NZZ - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 12 Apr 2024 06:14:20 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png NZZ - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Ist die Abschaffung von Noten eine sinnvolle Reform? https://condorcet.ch/2024/04/ist-die-abschaffung-von-noten-eine-sinnvolle-reform/ https://condorcet.ch/2024/04/ist-die-abschaffung-von-noten-eine-sinnvolle-reform/#comments Wed, 10 Apr 2024 13:10:21 +0000 https://condorcet.ch/?p=16464

Philippe Wampfler setzt sich seit Jahren für die Abschaffung der Schulnoten ein. Im folgenden Beitrag setzt er sich mit den Gegnern auseinander und erklärt, dass die Abschaffung der Noten auch weitere überfällige Schulreformen in Gang bringen würden. Der Artikel ist auf der Homepage von Herrn Wampfler erschienen und erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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Philippe Wampfler, Lehrer in der Kantonsschule Enge und Experte für Lernen mit Neuen Medien: Kein isolierter Reformschritt.

Diese Woche sind in zwei rechten Publikation in der Schweiz kritische Artikel zur Frage erschienen, ob Noten abgeschafft werden sollen. Das ist erfreulich: Es bedeutet, dass diese politische Bewegung so viel Gewicht hat, dass sie wahrgenommen (und bekämpft wird).

In der NZZ paraphrasiert Katharina Fontana die Argumente konservativer Lehrer (ausschließlich Männer): Die Schule brauche keine weiteren Grossbaustellen, und ohne Noten oder Selektion werde sie in keiner Weise besser.

In seinem Newsletter fordert (Paywall) der Nebelspalter-Chefredaktor Markus Somm in zwei Folgen, Reformen an Schulen einzustellen, weil die PISA-Ergebnisse immer schlechter würden: Würde man dann nicht meinen, es wäre Zeit, einmal innezuhalten? Und eine mit Daten abgestützte Bilanz zu ziehen? Befreit man diese Standpunkte von ihrer Polemik und ihrer ideologischen Rahmung, dann bestehen sie aus einem Argument, das durchaus geprüft werden muss: Könnte es sein, dass die Reformschritte, die von Noten wegführen, so aufwändig sind, dass die erhofften Resultate daneben vernachlässigbar sind?

Dazu möchte ich folgende Gedanken anbieten:

Noten abschaffen ist kein isolierter Reformschritt. Er ist eingebunden in Bestrebungen, schulisches Lernen mit persönlicher Sinnstiftung anzureichern, Schüler:innen stärker einzubeziehen, individueller auf ihre Bedürfnisse einzugehen, Kompetenzen in den Vordergrund zu stellen und Schulen vom Selektionsauftrag wegzubringen. Nimmt man all das ernst, dann ist die Abschaffung von Noten keine Reform an sich, sondern die Konsequenz aus bereits erfolgten und umgesetzten Reformen.

Noten abschaffen ist eine Entlastung für alle.

Noten sind ein Stress für Lernende, Lehrende und auch für die Eltern. In der Diskussion wird oft darauf hingewiesen, dass Alternativen mit viel Aufwand verbunden sind, teilweise mit mehr Aufwand. Das stimmt nicht notwendigerweise: Es ist problemlos denkbar, die durch das Wegfallen des Bewertungszwangs freiwerdende Energie in Feedback-Prozesse zu investieren, die für Lehrer:innen und Schüler:innen einen Wert haben. Die Abschaffung von Noten ist einer der wenigen Vorschläge für eine Verbesserung der Schulen, die nicht mit einem zusätzlichen Aufwand verbunden ist.

Notenverzicht führt zu automatischen Reformen.

Viele der pädagogischen Ideen, die hinter bereits angestrebten Reformen stehen, sollen die Lernqualität verbessern. Viele sind nicht konsequent umgesetzt, nicht genau verstanden oder stehen im Widerspruch zu anderen Funktionen der Schule. Würden Noten wegfallen, würde das viele dieser Projekte vorantreiben, ohne dass das zusätzlicher Steuerung oder Mittel bedürfte. Warum? Orientieren sich Lehrpersonen in ihrer Unterrichtsplanung nicht an Bewertungen und Prüfungen, fokussieren sie automatisch auf Lernprozesse. Sie müssen sich der Frage stellen, wozu und wie Schüler:innen lernen – Prüfungen ersetzen diese Frage. Zudem werden sie automatisch mehr Leistungen von Schüler:innen wahrnehmen, ihr Selbstvertrauen stärken – statt nach Fehlern zu suchen.

Der Wahn der Messbarkeit

Somm und andere verweisen verzweifelt auf die PISA-Studie um ihr Bauchgefühl, die heutige Schule sei schlechter als die, welche sie selber besucht haben, irgendwie objektiv auszudrücken. Dahinter steckt dasselbe Problem wie hinter Noten: Die falsche Vorstellung, die Qualität menschlicher Aktivitäten wie Unterricht oder Lernen ließen sich über Zahlenwerte ausdrücken. Die Lese- und Rechenfähigkeiten von Schüler:innen stehen in komplexen Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen, beruflichen und medialen Transformationen. Sie davon gelöst isoliert zu messen und zu vergleichen – das sagt nichts über die Qualität von Schule aus.

Verbindet man diese Überlegungen, dann ist die Abschaffung von Noten nicht eine weitere, möglicherweise falsche Reform. Sie ist eine längst überfällige, einfach umzusetzende Anpassung, die Energien freisetzt. Die Befürchtung, dadurch sinke die Qualität von Schule und das Kompetenzniveau von Schüler:innen, ist ein konservativer Teufel, der immer wieder an die Wand gemalt wird. Eine ganzheitliche Betrachtung der Schule und ihrer Qualitäten berücksichtigt, dass sinnvolle und angstfreies Lernen für das Leben von Schüler:innen Auswirkungen hat, die sich nicht über Leistungstests in Mathe und Deutsch erfassen lassen.

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Wenn eine Journalistin ihre Arbeit macht https://condorcet.ch/2024/04/wenn-eine-journalistin-ihre-arbeit-macht/ https://condorcet.ch/2024/04/wenn-eine-journalistin-ihre-arbeit-macht/#comments Wed, 03 Apr 2024 10:10:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=16383

Die NZZ brachte am 2. April einen bemerkenswert gut recherchierten Artikel über die Bemühungen von «intrinsic», VSLCH, Mercator und Co., das Schulsystem zu revolutionieren. Dabei scheute sich die Journalistin Katharina Fontana nicht, kritische Fragen zu stellen, Hintergründe über das Netzwerk zu erforschen und die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen.

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Wie lange mussten wir auf so einen Artikel warten? Zuvor konnte sich die Allianz der Bildungsrevolutionäre (Mercator, Intrinsic, VSLCH u.a.) in diversen Medien ungestört von kritischen Fragen mit ihren Vorschlägen zur Umgestaltung unseres Schulsystems einbringen. Es begann mit dem Elternmagazin «Fritz und Fränzi», das eine Breitseite gegen das gängige Notensystem abfeuerte. Der Sonntagsblick brachte kurz darauf ein Interview mit der LCH-Präsidentin Dagmar Rösler («Noten sind nicht mehr zeitgemäss»). Dann folgte eine Salve von Artikeln, welche unser Schulsystem «als das schlechteste in Europa» (Jörg Berger) bezeichnete, die Selektion in Frage stellte, die Abschaffung der Hausaufgaben und individuelle Lernpfade für die Lernenden forderte.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Endlich einmal beide Seiten gehört

Den Vogel abgeschossen hat aber die Teamlead-Gesellschaftsjournalistin (was für eine Funktionsbezeichnung!!!) Karen Schärer im Blick. Sie plapperte die Behauptungen der «Bildungsrevolutionäre» in einem Kommentar einfach nach, sprach von einem volkswirtschaftlichen Schaden der Selektion und plädierte im Parallelschritt ebenfalls für den Totalumbau. Verlautbarungsjournalismus nennt man das heute. Dass die «Bildungsrevolutionäre» ihre Behauptung auf die Wyman-Studie abstützten, war ihr vermutlich gar nicht bekannt. Diese Wyman-Studie wird mittlerweile selbst von den Hardcore-Aktivisten des Umbaus als «nicht evident» bezeichnet und wurde von unserem Condorcet-Autor Felix Schmutz aufgrund ihrer komplett fragwürdigen Korrelationen zerzaust.

Völlig unvorbereitet stieg auch die Tagesgespräch-Moderatorin Simone Hulliger in eine Diskussion mit  Frau Prof. Katharina Maag Merki, Universität Zürich, ein. Während dieses Interviews wurden wie in den anderen Verlautbarungen im «Neusprechslang» viele Behauptungen, viel Dogmatisches und Strukturgläubiges von Seiten der universitären «Expertin» für Volksschule – von der Abschaffung der Noten über die Aufhebung der (gegliederten) Niveaustufen bis zum Vorzeigemodell einer einzigen Schule, der privaten Mosaikschule, heruntergeplappert ohne je gründlich hinterfragt zu werden. Hofjournalismus nennt man das heute.

Die Schule braucht keine weiteren Grossbaustellen, und ohne Noten oder Selektion wird sie in keiner Weise besser.

In Ihrem Bericht «Bildungsrevolution von oben» (https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2024/04/Bildungsrevolution-von-oben.pdf)  beschreitet die Journalistin Katharina Fontana den Weg handwerklich fundierter Berichterstattung. Sie fasst die Forderungen der «Bildungsrevolutionäre» korrekt zusammen, leuchtet das hinter ihr stehende Netzwerk aus und gibt auch der Gegenseite die Möglichkeit, ihre Kritikpunkte darzulegen. Dabei wird auch der Condorcet-Blog zitiert und Philipp Loretz, Sekundarlehrer und Präsident des lvb  lässt sich folgendermassen verlauten: «Die Schule braucht keine weiteren Grossbaustellen, und ohne Noten oder Selektion wird sie in keiner Weise besser. Man muss endlich die zentralen Probleme wie das mangelnde Leseverständnis vieler Schulabgänger angehen – stattdessen hat man nach dem «Pisa-Schock» im Jahr 2000 eine zweite Fremdsprache in der Primarschule eingeführt. Den Bildungsforschern, den Erziehungsdepartementen und den Schulleitern wird tendenziell mit Skepsis begegnet. Die Reformkritiker sehen nicht ein, warum sie ausgerechnet den Rezepten jener Personen vertrauen sollen, die für den gegenwärtigen Zustand der Volksschule, den sie jetzt so intensiv beklagen, mitverantwortlich sind.»

Der Artikel ist fair, nimmt keine Stellung und beschreibt die aktuelle Situation treffend. Ob damit das medial unterstützte Showlaufen der Bildungsrevolutionäre beendet ist? Mindestens ist zu hoffen, dass Ihnen mit mehr journalistischer Neugier und kritischem Nachfragen begegnet wird.

 

 

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Der Philosoph als pädagogischer Heilsbringer https://condorcet.ch/2019/08/der-philosoph-als-paedagogischer-heilsbringer/ https://condorcet.ch/2019/08/der-philosoph-als-paedagogischer-heilsbringer/#respond Mon, 26 Aug 2019 15:08:27 +0000 https://condorcet.ch/?p=2059

Der Kultphilosoph Richard David Precht fordert erneut eine Bildungsrevolution. Angesagt ist digitalisiertes und individualisiertes Lernen. Doch seine Ideen sind weder neu noch praktikabel. Ein Zwischenruf von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Bild: api bearbeitet
Carl Bossard

Er publiziert in kurzen Zyklen. Mit seinen Erfolgsbüchern erzielt er rege Resonanz. Und wenn er auftritt, sind ihm ein grosses Auditorium und mediale Multiplikation sicher. Gemeint ist der deutsche TV-Philosoph Richard David Precht. Viele liegen ihm zu Füssen. Mitte August 2019 lud ihn die NZZ am Sonntag zu einem grossen Interview.[1] Als Bestsellerautor verkündet er auch hier seine Bildungsrevolution: Es muss alles ganz anders werden. Die Schule grundlegend neu denken, verlangt der Vielgefragte.

Eine zeitgemässe Schule braucht weder Fächer noch Klassen

Eines ist tröstlich: Immerhin fordert Precht nicht mehr, als wir aus seinen Büchern und Referaten bereits kennen. 2013 erschien seine Schrift „Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern“. Die Titelgrafik zeigt ein verängstigtes Mädchen; immer wieder muss es – offenbar als Strafe – den rüden Satz schreiben: „Ich darf nicht denken.“

Es ist eine radikale Abrechnung mit dem deutschen Schulsystem – oder mit dem katastrophenverliebten Titel der ersten ZDF-Philosophie-Sendung „Precht“ ausgedrückt: „Skandal Schule. Macht Lernen dumm?“ Woher Dummheiten kommen, ist nicht so eindeutig. Entsprechend maliziös fragte darum die ZEIT: „Macht Precht dumm?“

Im gleichen Jahr, 2013, trat er in der Aula der Universität Zürich auf. Prechts Botschaft: Er möchte – spätestens nach dem sechsten Schuljahr – Klassen und Fächer abschaffen. Natürlich kennt Prechts Schule weder Zensuren und Klausuren, weder direkte Instruktion noch Hausaufgaben. Stattdessen sollten Lernhäuser entstehen, in denen jedes Kind nach seinem eigenen Tempo arbeitet – und erst noch ohne Anstrengung, dafür mit Spass.

Lernen à la englisches College-System

Das Vorbild ortet der Philosoph im englischen College-System. Die Schülerinnen und Schüler sollten möglichst individuell begleitet werden und in jahrgangsübergreifenden Projektgruppen eigenmotiviert arbeiten, beispielsweise an Problemen einer nachhaltigen Ernährung oder an aktuellen wirtschaftspolitischen Themen.

Schulisch hat Precht eigentlich nichts Neues zu sagen; viele seiner Gedanken kennen wir beispielsweise aus der “child centered education” der bekannten amerikanischen Reformpädagogin Marietta Johnson (1864–1938) und ihrer “organischen Schule”. Forschungstheoretische und empirische Belege für seine provokativen Aussagen gibt es keine; Studien sucht man vergebens.

Nicht umsonst wirft ihm der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube „intellektuelle Schlampigkeit“ vor.[2] In manchem muss man Precht allerdings auch recht geben: Er kritisiert die Fächerfülle, die überladenen Lehrpläne, den immensen Stoffdruck, die fehlende Übungszeit, die dichte Prüfungskaskade. Das gilt auch für die Schweizer Volksschule. Und der Lehrplan 21 schafft hier keine Abhilfe. Leider. Im Gegenteil. Das erhöht die Last der Hast.

Gutes Kind – böse Gesellschaft

Precht erklärt die deutschen Schulen für irreparabel krank, so dass man „einer normalen Mittelschichtsfamilie“ für ihr Kind die öffentliche Schule nicht mehr empfehlen könne. Mit diesem Zerrbild beleidigt er unzählige Lehrerinnen und Lehrer, die sich mit Sachverstand und Leidenschaft um die Kinder und den Schulalltag kümmern. Tag für Tag. Sie müssten eigentlich entrüstet aufschreien. Warum aber erfährt er trotzdem einen derart grossen Zuspruch, obwohl sein Buch eine unheilvolle Botschaft aussendet?

Der renommierte deutsche Bildungswissenschaftler Andreas Helmke versucht eine Antwort:[3] Die Botschaft von dem guten Kind und der bösen Gesellschaft mit ihren Zwangsanstalten verkündet neben Richard David Precht beispielsweise auch der Hirnforscher Gerald Hüther. „Man kennt sie seit Jean Jacques Rousseaus Émile. Für die Pädagogik ist sie weitgehend fruchtlos. Aber das hindert nicht einmal die vielen Lehrer unter den Zuschauern am Applaus.“

Der Wunsch nach Feldgottesdiensten und pädagogischen Priestern

Bild: AdobeStock

Weiter schreibt Helmke: „Die Sehnsucht, endlich von den Mühen des Alltags zwischen erster Stunde und abendlicher Klassenarbeitskorrektur befreit zu werden, scheint gross zu sein. Ebenso die Hoffnung, dass es doch eine andere Welt gibt. Eine Welt, in der die Schüler ganz von alleine einsehen, dass sie sich anstrengen müssen, eine Welt, in der Lehrer nicht mehr Lehrer sind, sondern Coachs und, ja, Freunde.“

Helmke zitiert den Bildungsjournalisten und Filmemacher Reinhard Kahl: “Aus der Alltagsverzweiflung vieler Lehrer erwächst der Wunsch nach Feldgottesdiensten und Priestern.” Precht und Hüther nähren entsprechende Illusionen. Doch der pädagogische Alltag ist anspruchsvoll und anstrengend; denn die Gesellschaft fordert von der Schule Vieles und auch Widersprüchliches. Das ist schlichte Realität.

Der Unterricht ist darum voller Dilemmata, voller Spannungen. Wir können sie nicht einfach ausblenden. Die Widersprüche lassen sich auch nicht auflösen. Lehrerinnen und Lehrer müssen sie aushalten, reflexiv handhaben und daraus die pädagogische Spannkraft fürs Mögliche und Alltägliche gewinnen. Hier muss man sie stärken: Es ist die pädagogische Kernaufgabe, Schülerinnen und Schüler gesellschaftsfähig zu machen.

Die Schule muss nicht neu erfunden werden

Man würde gerne wissen, wo denn die politischen Mehrheiten für eine Precht’sche „Bildungsrevolution“ zu finden sind und welche Vorteile dieser radikale Umbruch mit sich bringen wird. Precht bleibt die Antwort schuldig. Staatspolitisch wäre das ein weiterer Schritt zur Entsolidarisierung. Individualisierung – so lautet auch Prechts pädagogische Zauberformel. Die Digitalisierung verstärkt sie. Auf der Gegenseite schwindet die Sozialität. Das wissen wir aus der Forschung.

Die Schule wird die neuen Technologien für sich nutzen und muss deswegen nicht neu gedacht und neu erfunden werden; das glauben nur modische Philosophen, die von ihrer missionarischen Botschaft leben.

 

Zuerst erschienen in: www.journal21.ch (25.08.2019)

 

[1] Richard David Precht, „Algebra braucht kaum jemand im Leben. Das ist verschwendete Zeit“, in: NZZaS, 18.08.2019, S. 18f.

[2] Jürgen Kaube, Oh ihr Rennpferde, fresst einfach mehr Phrasenhafer!, in: FAZ, 29.04.2013, S. 28.

[3] Andreas Helmke (2014), Von der Hattie-Studie zu Handlungsstrategien für den Unterrichtsalltag. Vortrag. Msc. unpubl.

 

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Professor Karl-Heinz Schüffler, Autor des Buches "Pythagoras, der Quintenwolf und das Komma", Mathematik- und Musiklehrer an der Hochschule Niederrhein in Krefeld (Deutschland) sandte uns diesen spitzen Kommentar, den wir hier gerne veröffentlichen.

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Was Precht zur Rolle der Mathematik von sich gibt (“Algebra braucht niemand”), könnte man eigentlich nur in einem persönlichen Befragungs-Interview mit ihm ad absurdum führen:

  • Nicht mit philosophischer Logik berechnen wir den Druck auf einen Staudamm.
  • Nicht mit binomischen Formeln wird die zeitlich-räumliche Ausdehnung einer Epidemie berechnet.
  • Nicht als Mutmaßung robotisierter Logo-Wetterfrösche wird uns die allabendliche Wettervorhersage angeboten.
  • Nicht als Ergebnis ahnungslosen Würfelns bestimmt der Hamburger Hafen die Verlade-Strategien seiner Kräne.
  • Und immerhin addiert – wenn auch mit dem Taschenrechner – der clevere Autoverkäufer die Preise aller Extras (und multipliziert selbige nicht).

Letztendlich aber, und das ist viel fataler, führt uns diese Logik in die Standesgesellschaft des “Alten Preussen”, als ein gewisser Friedrich verfügte: “Es reicht, wenn meine Untertanen Kartoffelsäcke zählen können.”

Es ist im übrigen hochinteressant, wie so einer wie er sich selber widerspricht – so wie prinzipiell alle, die mit Eifer der antiquierten Schule eine Bildungsuntauglichkeit attestieren – sich aber gleichzeitig zu den Schlauen zählen, die es zu etwas gebracht haben. Also vor allem erleben wir, dass sie selbiges Schulsystem, das aus ihnen (offenbar) schlaue Gebildete gemacht hat, von ihnen nichtsdestotrotz der Bildungsunfähigkeit bezichtigen.

Prof. Dr. rer. nat. habil. Karlheinz Schüffler

Mathematik
Mathematik und Musik

———————-

Hochschule Niederrhein

University of Applied Sciences

 

c/o FB 04, Reinarzstraße 49, D-47805 Krefeld

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Dieser Leserbrief hat es in die NZZ am Sonntag geschafft https://condorcet.ch/2019/08/dieser-leserbrief-hat-es-in-die-nzz-am-sonntag-geschafft/ https://condorcet.ch/2019/08/dieser-leserbrief-hat-es-in-die-nzz-am-sonntag-geschafft/#respond Sun, 25 Aug 2019 09:44:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=2040

Unserem Condorcet-Autor Felix Hoffmann wurde die Gnade erwiesen, seinen Leserbrief in der Zeitung veröffentlichen zu dürfen. Wir doppeln nach.

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Es erstaunt nicht, dass FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube den Fernsehmoderator Richard David Precht der „intellektuellen Schlampigkeit“ bezichtigte. Es ist nämlich genau diese unreflektierte Leichtfertigkeit, die wie ein Krebsgeschwür in der Bildungspolitik um sich greift. Geleitete Schulen ohne qualifiziertes Personal; selbst organisiertes Lernen, wo selbst Erwachsene mit Selbstdisziplin überfordert sind; Kompetenzorientierung ohne Definition von Kompetenz bzw. Inkompetenz; Fremdsprachenvermittlung ohne Wortschatz und Grammatik; Reform um Reform, deren Umsetzung nichts kosten darf. Mit all diesen schönfärberischen Pappnasenkonzepten brüsten sich selbst ernannte Bildungsexperten und Politiker zwecks Stellensicherung bzw. Profilierung. Letzten Endes aber sind es die Lehrkräfte, die sich jene roten Nasen aufsetzen müssen. Dadurch büsst ihr Beruf seit Jahren massiv an Attraktivität ein. „Philosophie ist die Kunst, intelligent übers Leben nachzudenken.“ Warum tun Sie’s dann nicht, Herr Precht?

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Die NZZ am Sonntag, Richard David Precht und der Diskurs https://condorcet.ch/2019/08/die-nzz-am-sonntag-richard-david-precht-und-der-diskurs/ https://condorcet.ch/2019/08/die-nzz-am-sonntag-richard-david-precht-und-der-diskurs/#respond Sun, 25 Aug 2019 09:39:45 +0000 https://condorcet.ch/?p=2037

Das Interview mit dem Fernseh-Philosophen Richard David Precht, welches die NZZ am Sonntag in ihrer vorletzten Ausgabe publizierte, löste in der Condorcet-Gemeinde ein ungläubiges Kopfschütteln aus. Wie kann es sein, dass ein derart unbedachtes, in sich widersprüchliches Gespräch in dieser Zeitung erscheinen konnte? Es waren weniger die Inhalte, die Anstoss erregten sondern vielmehr die von vielen als plump empfundenen Pauschalurteile, die nicht einmal als stammtischwürdig empfunden worden sind.

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Bild: NZZ

Verschiedene Personen wollten auf die Aussagen des «Philosophen» reagieren, darunter auch Prominenz aus Deutschland. Der Buchautor Hans-Peter Klein, Professor für Biologie an der Universität Frankfurt oder der SPD-Kultusminister Martin Brodkorb aus Mecklenburg-Vorpommern. Die NZZ-Redaktoren lehnten sämtliche Angebote ab.

Glücklicherweise gibt es den Condorcet-Blog, der die Beiträge auf seiner Webseite veröffentlichte und so wenigstens seinen mittlerweile 2’500 LeserInnen und vielen JournalistInnen und BildungspolitikerInnen die andere Sicht der Dinge vermitteln konnte.

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Wenn Widerstand zur Pflicht wird https://condorcet.ch/2019/06/wenn-widerstand-zur-pflicht-wird/ https://condorcet.ch/2019/06/wenn-widerstand-zur-pflicht-wird/#respond Fri, 28 Jun 2019 09:54:33 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1547

Kämpfe zwischen Schulleitung und Lehrpersonen häufen sich. Massive Direktiven von oben stossen auf pädagogische Praxis unten. Schulleitungen bleiben, Lehrer kündigen; Leidtragende sind die Schüler. Condorcet-Autor Carl Bossardt ordnet die Geschehnisse ein und benennt, was wir schon alle wissen: Der Umbau der Öffentlichen Schule ist im Gang.

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Carl Bossard

Die Muster gleichen sich: Neue Schulleitungen kommen und mit ihnen neue Konzepte. Angekündigt sind grosse Reformen. Das Bisherige interessiert wenig; eine klare Analyse der Situation vor Ort fehlt meist, ebenso eine fundierte empirische Datenbasis. Schulpräsidien und Aufsichtskommissionen lassen sich nicht selten von schönen Innovations-Worten und Changemanagement-Vokabeln blenden und ziehen mit. So geschehen in der Thurgauer Schulgemeinde Wigoltingen, so passiert an manch andern Orten der Schweiz. „Verwerfungen an Schulen häufen sich auffällig – von der Volksschule bis zur Hochschule. Mittendrin finden sich jeweils die Schulleitungen und Rektorate“, schrieb die NZZ vor Kurzem.[i]

Pädagogisch-didaktische Einseitigkeiten

Auch wenn die aktuellen Konflikte unterschiedliche Hintergründe haben, scheint den verschiedenen Geschehenskomplexen eines gemeinsam: Im subtilen Gleichgewicht schulischen Lehrens und Lernens wurden Einseitigkeiten favorisiert und „durchgeboxt“. Das dynamische Dreieck zwischen Strategie (Was wollen wir gemeinsam erreichen?), Kultur (Wer sind wir als Schulteam?) und Struktur (Wie machen wir’s als Lehrerkollegium?) geriet so aus der Balance.

 

Es kam zu Konflikten mit unüberbrückbaren Fronten. Gesiegt hat in allen aktuellen Fällen das System mit dem Rektorat und den Aufsichtskommissionen. Die Schulleitung behielt ihr Amt, Lehrpersonen gingen; zurück blieben Scherben. Leidtragende sind Kinder und Jugendliche. Ihretwegen aber wagten verschiedene Lehrpersonen den Widerstand.

Schule ist kein Entweder-Oder; guter und lernwirksamer Unterricht ist ein Sowohl-als-Auch.

Vermischung von strategischer und operativer Ebene

Nationales Echo löste der Fall an der Sekundarschule im thurgauischen Wigoltingen aus. Zwei neue Leiter übernahmen auf Anfang des Unterrichtsjahres 2018/19 das Regiepult der Volksschulgemeinde. Beide kamen aus privatwirtschaftlich geführten Schulen. Ihre erste Handlung: Was existierte und funktionierte, wurde sofort als reformbedürftig problematisiert. Das schuf vordergründigen Reformbedarf und einen Innovationsdruck.

Mit an Bord waren die Schulbehörden und ihre Präsidentin Nathalie Wasserfallen. Die strategischen Vorgesetzten verbündeten sich mit den beiden operativ Verantwortlichen. Das erwies sich als problematisch. Eine spätere Distanz war kaum mehr möglich. Dazu zeigte sich eine völlige Indifferenz der politischen Ebene gegenüber widersprüchlichen, weil undurchdachten Zielsetzungen des Reformierens.

Poster im Lehrerzimmer des OSZ-Orpund
Bild: api

Reformdiktat von oben

Sehr schnell wurde von oben her umgebaut und der Primarschulunterricht auf 2019/20 von bisherigen Jahrgangsklassen auf altersdurchmischtes Lernen AdL umgestellt – mit geplantem Weiterzug auf die Sekundarstufe. Der Arbeitsaufwand für Lehrpersonen ist gross, der Wirkwert auf Schülerseite dagegen gering, sozial wie kognitiv. Das zeigt die Forschung. Skeptischen Stimmen wurde der Weggang nahegelegt. „Wir haben eine Richtung und dann schauen wir, wer mitmachen will“, so die Schulleitung.[ii] Die Lehrer seien nur ausführende Kraft; geführt werde die Schule wie ein KMU-Unternehmen – mit Weisungen von oben.[iii]

 

„Bringe mir nichts bei!“

Letztlich ist es ein Methodenstreit um das autonome Arbeiten, der zum Zerwürfnis geführt hat. Die neue Schulleitung verlangte eine absolute Dominanz des selbstorganisierten Lernens SOL mit der Lehrperson als Lerncoach. Ein solcher Unterricht kündigt das pädagogische Grundverhältnis zwischen Lehrer und Schüler auf und macht Kinder zu isolierten Lernplanbewältigern. Diese Methode wird u.a. vom Ostschweizer Schulentwickler Peter Fratton mit seinem Credo „Lehrer, bringe mir nichts bei! Erkläre mir nicht!“ gepredigt. Ein krudes Verbot, letztlich ein Lehrverbot! Der neue Wigoltinger Schulleiter Mirko Spada verfolgt diese Spur konsequent, obwohl sie einem wissenschaftlichen Diskurs kaum standhalten dürfte.

Diesem unbedingten methodischen Imperativ widersprach auch die Professionsempirie langjähriger Pädagogen. Sie wiesen darauf hin, dass Lehrer eben mehr als nur Lernbegleiter wären und dass gutes Lernen ein pädagogisch-didaktisches Beziehungsgeschehen zwischen Menschen sei. Solche Lehrerinnen und Lehrer wissen, dass erfolgreicher Unterricht ein hohes Mass an themen- und sachbezogener Schüleraktivität mit einem hohen Mass an schülerorientierter Lehrersteuerung verbindet. Schule ist kein Entweder-Oder; guter und lernwirksamer Unterricht ist ein Sowohl-als-Auch.

 

Kampf zwischen Rektorat und Prorektorat

Auch das zweite Beispiel führt in den Kanton Thurgau. An der Pädagogischen Hochschule Thurgau in Kreuzlingen kam es zum Konflikt zwischen der Hochschul-Rektorin Priska Sieber als Repräsentantin des Systems und ihrem Prorektor Matthias Begemann. Ein klassischer Kampf zwischen Ordnung und Freiheit, zwischen der Präferenz für Regelungen bzw. Controlling auf Seiten der Rektorin und dem Wunsch nach Freiraum für neue Ideen und pädagogisches Wirken von Seiten des Prorektors. Die Rektorin setzte auf Verordnung, der Prorektor auf Freiheiten.

Klar ist, wer gewinnen musste: Wenn Individuum und System in Konflikt geraten und aufeinanderprallen, siegt im Regelfall das System. Und die Aufsichtskommissionen stehen meist auf der Seite des Systems. Sollte es einmal anders sein, nennt man diese Individuen „Helden“ oder, im tragischen Fall, „Märtyrer“. Prorektor Martin Begemann musste gehen.

 

Zwei Kräfte kann man nicht gleichzeitig maximieren

Für alle diese Fälle gilt: Niemand kann zwei gegensätzliche Kräfte – im Fall Kreuzlingen ist es Freiheit auf der einen und Controlling auf der anderen Seite – gleichzeitig maximieren. Das geht nicht. Wer einen Strang wie jenen der Vorschriften maximiert, reduziert und minimiert den andern Vektor, jenen der Freiheit. Die Balance geht verloren. Schulisch positives Wirken resultiert stets aus der Dynamik eines Sowohl-als-Auch. Es ist die Resultante aus beiden Kräften zugleich.

 

Einseitigkeiten sind verheerend

„Bildungspolitiker ignorieren die Erkenntnisse der Wissenschaft“, schrieb DIE ZEIT vor Kurzem.[iv] Das gilt auch für die politische Ebene der Aufsichtskommissionen. Wie anders ist es zu erklären, dass so viele Schulbehörden schönen Schalmeien aufsitzen und Schulleitungen stützen, die ihre gewagten Theorien und inkonsistenten Konzepte gegen langjährige operative Praxiserfahrung durchdrücken? Die Schule Wigoltingen mit dem Narrativ des „autonomen Lernens“ ist kein Einzelfall. Leidtragende sind die Kinder. Sie aber haben ein Recht auf einen lernwirksamen Unterricht. Hier wird Widerstand zur moralischen Pflicht.

[i] Jörg Krummenacher, An den Schulen lebt der Filz, in: NZZ 23.06.2019, S. 14.

[ii] Sabrina Bächi, Mehr Niveau für die Schüler, in: St. Galler Tagblatt 04.01.2019, S. 29.

[iii] Dies., Wigoltinger Lehrer fordern Schulleiter zur Kündigung auf, in: St. Galler Tagblatt, 05.04.2019.

[iv] Nina Kolleck, Das grosse Desinteresse, in: DIE ZEIT, 27.09.2018, S. 67.

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