum für Bildungshomöopathie
  • Prof. Dr. Dr. Dr. Jérôme-Alain Voudou, Zukunftsforscher am Institut für vergleichende Schulethnologie

 

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Nein zu Digitalisierung: Schule macht Schnitt https://condorcet.ch/2024/04/nein-zu-digitalisierung-schule-macht-schnitt/ https://condorcet.ch/2024/04/nein-zu-digitalisierung-schule-macht-schnitt/#respond Fri, 05 Apr 2024 04:13:21 +0000 https://condorcet.ch/?p=16388

Skandinavien gilt als Vorbild für digitalisierten Unterricht. Eine Schule in Dänemark verzichtet nun weitgehend auf Computer und Smartphones. "Es war zu viel", sagen sie. Wir bringen einen Beitrag von Winnie Heescher, der im ZDF Heute erschienen ist.

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Gastautorin Winnie Heescher

Vor dem Zimmer der beiden Schuldirektorinnen stapeln sich in den Regalen neben Puzzeln und Spielen Plastikkisten – bis an den Rand gefüllt mit Smartphones. Auf jeder Kiste ist die jeweilige Klasse vermerkt. Morgens vor Schulbeginn geben die Kinder und Jugendlichen die Geräte ab, nach dem Unterricht dürfen sie sie wieder abholen. Was im vergangenen Jahr zwei Wochen als Experiment begann, ist an der Marienschule im dänischen Tondern mittlerweile Alltag.

Mein Sohn dachte, er würde sterben, als ihm gesagt wurde, er solle das Telefon abgeben. Er lebt noch, kann ich sagen.

          Ulrik Krogsnaes, Vater und Schulstandsvorsitzender

 

Krogsnaes hat die Entscheidung mitgetragen, als die beiden Schulleiterinnen der Volksschule den Eltern im vergangenen Jahr den Vorschlag machten, auf Smartphones zu verzichten.

Bildschirme dominierten den Unterricht

Und nicht nur das: Sie wollten zwei Wochen ein Experiment machen: Unterricht ohne Tablet und Computer. Ausgerechnet in Dänemark, dem Land, das früh und flächendeckend begonnen hat, seine Schulen zu digitalisieren. 

Vor etwa zwei Jahren haben wir begonnen, uns dafür zu interessieren, was die Digitalisierung eigentlich mit den Schülern macht, wenn sie hauptsächlich an Bildschirmen unterrichtet werden.

         Sarah Røll, Schulleiterin

 

Die Leistungen waren laut PISA-Studien in den vergangenen Jahren schlechter geworden. Nur in einer Disziplin sind dänische Kinder und Jugendliche Spitzenreiter: In keinem anderen Land der Welt sitzen sie so viele Stunden vor dem Computer wie in Dänemark. Mit konkreten Auswirkungen: Lehrerinnen und Lehrer berichteten, dass der Computer im Klassenraum dominiere, alle würden nur runter auf die Bildschirme gucken, niemand würde mehr den anderen anschauen. Auch nahmen sie Konzentrationsmängel wahr. “Es war zu viel”, sagt Sarah Røll.

Weniger digitale Medien, mehr Konzentration

Also probierten sie es dort, wo es ging, ohne Computer. Beispiel Sozialkunde: Lehrerin Nicki Christensen nimmt ihre siebte Klasse mit in einen Nebenraum, und lässt sie einander gegenüberstehend Fragen beantworten. Für jede ist eine Minute Zeit: Was ist eine Aktie? Was bringen Steuererhöhungen? Was muss man beim Hauskauf beachten? Früher hätten alle dazu den Computer rausgeholt und die Antworten eingetippt. Jetzt gucken sich alle an.

Die Lehrerin sieht schon nach wenigen Monaten Veränderungen: “Sie reden besser miteinander, bilden eine bessere Gemeinschaft.” Die Schüler würden vielseitiger, konzentrierter. Auch durch das Schreiben von Hand lernten sie besser.

Es ist so, als ginge das Schreiben von Hand durch einen anderen Teil des Gehirns.

Niki Christensen, Lehrerin

 

Sie beobachtet: “Wenn sie am Computer schreiben, neigen sie eher dazu, das gerade Aufgeschriebene zu vergessen, weil alles so schnell geht.”

Einsatz von Computern dort, wo es Sinn macht

Digitalisierung ist wichtig, auch an Schulen. Aber die Erfahrungen in Tondern zeigen, wie entscheidend der passende Einsatz von digitalen Angeboten ist. “Es ist ja klar, dass man einige Dinge am Computer lernen muss, Excel zum Beispiel oder Word”, sagt die Schulleiterin, “wenn man es nicht auf andere Weise lernen kann, darf man gerne den Computer benutzen.” Wenn man auf dem Schulhof und in den Klassen fragt, wie die Kinder und Jugendlichen Schule ohne Smartphone und Computer finden, hört man meistens: “Das ist ok”.

Doof sei es nur, dass man manche Augenblicke nicht mehr per Handy festhalten könne. “Die Erinnerungen müssen wir nun im Kopf behalten”, sagt die 15-jährige Isabella Stenfeldt. Von der Marienschule im dänischen Tondern ist es ein Katzensprung bis nach Schleswig-Holstein. Die Schule sendet eine Botschaft über die Grenze: Lernt aus unseren Fehlern, wir haben es mit der Digitalisierung übertrieben.

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Wer steuert eigentlich das Bildungsboot? https://condorcet.ch/2024/03/wer-steuert-eigentlich-das-bildungsboot/ https://condorcet.ch/2024/03/wer-steuert-eigentlich-das-bildungsboot/#comments Fri, 29 Mar 2024 19:45:52 +0000 https://condorcet.ch/?p=16324

Und wieder sind sie unterwegs, die Bildungspropheten und Bildungsrevolutionäre. In vielen Medien propagieren sie ungehemmt radikale Strukturreformen. So wollen sie den Defiziten, die sie mitverursacht haben, entfliehen. Ein Aufruf zu mehr Wirksamkeit von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Es ist die Stunde der grossen Worte: “Bildungsrevolution – jetzt!”, heisst es beim privaten Zürcher Unternehmen “Intrinsic”. Das “Netzwerk für angewandte Bildungsrevolution”, will damit “zu neuen Ufern aufbrechen […] und mit einer radikal neuen Lernkultur Bildung revolutionieren”.[i] Bildung müsse sich endlich modernisieren! Wieder einmal wird Bildung mit ihrer Reform gleichgesetzt. Doch auf das Wie wird nicht verwiesen, lediglich auf neue Strukturen. Negiert wird auch die Evidenzfrage und damit der Wesenskern des Unterrichts: Worin zeigt sich das Wirksame dieser Reformen? Und worin erkennt man das Gelingen der Innovationen?

Reformen an der Oberfläche

Eine Art Strukturrevolution propagieren auch der Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH) und ihr umtriebiger Präsident Thomas Minder. Ultimativ verlangen sie die Abschaffung jeder Selektion in den ersten neun Schuljahren, dazu die Elimination der Noten[ii] und der Hausaufgaben. Und der VSLCH setzt dominant auf “Lernlandschaften”, auf das selbstorientierte Lernen SOL der Kinder und eine forcierte Digitalisierung.

Wenn es nach dem Schweizer Schulleiter-Verband geht, sind Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr Pädagogen, sondern nur noch Coachs und Lernbegleiter. Die Bildungsforschung aber kann nachweisen: Das ist Oberflächenkosmetik mit wenig bildungsqualitativer Tiefenwirkung.

Orchestrierte Pressekampagne?

In die gleiche Richtung zielt die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler. Auch für die Präsidentin des Verbands Deutschschweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) sind “Schulnoten […] nicht mehr zeitgemäss”, wie sie im grossen Blick-Interview verrät.[iii] Und wer die Medienberichte zu Schulfragen der vergangenen Wochen durchgeht, stösst auf viel Paralleles, auf Kongruenz unter Bildungsreformern, als gliche das Ganze einer orchestrierten Pressekampagne. Da erklärt beispielsweise “Bildungsexpertin” Rahel Tschopp in der SonntagsZeitung anhand von 26 Stichworten, was sich alles ändern müsse, damit wir eine zeitgemässe Schule erhielten.[iv]   

Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte

Und wieder trifft man auf die fast identischen Kennzeichen, wie sie auch der VSLCH postuliert und wie sie in Teilen der LCH-Präsidentin Dagmar Rösler wichtig sind: Da ist von Abschaffung der Noten und Zeugnisse und damit der Selektion die Rede, da wird die Auflösung des Klassenverbandes gefordert und damit das Ende des Unterrichts im Kollektiv, da wird die Digitalisierung forciert.[v] Die Stossrichtung ist die gleiche. Die Tamedia-Presse aber unterschlägt die Tatsache, dass Bildungsprophetin Rahel Tschopp mit ihrem Institut “Denkreise” Schulentwicklungsprojekte anbietet und im IT-Bereich tätig ist. Schulreformen um des eigenen Gewinns wegen?

Reformpädagogische Wunschvorstellungen

Thomas Minder und sein Verband VSLCH wie auch die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler vom LCH, wenden sich mit ihren Thesen an die Öffentlichkeit. Sie zeigen keine Scheu, “Reformen” zu forcieren, die in vielen Teilen an der Bevölkerung vorbeigehen und reformpädagogische Wunschvorstellungen bedienen. Eine”notenfreie Schule” beispielsweise ist höchst umstritten. Auch viele Schulleiter wollen sie nicht.

Es erstaunt und irritiert, dass diese radikalen Innovationen als professionelle Forderung daherkommen und der LCH wie der VSLCH so tun, als gäbe es keine Politik und keine öffentliche Meinung.

 

Verschwiegen wird, dass in einem wertschätzenden Umfeld, in einer fehlerfreundlichen Atmosphäre Noten nicht das Problem sind, sondern eine Hilfe sein können, die Klarheit schafft. Entscheidend ist das lernfördernde Feedback – im Sinne der Artikulation der Differenz zwischen Sein und Sollen in Bezug auf die Sache, den Lernprozess und die Selbstregulation. Dafür müssten Lehrerinnen und Lehrer im Alltag Zeit haben. Das wären Reformen mit Tiefenwirkung. Die empirische Bildungsforschung weist sie nach.[vi]

An der Bildungspolitik vorbei

Es erstaunt und irritiert, dass diese radikalen Innovationen als professionelle Forderung daherkommen und der LCH wie der VSLCH so tun, als gäbe es keine Politik und keine öffentliche Meinung. Dabei ist im Luhmann’schen Spiel der Subsysteme die Schule der Politik unterstellt. Da liegt das Problem: LCH wie der VSLCH und teilweise auch die Pädagogischen Hochschulen, die das mitttragen oder gar initiieren, stellen sich über die Politik und schaffen Fakten. Die Bildungspolitik und mit ihr die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK nehmen das kommentarlos hin und schweigt. Sie werden getrieben, statt zu steuern.

Strukturreformen von Seiten der Universität

Ein Paradebeispiel dazu ist das Tagesgespräch auf SRF I mit der Bildungsforscherin Katharina Maag Merki, Universität Zürich.[vii] Sie ortet zwei gravierende Probleme: Da ist einerseits die Tatsache, dass 25 Prozent der Schweizer Schülerinnen und Schüler mit Blick auf das Leseverständnis als leistungsschwach eingestuft werden. Um die hohe Rate funktionaler Analphabeten wissen wir aber längst; und PISA 2022 hat das Defizit erneut verdeutlicht.

Und da ist anderseits das Auseinanderdriften der Schere zwischen Kindern aus bildungsfreundlichem Elternhaus und solchen aus bildungsdistanzierterem «Milieu». Konkret: die bedrohte Chancengerechtigkeit.

Doch statt diese beiden Problemfelder zu analysieren und nach den Gründen für den Einbruch zu fragen, verlangt Maag Merki dezidiert die Abschaffung der Noten und der Selektion und damit die Aufhebung leistungsunterschiedlicher Klassen nach sechs Schuljahren: Auch sie plädiert, ohne vertieft zu begründen, ultimativ für Strukturreformen!

Wenn Eltern mithelfen müssen

Die Bildungsexpertin Maag Merki verliert kein Wort, warum unsere Schulen an diesem Defizit leiden. Kein Wort zu den überfüllten Lehrplänen, zu den beiden Fremdsprachen auf der Primarschule und der fehlenden Übungszeit, der forcierten Integration und der entsprechenden Unruhe im Schulzimmer. Auch die Moderatorin fragt nicht danach. Kein Wort, warum selbst intelligente Kinder am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens oft grosse Lücken aufweisen.

Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie – die Dominanz über die Schulen errungen.

Und wenn sie diese Grundlagen beherrschen, dann stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Nachhilfeinstitute dahinter. Auch das wissen wir. Hier fände sich doch der Schlüssel zur Bildungsgerechtigkeit: Darum wäre dafür zu sorgen, dass jene Kinder, die keine Impulse oder nur wenig Hilfe aus dem Elternhaus kennen, nicht benachteiligt sind. Chancengleichheit entsteht im Klassenzimmer – über gute, vital präsente, am Wohl des Kindes interessierte Lehrpersonen und einen wirksamen Unterricht.

Fokus auf den Kern der Schule richten

Elementar wäre doch eines: endlich die vielen Baustellen – wie beispielsweise die vergessene Deutschkompetenz – aufräumen, bevor neue Gruben aufgerissen werden. Doch es ist eben leichter, den zahlreichen Schadstellen zu entfliehen und sich neuen “Reformen” zuzuwenden. Und es sind immer Strukturreformen, die gefordert werden! Dabei ist längst bekannt: Humane Energie kommt aus Personen, nicht aus Strukturen. Da hinein, in die Mikroprozesse des Lehrens und Lernens, müsste eine verantwortungsbewusste Bildungspolitik zoomen, in den gefährdeten Kern der Schule.

Die Definitionsmacht über die Schule gehört der Bildungspolitik

Wir brauchen eine Volksschule, die nicht in der Definitionsmacht der Verbände und auch nicht der Pädagogischen Hochschulen liegt. Ein Diskurs ist heute schwierig geworden. Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie – die Dominanz über die Schulen errungen. Sie bestimmen, was gelehrt und wie unterrichtet werden muss – oft auch gegen die Praktiker. Das bedeutetet eine Marginalisierung der Praxisempirie. Hier müsste die Bildungspolitik gegensteuern. Leidtragende sind immer die Kinder.

 

[i] https://www.intrinsic.ch/ [abgerufen am 22.03.2024]

[ii] Vgl. https://www.srf.ch/audio/forum/sind-schulnoten-noch-zeitgemaess?id=12449418 [abgerufen am 21.03.2024]

[iii] Lisa Aeschlimann, «Schulnoten sind nicht mehr zeitgemäss», in: Blick, 25.02.204.

[iv] Vgl. Ursina Haller, Die Schule der Zukunft. Ein Glossar, in: SonntagsZeitung. Das Magazin 03.02.2024, S. 8ff.

[v] Schweden hat die Digitalgeräte auf der Primarstufe verboten und kehrt zur Papierform zurück. Auch Dänemark verbiete sie; der dänische Bildungsminister entschuldigte sich gar für die negativen Folgen, die eine forcierte Digitalisierung der Schulen verursacht habe; vgl. https://www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail?newsid=2061 [abgerufen am 21.03.2024]

[vi] John Hattie & Klaus Zierer (2017), Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 137ff.; dazu: John Hattie (2023), Visible Learning: The Sequel. A Synthesis of Over 2’100 Meta-Analyses

  Relating to Achievement. London, New York: Routledge, p. 224ff.

[vii] https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/katharina-maag-merki-an-den-schulen-rumpelt-es-wie-noch-nie?id=12559295 [abgerufen am 20.03.2024]

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Falsch abgebogen https://condorcet.ch/2024/03/falsch-abgebogen/ https://condorcet.ch/2024/03/falsch-abgebogen/#respond Tue, 19 Mar 2024 07:44:09 +0000 https://condorcet.ch/?p=16215

Wie PISA und die Bildungsforschung die Bildungspolitik in die Irre geführt und zu immer mehr Integration und Öffnung geführt haben. Der Soziologe Hartmut Esser stellt in der FAZ gnadenlos die Fakten zusammen.

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Eine Sonderauswertung mit einem Vergleich der Bundesländer hatte bei der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 ergeben, dass Bayern und Baden-Württemberg über dem OECD-Durchschnitt lagen, und zwar recht deutlich, und Sachsen nur wenig darunter. Diese drei Bundesländer hatten dabei die stringentesten institutionellen Regelungen: die Verbindlichkeit der Schullaufbahnempfehlungen, eine stärkere organisatorische Kontrolle der Schulen, etwa über die Standardisierung des Stoffs, zentrale Prüfungen, regelmäßige Tests und eine Rechenschaftspflicht der Schulen und ihrer Lehrer. Die schlechtesten Leistungen und eine stärkere soziale Ungleichheit zeigten sich dagegen in Bremen, Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Das aber waren ausgerechnet jene Bundesländer mit der größten Öffnung und der stärksten Lockerung. Es gab oder gibt dort keine Verbindlichkeit und eine nur geringe Kontrolle.

Baden-Württemberg und Bayern mit ihren besonders stringenten Regelungen lagen auch schon in den Grundschulen weit über dem internationalen Durchschnitt.

Hartmut Esser, deutscher Migrationswissenschaftler sowie Professor für Soziologie und Wissenschaftstheorie an der Universität Mannheim.

Die Zusammenhänge lassen sich gut nachvollziehen: Verbindlichkeit und Kontrolle sind darauf gerichtet, dass die Kinder tatsächlich nach ihren Fähigkeiten und Leistungen auf die unterschiedlichen Bildungswege verteilt werden und dass die damit verbundenen institutionellen Änderungen, die Anpassung der Curricula und des Unterrichts an die Unterschiede, auch wirklich implementiert werden. Die Öffnung und Aufteilung auf die Bildungswege nach Belieben ist dagegen mit Nachlässigkeiten und Ungerechtigkeiten aller Art, sowie mangelnder Effizienz verbunden. Der im einfachen Vergleich der Nationalstaaten bei PISA 2000 entstandene Eindruck, dass erst mit Öffnung, Lockerung und Integration, wie in Schweden und Finnland, die Leistungen besser und die Bildungsungleichheit geringer würden, hatte also gleich zu Beginn getrogen, und zwar massiv.

Auch IGLU 2003 für die Grundschulen belegte früh das Gegenteil der seitdem gängigen Auffassung: Baden-Württemberg und Bayern mit ihren besonders stringenten Regelungen lagen auch schon in den Grundschulen weit über dem internationalen Durchschnitt und kamen fast an Schweden heran, Nordrhein-Westfalen und Bremen mit ihren Öffnungen blieben deutlich darunter. Die anderen Bundesländer hatten nicht teilgenommen oder lagen auch im unteren Bereich, Hessen etwa.

Im Vergleich der Sekundarstufen berichteten die PISA-Vergleiche im Jahr 2003 und dann 2006 von ersten Anzeichen der Besserung in Niveau und sozialer Durchlässigkeit – und von Verschlechterungen in Schweden wie auch in Finnland. Das verstärkte sich 2009, dann noch einmal 2012 und schließlich auch 2015, sodass sich die Länder im internationalen Vergleich mit und ohne Differenzierung kaum noch unterschieden. Im Vergleich der deutschen Bundesländer waren Sachsen und Bayern 2018, also vor Corona und damit noch in der Zeit mit einem regulären Unterricht, in den Leistungen wieder die besten in Deutschland – und international besser als Schweden und sogar Finnland. In der sozialen Durchlässigkeit unterschieden sich die Länder ohnehin nicht mehr.

Breiter Konsens

Gleichwohl verstummten die gewohnten Vorhaltungen nicht, in Deutschland mit seiner frühen und rigiden Trennung der Kinder nach der Grundschule seien die Probleme besonders groß und, so mindestens der Subtext, nur durch den Übergang zur vollen Integration beziehungsweise zu einem „längeren gemeinsamen Lernen“ über die ganze Pflichtschulzeit hinweg zu lösen. Es war nach PISA 2000 ein breiter Konsens, und man könnte schon von einer nicht weiter bezweifelten Standardposition zu der Frage nach den Effekten von Differenzierung und Integration in den systematischen Übersichten und Metaanalysen der Bildungsforscher, mancher Institute und Stiftungen und in weiten Teilen der akademischen Bildungsforschung sprechen – bis in die letzte Zeit hinein, obwohl es so noch nie gestimmt hatte.

Theresa Schopper, Kultusministerin, Grüne: 2011 begann der Abstieg.

Auf dem Gipfelpunkt der weithin unbeachteten Verbesserungen und Konvergenzen gab es nun ein wissenschaftlich interessantes, wenngleich politisch umstrittenes Feldexperiment. In Baden-Württemberg war 2011/12 mit dem politischen Wechsel zu Grün-Rot die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlungen abgeschafft worden. Das könnte negative Folgen haben, so hatte zum Beispiel der Bildungsforscher Jörg Dollmann früh genug gewarnt, der den damals wohl einzigen Datensatz zur Verfügung hatte, der einigermaßen brauchbar war. Ohne Noten und verbindliche Regelungen entscheiden nicht die Fähigkeiten und Leistungen der Kinder über den weiteren Bildungsweg, sondern vor allem der Ehrgeiz der Eltern, insbesondere in den oberen sozialen Schichten. Zugleich wagen die bildungsferneren Eltern der unteren sozialen Schichten nicht den unbekannten Schritt nach oben und schicken auch begabte Kinder nicht aufs Gymnasium. Das aber führe dazu, so konnte man vermuten, dass mehr Kinder aus den sozial privilegierten Schichten auf dem Gymnasium landeten, die die Leistungsanforderungen nicht erfüllen könnten, aber auch, dass gerade die talentierten Kinder aus den unteren Schichten ihre Chancen nach oben nicht bekommen würden. Hinzu kommt, dass es mit der Verbindlichkeit und dem Wissen über die damit verbundenen Hürden einen besonderen Anreiz gibt, sich schon vor dem Übergang besonders anzustrengen, der bei der freien Wahl kleiner ist oder ganz entfällt.

Baden-Württemberg war 2015 und 2018 beim Aufschwung der stringent gebliebenen Bundesländer Bayern und Sachsen nicht mehr dabei.

So kam es auch. Baden-Württemberg war 2015 und 2018 beim Aufschwung der stringent gebliebenen Bundesländer Bayern und Sachsen nicht mehr dabei. Die waren ungerührt auf dem eingeschlagenen Erfolgspfad geblieben und weiter nach oben davongezogen. Baden-Württemberg sackte zwar nicht unbedingt ab, es blieb jedoch stecken und lag bald nur noch wenig vor Hessen und Nordrhein-Westfalen im unteren Bereich. Und sozial durchlässiger war es auch nicht geworden.

Weiche Kriterien für Selektionsabbau

Das Experiment mit der Abschaffung der Verbindlichkeit der Übergangsempfehlungen war also offensichtlich gescheitert. Dafür gab es noch einen ganz besonderen Grund, den man später fand: Die Kinder hatten nach der Umstellung offenbar noch in der Grundschule und vor dem Übergang die Griffel sofort fallen gelassen als klar wurde, dass sie sich die weiterführende Schule ohnehin aussuchen konnten. Inzwischen haben mehrere Studien diese und weitere Effekte für den Bildungserfolg bestätigt, für den Fall der Reform in Baden-Württemberg speziell, aber auch allgemein: Die Verbindlichkeit steht für die Bedeutung, die der Schule, dem Lehrpersonal und den Leistungen beigemessen wird, und lässt offenbar ein eigenes, übergreifendes „Bildungsklima“ entstehen, das nicht auf Einzelaspekte sehen muss, sondern sich wie selbstverständlich von alleine trägt.

Bis 2012 ungefähr war man in Deutschland und seiner so rigiden Differenzierung nicht mehr ungebrochen der Prügelknabe der PISA-Berichte und der öffentlichen Debatten wie bis dahin. Woran der Aufschwung zwischen 2000 und 2012 lag, ist jedoch nicht geklärt. Wahrscheinlich hatte er mit den besonderen Anstrengungen um die Kinder in den unteren Leistungsbereichen und einer doch deutlich erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit und Anstrengung nach dem PISA-Schock von 2000 zu tun. So hätte es eigentlich weiter gehen können: schrittweise Verbesserungen an kritischen Stellen und die unaufgeregte, regelmäßige Überprüfung, ob es voran geht oder auch nicht.

Sie werden auch mit deutlichen Empfehlungen eher von den Eltern zurückgehalten, auf die regulären Gymnasien zu gehen, wo sie erheblich bessere Leistungen erbracht hätten. Für die oberen Schichten sieht es anders aus: Sie haben immer ihre Optionen, darunter die Privatschulen oder andere Zufluchtsorte, wenn es kognitiv nicht reicht.

Nach 2012 gingen über die Jahre so ab 2012 bis 2018 die Leistungen zurück, zuerst allmählich und dann immer deutlicher. Offenbar hatten die vielen mehr oder weniger sichtbaren Öffnungen und Lockerungen in den anderen Bundesländern ihren Anteil daran: bei den Noten, beim Unterricht, bei den Klassenarbeiten und manchem anderen noch. Möglicherweise hat auch die zunehmende Zusammenlegung der unteren Bildungswege eine Rolle gespielt, die Schaffung von „Gesamtschulen“ oder „Stadtteilschulen“, parallel zu den differenzierten Schultypen. Es gibt bislang keine wirklich überzeugenden Hinweise, dass sie etwas bringen. Sie wirken eher wie Mobilitätsfallen für gerade die talentierten Kinder der unteren Schichten. Sie werden auch mit deutlichen Empfehlungen eher von den Eltern zurückgehalten, auf die regulären Gymnasien zu gehen, wo sie erheblich bessere Leistungen erbracht hätten. Für die oberen Schichten sieht es anders aus: Sie haben immer ihre Optionen, darunter die Privatschulen oder andere Zufluchtsorte, wenn es kognitiv nicht reicht.

Auch beim Abschwung erreichen die Bundesländer mit der größten Stringenz die besten Durchschnittsleitungen. Außerdem schaffen dort die meisten Kinder die Mindeststandards – gerade in den unteren Leistungsbereichen. Baden-Württemberg verliert nach 2012 den Anschluss nach oben und rückt nahe an die schwachen Flächenländer Hessen und Nordrhein-Westfalen heran. Über Berlin und Bremen müssen wir nicht mehr reden: nur die Katastrophe.

Für 2022 zeigt sich der Verfall nach der coronabedingten Schließung der Schulen endgültig. Aber wieder halten sich die stringenten Länder auf hohem Niveau besser. Baden-Württemberg verliert weiter und bei den schwachen Bundesländern rutschen manche deutlich in den negativen Bereich im Vergleich zu 2013. In der Abbildung ist das zusammenfassend dargestellt.

Sachsen und Bayern, legen im Vergleich von 2009 bis 2018, dem letzten Jahr vor den Krisen und Schulschließungen, weiter zu, deutlich sogar. Alle anderen verlieren.

Der allgemeine Aufschwung bis 2012 und die Unterschiede der Bundesländer nach Stringenz und Leistungsniveau sind gut erkennbar. Ab da bröckelt es, aber nicht überall. Die nach 2012 noch stringenten Bundesländer, Sachsen und Bayern, legen im Vergleich von 2009 bis 2018, dem letzten Jahr vor den Krisen und Schulschließungen, weiter zu, deutlich sogar. Alle anderen verlieren – oder stagnieren, wie auch Baden-Württemberg gleich nach 2012, der Zeit nach der Reform. Deutschland insgesamt ist seit 2009 (und eigentlich schon früher) nicht mehr unterdurchschnittlich, aber die offenen Bundesländer verderben immer den Schnitt, vorher schon und jetzt erst recht. An ihnen hängt es, dass Deutschland und die Differenzierung bei PISA nicht besser zu sein scheinen.

Ganz ähnlich war es bei den Grundschulen. In der IGLU-Studie 2022 zeigte sich, dass es in Deutschland zwar einen deutlichen Rückgang in den Leseleistungen gegeben hat und nur einen Platz im Mittelfeld hinter Finnland und Schweden. Wieder gab es nach den Angaben der jeweiligen IQB-Berichte die schon bekannten Unterschiede für die deutschen Bundesländer: Die stringenten Länder sind auch schon in der Grundschule besser, und das auch noch in den Krisenzeiten, und die offenen fallen besonders stark ab.

Der einstige PISA-Sieger Finnland erfährt einen totalen Absturz.

Soweit die Sachlage. Sie ist alles andere als das, was man bis dahin zu lesen bekommen hatte. Aber warum dann jetzt auf einmal erst diese ganz andere „Wirklichkeit“? Gab es die deskriptiven Berichte denn nicht schon, bei PISA wie beim IQB-Bildungstrend? Und was ist dann aus den vielen, mehr oder weniger komplexeren statistischen Analysen geworden, die alles Mögliche einbezogen haben, was die deskriptiven Unterschiede auch (kausal) erklären hätte können: weitere Eigenschaften der Länder, der Schulen und Schulklassen, der Familien und der Kinder? Natürlich gab es die, es ist eine ganze Industrie daraus entstanden, aber nahezu immer zeigten sie den gleichen Befund: Eher geringere Leistungen bei Differenzierung, besonders bei den Kindern aus den schwierigeren Verhältnissen und, insbesondere, eine Verstärkung des Effektes der sozialen Herkunft, und das stets in Deutschland „wie kaum in einem anderen Land“. Aber konnte das angesichts der Unterschiede unter den Bundesländern stimmen, die das Gegenteil anzeigten?

Es gibt zwei Antworten. Die eine kennen wir schon: In den PISA-Vergleichen finden sich nur die nationalen Unterschiede insgesamt und ohne die regionalen Unterschiede. Die andere ist dagegen schon überraschend: In den meisten Untersuchungen wurden zentral wichtige Einflussgrößen auf die Leistungen nicht berücksichtigt, sei es, weil sie schon in den Daten fehlten oder in den Analysen keine Rolle spielten.

Das kann fatale Folgen haben. Fragt man nämlich nach den Effekten bestimmter Bedingungen als Ursache für einen zu erklärenden Sachverhalt, dann müssen in den betreffenden Untersuchungen die jeweils bedeutsamen Bedingungen möglichst vollständig erfasst und in ihrer jeweils eigenen Wirksamkeit bestimmt, also statistisch voneinander getrennt werden. Für das Lernen und die Leistungen sind das die kognitiven Fähigkeiten der Kinder, also die Intelligenz. Sie ist der mit Abstand stärkste Faktor. Aber ausgerechnet der ist in den PISA-Daten nicht enthalten und in den IQB-Berichten, in denen es ihn gab, nicht analysiert worden. Es wird immer nur die soziale Herkunft ausgewiesen – neben einigen weiteren Faktoren wie Geschlecht, Migrationshintergrund oder der Vorschulbesuch. Das sind weit weniger wichtigere Indikatoren. Wenn aber der mit Abstand bedeutsamste Faktor in den Analysen nicht berücksichtigt wird, kann das nur zu Verzerrungen und Fehlurteilen führen. Das gilt analog für die in den Begründungen der Differenzierung so wichtigen Effekte der kognitiven Zusammensetzung der Schulklassen.

Die Herkunftseffekte werden generell überschätzt und die für ein steigendes Leistungsniveau verantwortlichen kognitiven Fähigkeiten werden fälschlicherweise als Verstärkung des Einflusses der sozialen Herkunft beziehungsweise der sozialen Segregation in den Schulklassen interpretiert.

Gary Marks, PISA-Forscher: Keine Verbesserung der Chancengerechtigkeit

Die Folgen: Die Herkunftseffekte werden generell überschätzt und die für ein steigendes Leistungsniveau verantwortlichen kognitiven Fähigkeiten werden fälschlicherweise als Verstärkung des Einflusses der sozialen Herkunft beziehungsweise der sozialen Segregation in den Schulklassen interpretiert. Es handelt sich also um eine glatte Fehlzuschreibung der Systemeffekte, um die es in der Auseinandersetzung geht. Und das in einem so aufwendigen und wichtigen Projekt wie den internationalen Vergleichsstudien. Gary Marks, ein international bekannter PISA-Forscher von der Universität Melbourne, hat dazu 2014 ein aufschlussreiches und in den zuständigen Fachkreisen anerkanntes Buch geschrieben. Nicht alle hat das offenbar erreicht.

Warum aber hat das kaum jemand vorher gemerkt oder gar ausgesprochen? Es ist eine schwierige und äußerst heikle Angelegenheit. Vielleicht war es eine Art von institutionalisierter Blindheit in Kombination mit gut verankerten politisch-ideologischen Einstellungen gewesen: Der PISA-Schock von 2000 schien mit einem Schlag die ewige Kontroverse um Differenzierung und Integration erledigt zu haben. Und dann kamen die vielen Programme und Institutionen der Bildungsforschung mit ihren Festlegungen in Ansatz und Untersuchungsanlage, die kaum eine andere Perspektive erlaubten. Man hätte sich sehr in die Nesseln setzen können, wenn man an etwas anderes auch nur gedacht hätte.

Aber es hatte noch einen anderen, ganz einfachen Grund: Erst ab 2006 gab es ein Projekt, die „National Educational Panel Study“, abgekürzt NEPS, das die nötigen Daten auch im Zeitverlauf und für die unterschiedlichen Stadien des Bildungsverlaufs erfasst hatte, allerdings nur für die deutschen Bundesländer, nicht international. Es war wohl der Versuch, es endlich einmal richtig zu machen, und sei es auch nur regional begrenzt. Das dauerte natürlich. So kam es, dass die eigentlich immer schon erforderlichen Analysen erst viel später möglich wurden. Ab 2018 zeigte sich so plötzlich das ganz andere Bild. Da aber war man schon längst falsch abgebogen.

Nur wenig später hatte die Bildungsadministration ganz andere Sorgen, „Corona“ vor allem und die damit bedingten Schulschließungen, dann 2022 der so plötzliche Lehrermangel und die versäumte Digitalisierung. An die „Systemfrage“ hat niemand mehr gedacht. Vielleicht war man auch ganz froh. Es wären politisch und auch wissenschaftlich höchst riskante Fragen gewesen, an das Bildungsministerium und die Kultusministerkonferenz (KMK) zuerst, dann aber auch an die nach PISA so breit ausgebaute Bildungsforschung mit ihren vielen Sonderprojekten und PhD-Programmen, die den kommenden Absturz angesichts der Öffnungen wohl nicht für möglich halten konnten.

Das Thema ist dann auch von anderen Problemen überlagert worden: Miserable bauliche Zustände, Lehrkräftemangel, Probleme bei der Digitalisierung, immer mehr Unruhe in der Gesellschaft, Flüchtlingskinder in einem vorher und anderswo kaum bekannten Maß. Derzeit scheint die Stimmung in eine noch andere Richtung umzuschlagen: Alles nicht so tragisch, wahrscheinlich ohnehin nicht zu klären, Reformen brauchten ihre Zeit und der aktuelle Schulfriede reicht uns schon. Im Moment brennt uns sowieso ganz was anderes auf den Nägeln, wie die Lehrerschelte von Alexander Schleicher als seine Erklärung für den Verfall – nachdem er vorher kaum etwas anderes kannte als die Forderung nach einer Aufgabe der Leistungsdifferenzierung und der Schaffung von integrierten Einheitsschulen. Die Forderung nach einer Aussetzung der PISA-Vergleiche liegt dann nahe. Aber das wäre der schlechteste Fall. Es hieße, die schwierige Suche nach den tieferen Ursachen abzubrechen und sich von den aktuellen Ereignissen überrollen zu lassen.

Der Autor hat Soziologie und Wissenschaftstheorie an der Universität Mannheim gelehrt.

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Der Vorstand des VSLCH bemüht sich um Schulrevolution https://condorcet.ch/2024/03/der-vorstand-des-vslch-bemueht-sich-um-schulrevolution/ https://condorcet.ch/2024/03/der-vorstand-des-vslch-bemueht-sich-um-schulrevolution/#comments Sun, 17 Mar 2024 14:35:45 +0000 https://condorcet.ch/?p=16194

Condorcet-Autor Felix Schmutz analysiert in seinem Beitrag die Kampagne des VSLCH (Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz) und seiner zahlreichen Unterstützer, die gegenwärtig in den Medien mächtig Wirbel macht. Mit den Slogans "Noten abschaffen", "Selektion abschaffen", "Lernlandschaften" und der Diffamierung unseres Schulsystems als Auslaufmodell generieren sie derzeit eine grössere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Dabei zitieren sie des Öfteren die Wyman-Studie "Bildungsgerechtigkeit", welche ihre Thesen stützen soll. Felix Schmutz hat sie gelesen, was man auch ihren Rezipienten raten würde.

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Eine erstaunliche Medienpräsenz

In letzter Zeit brodelt es wieder einmal in der Schullandschaft. Die PISA-Resultate, die 2023 veröffentlicht wurden, lockten den Vorstand des Verbands der Schulleitungen Schweiz (VSLCH) aus der Deckung. Er überschwemmt die Medien regelrecht mit Vorschlägen, wie unsere Volksschule umgestaltet werden müsse, damit die Leistungen der Jugendlichen besser und Chancengerechtigkeit endlich erreicht werden könne, so im Blick, in der NZZ, im Liechtensteiner Vaterland, im Fritz und Fränzi, auf Radio SRF. (1)

Tatsache ist, dass nicht nur pädagogische Motive den Reformdiskurs antreiben, sondern auch handfeste geschäftliche Interessen.

Felix Schmutz, Baselland: Die Studien zeigen grosse Schwächen.

Dass alle an Schule Interessierten und beruflich damit Befassten das Ziel der Verbesserung verfolgen, sei vorausgesetzt. Nur zerbrechen sich schon einige Generationen den Kopf über die Frage, auf welche Weise man vorgehen solle. Tatsache ist, dass nicht nur pädagogische Motive den Reformdiskurs antreiben, sondern auch handfeste geschäftliche Interessen. Es ist gar nicht mehr möglich, die beiden Motive leicht auseinanderzuhalten, denn die Bildung verfügt über einen grossen finanziellen Kuchen, von dem sich viele gerne ein Stück abschneiden würden. So äussern sich denn auch schulnahe Beratungsfirmen und die Mercator-Stiftung im Chor mit dem VSLCH-Vorstand.

Wenn nun die Interessenvertretung der Schulleitungen ihre Ideen lautstark publik macht, ist das von besonderer Bedeutung, denn inzwischen gelten klare hierarchische Bedingungen im Schulwesen. Die Bildungs- und Erziehungsdepartemente geben strategische Ziele vor: den Lehrplan, die Lehrmittel, die äussere Struktur der bildenden Schulen. Die Umsetzung vor Ort obliegt jedoch den Schulleitungen.

Ideen für eine neue Schule

Der VSLCH plant eine tiefgreifende Reform der Volksschule, die etwa folgende Kernpunkte umfasst:

  • Abschaffung der Selektion. Kinder und Jugendliche sollen bis Abschluss der obligatorischen Schule gemeinsam unterrichtet werden,
  • Abschaffung der Noten. Alternative Beurteilungen sollen die Noten ersetzen, nicht Auslese, sondern Förderung ist oberstes Ziel,
  • Abschaffung der Hausaufgaben,
  • Jedes soll nach eigenen Fähigkeiten und Interessen gefördert werden,
  • Selbstorganisiertes Lernen,
  • Software zur Unterstützung des Lernens sowie der verantwortliche Umgang mit neuen Medien als Lernziel,
  • Kinder mehrerer Jahrgänge werden im selben Raum unterrichtet,
  • Neue Rolle der Lehrpersonen als Lernbegleiter.
Thomas Minder, oberster Schulleiter der Schweiz: Hält unser Schulsystem für ein Auslaufmodell und die Schulschliessungen während der Coronazeit für einen Glücksfall.

Natürlich rechnen die Wortführenden des VSLCH mit Widerstand, obwohl ihre Ideen alles andere als neu sind. Die Forderungen werden  seit vielen Jahren propagiert und wurden mit wechselndem Erfolg ausprobiert. Aber die Radikalität, mit der sie das bisherige System als überholt darstellen und das Revolutionäre fordern, sichert ihnen allenthalben Aufmerksamkeit. Da es sich um eine Gruppe von Leuten handelt, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen und sich gegenseitig bestätigen, prallt Kritik an ihnen ab wie ein Ball von der Betonwand.

Sie unterfüttern ihre Kampagne mit Argumenten, auf die näher eingegangen werden muss. In diesem Beitrag möchte ich mich auf die Frage der Selektion konzentrieren, d.h. die Idee, Jugendliche müssten bis Ende 9. bzw. 11. Schuljahr gemeinsam unterrichtet werden. Welche Begründungen führen die Reformer an und wie stichhaltig sind diese?

Die Geschichte mit den verschleuderten Potenzialen

Dazu nun ein Blick auf die Dia-Show des VSLCH mit dem Titel «11 Jahre Potenzialentfaltung» von Jörg Berger. Gemeint sind natürlich die 11 Schuljahre unter Einbezug des Kindergartens, während deren die Kinder und Jugendlichensich in der Volksschule bilden sollen. (1)

Ausgehend von der Feststellung, dass die jüngste PISA-Erhebung wieder einmal zeige, wie das Potenzial der Kinder aus bildungsfernen Familien gegenüber demjenigen von Kindern aus akademischem Familienhintergrund zu wenig ausgeschöpft werde, stellt der VSLCH folgende  Hypothesen auf:

  • Längeres gemeinsames Lernen kommt den Benachteiligten zugute,
  • längeres gemeinsames Lernen geht nicht zu Lasten der Leistungsstarken,
  • die Chancenungleichheit entzieht der Wirtschaft Fachkräfte, ihr entgehen dadurch 30 Milliarden Franken pro Jahr, 14’000 Jugendliche erreichen nicht die Ausbildung, die ihrem Potenzial entspricht. (2)

In Deutschland hat Ralf Dahrendorf bereits 1965 in “Bildung ist Bürgerrecht” (Artikel in der ZEIT) die Forderung aufgestellt, das brachliegende Potenzial der sozial Benachteiligten durch eine bessere Bildungspolitik zu mobilisieren, um die wirtschaftliche Leistung Deutschlands zu steigern. Seither gab es unzählige Reformanstösse, u.a. die Schaffung von Gesamtschulen, kompensatorische Fördermassnahmen, höhere Durchlässigkeit, Aufholprogramme nach dem Schulobligatorium, etc. Diese Massnahmen haben immerhin dazu geführt, dass die Jugendarbeitslosigkeit sehr tief blieb. Doch dümpelt die Gymnasialquote der sozial Benachteiligten weiterhin unter den Erwartungen.

Oliver Wyman: international führende Strategieberatung mit hoher Methodenkompetenz.
Unzulängliche Studie?

Wenn der Ruf nach dem Wecken schlafender Humanressourcen heute erneut vom VSLCH aufgegriffen wird, ergibt sich ein Widerspruch: Das mit oben genannten Zahlen aus einer Studie der international agierenden Strategieberatungs-Firma Oliver Wyman untermauerte wirtschaftsorientierte Argument des «verschleuderten Potenzials möglicher Fachkräfteressourcen»(3) verträgt sich schlecht mit der Absicht einer betont pädagogisch ausgerichteten individuellen Förderung der Kinder. Will man Jugendliche auf Berufschancen trimmen, ist wohl ein gezieltes Kompetenztraining mit entsprechenden selektiven Ansprüchen und Verfahren unabdingbar. Die Firmen betreiben denn auch bei der Lehrlingsauswahl mit dem «Multicheck» eine knallharte Selektion, was in den Augen des VSLCH des Teufels sein müsste.

Oliver Wymans Studie “Bildungsgerechtigkeit – Eine Chance für die Schweizer Wirtschaft” (4) weist bei genauerem Hinsehen deutliche Schwachpunkte auf. So beruht die These des verschleuderten Potenzials der sozial Benachteiligten auf einem Vergleich der Deutsch-und Mathematiknoten von Lehrlingen und Gymnasiasten. Aus der Tatsache, dass die Noten der Lehrlinge sehr ähnlich ausfallen wie diejenigen der Gymnasiasten, folgern die Strategen von Oliver Wyman, die Lehrlinge könnten ebenso gut auch den gymnasialen Weg beschritten haben.

Aus der Tatsache, dass die Noten der Lehrlinge sehr ähnlich ausfallen wie diejenigen der Gymnasiasten, folgern die Strategen von Oliver Wyman, die Lehrlinge könnten ebenso gut auch den gymnasialen Weg beschritten haben.

Man reibt sich die Augen: Oliver Wyman berücksichtigt nicht, dass sich die Anforderungen in Mathematik und Deutsch am Gymnasium von denjenigen der Berufslehre unterscheiden, dass unterschiedlicher Stoff bewältigt werden muss, dass das Ziel einer Deutsch- oder Mathematikmatur nicht dasselbe ist wie dasjenige eines Berufsabschlusses. Auch die Tatsache, dass aus der Berufslehre und anschliessender Weiterbildung in Form einer Fachmaturität durchaus wertvolle Fachkräfte hervorgehen, wird dabei ausser Acht gelassen.

Jedenfalls konstatiert man, dass hier Äpfel mit Birnen gleichgesetzt werden. Die beruflich Qualifizierten haben im Übrigen die Möglichkeit, via Berufsmatur und Passerelle auch noch zur gymnasialen Matur zu gelangen. Die ganze Argumentation mit den 30 Milliarden Verlust und den 14’000 brachliegenden Potenzialen fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Zusammen lernen bis Ende neunte Klasse

Bergers Hauptargument zur Stützung der These, dass längeres gemeinsames Lernen, nämlich bis Ende der obligatorischen Schulzeit, die Chancengerechtigkeit erhöhe, ist der Verweis auf den Artikel Längeres gemeinsames Lernen macht den Unterschied von Sönke Hendrik Matthewes (5).

Damit ist die Studie für die Behauptung des VSLCH vollkommen unerheblich, denn erstens selektieren die Schweizer Schulen erst im 7. (bzw. 9.) Schuljahr, seit der Harmonisierung also nicht mehr schon im 5. und 6. (bzw. 7. und 8.) Schuljahr. D.h. Schweizer Kinder werden in den untersuchten Jahren ohnehin ungegliedert unterrichtet.

Das Dumme ist allerdings: Matthewes vergleicht nur das 5. und 6. Schuljahr von Schulen mit ungegliedertem und gegliedertem Schulsystem, nicht aber die Stufen 7 bis 9, wobei die Gymnasiasten gänzlich unberücksichtigt bleiben, also nur die nichtgymnasialen Kinder (Haupt-und Realschule, Gesamtschule) einbezogen wurden. Matthewes hat untersucht, «wie sich die Leistungsentwicklung der nicht gymnasialen Schülerschaft zwischen zwei Gruppen von Bundesländern unterscheidet: solchen, in denen es weiterhin ab der 4. Klasse separate Haupt-und Realschulen gibt, und solchen, in denen diese Bildungsgänge in einer Schulform zusammengefasst wurden und nicht gymnasiale Schülerinnen und Schüler länger gemeinsam lernen, bevor sie dem Haupt- oder Realschulzweig zugewiesen werden.»(6)

Damit ist die Studie für die Behauptung des VSLCH vollkommen unerheblich, denn erstens selektieren die Schweizer Schulen erst im 7. (bzw. 9.) Schuljahr, seit der Harmonisierung also nicht mehr schon im 5. und 6. (bzw. 7. und 8.) Schuljahr. D.h. Schweizer Kinder werden in den untersuchten Jahren ohnehin ungegliedert unterrichtet. Zweitens werden die Gymnasiasten von der Studie nicht erfasst, die in der Schweiz im 5. und 6. Schuljahr noch selbstverständlich in der ungegliederten Primarschule mitbeschult werden. D.h.: Die Schweiz ist auf jeden Fall weniger selektiv im 5. und 6. Schuljahr als die von der Studie berücksichtigten deutschen Schulen. Im 7. bis 9. Schuljahr sind deutsche Schulen in vielen Bundesländern ebenso gegliedert wie die schweizerischen, mit Ausnahme der Gesamtschulen, die als Alternativangebot nebenherlaufen, was jedoch alles nicht Gegenstand der Studie von Matthewes war.

Unzulässig wäre auch der Schluss, dass die Beobachtungen, die Matthewes für das 5. und 6. Schuljahr macht, ohne empirische Verifizierung und ohne Einbezug der P-Zug-Schüler(innen) auf das 7. bis 9. Schuljahr übertragen werden könnten. Die Vermutung liegt nahe, dass die anspruchsvolle Tätigkeit als Schulleitung den Autoren des VSLCH nicht die Zeit gelassen hat, die Studie genau und ganz zu lesen, sie haben sich lediglich von dem Titel verführen lassen und die Untersuchung fälschlich als Wasser auf ihre Mühle gedeutet.

Dr. Urs Moser, ehem. Leiter des Instituts für Bildungsevaluation: Leistungen unabhängig von Schulmodellen.

Schweizer Schulsysteme im Vergleich

Gibt es nun aber empirisch abgesicherte Publikationen, welche den Vergleich zwischen einer gegliederten und einer ungegliederten Sekundarstufe I (7. –9. Schuljahr) ermöglichen?

Es gibt sie. Leider zieht der VSLCH diese nicht in Betracht. 2008 verfasste Urs Moser, damals Leiter des IBE (Institut für Bildungsevaluation) der Universität Zürich, einen umfangreichen Bericht für die Bildungsdirektion des Kantons Zürich, in dem er gegliederte und ungegliederte Schulsysteme und deren Auswirkungen auf die Leistungen schweizweit verglich. (7) Im Kapitel 2.1 zieht Moser folgende Zwischenbilanz:

„Die aktuellen Studien aus der Schweiz zeigen, dass die Schulleistungen weitgehend unabhängig von Besonderheiten der Schulmodelle sind. Dies mag damit zusammenhängen, dass trotz dreier Modelltypen die Unterschiede zwischen den Modellen in den für die Leistungsentwicklung wesentlichen Merkmalen doch eher gering sind. Auch integrierende Modelle kommen auf der Sekundarstufe I nicht ganz ohne Bildung  leistungshomogener Gruppen aus. Zumindest in der Mathematik und in den Fremdsprachen, meist aber auch in Deutsch werden die Schülerinnen und Schüler entsprechend ihren Begabungen und Fähigkeiten in Leistungsniveaus unterrichtet.“

Moser begleitete hautnah die Basler Schulreform, die ab 1994 begann und bereits aufs Schuljahr 2004/2005 korrigiert werden musste. Die Frühselektion nach vier Jahren Primarschule wurde 1994 abgeschafft. Alle Kinder traten mit 11 Jahren über in eine ungegliederte Orientierungsschule (OS), die drei Jahre dauerte. Die anschliessende Aufteilung ins Gymnasium oder die nicht-gymnasiale zweijährige Weiterbildungsschule (WBS) sollte zuverlässiger möglich sein als schon nach vier Jahren Primarschule. Ab dem dritten OS-Jahr gab es in den Hauptfächern Niveaukurse, die auch an der WBS weitergeführt wurden, wobei sich aus der Schnittstelle am Ende der OS ergab, dass die Niveaus neu definiert werden mussten, weil die Gymnasiasten nicht mehr dabei waren.

Basler Schulreform WBS – Alle Beschwörungen waren vergebens.

Schon beim ersten Reformdurchgang zeigten sich grosse Probleme. Die Hauptziele, chancengerechte Förderung und informierte Selektion, liessen sich nicht erreichen. Bald meldeten sich wieder bis zu 40% des Jahrgangs in eines der Gymnasien an, genauso, wie die Einteilung schon vor der Reform ab Primarschule gewesen war. Die OS erreichte auch die Lernziele bei weitem nicht, die WBS musste in manchen Fächern bei Null beginnen, die Lehrfirmen entsetzten sich über das Niveau der Jugendlichen aus der WBS.

Das Erziehungsdepartement Basel verfügte als Notmassnahme, die WBS in zwei separate Leistungszüge zu unterteilen: A-Zug für die Schwachen, E-Zug für die Besseren. Damit kehrte im 8 und 9. Schuljahr das gegliederte System zurück. Mosers Institut konnte nun vergleichen, wie sich die Leistungen vom letzten ungegliederten Jahrgang zum ersten gegliederten Jahrgang entwickelte. Sein Fazit(8):

„Insgesamt fällt das Urteil über die Strukturänderung positiv aus. Der Tendenz nach war der Lernfortschritt in der Mathematik nach der Strukturänderung leicht höher als vor der Strukturänderung und die Deutschleistungen waren am Ende der 9. Klasse sogar statistisch signifikant höher als die Leistungen vor der Strukturänderung.[…] Obwohl die Schülerinnen und Schüler vor der Strukturänderung fachspezifischen Leistungsniveaus zugeteilt wurden, waren die Leistungsfortschritte nach der Strukturänderung und einer fachübergreifenden Zuteilung zu einem Leistungszug sogar leicht besser.“

Niveaukurse drängen sich ab dem 7. Schuljahr auf, weil die Leistungen derart divergieren, dass gemeinschaftlicher Unterricht nicht mehr funktioniert. Die Kernklasse ist nur noch in den als weniger wichtig erachteten Fächern zusammen, in den Hauptfächern wechseln die Gruppen je nach Niveaueinteilung. Selten wird erwähnt, dass dies zu unglaublichen Reibungsverlusten im Sozialgefüge und bei der Leistung führt, denn ständig ändert die Gruppenzusammensetzung, es entsteht Unruhe bei den Raumwechseln, organisatorische Probleme ergeben sich, weil pro 2 Klassen drei Niveaukurse gebildet werden müssen, Jugendliche müssen sich auf 10 bis 12 verschiedene Lehrpersonen einstellen, etc.

Insgesamt kommt Moser in der Studie zum Schluss, dass keines der untersuchten Schulmodelle klare Vorteile hat. Beim ungegliederten System hebt er den Vorteil einer besseren Durchlässigkeit auf ein höheres Niveau hervor. Im Übrigen verweist er auf die internationalen Vergleichsstudien, die sich eher eigneten, die Systeme auf ihre Leistungsfähigkeit zu prüfen.

Schulsystem und PISA

Aus diesem Grund ist ein Blick auf die nach Bundesländern aufgeschlüsselten Resultate von PISA 2023 hilfreich. (9) Daraus geht hervor, dass z.B. das gegliederte Schulsystem Bayerns mit einem Punktestand von 57.9 aufwarten kann, während das ungegliederte System Bremens nur 36.5 Punkte erreicht, wobei sogar Bremen ab 7. Schuljahr Niveaukurse in den Hauptfächern führt. Am besten schneidet Sachsen ab, das keine Gesamtschule führt. Das Diagramm weist darauf hin, dass die Länder mit gegliederten Schulsystemen deutlich besser abschneiden als diejenigen mit vorwiegend ungegliedertem System.

Die wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestages nahmen sich 2006 der Frage an, welche Vor-und Nachteile gegliederte und ungegliederte Schulformen hätten. (10) Darin wird die hessische Kultusministerin Karin Wolff zu den Nachteilen zitiert:

Karin Wolff, ehem. hessische Kultusministerin: Homogene Leistungsgruppe erzielen einen höheren Lernerfolg.

«Schon die Auswertung der deutschen Schullandschaft zeigt, dass Länder wie Bayern und Baden-Württemberg mit einem klar gegliederten Schulwesen die besten Ergebnisse [bei PISA] erzielen. International liegen Gesamtschulen im vorderen und hinteren Bereich. (…) Befürworter der Einheitsschule übergehen außerdem stillschweigend eine weitere Tatsache, die in vielen internationalen Studien festgestellt wurde: In homogenen Lerngruppen – auch dies ist übrigens sehr relativ – wird ein größerer Bildungserfolg erzielt. Die PISA-Zahlen für Deutschland sprechen eine deutliche Sprache: Sie zeigen eindeutig die Überlegenheit von Gymnasien und Realschulen im Vergleich zu den Gesamtschulen. Die durchschnittliche Schulleistung eines Gesamtschülers rangiert nach PISA gerade einmal zwischen der eines Haupt- und eines Realschülers. Die richtige Reaktion auf PISA ist, unsere Schulen dort zu reformieren, wo sie Schwächen aufweisen und unser differenziertes Schulsystem gezielt zu stärken.»

Und der deutsche Philologenverband doppelt nach:

«Wir erleben derzeit leider die Rückkehr der Ideologien in die Schulpolitik. Dabei hat PISA schonungslos aufgezeigt, dass nicht die Struktur, sondern die Verbesserung der Unterrichtsqualität im Zentrum der Bemühungen stehen muss.»

Die Schlussfolgerung dieser Auslegeordnung des Bundestages lautet: Die Schulstruktur werde in der Frage der Chancengleichheit überschätzt. Entscheidend seien vielmehr die Qualität des Unterrichts, die Fördermassnahmen für Schwächere, die Durchlässigkeit des Systems, die Vielfalt der Anschlussmöglichkeiten.

Keine Nachteile für Begabte?

Zurück zur Frage, ob die Begabten Nachteile erleiden, wenn sie in ungegliederten Klassen mit Schwachen zusammen unterrichtet werden. Die BIJU-Studie des Max Planck-Instituts Berlin kann dazu Auskunft geben. In den 90-er Jahren wurden in einer Langzeitstudie Gesamtschulen mit gegliederten Schulen verglichen. (11) Dabei zeigte sich Folgendes:

„Für den Vergleich von Haupt- und Gesamtschule ergeben sich nach Kontrolle des Vorwissens sowie der kognitiven und sozialen Variablen keine unterschiedlichen Leistungseffekte zwischen beiden Schulformen: Bei gleichen Eingangsbedingungen wird am Ende der 10. Jahrgangsstufe ein identischer Wissensstand erreicht. Die wichtigsten Einflüsse auf die Leistungsentwicklung üben die kognitiven Variablen “Vorwissen” und “kognitive Grundfähigkeiten” aus. Der Einfluß des sozialen Status ist schwach. Ethnische Herkunft und familiäre Situation üben nach Kontrolle der kognitiven Voraussetzungen keinen nachweisbaren Einfluß aus.

Beim Vergleich zwischen Real- und Gesamtschule zeigt sich, daß in der Realschule auch nach Kontrolle kognitiver und sozialer Eingangsvariablen die Leistungsentwicklung günstiger als an der Gesamtschule verläuft. Bei gleichen intellektuellen und sozialen Eingangsbedingungen erreichen Realschüler am Ende der Sekundarstufe I etwa in Mathematik einen Wissensvorsprung von etwa zwei Schuljahren.

Noch stärker sind diese Effekte, wenn man Gesamtschule und Gymnasium vergleicht. Bei gleichen intellektuellen und sozialen Bedingungen beträgt der Leistungsvorsprung in Mathematik am Gymnasium mehr als zwei Schuljahre. Es gibt keine Hinweise, daß die ungünstige Leistungsentwicklung durch besondere überfachliche Leistungen kompensiert werden könnte.

In allen Analysen ist der Einfluß der Sozialschicht nach Kontrolle der kognitiven Voraussetzungen relativ gering oder statistisch nicht nachweisbar. Dies weist darauf hin, daß der Einfluß der sozialen Herkunft auf die Leistungsentwicklung innerhalb von Schulformen im Vergleich zu ihrer Bedeutung bei der Übergangsauslese in der Regel überschätzt wird.“

Mit anderen Worten: Wenn gymnasial veranlagte Schüler(innen)oder Realschüler(innen) in Gesamtschulen sitzen, sind sie am Ende des 10. Schuljahres zwei Jahre mit dem Stoff in Verzug gegenüber denjenigen, die von Anfang an im Gymnasium oder in Realschulen unterrichtet wurden. Damit ist klar, dass Gesamtschulen in den oberen Klassen auf Dauer zu einer Nivellierung des Leistungsniveaus der besseren Schüler(innen) nach unten führen.

Dass die bildungsferne soziale Herkunft sich in gegliederten Modellen zum Nachteil auswirkt, kann auch Urs Moser nicht bestätigen, wenn er unter 3.1 seiner Studie schlussfolgert:

„Die Wirkungen leistungshomogener oder leistungsheterogener Lerngruppen auf die schulischen Leistungen und den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischen Leistungen (soziale Ungleichheiten) werden durch den Vergleich der Wirkungen der drei Schulmodelle aber nicht nachweisbar.“ (12)

Fazit:

Die drei Behauptungen des VSLCH von Seite 2 sind damit entkräftet. Die Gliederung in Leistungszüge bringt vom 7. Schuljahr an nachweislich Vorteile für die Leistungsentwicklung. Potenziale der sozial Schwächeren werden durch schulische Aufstiegsmöglichkeiten und durch die Möglichkeiten der dualen Bildung im Anschluss an die obligatorische Schule aufgefangen. Die ungegliederten sechs Jahre Primarschule bieten in diesem Rahmen alle Vorteile, die man sich von der gemeinsamen Beschulung der verschiedenen Begabungen und sozialen Schichten erhofft. Die Differenzierung in Leistungszüge erfolgt erst, wenn die fachlichen Qualitätsunterschiede zu gross werden, d.h. die Schwachen konstant überfordert, die Starken konstant unterfordert würden.

Das Ethos der Lehrperson fordert, dass jedem Kind und Jugendlichen Gerechtigkeit widerfahren sollte. Der Ideologie des zusammen Lernens bis Ende 9. Klasse sollten weder Jugendliche am unteren Ende des Leistungsspektrums noch diejenigen am oberen Ende zum Opfer fallen. Die Schwächeren noch intensiver fördern ist ebenso wichtig und nötig wie der Erhalt der Angebote für die Stärkeren. Nivellierung auf einer unteren Stufe führt nicht zu mehr Fachkräften. Mit einer vernünftigen Selektion kann die Nivellierung nach unten verhindert werden.

(1) https://padlet.com/joergberger1/11-jahre-potenzialentfaltung-88do73arb5ehi70w

(2) idem

(3) Oliver Wyman, Allianz Chance, Bildungsgerechtigkeit. Eine Chance für die Schweizer Wirtschaft, 2023

(4) idem

(5) Sönke Hendrik Matthewes, Längeres gemeinsames Lernen macht den Unterschied, in WZBrief Bildung, 40 August 2020.

(6) idem

(7) Urs Moser, Schulsystemvergleich. Gelingensbedingungen für gute Schulleistungen, Universität Zürich, Institut für Bildungsevaluation, 2008, S. 17.

(8) idem, S. 16.

(9) Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Vor- und Nachteile der Gesamtschule bzw. des dreigliedrigen Schulsystems, 2006

(10) Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Vor- und Nachteile der Gesamtschule, bzw. des dreigliedrigen Schulsystems, 2006

(11) Jürgen Baumert / Olaf Köller: Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugend-und jungen Erwachsenenalter (BIJU)in Pädagogik, 50. Jahrgang, Heft 6/1998

(12) Moser, S. 18

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Die Bildungsforschung hat keinen grossen Erkenntnisgewinn gebracht https://condorcet.ch/2024/02/16009/ https://condorcet.ch/2024/02/16009/#comments Mon, 26 Feb 2024 16:25:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=16009

Mit etwas Verspätung - am Montag, statt am Sonntag - veröffentlichen wir den Sontagseinspruch von Professor Wolfgang Kühnel, der uns den leider verstorbenen Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke in Erinnerung ruft. Der "Weisse Rabe" der Erziehungswissenschaft erklärt uns auch den wichtigen Unterschied zwischen Korrelationen und Kausalitäten.

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Normalerweise diskutieren wir aktuelle Entwicklungen, den letzten internationalen Test, seltsame neue Lehrpläne, eine Fehlentscheidung wichtiger Institutionen, die Einrichtung einer neuen Kommission, die Digitalisierung, das Wirken unternehmensnaher Stiftungen usw.

Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet.

Heute möchte ich ausnahmesweise auf etwas zurückgreifen, das vor 20 Jahren formuliert wurde, aber doch eine erstaunliche Aktualität zu besitzen scheint. Würde man das Datum der Veröffentlichung nicht sehen, könnte man das für einen aktuellen Beitrag halten, dabei war der Autor weder Hellseher noch hatte er prophetische Gaben. Es geht um den folgenden Text von Hermann Giesecke (1932-2021), bekannt als so etwas wie ein Altmeister der Pädagogik in Deutschland:

http://www.hermann-giesecke.de/erzwiss.pdf

Seine legendäre Formulierung “So ziemlich alles, was die moderne Pädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt Kinder aus bildungsfernem Milieu” haben vermutlich die meisten schon gesehen.

Neben solchen grundsätzlichen Äußerungen sollte man aber auch seine Einschätzung zu der modernen empirischen Bildungswissenschaft und dem damit zusammenhängenden “pädagogisch-

9. August 1932 in Duisburg; † 4. September 2021 in Lenglern, deutscher Erziehungswissenschaftler: Benachteiligung der Kinder aus bildungsfernem Milieu.

industriellen Komplex” (das Wort fällt auf S. 155 unten) beachten. Das ist durchaus aktuell: Auf der gerade zu Ende gegangenen Didacta 2024 in Köln wurde man von dieser Reklame-Glitzerwelt der Bildungsindustrie geradezu erdrückt. Das Heil scheint nur noch in der profitablen Digitalisierung zu liegen, anderes gibt es nicht mehr.

Schon der dritte Satz spricht von einem “Auseinanderdriften” der Wissenschaft und der schulischen Praxis. Und dann heißt es: “Die Leitfrage lautet: Was hat ein Lehrer von der modernen Bildungsforschung bzw. von den systematischen Ergebnissen der Erziehungswissenschaft?”

Immerhin sind die ersten PISA-Studien bereits in die Diskussion einbezogen und waren vielleicht sogar ein Anlass für Giesecke, das zu schreiben: “Lehrer gelten in diesem Zusammenhang nicht als Akteure, sondern eher als Publikum, Abnehmer und Adressaten.” Auf der zweiten Seite stellt er fest: “Die Praxis hat ihre eigene Logik …

Unsere Bildung wird nicht mehr aktiv erworben, sondern von höherer Warte aus “gemanagt”.

Deshalb sind alle Versuche unbefriedigend geblieben, das System von Bildung und Erziehung von außen in eine gewünschte Richtung zu steuern.” Da mögen allen Mitgliedern aller “Steuerungsgruppen” im Bildungswesen die Ohren klingen, besonders von dieser hochrangigen Steuerungsgruppe, besetzt mit Staatssekretärinnen und Staatssekretären:

https://www.bildungsbericht.de/de/autor-innengruppe-bildungsbericht/autorengruppe#1

“Bildungsmanagement” heißt das heute, unsere Bildung wird also nicht mehr aktiv erworben, sondern von höherer Warte aus “gemanagt”. Da kann wohl jeder froh sein, der seine Bildung noch in der Zeit vor dem “Bildungsmanagement” erworben hat.

Bildungsmanagement: Der Ertrag der bisherigen empirischen Forschung für die unmittelbare pädagogische Praxis ist sehr gering.

Und es geht um die “Erwartungen der politischen Öffentlichkeit”: “Man erhofft sich insbesondere von den umfangreichen und kostspieligen Bildungsforschungen Handlungsanweisungen … Insbesondere die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse hat die Vorstellung entstehen lassen, nun wisse man doch, worauf es ankommt, jetzt müsse eigentlich nur noch gehandelt werden, der Erkenntnis nur noch die Anwendung folgen.” Dass das in den 20 Jahren der bisherigen PISA-Tests so einfach nicht funktioniert hat, wissen wir heute, aber Giesecke erklärt eine prinzipielle Unmöglichkeit schon auf der dritten Seite, weil “der Ertrag  der bisherigen empirischen Forschung für die unmittelbare pädagogische Praxis sehr gering ist.” Er spricht von einer “künstlichen und auf den Forschungszweck hin konstruierten Wirklichkeit, die mit der, die dem Handeln gegeben ist, nicht mehr viel zu tun hat.”

Das gipfelt neuerdings in den nationalen IQB-Tests darin, dass es als Ergebnis immer heißt, x Prozent der Teilnehmer hätten leider die Mindeststandards verfehlt, andererseits aber fast niemand weiß, wie diese Mindeststandards genau aussehen. Die Lehrer wissen nicht, was sie  machen sollen, damit ihre Schützlinge die Mindeststandards erreichen.

Die KMK hat nur Regelstandards veröffentlicht, und die haben andere Ansprüche, sie sollen wohl — grob gesagt — der Schulnote “befriedigend” entsprechen, die Mindeststandards dagegen dem, was (nahezu) ALLE erreichen sollen, so die theoretische Vorstellung.

Überall scheint heute ein Verbesserung des Unterrichts eingefordert zu werden, nur wie die konkret aussehen soll, das scheint kaum jemand sagen zu können.

Hinzu kommt, dass in all diesen Tests nicht das geprüft wird, was vorher gelehrt und gelernt wurde, sondern bewusst anderes, nämlich übergreifende “Kompetenzen”.

Genau diese Frage stellt auch Giesecke: “Was hat ein Lehrer davon, wenn er diese Untersuchungen zur Kenntnis genommen hat? Erhält er Hinweise darüber, was und wie er unterrichten soll oder seinen bisherigen Unterricht verbessern kann?” Überall scheint heute ein Verbesserung des Unterrichts eingefordert zu werden, nur wie die konkret aussehen soll, das scheint kaum jemand sagen zu können. Man definiert die Verbesserung des Unterrichts dann über die Verbesserung der Testergebnisse, aber alle wissen, dass in die Testergebnisse so viele andere (z.B. soziale) Faktoren eingehen, dass man das praktisch gar nicht trennen kann. Jeder kennt die achselzuckenden Statements der prominenten Empiriker, dass sie zu den Ursachen der Ergebnisse und ihrer Veränderungen natürlich keine Aussage machen können, sie messen ja nur. Dann kann aber auch niemand wissen, wie man diese Ergebnisse nun effizient beeinflussen kann.

Statistische Korrelationen, mögen sie noch so signifikant sein, deuten nicht unbedingt auf Kausalitäten hin.

Giesecke listet auf Seite 154 als mögliche Ursachen auf: “das Desinteresse vieler Schüler und Eltern, das einseitig als pädagogisches und deshalb fortbildungsbedürftiges Manko der Lehrer und nicht zumindest auch als Resultat der Demontage der Schule als staatliche Institution gedeutet wird; die Verrechtlichung des Lehrerdasein, die sanktionierende Interventionen im Namen der zu fordernden Leistungen im Keim erstickt von bürokratischer Gängelung und materieller Unterausstattung ganz zu schweigen.”

Korrelation hat nichts mit Kausalität zu tun.

Und dann steht auf derselben Seite unten der Kernsatz, den am besten alle auswendig lernen sollten: “Die Zuordnung von Ursachen und Wirkungen ist nämlich das eigentliche Problem. Statistische Korrelationen, mögen sie noch so signifikant sein, deuten nicht unbedingt auf Kausalitäten hin.”

Die empirische Bildungswissenschaft überschüttet uns geradezu mit Millionen von statistischen Korrelationen, aber die Klärung von Kausalitäten hält damit nicht annähernd Schritt. Nur eine Korrelation habe ich in den großen Testberichten von PISA & Co nie gesehen: Die zwischen Intelligenz (also IQ nach einem der üblichen Intelligenztests) und Testerfolg. Da redet man nur etwas verschämt von “kognitiven Fähigkeiten”, die aber als solche nicht mit Punkten oder Stufen versehen werden. Böse Zungen vermuten gerade in diesem Fall eine Kausalität, und zwar weitgehend unabhängig von dem Wirken der Lehrer, deren praktische Einflussmöglichkeiten nicht so einfach durch statistische Korrellationen beschrieben werden können. Auf Seite 164 heißt es dazu: Politik und Wissenschaft “sehen in den Praktikern im Wesentlichen Objekte ihrer eigenen Bestrebungen, was durch die Output-Orientierung  der Bildungsforschung noch verstärkt wird. Dabei könnte eine praxisbezogene Forschung durchaus ergiebig sein, wenn sie von den Problemskizzen derjenigen ausgeht, die die Arbeit tun. …

Warum ist es so schwierig, gewissen Kindern Basiskompetenzen beizubringen.

Die Ergebnisse von PISA würden eine andere Farbe erhalten, wenn Lehrer z.B. öffentlichkeitswirksam beschreiben könnten, WARUM es gegenwärtig kaum möglich ist, bestimmten Gruppen von Kindern die Basiskompetenzen beizubringen.” Obwohl wir in Zeiten ständiger Meinungsforschung leben und fast täglich erfahren, wie viele Wähler nun welche Partei wählen würden, scheint es kaum repräsentative Umfragen unter Lehrern zu den vieldiskutierten und heiklen Themen (etwa zu Disparitäten bei den Ergebnissen oder zum Abwärtstrend in den letzten 10 Jahren) zu geben.

Und so nebenbei wendet sich Giesecke auch noch dem ewigen Zankapfel der deutschen Bildungspolitik zu, dem Schulsystem (Seite 163):

“Die primäre Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist im weitesten Sinne die Erforschung, Beschreibung und kritische Sondierung der Erziehungswirklichkeit, nicht deren Konstruktion. Demnach steht ihr zu, auf dem Hintergrund ihrer Forschungsergebnisse die Mängel des  dreigliedrigen Schulwesens oder der Gesamtschule zu beschreiben und zu begründen, aber nicht für die eine oder andere Variante zu plädieren,  als sei das wissenschaftlich geboten.”

Schwache PISA-Werte, spürbaren Einfluss der sozialen Herkunft auf Test- und Schulerfolg, Schulabbrecher, Probleme bei der Integration von Zuwanderern? Das dreigliedrige Schulsystem ist schuld!

Tatsächlich hatten wir damals und haben wir heute einen Mainstream in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft, der fest daran zu glauben scheint, dass das dreigliedrige System ursächlich für vieles ist, was man lieber nicht hätte: Schwache PISA-Werte, spürbaren Einfluss der sozialen Herkunft auf Test- und Schulerfolg, Schulabbrecher, Probleme bei der Integration von Zuwanderern usw. Aber wieder ist die Kausalität nicht stringent begründet. Schon in Frankreich mit seinem einheitlichen Schulsystem gibt es dieselben Probleme, es gibt sogar noch mehr Schulabbrecher, und auch bei PISA rangiert Frankreich bei den sozialen Disparitäten stets hinter Deutschland, Luxemburg und Ungarn auch.

Einen gewichtigen Nachteil des gegliederten Systems kennen alle: Das ist der kritische Moment des Übergangs von einer einheitlichen Grundschule in mehrere Varianten einer weiterführenden Schule. Dass dabei Fehler passieren, ist prinzipiell nicht vermeidbar. Aber nur Giesecke scheint zu thematisieren, dass auch ein einheitliches System eben Nachteile und Fehlermöglichkeiten haben könnte, die aber gleichwohl in der Mainstream-Argumentation noch nicht einmal benannt und untersucht werden sollen. Was ist das für eine Wissenschaft, die bestimmte Fragen nicht zulässt (oder gar per se als “verboten” oder in der Politik als “rechtes Gedankengut” betrachtet)?

Wenn die Grundschule 9- oder 10-jährig wäre und es danach um den Übergang auf ein 2- oder 3-jähriges “Stummelgymnasium” ginge, wie gerecht wäre denn da der Übergang? Wie will man das bewerkstelligen, ohne dass wieder im Gymnasium die höheren sozialen Schichten  überrepräsentiert sind?

Es sei auch an so manche “wissenschaftliche Eintagsfliege” erinnert. Als die Werte für Deutschland bei der IGLU-Studie nach oben gingen, bei PISA aber weiter schwach waren, jubelten diejenigen, die es schon immer wussten: “Das nicht gegliederte Schulsystem ist einfach leistungsfähiger und gerechter dazu”, z.B. hier:

https://www.bildung.koeln.de/imperia/md/content/laengeresgemeinsameslernen/vortrag_prof_bellenberg_5.2.2010.pdf

Schon wenige Jahre später gingen auch die Werte bei IGLU nach unten und bei den nationalen Grundschultests des IQB ebenfalls. Die Eintagsfliege war gestorben.

Auch Klaus-Jürgen Tillmann, bekannt durch seine Bielefelder Laborschule, hat in dem Band “Hamburg macht Schule” (Sonderheft 2009) auf Seite 14  verkündet, die 6-jährige Grundschule sei der 4-jährigen überlegen, weil die damaligen Testergebnisse in Berlin besser ausfielen als in Hamburg bei ansonsten vergleichbaren Verhältnissen. Nur leider war es schon 10 Jahre später genau umgekehrt, womit auch diese Eintagsfliege verschwunden ist. Korrelationen ändern sich von Test zu Test, Kausalitäten aber bleiben etwas länger. Jedenfalls sollte man wohl davon ausgehen können.

Festzuhalten bleibt: Giesecke beschrieb vor 20 Jahren ziemlich genau die Probleme, die wir auch heute haben. Und konsensfähige Lösungen sind damals wie heute nicht in Sicht. Aber dieser Aufsatz ist aus einem Geist heraus geschrieben worden, der uns Hoffnung machen kann. Es lohnt sich, den ganzen Artikel zu lesen und mit der aktuellen Situation zu vergleichen.

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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Hans Brügelmann will förderorientierte Rückmeldungen – Eine Replik https://condorcet.ch/2024/02/hans-bruegelmann-will-foerderorientierte-rueckmeldungen-eine-replik/ https://condorcet.ch/2024/02/hans-bruegelmann-will-foerderorientierte-rueckmeldungen-eine-replik/#comments Wed, 07 Feb 2024 19:51:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=15913

Felix Hoffmann, Sekundarlehrer in Baselland und Condorcet-Autor, greift den Beitrag von Professor Brügelmann, in welchem dieser eine grundsätzlich andere Benotung fordert, noch einmal auf und befasst sich darauf mit den unausgereiften Modeforderungen von Bildungsfunktionären.

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Wunschprosa

Die letzten fünf Kommentare zum Artikel sind um einiges aussagekräftiger als die Brügelmannschen Auslassungen. Es handelt sich bei diesen, wie mehrmals kommentiert, um naive Wunschprosa aus dem Elfenbeinturm, welche Brügelmanns Fehlen persönlicher Berührungspunkte mit dem Schulbetrieb gnadenlos offenbart.

Felix Hoffmann, BL, Sekundarlehrer, Condorcet-Autor: Im Vergleich praktikabel.

«Erziehungswissenschaften»- Erziehungs- bitte was?!?

Aufschlussreich ist Armin Tschenetts Recherche zur Biographie Brügelmanns. Letzterer ist «Erziehungswissenschaftler» und somit Vertreter einer Disziplin mit völlig nebulösem Inhalt. Mathematiker verfügen über Wissen und Fähigkeiten, die sich ausserhalb ihrer Domäne Stehenden völlig verschliesst. Das gleiche gilt beispielsweise für Physiker, Romanistinnen, Pharmazeutinnen, Biologen, Juristinnen, Ethnologen usw. Wie steht es diesbezüglich mit der «Erziehungswissenschaft»? Immerhin haben die bisher in etwa 10’000 bis 15’000 Generationen des Homo sapiens erfolgreich Kinder erzogen, ansonsten wir mittlerweile vermutlich ausgestorben wären. Ist das ein Zufall, dass die völlig unbedarften, ja geradezu zerstörerischen Schulreformen der letzten 30 Jahre ausgerechnet und nicht zuletzt in der Ecke der «Erziehungswissenschaften» losgetreten wurden?

Zuerst bitte die Gelingensbedingungen!

Und noch ein Wort zu Jürg Leuenberger, dem ersten Kommentatoren: Er unterliegt dem gleichen Fehler wie Beat Zemp, dem ehemaligen Präsidenten des LCH. Zemp begrüsste jegliche Reformen – und waren sie noch so durchgeknallt wie Passepartout oder die Kompetenzorientierung als Ganzes – unter der lediglich nachgestellten Bedingung der gewährleisteten Gelingensbedingungen, von denen er genau wusste, dass sie jeweils nicht gegeben waren. Die Erstplatzierung der Gelingensbedingungen, der notwendigen Ressourcen also, innerhalb Leuenbergers Kommentars, macht seine Forderung nach «förderorientierten Rückmeldungen statt der verbreiteten Fixierung auf Selektion» zwar nicht vernünftiger, denn sie ist es nicht, aber immerhin konsequent. Mit der Unterstützung dieser Forderung durch den Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz, zeigt dieser auf, dass die an sich kleine Distanz zwischen Schulleitungsbüro und Schulzimmern so mancher Schulleitung offenbar nicht klein genug ist, um sich die Nähe zum Schulbetrieb zu bewahren. Und damit zu nächsten Punkt.

Hans Brügelmann (77), war von 1980 bis 2012 Professor für Erziehungswissenschaft an den deutschen Universitäten Bremen und Siegen.

Zemp begrüsste jegliche Reformen – und waren sie noch so durchgeknallt wie Passepartout oder die Kompetenzorientierung als Ganzes – unter der lediglich nachgestellten Bedingung der gewährleisteten Gelingensbedingungen, von denen er genau wusste, dass sie jeweils nicht gegeben waren.

Praktikabilität anstatt realitätsferner Idealismus

Bei den Schulnoten verhält es sich wie bei der Demokratie gemäss Winston Churchill: «Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen von allen anderen.» Selbstverständlich sind Noten keine perfekte Leistungsbeurteilung, aber sie sind bei aller berechtigten Kritik im Vergleich mit anderen Beurteilungsmethoden praktikabel, und das ist es nun mal, worauf es letztlich ankommt. Man stelle sich doch bitte mal die von Brügelmann und Leuenberger propagierten «förderorientierten Rückmeldungen» genau vor: Lehrkräfte sollen also neben dem Unterricht, der Vor- und Nachbereitung desselben, der rund wöchentlichen Prüfungsentwürfe und -korrekturen, der Gespräche mit Lernenden, Klassen und Eltern, dem ständigen interkollegialen Austausch, der jährlichen schriftlichen Kommentierung der Lernenden, der sich wiederholenden Stufen- und Kantonalkonferenzen, der regelmässigen Gesamtkonvente, der periodischen Fachschaftstreffen und Teamsitzungen, der kontinuierlichen Absprachen mit dem Förder- und Heilpersonal, der jährlichen Standortgespräche mit Lernenden und Eltern, der wiederkehrenden Organisation von Lager- und Projektwochen, der Vorbereitung von Ausflügen und Exkursionen, der administrativ aufwändigen Dokumentation bzw. Abrechnung der meisten dieser Anlässe nun also auch noch regelmässige «förderorientierte Rückmeldungen» durchfühlen?!? Zur Erinnerung: Eine einzelne Lehrkraft hat schnell über 100 SchüllerInnen und von zeitaufwendigen disziplinarischen Problemen war hier noch gar nicht die Rede. Wie der von seiner eigenen Gilde als «schlampig» bezichtigte Fernsehphilosoph und Hobbyschulreformer, Richard David Precht[1], muss wohl auch Brügelmann unter einem unaufgearbeiteten Schultrauma leiden, weswegen sie nun beide dem Schulbetrieb, der schon jetzt nicht zuletzt wegen Überlastung unter massivem Personalmangel leidet, mit einem weiteren unausgegorenen Konzept den Todesstoss versetzen wollen.

David Precht, Fernsehphilosoph: Relativ schlampige Argumentation.

Das Paradox der fehlbaren Reformer als ungerufene Retter

Der Arbeitsmarkt ist nicht spezifisch Schulnoten gegenüber kritisch eingestellt, er verteilt sie ja selbst in seinen Evaluationen. Das Problem geht viel tiefer. Nach 30 Jahren verantwortungsloser und verfehlter Reformen mit der Folge gravierend schlechter Resultate anlässlich diverser Evaluationen wie PISA oder ÜGK, ist das Vertrauen der Privatwirtschaft in den Schulbetrieb grundsätzlich erschüttert, und das zurecht. Eine Antwort auf dieses Misstrauen sind u.a. die privatwirtschaftlichen Testverfahren wie beispielsweise der Multicheck. Paradox dabei ist, dass ausgerechnet diejenigen Protagonisten des privaten Sektors, die eine massgebliche Verantwortung für die Misere des öffentlichen Schulbetriebs tragen – wie zum Beispiel Andreas Schleicher, PISA-Papst der OECD -, nun die Lehrkräfte als Sündenböcke hinstellen[2] unter völliger Ausblendung der eigenen Verantwortung. Schleicher wirft den Lehrkräften absurderweise vor, sie verstünden sich allzu sehr als Befehlsempfänger, wo sie doch nicht zuletzt auch durch ihn genau dazu degradiert wurden mittels von oben aufoktroyierter Schulreformen. Zur Erinnerung: Verweigerte man sich als Lehrperson der unsäglichen Passepartoutfortbildung, wurde einem die Lehrberechtigung für Fremdsprachen entzogen. Und aus der Ecke der sogenannten «Erziehungswissenschaften» bzw. «Bildungsforschung» kommen laufend neue, unbedarfte Ideen, noch bevor deren Vertreter die Untauglichkeit ihrer alten erkannt hätten. Als schulferne Theoretiker bräuchten sie dafür Evaluationen. Die aber wollen sie nicht, denn sie könnten ihre Konzepte als untauglich blossstellen, noch bevor sie in der Praxis scheitern, wodurch sie nie lukrativ würden. Nach all diesem unbedarften Schmarren lob ich mir Erika Gisler: «Lasst uns zuerst mal sicherstellen, dass die Kinder besser lesen, schreiben, rechnen können.» Back to Basics also und weg von idealistisch ideologischem Firlefanz!

[1] Z.Bsp.: https://www.spiegel.de/kultur/richard-david-precht-und-svenja-flasspoehler-im-talk-lasst-die-philosophie-da-raus-kolumne-a-97a5d8bd-a261-4601-8ce3-c755cd7c0ce4; https://www.merkur.de/deutschland/buch-precht-welzer-frankfurter-buchmesse-kritik-analyse-fehler-methode-niggemeier-91868475.html; https://www.t-online.de/digital/aktuelles/id_100166082/das-precht-problem-nicole-diekmann-ueber-das-fragile-ego-des-welterklaerers.html;

[2] Z.Bsp.: https://www.focus.de/panorama/welt/andreas-schleicher-pisa-chef-rechnet-mit-deutschen-lehrern-ab-ich-habe-ganz-ehrlich-wenig-verstaendnis_id_259590343.html

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Es braucht Lehrer und Lehrerinnen, die eine Leidenschaft fürs Lesen haben https://condorcet.ch/2024/01/es-braucht-lehrer-und-lehrerinnen-die-eine-leidenschaft-fuers-lesen-haben/ https://condorcet.ch/2024/01/es-braucht-lehrer-und-lehrerinnen-die-eine-leidenschaft-fuers-lesen-haben/#comments Tue, 30 Jan 2024 16:39:48 +0000 https://condorcet.ch/?p=15832

Die Veröffentlichung der PISA-Resultate, die – wieder einmal – offengelegt hat, dass rund ein Viertel unserer Schülerinnen und Schüler nach der obligatorischen Schulzeit einfachste Texte nicht verstehen kann, also als Illetristen die Schule verlassen, hat eine Flut von Artikeln und Kommentaren ausgelöst. Gefragt sind dabei vor allem Einschätzungen von Bildungsforschern, Journalistinnen, PH-Dozenten oder Verbandsfunktionären. Höchste Zeit, einmal eine Person aus der Praxis zu Worte kommen zu lassen. Yasemin Dinekli, Redaktionsmitglied und Präsidentin des Condorcet-Trägervereins, hat sich mit der ehemaligen Schulleiterin aus Biel, Ruth Wiederkehr, unterhalten. Ruth Wiederkehr arbeitete bis letzten Sommer im Oberstufenzentrum Mett-Bözingen in Biel. In dieser Schule sitzen Real- und Sekundarschüler und Schülerinnen ausser in den Niveau-Fächern in derselben Klasse. Im Deutschunterricht bleiben sie zusammen.

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Yasemin Dinekli, Mittelschullehrerin, Präsidentin des Trägervereins des Condorcet-Blogs, stellte die Fragen.
Ruth Wiederkehr, Schulleiterin bis letzten Sommer 2023: Es ist ein Knochenjob.

Condorcet

Frau Wiederkehr, wie interpretieren Sie die letzten PISA-Resultate?

Ich denke, sie bilden die Realität ab. Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler ist nach 8 Schuljahren nicht in der Lage einen einfachen Text zu verstehen, darunter auch  Sekundarschüler oder Schülerinnen.

Und was ist Ihrer Meinung nach die Ursache?

Es gibt nicht die Ursache. Die Situation ist komplex. Bereits die erste Pisa Studie von 2001 zeigte, dass die Schulen in Sachen Leseverstehen etwas ändern müssen.

Und wie habt ihr als Schule darauf reagiert?

Wir begannen kurz nach der ersten Pisa-Studie mit der Unterstützung von zwei Lese-Spezialistinnen, die ich anlässlich einer Weiterbildung kennengelernt hatte, am Thema Leseverstehen zu arbeiten. Zu Beginn waren das einzelne Projekte, die wir mit der ganzen Schule durchführten. Dazu gehörten auch Diskussionsrunden über gelesene Jugendbücher innerhalb des Kollegiums. Die zwei Lese-Spezialistinnen führten mehrere Fortbildungen mit dem ganzen Kollegium durch, also nicht nur mit den Deutschlehrpersonen. Später stellten wir sie dann im Rahmen der Lektionen im Angebot der Schule für einige Lektionen fest an. Sie erarbeiteten unser Lese-Konzept, das wir im Laufe der Jahre immer weiterentwickelten.

Gibt es neben der Weiterbildung und der Erarbeitung eines Lesekonzeptes weitere wichtige Voraussetzungen, die eine Verbesserung der Lesekompetenzen der Jugendlichen fördern?

Zunächst einmal braucht es Deutschlehrpersonen, die Leser und Leserinnen sind, also eine Leidenschaft fürs Lesen haben, so dass sie ihre Begeisterung weitergeben können. Sie müssen auch bereit sein, immer wieder neue Jugendbücher zu lesen, so dass sie selber auf dem neusten Stand sind, was Kinder- und Jugendbücher angeht.

Und die hattet ihr?

Ich denke ja. Die gemeinsame Arbeit mit den zwei Lese-Spezialistinnen half sicher viel. Wir suchten immer wieder nach spannenden, interessanten Texten, Kurzgeschichten, Büchern, Gedichten, die die jungen Leute packen, mit denen sie sich identifizieren können. Dabei haben uns die zwei Lese-Spezialistinnen während vieler Jahre sehr unterstützt, indem sie uns informierten, uns auf gute und geeignete Bücher hinwiesen, für uns Projekte entwickelten.

Es muss den Lehrpersonen der Oberstufe bewusst sein, dass es in jeder Klasse solche Jugendlichen hat und dass sie im Laufe der ersten 6 Schuljahre gelernt haben, ihr Problem zu kaschieren.

Das leuchtet mir ein, ist aber meiner Meinung nach noch keine Garantie, dass am Ende der Schulzeit 25% der Schülerinnen und Schüler immer noch nicht richtig lesen und schreiben können.

Das ist ein sehr wichtiger Hinweis. Vor 20 Jahren war es der Schulleitung und den Lehrpersonen noch nicht bewusst, dass wir in der 7. Klasse mehrere Schülerinnen und Schüler haben, die zu dieser Gruppe gehören. Oft entdeckten wir das Problem, wenn überhaupt, erst Mitte der 8. oder sogar erst in der 9. Klasse. Es muss den Lehrpersonen der Oberstufe bewusst sein, dass es in jeder Klasse solche Jugendlichen hat und dass sie im Laufe der ersten 6 Schuljahre gelernt haben, ihr Problem zu kaschieren. Wir begannen mit Hilfe von Lesescreenings, Antolin oder anderen offiziellen Tests, uns einen Überblick über die Lesefertigkeit, d.h. das Leseverstehen der Schülerinnen und Schüler zu verschaffen. Nur so kann gezielt mit den Leseschwachen gearbeitet werden.

Aber dann muss sich ja eine Lehrperson auf genau diese Jugendlichen konzentrieren, wie soll sie das mit einer Klasse von 20 und mehr schaffen?

Stimmt, das geht nicht. Um gezielt mit den Leseschwachen an ihren Defiziten arbeiten zu können, ist es unabdingbar, dass zwei Lehrpersonen während des Deutschunterrichts in der Klasse sind. Sie müssen beide die Schülerinnen und Schüler und ihre Stärken und Schwächen kennen.

Mit Vorteil befasst sich eine der Lehrpersonen regelmässig während zwei Wochenlektionen mit den leseschwachen SuS und arbeitet in kleinen Gruppen am Leseverstehen.

Also Teamteaching?

Ja, ein Teamteaching, in dem beide Lehrpersonen eingebunden sind, sich mit ihrer Arbeit identifizieren und sich zu gleichen Teilen einsetzen!

Mit Vorteil befasst sich eine der Lehrpersonen regelmässig während zwei Wochenlektionen mit den Leseschwachen und arbeitet in kleinen Gruppen am Leseverstehen. Die Lehrperson muss wissen, dass Vorlesen und Leseverstehen zwei unterschiedliche Kompetenzen sind. Diese Gruppe arbeitet mit Texten und Büchern, die ihren Lesefähigkeiten und ihrem Alter entsprechen. Der Weg geht von einfachen zu anspruchsvolleren Texten. Die andere Lehrperson kann in dieser Zeit z.B. mit dem Rest der Klasse an einer Klassenlektüre arbeiten. Sie muss ein für diese Klasse passendes Jugendbuch zur Hand haben.

Gibt es noch etwas, was Sie als wichtig erachten?

Es hilft sehr, wenn die Schülerinen und Schüler regelmässig, am besten wöchentlich, kurze Texte schreiben, Tagebucheinträge, Texte zu vorgegebenen Themen etc. Die Texte müssen sofort von den Lehrpersonen korrigiert und zurückgegeben werden. Auch das schafft eine einzelne Lehrperson nicht. Die Jugendlichen müssen ihre Texte korrigiert und überarbeitet ins Reine schreiben und zusammen mit dem neuen Text wiederum abgeben. Damit dies funktioniert, ist es von Vorteil, dass vor dem Abgabetermin eine Aufgaben- oder SOL-Lektion stattfindet, so dass die Lehrpersonen immer alle Texte zum vorgegebenen Termin erhalten. So wird nicht nur das Schreiben, Festhalten von eigenen Gedanken etc. verbessert, sondern nebenbei auch die Rechtschreibung.

Das ist ein enormer Aufwand

In der Tat, es ist Knochenarbeit, aber sie bringt etwas. Nichts ist so wirksam wie der Erfolg.

Das Lesekonzept muss sich über den gesamten Zyklus erstrecken und die Termine müssen für alle verbindlich sein.

Und noch eine Frage: Verfügt Ihre Schule über eine eigene Bibliothek?

Ja, und zwar über eine, die auf dem neusten Stand ist. Wir kaufen ungefähr dreimal pro Jahr neue Jugendbücher und es finden regelmässig Lektionen in der Bibliothek statt. Die Lernenden können selbständig Bücher auswählen, d.h., sie wissen, wie sie Bücher, die sie persönlich interessieren, in der Bibliothek finden: Cover, Klappentexte lesen, Rückseite lesen, Seite 99 lesen. Gefällt ein Buch nicht, wird es sofort zurückgebracht und ein neues ausgewählt. Die Lehrperson muss die Schülerinnen und Schüler beraten können. Ferienlektüren sind Pflicht. Klassen- oder Gruppengespräche zu Büchern und Texten finden immer wieder in der Bibliothek statt.

Wir kaufen ungefähr dreimal pro Jahr neue Jugendbücher und es finden regelmässig Lektionen in der Bibliothek statt.

Und da machen wirklich alle Deutschlehrpersonen engagiert mit?

Es braucht immer wieder Überzeugungsarbeit und jährlich mindestens eine gemeinsame Sitzung mit jedem Jahrgangsteam Deutsch, die die oder der Verantwortliche für das Lesekonzept leitet. Hier geht es auch um Anpassungen, Mitsprache, Rückmeldungen, Einbinden der neuen Lehrpersonen. Die Schulleitung muss voll hinter dem Konzept stehen und dafür sorgen, dass es weitergeführt wird, sonst funktioniert es nicht. Am besten ist es natürlich, wenn ein Schulleitungsmitglied selber Deutschlehrperson ist und auch noch unterrichtet. Und noch etwas Wichtiges: Das Lesekonzept muss sich über den gesamten Zyklus erstrecken und die Termine müssen für alle verbindlich sein.

Wie bei den Schülerinnen und Schülern ist es auch bei den Lehrpersonen, es sind nicht immer alle gleich gut drauf oder haben manchmal andere Prioritäten.

Gab oder gibt es keinen Widerstand aus dem Kollegium?

Nicht so direkt. Natürlich hat es Lehrpersonen, die nicht immer alles ganz genau so wie vorgesehen durchführen. Aber das gehört dazu, da muss man manchmal auch wegsehen können. Wie bei den Schülerinnen und Schülern ist es auch bei den Lehrpersonen, es sind nicht immer alle gleich gut drauf oder haben manchmal andere Prioritäten. Sie müssen aber schon wissen, was sie mindestens erfüllen müssen.

Gibt es weitere Kernpunkte in eurem Konzept?

Wir führen jedes Jahr mit der ganzen Schule einen Lesewettbewerb durch, den man als Klasse bestehen muss. In der 8. und in der 9. Klasse finden literarische Gespräche statt, die Jugendlichen führen ab der 7. Klasse ein Lesejournal, wir lesen ihnen auch Bücher vor etc. Ab und zu organisieren wir Dichterlesungen oder Literaturnächte oder es lasen zu bestimmten Zeitpunkten alle Lehrpersonen während ihres Unterrichts einen Abschnitt aus ihrem gegenwärtigen Lieblingsbuch vor, was auch zu interessanten Diskussionen und Gesprächen mit den Klassen führte. Das zeigte auch allen, dass die Lehrpersonen selber Lesende sind.

Da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.

Ob wir mit unserem Lesekonzept Erfolg haben? Mindestens die Zahlen sagen ja. Aus den 63% schwachen oder unterdurchschnittlichen Leseleistungen wurden Ende der 9. Klasse noch 28,7%, jedoch nur noch 4.5% davon waren schwach.

Und? Habt ihr Erfolg? Überprüft ihr das?

Ende des 9. Schuljahres führen wir nochmals mit allen ein Lesescreening durch. Und da sieht man jeweils die Fortschritte. Ich erhielt von den Lehrpersonen die Resultate ihrer Klasse und hielt das Ganze in einer Tabelle fest. Da sieht man übrigens auch, dass sich in den letzten Jahren die Lesekompetenz der neuen Siebtklässler kontinuierlich verschlechtert hat, d.h. Schülerinnen und Schüler mit schwachen und unterdurchschnittlichen Leistungen nahmen von Jahr zu Jahr zu. So waren im Jahr 2020 63.5 % aller Schülerinnen und Schüler der neuen siebten Klassen schwach oder unterdurchschnittlich und drei Jahre später waren es bereits 72 %.

Ob wir mit unserem Lesekonzept Erfolg haben? Mindestens die Zahlen sagen ja. Aus den 63% schwachen oder unterdurchschnittlichen Leseleistungen wurden Ende der 9. Klasse noch 28,7%, jedoch nur noch 4.5% davon waren schwach.

Wie steht es übrigens mit der «verpönten» Grammatik und der Rechtschreibung? Wie sehen Sie deren Bedeutung?

Die Arbeit daran darf nicht vergessen werden. Solide grammatikalische Kenntnisse helfen den Schülerinnen und Schülern, vor allem den fremdsprachigen, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Auch Diktate ergeben gegenwärtig wieder Sinn. Und noch etwas: Das vielkritisierte «Wörter Lernen» in den Fremdsprachen hilft, und zwar nicht nur den fremdsprachigen Kindern, den Wortschatz zu erweitern.

Was erachten Sie eher als nicht wirkungsvoll?

Texte schreiben hilft. Aber sie müssen sofort korrigiert und ins Reine geschrieben werden.

Ich beobachtete immer wieder, wie Lehrpersonen in ihren Klassen vorfabrizierte Lese-Verstehen-Tests durchführten. Ich denke, dass man damit vor allem das Vorwissen der Einzelnen überprüft, doch dass damit keine Verbesserung der Lesekompetenz stattfindet.

Gibt es noch etwas, was Sie an dieser Stelle sagen möchten?

Ja, dass es sehr wichtig ist, dass sich Lehrpersonen für ihre Schüler und Schülerinnen interessieren, bei den vorherigen Lehrpersonen nachfragen, den Problemen wirklich auf den Grund gehen. Je mehr Erfolg die Jugendlichen haben, desto mehr Freude entwickeln sie. Es ist zum Teil wirklich wie bei Knospen, die aufgehen. Einer von meinen ehemalig sehr schwachen Lesern hat letzthin das Anwalt Patent bestanden.

Die umfangreiche Beschreibung unseres Lesekonzepts für die Oberstufe finden Sie übrigens auf der Homepage des OSZ Mett-Bözingen in Biel (www.OSZMB.ch) unter der Rubrik «Leseförderung», dann «Lesekick». Hier finden Sie alle Unterlagen und können sich bei Fragen an die Schulleitung wenden.

Ich danke Ihnen für das Gespräch

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Mehr Mathe und Deutsch an Bayerns Grundschulen https://condorcet.ch/2024/01/mehr-mathe-und-deutsch-an-bayerns-grundschulen/ https://condorcet.ch/2024/01/mehr-mathe-und-deutsch-an-bayerns-grundschulen/#comments Mon, 22 Jan 2024 09:54:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=15745

Als Reaktion auf die jüngsten Ergebnisse der PISA-Studie baut Bayerns Kultusministerin Anna Stolz den Stundenplan in der Grundschule um: Künftig soll es in Bayern pro Woche mehr Unterricht in Deutsch geben und teils auch in Mathe. Wir bringen einen Bericht des bayrischen Rundfunks.

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Eine Stunde mehr Deutschunterricht pro Woche für alle Jahrgangsstufen sowie eine Stunde mehr Mathematik in der ersten und in der vierten Klasse: Das hat Bayerns Kultusministerin Anna Stolz von den Freien Wählern angekündigt – als Reaktion auf das schlechte Abschneiden bei der jüngsten Pisa-Studie.

Julian Löwis, Journalist des bayrischen Rundfunks

“Lesen, Schreiben, Rechnen ist das Wichtigste, was unsere Schülerinnen und Schüler können müssen”, sagte Stolz zur Begründung. In den vergangenen Wochen habe sie viele Gespräche mit Mitgliedern der Schulfamilie und der Wissenschaft geführt und intensiv an einem Maßnahmenpaket gearbeitet.

Mehr individuelle Förderung – vor allem beim Lesen

Neben mehr Deutsch- und Matheunterricht sollen alle Kinder stärker individuell gefördert werden. Dafür will Stolz verbindliche Lesescreenings einführen, “um den Lehrkräften noch besser Aufschluss über Lesefähigkeiten zu geben und eine genauere Diagnose zu ermöglichen”. Laut Ministerium sind außerdem zielgerichtete Lehrerfortbildungen, Unterrichtsmaterialien und eine Stärkung der frühkindlichen Sprachförderung in dem Maßnahmenpaket vorgesehen.

“Innerhalb dieses festen Rahmens bekommen die Schulen aber auch zusätzliche pädagogische Freiräume”, sagte Kultusministerin Stolz. “Schließlich sind die Lehrkräfte die Profis vor Ort, die ihre Schülerinnen und Schüler am besten kennen.”

Wo gekürzt wird, ist noch nicht bekannt

Die Änderungen wirken sich auch auf die Wochenstundenzahl aus: Die erste Klasse bekommt eine Wochenstunde mehr, die vierte eine weniger. Damit gibt es künftig in den Jahrgangsstufen eins und zwei einheitlich 24 Stunden und in den Jahrgangsstufen drei und vier einheitlich 28 Stunden Unterricht pro Woche.

“Wir müssen den Mut haben, Prioritäten zu setzen und auch Neues zu wagen.”

Unterm Strich soll es aber nicht mehr Unterrichtsstunden an den Grundschulen geben – es soll also an anderer Stelle gekürzt werden. Wo genau, ist noch offen. Aus Sicht von Stolz sollten die Lehrpläne wieder auf das Wesentliche konzentriert werden: “Wir müssen den Mut haben, Prioritäten zu setzen und auch Neues zu wagen.”

Anna Stolz, Kultusministerin in Bayern: Deutsch und Mathematik gehören zu den wichtigsten Kompetenzen.

BLLV lobt flexiblen Rahmen – hat aber noch Fragen

Lob für die Pläne kommt vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV): “Jawoll! Genau so muss modernes Management von Schule aussehen”, schrieb Präsidentin Simone Fleischmann. Das Kultusministerium gebe damit einen Rahmen vor, in dem die Schulleitungen vor Ort flexibel agieren könnten.

Auf Nachfrage von BR24 bestätigte ein Ministeriumssprecher, dass das Kultusministerium den Schulen Spielraum lässt, wie sie den Stundenplan umbauen. Allerdings werde es eine Liste an Fächern geben, “die nicht angetastet werden dürfen”. Welche das sind, werde im Augenblick erarbeitet. Diese Herangehensweise erkenne an, “dass die Profis die Kolleginnen und Kollegen sind, die dann mit den entsprechenden Voraussetzungen in diesem gegebenen Rahmen handeln können”, lobte Fleischmann.

Es gebe aber durchaus noch Fragen zu klären. So brauche es zwar dringend einen Fokus auf die Kernkompetenzen, aber eben auch auf ganzheitliche Bildung, die so viel mehr sei als nur Deutsch und Mathematik. Außerdem fragt Fleischmann: “Wo sollen denn nun all die Grundschullehrkräfte herkommen, die all diese Aufgaben übernehmen?” Schließlich gebe es noch immer einen Lehrkräftemangel, der zu Unterrichtsausfällen an den Grundschulen führt und die Lehrerinnen und Lehrer enorm strapaziert.

Einführung zum kommenden Schuljahr

Der neue Stundenplan soll bereits zum kommenden Schuljahr 2024/2025 umgesetzt werden. In den nächsten Wochen soll sich laut Kultusministerium das bayerische Kabinett damit befassen und die Schulordnung entsprechend anpassen. Da Ministerpräsident Söder jüngst ähnliche Schritte gefordert hatte, kann davon ausgegangen werden, dass die CSU den Vorschlägen der Freien-Wähler-Ministerin Stolz nicht im Wege steht.Zum Zankapfel könnte werden, welche Unterrichtsfächer vom Kultusministerium als flexibel eingestuft werden. Dass zum Beispiel der Religionsunterricht angetastet würde, dürfte mit Ministerpräsident Söder nicht zu machen sein.

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Pisa-Chef rechnet knallhart mit Lehrern ab – und hat dann einen wichtigen Appell https://condorcet.ch/2024/01/pisa-chef-rechnet-knallhart-mit-lehrern-ab-und-hat-dann-einen-wichtigen-appel/ https://condorcet.ch/2024/01/pisa-chef-rechnet-knallhart-mit-lehrern-ab-und-hat-dann-einen-wichtigen-appel/#comments Sun, 21 Jan 2024 14:46:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=15736

Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor und damit Pisa-Chef, ist in Erklärungsnot. Nach 20 Jahren OECD-kompatibler Kompetenzorientierung veschlechtern sich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Schleichers Erklärung: Die Lehrkräfte sind schuld.

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OECD-Bildungsexperte und oberster PISA-Verantwortlicher Andreas Schleicher: Es hapert bei den Fähigkeiten der Lehrkräfte.

Bei der letztjährigen Pisa-Studie schnitten Deutschlands Schüler historisch schlecht ab. Seitdem brennt die Debatte: Was läuft schief an unseren Schulen? Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor und damit Pisa-Chef, sieht eine große Schuld bei den Lehrern.

In einem Interview mit der „Stuttgarter Zeitung“ rechnet Schleicher mit den deutschen Lehrern ab. Das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler überrascht ihn nicht, er sieht einen „Trend, der sich seit Jahrzehnten abzeichnet.“

Für ihn liegt das auch an den Lehrern. „Deutschland ist beim Lehrerberuf noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Zu viele Lehrer sehen sich in erster Linie als Befehlsempfänger, die im Klassenzimmer statisch einen Lehrplan abarbeiten müssen.“

„Ich habe, ganz ehrlich, wenig Verständnis für Lehrer, die nur darauf pochen, dass sie überlastet seien“

 

Die Verteidigung der Lehrer, man habe zu wenig Zeit und zu große Klassen, um den hohen Anforderungen an den Beruf zu entsprechen, lässt er nicht gelten. Gegenüber der „Stuttgarter Zeitung“ wird Schleicher hier deutlich: „Ich habe, ganz ehrlich, wenig Verständnis für Lehrer, die nur darauf pochen, dass sie überlastet seien.“

Die deutschen Lehrer sind sehr gut bezahlt.

Er betont: „Die deutschen Lehrer sind im internationalen Vergleich sehr gut bezahlt. Lehrkräfte können sich nicht einfach darauf zurückziehen, dass sie viel zu tun haben – und dass sie sich deshalb nicht gemeinsam mit Kollegen treffen könnten, um bessere Unterrichtskonzepte zu entwickeln.“ Sein knallhartes Fazit: „Eine solche Haltung würde in keinem anderen Job akzeptiert werden.“

Verbesserungsbedarf für den Alltag der Lehrer sieht Schleicher ebenfalls reichlich. Gegenüber der „Stuttgarter Zeitung“ sagt er: „Ich bin allerdings dafür, die Arbeitszeit von Lehrkräften anders zu organisieren und sie insbesondere von Verwaltungsaufgaben zu entlasten.“

Pisa-Chef: So verbessern wir unser Schulsystem ohne zusätzliches Geld

Auch sonst hat Schleicher Verbesserungsvorschläge. Mehr Geld sei „immer gut“, sagt der Pisa-Chef, doch nicht notwendig. Man könne auch „ohne zusätzliches Geld große Verbesserungen erreichen.“ Schleicher erklärt: „Es geht darum, die Mittel dort zu konzentrieren, wo sie am meisten gebraucht werden. Das ist erstens in den Grundschulen und auch schon davor – und nicht so sehr in den Gymnasien.“

Sein zweiter Punkt: Das Geld werde da gebraucht, „wo die Herausforderungen durch Schüler aus armen Familien und mit Migrationshintergrund besonders groß sind.“ Wichtig sei dabei, die Eltern der Schüler mit ins Boot zu holen.

Bildungserfolg zu eng an die soziale Herkunft gekoppelt.

Der Bildungserfolg eines Kindes sei „zu eng an die soziale Herkunft gekoppelt“, sagt Schleicher der „Stuttgarter Zeitung“. „Unsere Idee war bislang: Wir brauchen Schulen, die alle Defizite des Elternhauses ausgleichen. Das war naiv. Die neuen Daten zeigen uns: Wir können es ohne die Eltern nicht schaffen.“

Schleichers Appell an die Lehrer: „Machen Sie sich auf den Weg“

Einen Appell an die Lehrer hat Schleicher auch: „Meine Bitte an die Lehrer ist: Machen Sie sich auf den Weg! Schauen Sie nicht nach oben, sondern im Lehrerzimmer direkt zur Kollegin oder zum Kollegen neben sich. Lehrer können gemeinsam an Schulen viel zum Guten verändern. Dafür braucht es keinen Erlass aus dem Kultusministerium

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