Mathematikleistungen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 19 Dec 2023 10:29:04 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Mathematikleistungen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Loblied aufs Mittelmass https://condorcet.ch/2023/12/loblied-aufs-mittelmass/ https://condorcet.ch/2023/12/loblied-aufs-mittelmass/#respond Tue, 19 Dec 2023 10:29:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=15535

Schweizer Schülerinnen und Schüler liegen über dem internationalen Durchschnitt, im Lesen allerdings nur ganz knapp. Ein Viertel versteht einen alltäglichen Text nicht. Das sagt die PISA-Studie. Von der Bildungspolitik hätte man eine Ursachenanalyse erwartet. Doch sie redet die Resultate schön und gibt ihnen das Prädikat «gut» bis «sehr gut». Die Politik betone das Relativierende, sagt Condorcet-Autor Carl Bossard, und negiere das Unerfreuliche, den Trend nach unten in den Kulturtechniken.

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Schule und Unterricht seien ein Subsystem der Bildungspolitik; so jedenfalls sieht es der Systemtheoretiker Niklas Luhmann.[1] Steuern müsse die Politik. Seit Jahren aber sind Bildungsexperten und Bildungsreformer am Werk. Sie bestimmen den Kurs, und die Bildungspolitik rudert mit. Verstärkt nach der ersten PISA-Studie von 2000. Hier schlug ihre Stunde. Seither wurde unser Bildungslandschaft radikal reformiert und umstrukturiert.

Carl Bossard: Es sind Risikoschüler. Das beunruhigt.

Deutlicher Trend nach unten – trotz vieler Reformen

Alles sollte sich ändern. Erhofft und versprochen haben die Reformpromotoren bessere Lernleistungen unserer Schülerinnen und Schüler. Das ist nicht eingetreten. Im Gegenteil. Nach einem leichten Anstieg wurden die Ergebnisse nach 2010 im internationalen Vergleich wieder schwächer. Es kam zu einem deutlichen Abwärtstrend in den Kulturtechniken. Seit über zehn Jahren sinken die Leistungen in den geprüften Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften kontinuierlich Und dies, obwohl wir heute zweieinhalb Mal so viel ins Bildungssystem investieren wie 1996, nämlich über 41 Milliarden Franken.[2] Weltweit wohl am meisten.

Signifikanter Anstieg schwacher Leserinnen und Leser

Das «Programme for International Student Assessement» (PISA) untersucht alle drei Jahre, wie gut 15-Jährige am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit alltagsrelevante Aufgaben in Mathematik, im Lesen und in den Naturwissenschaften lösen können. Spitzenreiter sind Jugendliche aus den asiatischen Staaten Singapur, Japan, Taiwan und Südkorea; im europäischen Raum ist es Estland. Für die Studie verantwortlich zeichnet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

In der jüngsten Studie 2022 liegen die 15-​jährigen Jugendlichen in der Schweiz zwar über dem OECD-​Durchschnitt. Zufrieden sein darf man einzig mit dem Bereich Naturwissenschaft. Hier wurde der Trend nach unten gestoppt. Sorgen bereitet aber die grösser werdende Zahl lernschwächerer Schülerinnen und Schüler. Statistisch signifikant gestiegen ist der Anteil schwacher Leserinnen und Leser. 25 Prozent der geprüften Jugendlichen können nur ungenügend lesen. Einen alltagsnahen Text können sie zwar entziffern, verstehen ihn aber nicht. In Mathematik erreichen 20 Prozent die Mindestkompetenzen nicht. Es sind Risikoschüler. Das beunruhigt.

Unterschiedliche Wahrnehmungen für das Gleiche

Die Zahl benachteiligter Schülerinnen und Schüler steigt. Da stimmt doch das Prädikat von «guten» bis «sehr guten» Resultaten nicht. Die positive Einschätzung stammt von der Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner; sie präsidiert die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK). Ob die offizielle Bildungspolitik hier nicht schönredet und sich mit dem noch schwächeren Abschneiden vergleichbarer Länder tröstet? Die Botschaft – PR-mässig orchestriert und professionell inszeniert – hört man wohl, allein es fehlt der Glaube.

Ganz anders reagiert Deutschland. Unser nördliches Nachbarland ist in Mathematik markant zurückgefallen; beim Lesen allerdings liegt es nur wenig hinter der Schweiz. Trotzdem sprechen die Medien von einem «neuen PISA-Debakel»[3] oder vom «Pisa-Schock 2»,[4] gar von einem «Scherbenhaufen».[5] Beim Rückgang der Lesefähigkeit sei es «kein Trost, dass es um sie in Österreich und der Schweiz nicht viel besser [als in Deutschland] bestellt ist», schreibt beispielsweise der FAZ-Feuilleton-Redaktor Jürgen Kaube.[6]

Es ist die Wiederkehr des ewig Gleichen mit den alten Antworten: Schuld seien soziale Herkunft der Kinder oder zu grosse Klassen und natürlich die zu frühe Niveau-Selektion.

Wiederkehr des ewig Gleichen

Auch bei den Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen spricht die deutsche Bildungspolitik Klartext. Sie fordert in der Primarschule ein konsequentes Hinführen auf die grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. «Angesichts der veränderten Schülerschaft müssen wir mehr Zeit und Konzentration für das Erlernen der Basiskompetenzen» einsetzen, betont der Hamburger Schulsenator Ties Rabe.[7] Das brauche genügend Zeit zum Üben, fügt er gleich bei. Rabe hat Hamburgs Schulen vorangebracht. Mit seinem Postulat steht er darum nicht allein.

Nach solchen Tönen sucht man bei der Schweizer Bildungspolitik vergebens. Die offizielle Bildungspolitik flüchtet sich in schon Gehörtes und bereits Bekanntes. Es ist die Wiederkehr des ewig Gleichen mit den alten Antworten: Schuld seien soziale Herkunft der Kinder oder zu grosse Klassen und natürlich die zu frühe Niveau-Selektion. Mädchen hätten halt Angst vor der Mathematik, und es bräuchte mehr Fördermassnahmen sprich Geld. Vergessen geht der Blick ins Klassenzimmer und auf den Unterricht. In diesen Kern hinein zoomen die Analysen nicht. Kein Wort zu den überfüllten Lehrplänen und den minimierten Übungszeiten, keine Zeile zu den Methoden, kaum ein Hinweis auf die zunehmend schwierigeren Arbeitsbedingungen im pädagogischen Parterre mit der anspruchsvollen Integrationsleistung. Dabei spielen Lehrerinnen und Lehrer und ihr guter, konkreter Unterricht vor Ort die Schlüsselrolle. Unterricht ist ein lokales Geschehen. Das zeigt die Forschung; doch das steht nicht im Fokus der Kommentare.

Sozioökonomische Disparitäten

Chancengleichheit sinkt

Der Zuschnitt der PISA-Studien misst und vergleicht; er zeigt Zahlen und Tendenzen. Die Ursachenanalyse muss vor Ort erfolgen. Im Grunde aber bringt der Befund von 2022 nicht viel Neues. Wir wissen es seit über zehn Jahren: Die Lernleistungen in den Basisfächern sinken. Was dabei bedrückt und vermutlich eines der grössten Probleme darstellt: Die unzähligen Schulreformen haben die Chancengleichheit kaum verbessert. Im Gegenteil! Die Zahl der eher schwächeren Schülerinnen und Schüler nimmt zu. Gerade sie leiden am stärksten unter den überfüllten Lehrplänen – und darunter, wenn den Lehrkräften Zeit und Möglichkeit fürs Üben und Anwenden fehlen. Ausserdem setzt der heutige Unterricht über das Individualisieren stark auf selbstständiges Lernen. Das überfordert viele und bevorteilt die eh schon lernstarken Kinder.

Benachteiligung gewisser Kinder

Aus der Forschung wissen wir, wie wirkungsvoll ein gut geführter und strukturierter Unterricht ist – schülerzentriert, sachorientiert, aber lehrergesteuert. Der Neurobiologe Joachim Bauer spricht von ‚verstehender Zuwendung‘ – bei gleichzeitiger Klarheit und Führung. Gerade sozial benachteiligte Kinder seien darauf angewiesen. Oder wie es der kürzlich verstorbene, linksliberale Pädagoge Hermann Giesecke formuliert hat: «Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.»

Diese Problematik anzugehen, das sollte doch eine der zwingenden Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen 2022 sein. Allerdings müssten viele Bildungsreformer über den eigenen Schatten springen. Gefordert ist die Bildungspolitik. Sie muss handeln und steuern. Die Bildungsforschung weist den Weg.[8]

 

[1] Niklas Luhmann (2002), Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hrsg. von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

[2] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsfinanzen/oeffentliche-bildungsausgaben.html [abgerufen: 14.12.2023]

[3] Heike Schmoll, Das neue PISA-Debakel, in: FAZ, 06.12.2023, S. 1.

[4] Uwe Ebbinghaus, Pisa-Schock 2, in: FAZ, 06.12.2023, S. 9.;

[5] Thomas Kerstan, Nachhilfe gesucht, in: DIE ZEIT, 07.12.2023, S. 1

[6] Jürgen Kaube, Kompetenz setzt Kenntnis voraus, in: FAZ, 12.12.2023, S. 9.

[7] Heike Schmoll, Das gab es noch nie, in: FAZ, 06.12.2023, S. 5.

[8] Vgl. die neueste Studie mit 130’000 empirischen Daten zum guten Unterricht: John Hattie (2023), Visible Learning: The Sequel. A Synthesis of Over 2,100 Meta-Analyses Relating to Achievement. London, New York: Routledge.

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Mathias Brodkorb, bekannter SPD-Bildungspolitiker und ehemaliger Kultusminister von Brandenburg, ist ein vehementer Kritiker der Kompetenzorientierung. Er sieht sich duch die ständig sinkenden Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler bei den PISA-Studien bestätigt. Sein Kommentar ist im Cicero erschienen.

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Mathias Brodkorb, ehemaliger Kultusminister in Bandenburg SPD, heute Journalist Cicero: Rückkehr in die Klassengesellschaft.
Bild: vom Autor

Eigentlich sollte mit dem deprimierenden Ergebnis der ersten PISA-Studie 2000 das Ruder herumgerissen werden. Mit zahlreichen Schulreformen unter dem Zauberwort „Kompetenzorientierung“ versprach die Politik Besserung. Die gute alte Schule sollte abgewickelt werden.

Möglichst keine zentralen Lernvorgaben mehr, keine verbindlichen Rahmenpläne, kein stumpfes Auswendiglernen. Stattdessen: Freiheit für alle und regelmäßig Leistungsüberprüfungen. Deutschland baut seit 20 Jahren an der Schule der Zukunft. Und nun? Man steht vor einem Scherbenhaufen. Um es kurz und knapp zu sagen: Bei der ersten PISA-Studie war Deutschland Mittelmaß. Auch heute erreicht es noch etwa den OECD-Durchschnitt. Aber es ist schlechter, als es jemals war.

So schlecht waren die Ergebnisse noch nie

Nach einem kurzen Bildungsaufschwung ging es wieder rasant in den Keller. Heute werden die „niedrigsten Werte, die jemals im Rahmen von PISA gemessen wurden“, erreicht. Allein der Rückgang in Mathematik und Lesen entspricht gegenüber dem Jahr 2018 einem ganzen Schuljahr.

Deutscher Bildungsverfall

Aber die Leistungen in Mathe, Deutsch und Naturwissenschaften sind nicht nur generell rückläufig. Gleichzeitig wird der Anteil leistungsschwacher Schüler größer und der Anteil leistungsstarker Schüler kleiner. Der Anteil der Schwachen beträgt in Mathematik inzwischen ganze 30 Prozent, der Anteil der Starken hat sich seit 2012 auf 9 Prozent halbiert. Für eine Volkswirtschaft, die auf dem Weltmarkt dauerhaft erfolgreich sein will, ist das nichts anderes als eine Katastrophe.

Bildungsökonom Ludger Wößmann schlägt denn auch Alarm. Allein der Leistungsrückgang in Mathematik verursache „langfristig rund 14 Billionen Euro an entgangener Wirtschaftsleistung bis zum Ende des Jahrhunderts“. Nach dem ersten PISA-Schock brauche es daher einen zweiten. Denn: So schlecht wie heute waren die Ergebnisse noch nie.

Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund ist explodiert

Dabei gehört gar nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass bei der nächsten Studie alles noch viel schlimmer sein dürfte. Die Gründe für den Bildungsverfall sind vielfältig:

  1. Zunächst wird die Corona-Pandemie auch jenseits eines systemischen Leistungsproblems die schlechten Ergebnisse mitverursacht haben. Aber schon vorher waren die Leistungen in den Sinkflug übergegangen. Corona taugt nicht als Ausrede.
  2. Deutschland leidet bereits seit Jahren unter Lehrermangel, vor allem in den Naturwissenschaften und in Mathematik. Und dieser Mangel wird in diesem Jahrzehnt noch weiter zunehmen und ebenfalls nicht ohne Folgen bleiben.
  3. Der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund ist in den letzten Jahren geradezu explodiert. Ob man es nun wahrhaben will oder nicht: Auch das fordert das Bildungssystem heraus. Das ist nicht nur statistisch gemeint. Ein zu hoher Migrantenanteil an vielen deutschen Schulen belastet die Unterrichtssituation und damit das mögliche Leistungsniveau aller Schüler.
  4. Und schließlich darf man es für wahrscheinlich halten, dass auch die „kompetenzorientierte Wende“ in der Pädagogik vor einem Scherbenhaufen steht. Freilich: Zugegeben wird das von seinen Erfindern selten. Eigentlich nie. Man müsste einen historischen Irrtum eingestehen.

Deutschland steht daher heute vor einer ähnlichen Situation wie im Jahr 1964. Damals warnte Georg Picht in einer Streitschrift vor der nahenden deutschen „Bildungskatastrophe“. Schon damals ging es um die Abwendung eines heraufziehenden Lehrermangels und um die Anschlussfähigkeit Deutschlands an internationale Akademikerquoten. Das Jahr 1964 hatte nur einen entscheidenden Vorteil: Die Boomer waren noch jung und standen nicht kurz vor der Pension oder Rente wie heute. Es gab noch Nachwuchskräfte.

Öffentliche Schulen haben einen immer schlechteren Ruf

Will Deutschland seine Schulen nicht endgültig an die Wand fahren, wird man also das Problem mit dem Lehrermangel ebenso lösen müssen wie die Überforderung der Schulen durch zu viele Migrationslasten. Das hört der deutsche Linke nicht gern, ist aber so.

Am Ende leiden unter all dem ohnehin nur der gewöhnliche Arbeitnehmer und die Arbeiterklasse. Rechtsanwälte, Ärzte, Professoren sowie Abgeordnete wohnen für gewöhnlich nicht in deutschen Plattenbauten. Und sie haben auch das nötige Kleingeld, um ihre Kinder notfalls auf Privatschulen schicken zu können.

Was Deutschland droht, ist daher im Grunde nichts anderes als die Rückkehr der Klassengesellschaft. Das Szenario ist vorgezeichnet: Wer es sich leisten kann, kauft seine Kinder aus den öffentlichen Schulen raus. In den Plattenbausiedlungen der Städte wird man zwar noch Lehrer finden, aber durch eine völlig unausgeglichene Schülerstruktur wird auch das nicht zu anständigen Lernergebnissen verhelfen.

Für Optimismus gibt es keinen Grund

Auf dem Lande hingegen wird der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund zwar deutlich niedriger sein, aber dafür wird es ganz an qualifizierten Lehrern fehlen. Akademiker zieht es nun einmal eher in die größeren Städte. Das ist auch bei Paukern nicht anders.

Für Optimismus gibt es daher keinen Grund. Die Zukunft wird in der Wiederkehr des 19. Jahrhunderts liegen. Die städtischen Arbeiterkinder werden unterprivilegiert sein wie damals – und die Kinder aus dem ländlichen Raum ebenso.

Eigentlich war die politische Linke einst angetreten, um Arbeiterkindern den Aufstieg zu ermöglichen und den Unterschied an Lebenschancen zwischen Stadt und Land aufzuheben. Groteskerweise dürfte nun eine maßlose Form der Weltoffenheit diese alten Zustände wiederherstellen.

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Schweiz: Jeder Vierte, jede Vierte kann nicht lesen. Deutschland: So schlecht wie noch nie! https://condorcet.ch/2023/12/schweiz-jeder-vierte-jede-vierte-kann-nicht-lesen-deutschland-so-schlecht-wie-noch-nie/ https://condorcet.ch/2023/12/schweiz-jeder-vierte-jede-vierte-kann-nicht-lesen-deutschland-so-schlecht-wie-noch-nie/#comments Tue, 05 Dec 2023 15:02:53 +0000 https://condorcet.ch/?p=15422

Die internationale Vergleichsstudie zeigt: Schweizer Schülerinnen und Schüler legen zwar in Naturwissenschaften zu, beim Lesen aber haben sich die Ergebnisse im Vergleich zu früher verschlechtert. Ebenso im Fach Mathematik. Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz hat für den Condorcet-Blog einen ersten Kommentar verfasst. Weitere werden folgen.

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Die Schweiz hat bei PISA insgesamt schlechter abgeschnitten als vor vier Jahren, aber die meisten andern europäischen Länder sackten noch mehr ab als wir. Deshalb liegen wir jetzt knapp über dem OECD-Schnitt. Das gibt dem LCH und natürlich Frau RR Steiner einen Grund, um von sehr guten Leistungen unserer Schüler zu sprechen.

Gastautor Hanspeter Amstutz, Starke Schule Zürich: 25% Illetristen, so kann es nicht weitergehen.

Die anhaltende Katastrophe, dass ein Viertel unserer Schüler über keine genügenden Lesefähigkeiten verfügt, wird dann etwas kleinlaut nachgeschoben. Hier muss man entschlossen nachhaken und feststellen, dass es beim Lesen nicht besser, sondern noch schlechter geworden   ist. Für uns ist das ein Skandal, der unseren selbsternannten Bildungs-Steuerleuten bei der EDK und an den Hochschulen ein schlechtes Zeugnis ausstellt.

Spannend sind jetzt die Reaktionen aus Deutschland, wo der Absturz dramatisch ist. Neben den unbestrittenen Belastungen durch eine starke Einwanderung werden der Lehrermangel und die ungenügende Digitalisierung der Schulen erwähnt. Mir fehlt dabei ein ganz zentraler Punkt: Die unseligen neuen Lernkonzepte mit Lehrerinnen als Coachs und dem ganzen selbstorganisierten Lernen. Das Dogma des Lehrers als Begleiter hat in den deutschen Schulen meiner Meinung nach bereits sehr viel mehr Schaden angerichtet als bei uns. Es kommt uns zugut, dass wir manche weltläufige Dummheit erst mit Verspätung machen oder sogar verpassen.

Schwierig wird es für alle, die behaupten, mit viel mehr Geld könne man unser Bildungssystem stark verbessern. Das eher arme Estland muss mit sehr viel weniger finanzieller Unterstützung auskommen und liegt dennoch deutlich vor der Schweiz. Das müsste auch in linken Kreisen und beim LCH einmal zur Kenntnis genommen werden. Bei der EDK wird jetzt vermutlich wieder so getan, als würde man sich der Leseschwäche eines Viertels unserer Jugend voll annehmen. Sicher gibt es ein paar sinnvolle Aktionen wie Aufwertung der Schülerbibliotheken und gezielte Förderprogramme für fremdsprachige Kinder.

Aber sobald es um die speditive Beseitigung der Dauerbaustellen an unserer Schule geht, nimmt der Tatendrang der EDK-Steuercrew rapid ab. Die Primarschulen schlagen sich weiter mit einem ineffizienten Dreisprachenkonzept herum und finden für die Wiedereinführung von Kleinklassen kein Gehör, obwohl diese einen Beitrag zur Reduktion der Heterogenität in den Regelklassen leisten würden. Es fehlt der Wille zu einer Entrümpelung des völlig überladenen Lehrplans und der Mut zu einer Konzentration auf wesentliche Bildungsinhalte. Dem Lehrermangel steht man ziemlich ratlos gegenüber und für die Stärkung der Rolle der Klassenlehrkräfte wird zu wenig getan. Doch mit dem üblichen Beschönigen und Aussitzen von Problemen kommen wir nicht weiter. Es gilt jetzt, die schwerwiegenden Folgen der Leseschwäche eines Viertels unserer Schulabgänger den Leuten vor Augen zu führen und sich mit aller Kraft an die Behebung der offenen Baustellen zu machen.

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Trotz “Outputorientierung” – keine Wirkung https://condorcet.ch/2023/07/trotz-outputorientierung-keine-wirkung/ https://condorcet.ch/2023/07/trotz-outputorientierung-keine-wirkung/#comments Sun, 09 Jul 2023 06:06:24 +0000 https://condorcet.ch/?p=14514

In seinem achten Sonntagseinspruch für den Condorcet-Blog beschäftigt sich Professor Wolfgang Kühnel mit den Mathematik-Kenntnissen der angehenden Studentinnen und Studenten in den Mint-Fächern. Kein neues Thema, aber die kursierenden Vorschläge, wie man aus dieser Misere herauskommt, werden von Professor Kuehnel in bekannter Manier seziert.

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Liebe Condorcet-Leserinnen und –Leser,

Heute geht es mal um die Mathematik, dieses Thema liegt mir besonders am Herzen. Schon länger wurde an Hochschulen übereinstimmend  festgestellt, dass die Erstsemestler in den MINT-Fächern weniger werden und dann auch noch massive Defizite bei ihren Kenntnissen der sogenannten “Schulmathematik” zeigen. Was Schulmathematik genau ist, steht in Deutschland heutzutage in den KMK-Bildungsstandards (die auch vielfach kritisiert werden).

Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Wie bekommt man mit massiven Wissenslücken ein Abitur?

Aber wenn nur alle Abiturienten diese beherrschten, dann wäre die Situation immerhin weniger schlecht. So aber ist schon die Bruchrechnung (üblicherweise im 6. Schuljahr zu behandeln) ein Problem, der Dreisatz und Termumformungen auch und etliches mehr.

Die drei Fachkollegen V.Bach, A.Krieg (Prorektor Lehre an der RWTH Aachen) und R. Seiler haben nun in der F.A.Z einen radikalen Vorschlag unterbreitet, wie man dieses Problem angehen sollte:

https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/vorbereitende-mathe-kurse-gegen-fallende-mint-studentenzahlen-18980428.html

Ich werde die entscheidenden Passagen wörtlich zitieren. Am Anfang gibt man sich einsichtig und stellt fest: “Wissenslücken, die sich in der Schule über viele Jahre zu Lerndefiziten aufbauen, sind schwer aufzuholen. Mathematikdozenten identifizieren insbesondere einen Mangel an Grundfertigkeiten, wie Bruchrechnung oder Termumformungen, als zentrales Problem.”

Das klingt eigentlich danach, als müssten die Schulen dem gegensteuern. Schließlich hat man ja offiziell eine “Outputorientierung”, also müsste der “Output” bei den Schülern verbessert werden, eben damit sich die Wissenslücken nicht über Jahre aufbauen. Unbeantwortet bleibt die Frage:

Wie bekommt man mit massiven Wissenslücken ein Abitur?

Abiturientenquote: In den letzten 50 Jahren von 15 Prozent auf 40 Prozent gestiegen.

Aber weiter heißt es: “die angewachsene Abiturientenquote, die in den letzten 50 Jahren von 15 Prozent auf 40 Prozent der Schülerschaft gestiegen ist, hat zu einer geringeren Selektion geführt. Sie ist eine wesentliche Ursache der Probleme.”

Tja, aber wann wurden denn die “outputorientierten  KMK-Bildungsstandards” eingeführt? Doch nicht vor 50, sondern vor 20 Jahren, die KMK-Abiturstandards für Mathematik erst am 18.10.2012, die waren doch auf die Abiturquote von 2012 ausgelegt, und in 10 Jahren stieg die nicht so gewaltig.

Das ist schon der erste Punkt an Unlogik, weitere werden folgen.

Kurz darauf heißt es: “Kultusministerien und Lehrkräfte an Schulen bestehen darauf, dass Hochschulen nicht mehr Vorkenntnisse von Studienanfängern fordern dürften, als in den KMK-Bildungsstandards vorgesehen ist.”

Seit wann bestimmen denn Kultusministerien und “Lehrkräfte an Schulen” darüber, was Hochschulen verlangen dürfen? Das ist der zweite Punkt an Unlogik. Und selbst wenn man dies akzeptierte, dann dürften die Hochschulen doch wenigstens die offiziellen Bildungsziele verlangen. Die aber kommen nicht in den Köpfen der Abiturienten an, ohne dass das je von den schulischen Autoritäten zugegeben wird, ein dritter Punkt an Unlogik.

Parteipolitiker verkünden eine “exzellente Bildung”, die unsere Schulen in der “Bildungsrepublik” vermitteln sollen. Aber man  kapituliert offenbar schon davor, dass die “verbindlich” gelehrte Bruchrechnung einfach nicht in den Köpfen ankommt.

Dabei wurden diese KMK-Bildungsstandards von ihren Befürwortern hoch gelobt, endlich sei das mal bundeseinheitlich formuliert und zudem auch verbindlich” und eben “outputorientiert” statt — wie vorher — “inputorientiert”.

Parteipolitiker verkünden eine “exzellente Bildung”, die unsere Schulen in der “Bildungsrepublik” vermitteln sollen. Aber man  kapituliert offenbar schon davor, dass die “verbindlich” gelehrte Bruchrechnung einfach nicht in den Köpfen ankommt.

Weil die Misere sich ja schon vor Jahrzehnten als “schwarze Wolke am Horizont” abzeichnete, hat man allerorten sogenannte “Vor- und Brückenkurse” eingerichtet, die früher mal die Inhalte vermittelten, die im Schulunterricht oft nichtvorkamen, aber z.B. im Mathematik- oder Physikstudium erwartet wurden. Heute versuchen diese Kurse — salopp gesagt — im Durchlauferhitzerverfahren den Studienanfängern das einzutrichtern, was die eigentlich in 12-13 Jahren in der Schule hätten lernen sollen. Dass es ohne diese Kurse nicht mehr geht, ist schon länger allgemeine Überzeugung, es gibt schon dicke Bücher dazu, siehe:

https://www.mathematik.de/dmv-blog/376-ein-buch-zum-uebergang-schule-hochschule-versuch-einer-rezension

Mathematik-Defizite an den Unis machen Vorkurse nötig

Aber die Wirkung dieser Kurse scheint auch begrenzt zu sein. “Sofern kein Mangel an Studienplätzen einen Numerus Clausus erfordert, dürften folglich weder Eignungsprüfungen noch andere Auswahlverfahren vor Studienbeginn stattfinden. Außerdem dürfen keine Vorleistungen wie das Absolvieren von Vorkursen verpflichtend sein.”

Das ist der vierte Punkt an Unlogik: Die KMK-Bildungsstandards dürfte man ja ohne “wenn und aber” voraussetzen, und wenn man dann so freundlich ist, deren Wiederholung in Vorkursen gesondert anzubieten, dann kann es dennoch den armen Studenten nicht zugemutet werden, das auch wahrzunehmen, falls nötig?

Das setzt dem dann noch die Krone auf, die Mathematik in den MINT-Studiengängen soll entfachlicht werden, nur weil die Schulen wegen der dortigen Entfachlichung es nicht schaffen, die “neue” Schulmathematik nach TIMSS und PISA auch zu vermitteln.

Das verstehe wer will. Heute liegen in Deutschland zwischen Abitur und Vorlesungsbeginn meist etwa vier Monate (Juni bis Oktober).

Ich bin damals ohne jeden Vorkurs an die Universität gegangen, aber in dem Bewusstsein, dass das kein bequemer Spaziergang wird. Jeder darf sich ja jederzeit auch auf eigene Faust vorbereiten und sich das ansehen, was ihm vielleicht fehlen könnte.

Der Lehrplan wird de facto ausgehebelt.

Und in Zeiten des Internets gilt das natürlich erst recht, also gibt’s jetzt auch Online-Brückenkurse, aber auch deren Inhalt darf offenbar nicht verpflichtend verlangt werden. Im Gegenteil, es folgt eine Feststellung der drei Autoren, die den Spruch “Ich glaub’, mich tritt ein Pferd” rechtfertigen könnte:

“Vor- und Orientierungskurse an Hochschulen sollten fest im regulären Studium integriert werden, einschließlich Noten und Kreditpunkten, selbst wenn sie bereits im Lehrplan vorgesehene Schulinhalte wiederholen.”

Das ist der fünfte Punkt an Unlogik. Der Lehrplan wird de facto ausgehebelt, und noch mehr: Dieser Satz dokumentiert das ultimative Scheitern einer Schulmathematik, die doch nach TIMSS und PISA im großen Stil verändert und “modernisiert” wurde, um die “Herausforderungen des 21. Jahrhundertes meistern zu können”.

Für das Beherrschen der Schulmathematik bekommt man Schulnoten und schließlich ein Abitur, und für dieselben Inhalte gibt’s dann an den Hochschulen weitere Noten und ECTS-Leistungspunkte. Und zusätzlich ist das gegenüber den Inhalten von Schulbüchern der Zeit vor 50 Jahren ohnehin stark abgespeckt.

“Um dies in das Studium einzubinden, könnte es erforderlich sein, einige fortgeschrittene Lehrveranstaltungen zu streichen.”

Das setzt dem dann noch die Krone auf, die Mathematik in den MINT-Studiengängen soll entfachlicht werden, nur weil die Schulen wegen der dortigen Entfachlichung es nicht schaffen, die “neue” Schulmathematik nach TIMSS und PISA auch zu vermitteln.

Den von den drei Autoren als “hochwertig” empfohlenen (und wohl sogar verfassten) Online-Brückenkurs OMB+ kann jeder ohne Anmeldung komplett ansehen, siehe:

https://www.ombplus.de/ombplus/public/index.html

Das ist Niveaulimbo

Dann oben auf “Direkt zum Kurs” klicken, da kann man alle Kapitel einzeln anklicken und auch herunterladen, zusammen sind das über 1000 Seiten.Es werden auch Themen behandelt, die üblicherweise kurz nach der Grundschule drankommen, etwa “wie verwandelt man einen Bruch in einen Dezimalbruch oder umgekehrt”. Die Multiplikation und Division zweier reeller Zahlen dagegen wird nicht erklärt, sie ist wohl zu schwierig und in Zeiten des Taschenrechners auch entbehrlich. Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung ist auf das Niveau von Schulbüchern reduziert, und die Ableitung der Sinusfunktion wird nur mit einem Bildchen begründet, so wie heute in Schulbüchern üblich. Das fachliche Niveau von OMB+ ist ausgesprochen niedrig, viele Rechenaufgaben, “Mathematik für Dummies” mit dem “Niveaulimbo” (neudeutsch) jetzt auch an der Universität.

Aber es kommen ja noch allzu-menschliche Probleme hinzu.

Tatsächlich beklagen auch die Autoren: “Der Übergang von der Schule in die Hochschule verlangt von Studenten einen Sprung in die Eigenverantwortlichkeit, die viele überfordert.”

Da kommen einem ja die Tränen, andererseits war genau dies schon immer so, seit es Universitäten gibt. Spott über die Bummelstudenten, die eigentlich gar nicht studieren, sondern sich amüsieren, gab es in den letzten 200 Jahren schon reichlich.

Hier ein Witz aus einem Satireblättchen der Zeit um 1900:

“Jemand sucht in einer fremden Stadt die Universität und hat sich verlaufen. Er spricht zwei junge Leute an, die wie Studenten aussehen und das auch sind. Er fragt: “Wo finde ich die Universität?” Der erste ist etwas verlegen und meint ‘ja wissen Sie, ich bin erst im 3. Semester, und da habe ich das noch gar nicht mitbekommen’, dann zeigt er auf den anderen. Aber der andere kommt ebenfalls in Verlegenheit und sagt ‘ich bin schon im 30. Semester, und da habe ich das schon wieder vergessen’.”

Resigniert stellen sie dann fest: “Hilfsmaßnahmen für Schule und Studium bewirken jedoch nichts, wenn sie nicht genutzt werden.”

Also neu ist das Problem einer übermäßig überdehnten akademischen Freiheit gewiss nicht. Warum soll das gerade heute in Zeiten vom “Hamster im Laufrad” in Bachelor-Studiengängen so gravierend sein? Haben wir nicht schon genug “Verschulung” im Studium, auch ohne formelle Anwesenheitspflicht (die es früher übrigens auch nicht gab) ?

Soll man die Studenten betreuen wie Kleinkinder oder neben jeden noch einen Sozialpädagogen setzen?

Auch die Autoren geben zu, das es viele Unterstützungsmaßnahmen an Hochschulen gibt, dass die aber nicht wahrgenommen werden. Sie schreiben: “Die Freiheiten, die sich aus diesen Regelungen ergeben, werden ausgerechnet von denjenigen genutzt, für die die Anwesenheit in Lehrveranstaltungen und kontinuierliche Mitarbeit besonders wichtig wäre.”

Resigniert stellen sie dann fest: “Hilfsmaßnahmen für Schule und Studium bewirken jedoch nichts, wenn sie nicht genutzt werden.”

Und was ist die logische Konsequenz? Soll man die Studenten betreuen wie Kleinkinder oder neben jeden noch einen Sozialpädagogen setzen?

Auch wenn dieser Vorkurs Teil des Studiums wird, dann kann dieser Teil natürlich auch geschwänzt werden. Auf den Mensatischen liegen dann Angebote für “klausurorientierte Paukkurse ohne Theorie”, natürlich gebührenpflichtig.

Andererseits: Streben nicht gerade die neuen Bildungsziele das selbständige Lernen schon in der Schule an?

An Rhetorik dazu fehlt es jedenfalls nicht. Anwesenheitspflicht ist doch ohnehin entbehrlich in Zeiten der totalen Digitalisierung: Jeder sitzt vor einem Bildschirm und beschäftigt sich mit der Lernsoftware, um seine Kompetenzen zu steigern und die automatisierte Online-Prüfung zu bestehen. Alles wird dabei überwacht von IT-geschulten Lernbegleitern. Schöne neue Welt.

Fassen wir zusammen:

Die “verbindlichen” Bildungsstandards im Fach Mathematik kommen in den Köpfen der Schüler nicht an, und um dem abzuhelfen, wird erst ein Vorkurs konzipiert, der praktisch alles wiederholt und ein paar Themen noch ergänzt, und schließlich wird von etablierten Mathematik-Professoren dieser Vorkurs komplett als Teil des regulären Studiums empfohlen. Die frühere Schulmathematik wurde erst reduziert, und der Rest wird Sache der Hochschulen und rückt damit in die Nähe der sog. “Höheren Mathematik”.

Wenn dann Kritiker ein sinkendes Niveau beklagen, werden sie als “ewig  gestrig” abgekanzelt, und die schulischen Autoritäten werden von jeder Pflicht freigesprochen, Abiturienten mit Mathematikkenntnissen ins Leben zu entlassen. Wie konnte das nur so passieren? Wer hat rechtzeitig protestiert?

Mit dieser Frage wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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Sind die Grundschullehrkräfte schuld am Leistungsabsturz? Philologen: „Schluss mit unbrauchbaren Methoden“ https://condorcet.ch/2022/07/sind-die-grundschullehrkraefte-schuld-am-leistungsabsturz-philologen-schluss-mit-unbrauchbaren-methoden/ https://condorcet.ch/2022/07/sind-die-grundschullehrkraefte-schuld-am-leistungsabsturz-philologen-schluss-mit-unbrauchbaren-methoden/#comments Tue, 05 Jul 2022 08:21:03 +0000 https://condorcet.ch/?p=11018

Die Leistungen von Grundschülern sind in den vergangenen zehn Jahren, das dokumentiert aktuell eine Studie im Auftrag der KMK (Kultusministerkonferenz), drastisch gesunken. Während Lehrpersonenverbände, die die Grundschullehrkräfte vertreten (wie der VBE und die GEW), als Ursachen den insbesondere an Grundschulen grassierenden Lehrkräftemangel bei gleichzeitig steigenden Herausforderungen – wie der Inklusion – sehen, nehmen die Philologen die Grundschulen selbst in die Kritik. Der Philologenverband Rheinland-Pfalz fordert: „Schluss mit erwiesenermaßen unbrauchbaren Methoden!“

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Cornelia Schwartz, Landesvorsitzende des Verbandes der Gymnasiallehrkräfte: Entsetzt, aber nicht erstaunt.

Seit Jahren verhallen Mahnungen in Bezug auf die immer gravierenderen Mängel beim Lesen, Schreiben und Rechnen, die Kinder von der Grundschule mit an die weiterführenden Schulen bringen, ungehört – meint der Philologenverband Rheinland-Pfalz. Die Landesvorsitzende des Verbandes der Gymnasiallehrkräfte, Cornelia Schwartz, zeigt sich nach eigenem Bekunden entsetzt, aber nicht erstaunt über die Ergebnisse der aktuellen, von der Kultusministerkonferenz in Auftrag gegebenen Studie des IQB-Bildungstrends 2021.

„Nicht erst seit Corona sind im Hinblick auf das Lesen, Schreiben und Rechnen schwerwiegende Defizite deutlich geworden.“

Dass – wie die Kultusminister in ihren Stellungnahmen glauben machen will – vor allem die Schulschließungen in der Pandemie für den Leistungsschwund verantwortlich sind, diese Begründung weist Schwartz zurück: „Nicht erst seit Corona sind im Hinblick auf das Lesen, Schreiben und Rechnen schwerwiegende Defizite deutlich geworden“, sagt sie.

Und betont stattdessen: „Man kann die derzeit von den Hochschulen propagierte Grundschuldidaktik fast schon als eine Didaktik der Verwahrlosung bezeichnen: Fehler werden nur noch ansatzweise korrigiert und setzen sich daher in den Köpfen der Kinder fest, von der Lehrkraft angeleitete gemeinsame Erarbeitungsphasen geißelt diese Didaktik als lehrerzentriert, und automatisiertes Üben beim Rechnen – davon will man gar nichts mehr wissen. Ein solcher Ansatz führt uns schon seit Jahren an den pädagogischen Abgrund, aber während der Pandemie und der Phasen des Fernunterrichts war dieser Ansatz erst recht zum Scheitern verurteilt.“

Man muss sich nur von den ideologischen Scheuklappen mancher Didaktiker befreien.

Der Philologenverband Rheinland-Pfalz fordert die Bildungspolitiker der Länder auf: „Beenden Sie diesen Wahnsinn! Sorgen Sie dafür, dass eine schädliche Didaktik schnellstmöglich revidiert und Kindern das Leid des endgültigen Scheiterns erspart wird.“ Schwartz betont: „Konsequentes Rechtschreiben und ein Verbessern von Fehlern, das Erlernen einer echten Schreibschrift, mehr Ruhe und Konzentration im Unterricht, Mathematikbücher, die nicht fünf verschiedene Rechenwege aufzeigen, sondern zunächst ein sinnvolles Rechenverfahren üben, und zwar nicht an drei kleinen Mini-Aufgaben, sondern so lange, bis das Verfahren sicher und selbständig ausgeführt werden kann – damit wäre schon viel geholfen, und zwar völlig kostenneutral. Man muss sich nur von den ideologischen Scheuklappen mancher Didaktiker befreien.“

Da nun schon zum Nachteil vieler Kinder beträchtlicher Schaden angerichtet worden sei, fordert der Philologenverband Rheinland-Pfalz übergangsweise für die fünften und sechsten Klassen an den weiterführenden Schulen jeweils zwei Förderstunden pro Woche und Klasse, „so dass hier ohne Stress, ohne Vorwürfe und ohne Zeitdruck geübt und Versäumtes aus der Grundschule zumindest teilweise nachgeholt werden kann“.

Der Deutsche Philologenverband sieht ein Kernproblem in zu niedrigen Ansprüchen an die Grundschulen. Dass sich die Länder zum Beispiel für die neuen Bildungsstandards Deutsch für die Grundschule gerade einmal auf eine „lesbare Handschrift“ und „eine in den Kernbereichen“ korrekte Orthographie hätten einigen können, spiegle nur einen Minimalkonsens wider – setze aber keine ambitionierten Ziele für ein besseres Leistungsniveau der Grundschülerinnen und -schüler in den Kernfächern Deutsch und Mathematik bundesweit. Bundesvorsitzende Prof. Susanne Lin-Klitzing betont: „In der Mathematik halten wir es für unabdingbar, dass neben den schriftlichen Verfahren der Addition, Subtraktion und Multiplikation auch das schriftliche Verfahren der Division eingeführt wird.“

Der Verband appelliert dringend an die Kultusministerkonferenz, die Lern- und Leistungsziele für die Grundschülerinnen und -schüler zu erhöhen und die neuen Bildungsstandards für die Grundschulen für ambitionierte Ziele im Deutsch- und Mathematikunterricht nach oben zu korrigieren.

Wenn man zunehmend von Grundschulen ohne Noten sinniert, sich in pseudopädagogischen Vermittlungsstrukturen und Experimenten ergeht, Förderschulen abschafft, muss einen das Ergebnis nicht verwundern.

Böhm: „Wir brauchen einen Aufbruch in der Vermittlung der Grundkompetenzen in Deutsch und Mathematik.“

Entwicklung der Schweiz beim Lesen: Auch in der Schweiz scheinen die Leistungen zu sinken.

In die gleiche Kerbe schlägt der Realschullehrerverband VDR. Ein wesentlicher Grund für den Absturz sei die mangelnde Leistungsorientierung in den Grundschulen und ein immer weiteres Einebnen der Anforderungen in den Basisfächern. „Wenn man zunehmend von Grundschulen ohne Noten sinniert, sich in pseudopädagogischen Vermittlungsstrukturen und Experimenten ergeht, Förderschulen abschafft, muss einen das Ergebnis nicht verwundern“, so der Bundesvorsitzende Jürgen Böhm. Er erklärt:  „Wir brauchen einen Aufbruch in der Vermittlung der Grundkompetenzen in Deutsch und Mathematik – eine Qualitäts- und Leistungsoffensive und kein ständiges Herunterschrauben von Anforderungen.“

Dass sich an den Grundschulen allerdings auch die Rahmenbedingungen verschlechtert haben („wie Lehrkräftemangel, zunehmende Aufweichungen der Lehrkräfteausbildung mit Verkürzung des Referendariats bis hin zu fehlenden qualitativ ausreichenden Seiteneinsteigerprogramme“), räumt Böhm ein.

Quelle: News4teachers / mit Material der dpa

Hier lässt sich die Studie herunterladen: https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2021/

 

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Nun schlagen auch die US-amerikanischen MINT-Lehrkräfte Alarm – in einem offenen Brandbrief https://condorcet.ch/2022/01/nun-schlagen-auch-die-us-amerikanischen-mint-lehrkraefte-alarm-in-einem-offenen-brandbrief/ https://condorcet.ch/2022/01/nun-schlagen-auch-die-us-amerikanischen-mint-lehrkraefte-alarm-in-einem-offenen-brandbrief/#comments Sat, 08 Jan 2022 18:35:50 +0000 https://condorcet.ch/?p=10290

Nun schlagen auch die US-amerikanischen MINT-Lehrkräfte Alarm. Sie warnen eindringlich vor den neuen Lehrplänen im Fach Mathematik, welche die Förderung der Begabten in speziellen Leistungskursen streichen, die Algebra abschaffen und die Grundfertigkeiten zugunsten modischer und oberflächlicher Modethemen einschränken wollen. Wir bringen diesen Brief in einer von deepl.com gestützten Übersetzung (Dank an unseren Redakteur Alain Pichard für die Überarbeitung) und verlinken es mit der Originalversion.

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Wir schreiben Ihnen, um unsere Besorgnis über die jüngsten Trends in der K-12-Mathematikausbildung in den Vereinigten Staaten zum Ausdruck zu bringen (K 12 ist in den USA eine weit verbreitete, zusammenfassende Bezeichnung für den primären und sekundären Bildungsbereich (primary and secondary education) Anm. der Redaktion). Wir alle haben aus erster Hand erfahren, welche Rolle klares mathematisches Denken bei der Förderung der Informationstechnologie und der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit Amerikas gespielt hat. Wir alle teilen auch das dringende Vorhaben, dass die Vorteile einer soliden mathematischen Ausbildung und die sich daraus ergebenden Karrierechancen besser unter Schülerinnen und Schülern aller Schichten, unabhängig von Rasse, Geschlecht und wirtschaftlichem Status, verteilt werden sollten. Wir stimmen voll und ganz zu, dass die mathematische Bildung “kein Torwächter, sondern eine Startrampe” sein sollte.

Sie könnte zu einer De-facto-Privatisierung der fortgeschrittenen mathematischen K-12-Ausbildung führen und Schüler mit weniger Ressourcen unverhältnismäßig stark benachteiligen.

Wir sind tief besorgt

Wir sind jedoch tief besorgt über die unbeabsichtigten Folgen der jüngsten, gut gemeinten Ansätze zur Reform des Mathematikunterrichts, insbesondere des California Mathematics Framework (CMF). Solche Rahmenpläne zielen darauf ab, Leistungsunterschiede zu verringern, indem sie das Angebot an fortgeschrittenen Mathematikkursen auf Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe und Anfänger der High School beschränken. Auch wenn solche Reformen oberflächlich betrachtet “erfolgreich” zu sein scheinen, wenn es darum geht, Ungleichheiten auf der High-School-Ebene abzubauen, so sind sie doch nur ein “Tropfen auf den heißen Stein” für das College.  Es ist zwar möglich, an der Hochschule in MINT-Fächern erfolgreich zu sein, ohne in der High School fortgeschrittene Kurse zu belegen, aber es ist eine größere Herausforderung. College-Studenten, die ihre ersten Jahre mit Mathematik-Einführungskursen verbringen müssen, benötigen mehr Zeit, um ihren Abschluss zu machen. Sie müssen unter Umständen auf andere Möglichkeiten verzichten und haben mit größerer Wahrscheinlichkeit akademische Schwierigkeiten. Eine solche Reform würde die Schüler der öffentlichen K-12-Schulen in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu ihren internationalen und privaten Mitschülern benachteiligen. Sie könnte zu einer De-facto-Privatisierung der fortgeschrittenen mathematischen K-12-Ausbildung führen und Schüler mit weniger Ressourcen unverhältnismäßig stark benachteiligen.

Diese mathematischen Disziplinen sind zwar Jahrhunderte alt und manchmal noch älter, aber für die großen Herausforderungen von heute sind sie wohl noch wichtiger als in der Sputnik-Ära.

Ein weiterer besorgniserregender Trend ist die Abwertung grundlegender mathematischer Werkzeuge wie Kalkül und Algebra zugunsten der scheinbar moderneren “Datenwissenschaft”. Als MINT-Fachleute und Pädagogen sollten wir für diesen Ansatz Verständnis haben, und doch lehnen wir ihn entschieden ab. Die Fähigkeit, riesige Datenmengen zu sammeln und zu analysieren, verändert unsere Gesellschaft tatsächlich. Aber “Datenwissenschaft” – Informatik, Statistik und künstliche Intelligenz – baut auf den Grundlagen von Algebra, allgemeinen Rechnungsfertigkeiten und logischem Denken auf. Diese mathematischen Disziplinen sind zwar Jahrhunderte alt und manchmal noch älter, aber für die großen Herausforderungen von heute sind sie wohl noch wichtiger als in der Sputnik-Ära.

Wir fordern die Regierungen auf nationaler, bundesstaatlicher und lokaler Ebene auf, MINT-Lehrkräfte und MINT-Fachleute in die Gestaltung der Lehrpläne für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht in der Grundschule einzubeziehen, die folgenden Ziele ausdrücklich festzulegen und den Schulbezirken Mittel zur Verfügung zu stellen, damit sie diese Ziele erreichen können:

  1. Alle Schülerinnen und Schüler, unabhängig von ihrer Herkunft, haben Zugang zu einem präzisen und strengen Mathematiklehrplan, der sie in die Lage versetzt, MINT-Studiengänge und -Berufe zu verfolgen, wenn sie sich dafür entscheiden.
  2. Weit davon entfernt, absichtlich zurückgehalten zu werden, sollten alle Schüler die Möglichkeit haben, gefördert und gefordert zu werden, um ihr Potenzial auszuschöpfen. Dies ist nicht nur zu ihrem eigenen Vorteil, sondern auch für die Gesellschaft und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Nation.
  3. Es kann keinen “Einheitsansatz” für die mathematische Bildung in der K-12 geben. Den Schülern sollten mehrere Wege und Zeitpläne zur Erforschung der Mathematik angeboten werden. Einer dieser Wege sollte jedoch die Möglichkeit bieten, eine grundlegende Vorbereitung auf die MINT-Fächer auf College-Niveau zu erhalten, einschließlich Algebra, Infinitesimalrechnung und logisches Denken. Die Schüler sollten die Möglichkeit haben, diese Fächer in verschiedenen Klassenstufen der Mittel- und Oberstufe zu belegen, wenn sie dazu bereit sind, so dass sie das Rüstzeug für die Erkundung anderer MINT-Optionen erwerben und ihre Fähigkeiten in einem ausgewogenen Tempo ausbauen können, um eine unverantwortliche Verdichtung in der Oberstufe zu vermeiden.

Im Gegensatz dazu schlagen Initiativen wie der CMF drastische Änderungen vor, die auf dürftigen und nicht schlüssigen Beweisen beruhen. Die Kinder unseres größten Bundesstaates einem solchen Experiment zu unterziehen, ist der Gipfel der Verantwortungslosigkeit.

Die mathematische Bildung ist ein anspruchsvolles Unterfangen, und wir haben den größten Respekt vor unseren K-12-Kollegen, die diese harte Arbeit leisten. In Anerkennung der Schwierigkeit sind wir der Meinung, dass Änderungen an den Bildungsstandards mit Vorsicht angegangen werden sollten, indem schrittweise Experimente durchgeführt werden, die auf den in den USA und im Ausland gewonnenen Erfahrungen aufbauen und glaubwürdige Erfolgsmessungen verwenden. Im Gegensatz dazu schlagen Initiativen wie der CMF drastische Änderungen vor, die auf dürftigen und nicht schlüssigen Beweisen beruhen. Die Kinder unseres größten Bundesstaates einem solchen Experiment zu unterziehen, ist der Gipfel der Verantwortungslosigkeit.

Schließlich kann die Entwicklung von K-12-Mathe-Lehrplänen nicht von einem ihrer wichtigsten Endziele abgekoppelt werden: Die Vorbereitung der Schüler auf eine erfolgreiche MINT-Ausbildung und eine MINT-Karriere auf College-Ebene. Als Pädagogen in öffentlichen und privaten Einrichtungen und als Fachleute in der Technologiebranche wissen wir aus erster Hand, welche Fähigkeiten für dieses Ziel erforderlich sind. Das K-12-System in den USA ist zwar stark verbesserungsbedürftig, aber die derzeitigen Trends werden uns eher weiter zurückwerfen. Die Einschränkung des Zugangs zu fortgeschrittener Mathematik und die Bevorzugung von trendigen, aber oberflächlichen Kursen gegenüber grundlegenden Fertigkeiten würden der MINT-Bildung im Land nachhaltig schaden und die Ungleichheit verschärfen, da sie den Zugang zu den für die soziale Mobilität erforderlichen Fertigkeiten einschränken.

 

Brief der US-amerikanischen MINT-Lehrkräfte in engl. Originalfassung

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Kühnels Sonntagseinspruch: Viele Programme – wenig Effekte https://condorcet.ch/2021/12/kuehnels-sonntagseinspruch-viele-programme-wenig-effekte/ https://condorcet.ch/2021/12/kuehnels-sonntagseinspruch-viele-programme-wenig-effekte/#respond Sun, 19 Dec 2021 19:55:45 +0000 https://condorcet.ch/?p=10147

Kühnels Sonntagseinspruch, garstig wie immer, aber gut recherchiert! Viel Vergnügen.

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Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Um Mathematik geht es dabei wohl kaum.

Liebe Mitstreiter

Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat über 20 Jahre nach den großen internationalen Tests, die einen “Schock” auslösten, plötzlich entdeckt, dass es um die mathematischen Kenntnisse von Schülern nicht zum Besten steht. Da muss jetzt ein Zehn-Jahres-Plan “zur Stärkung der mathematischen Bildung” her, um zu retten, was zu retten ist:

https://www.kmk.org/aktuelles/artikelansicht/kultusministerkonferenz-und-deutsches-zentrum-fuer-lehrerbildung-mathematik-vereinbaren-zehnjahres-pr.html

Immerhin stehen gewisse Basis-Fähigkeiten noch drin, sogar das kleine 1×1 und die Bruchrechnung mit Dezimalbrüchen und Prozentrechnung. Aber ohne Taschenrechner sind viele Schülerinnen und Schüler dabei schon völlig hilflos.

Genauer wird festgestellt, dass auch weiterhin in den offiziellen Tests immer nur etwa die Hälfte der Schulkinder und Jugendlichen die KMK-Standards für die Grundschule und die Sekundarstufe I erfüllen, die es schon seit 2004 gibt. Besonders elitär formuliert sind diese Standards bekanntlich nicht, sie werden auch heftig kritisiert als ungeeignet, um Bildung zu beschreiben und Bildungsziele festzulegen. Immerhin stehen gewisse Basis-Fähigkeiten noch drin, sogar das kleine 1×1 und die Bruchrechnung mit Dezimalbrüchen und Prozentrechnung. Aber ohne Taschenrechner sind viele Schülerinnen und Schüler dabei schon völlig hilflos.

Liegt es an den Lehrkräften?

Als Gegenmaßnahme wird eine gewisse Zahl von Millionen Euro für die Lehrerfortbildung bewilligt, weil man davon ausgeht, dass nicht die Schüler, sondern die Lehrer ursächlich für diese Misere sind. Eigentlich sollte man meinen, die Lehrer können die Bruchrechnung durchaus, sie schaffen es nur nicht, dass diese auch in den Köpfen der Kinder ankommt. Da fragt man sich, worin das Hindernis wohl besteht.

Hier verspricht nun das DZLM mit seinen bekannten Protagonisten und mit einer schon länger bekannten Terminologie Abhilfe. Das regelmäßige Ritual

Der Butler serviert die richtigen Rezepte.

der Ankündigung eines neuen Programms der KMK  erinnert mittlerweile an gewisse Filme, die gern am Silvestertag gezeigt werden (“das ist alle Jahre gutgegangen und wird auch dieses Jahr gutgehen”). Angeblich fehlt es nur an der Qualität des Mathematikunterrichts, die jetzt durch “eine umfassende Unterstützung der Lehrkräfte und kohärente Qualitätsmerkmale für die Entwicklung von Matheunterricht” entscheidend gesteigert werden soll. Der Butler serviert die richtigen Rezepte. Aber wer glaubt daran noch?
Frau Prof. Prediger postuliert das, was schon seit 20 Jahren postuliert wird, nämlich ein “tiefgehendes Denken und Verständnis” und nicht nur dieses “Oberflächenlernen” mit “unverstandenen Rezepten”, das laut PISA für den traditionellen Matheunterricht offenbar typisch  war und ist. Die bisherigen Fortbildungsthemen werden hier aufgelistet:
https://dzlm.de/forschung-und-entwicklung/fortbildungsthemen

Aus Sicht eines Mathematikers kommt Mathematik dabei eigentlich nicht explizit vor, es geht mehr um das Eintrainieren der neuen Konzepte “Leitideen” und “Kompetenzen” und natürlich um die Inklusion und die Heterogenität. Ob die “fachfremd Unterrichtenden” im Fach oder in der Kompetenz- und Heterogenitäts-Terminologie (böse Zungen sprechen schon von “Gehirnwäsche”) weitergebildet werden, erschließt sich nicht. Zu befürchten ist das letztere, denn die Formulierung “kompetenter inklusiver Umgang mit Diversität” legt das nahe. Diese sprachliche Entwicklung ist von der UN-Behindertenkonvention abgeleitet: der “inklusive Umgang”. Man kann das Adjektiv “inklusiv” offenbar mit fast jedem Substantiv kombinieren, und das Ergebnis beschreibt fast immer ein neues pädagogisches Konzept, zu dem mit Drittmitteln geforscht werden kann.

Aber was waren die konkreten Effekte auf die Testergebnisse des sog. “Monitorings” durch IGLU, TIMSS, PISA und die IQB-Ländervergleiche sowie auf VerA 3 und VerA 8 ?

Sinus-Programm 2004: Viele Programme, wenig Effekte!

Aber gab es nicht schon seit 1998 das großangelegte “SINUS-Programm” zur Verbesserung des Mathematikunterrichts und der Mathematikkenntnisse von Schulkindern, später als “SINUS-Transfer” bezeichnet:

https://de.wikipedia.org/wiki/SINUS_(Bildung)

Gibt es nicht schon seit langen Jahren die Projekte “Mathe sicher können”, “PikAs”, “Mathe inklusiv mit PikAs”, “KIRA” (Kinder rechnen anders), “primakom”, alle zu bewundern auf der Homepage des DZLM ? In Schleswig-Holstein gibt es neben einem Programm “Lesen macht stark” auch “Mathe macht stark”. Zahlreiche andere Programme gibt es auch noch. Aber was waren die konkreten Effekte auf die Testergebnisse des sog. “Monitorings” durch IGLU, TIMSS, PISA und die IQB-Ländervergleiche sowie auf VerA 3 und VerA 8 ?

Und dann sollen wir glauben, dass dieselben Experten beim DZLM, die schon in den vergangenen 10 Jahren diverse Programme entwickelt haben, nun endlich die richtigen, d.h. erfolgreichen, Rezepte finden werden?

Ich lese überall, dass die Ergebnisse bestenfalls stagnieren und in vielen Fällen und Teilbereichen (auch in etlichen Bundesländern) sich nach unten entwickeln. Und dann sollen wir glauben, dass dieselben Experten beim DZLM, die schon in den vergangenen 10 Jahren diverse Programme entwickelt haben, nun endlich die richtigen, d.h. erfolgreichen, Rezepte finden werden?

Sollen wir glauben, dass die Kultusminister in der KMK die schon bisher die Mathematik eher in Sonntagsreden (“Für alle Kultusministerien hat die mathematische Bildung unserer Kinder und Jugendlichen sehr hohe Bedeutung”, so die Präsidentin der KMK) als in der praktischen Schulpolitik hochgehalten haben, nun endlich begriffen haben, was dem Mathematikunterricht fehlt?

Es gibt bereits jetzt 53 “Kompetenzteams” zur Lehrerfortbildung allein in NRW, allerdings nicht nur für Mathematik.

Man darf wohl sehr skeptisch sein. Schließlich wurde in mehreren Bundesländern schon ein eigenes Landesinstitut für Lehrerfortbildung  gegründet (so in Bremen, Berlin, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg), aber von der Wirkung hört man nichts. Es gibt bereits jetzt 53 “Kompetenzteams” zur Lehrerfortbildung allein in NRW, allerdings nicht nur für Mathematik:

https://www.lehrerfortbildung.schulministerium.nrw.de/Fortbildung/Kompetenzteams/

Was wäre wohl Mephisto eingefallen?

Der Grübler und Skeptiker Faust bekannte in dem gleichnamigen Drama von Goethe: “Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.” Auf Götter wird man beim Mathematikunterricht kaum hoffen können, und der Teufel steckt auch bei der Mathematik – wie so oft – im Detail. Wie Mephisto die neuen Aktivitäten der Lehrerfortbildung zur Mathematik kommentiert hätte, werden wir allerdings nie erfahren, zumal Goethe – trotz seiner sonst umfassenden Bildung – kein Freund der Mathematik war. Zum Glück ist trotzdem etwas aus ihm geworden.
Ich bin aber sicher: Mephisto wäre eine passende Formulierung  eingefallen, treffender als alles, was ich hier schreiben kann. Überlegen Sie selbst nach ein paar Gläsern eines zur Jahreszeit passenden Getränks.

In diesem Sinne wünscht einen schönen vierten Advent sowie einen coronafreien Übergang ins neue Jahr

Wolfgang Kühnel

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Der Sonntagszwischenruf von Wolfgang Kühnel: Heute – Enrichment! https://condorcet.ch/2021/05/der-sonntagszwischenruf-von-wolfgang-kuehnel-heute-enrichment/ https://condorcet.ch/2021/05/der-sonntagszwischenruf-von-wolfgang-kuehnel-heute-enrichment/#comments Sun, 02 May 2021 09:43:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=8428

In diesem Sonntagszwischenruf von Wolfgang Kühnel geht es um die "Begabtenförderung" bzw. um das, was man offenbar neuerdings dafür hält. Das neue Zauberwort lautet "Enrichment", schon gewusst? Das klingt doch allein schon gut, weil es aus dem Englischen kommt und ihm nicht der Mief eines deutschen Gymnasiums wie in der "Feuerzangenbowle" anhaftet.

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Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Erst tüchtig entrümpeln und sich dann wundern, dass Begabte sich langweilen

Es wird selbst von Schulministerien nicht mehr verschwiegen: Es gibt  sogenannte “begabte” Schülerinnen und Schüler, die im normalen Schulunterricht unterfordert sind. In der Grundschule war das schon immer ein Problem, das aber lange zugunsten einer “Förderung der Schwachen” und einer angestrebten “Bildungsgerechtigkeit” vernachlässigt wurde. Jahrzehntelang pflegte man begabte Kinder nach der Grundschule auf  geeignete Gymnasien zu schicken. Dass dennoch einige dort noch unterfordert waren, kam eher selten vor und wurde im Einzelfall durch das Überspringen einer Jahrgangsstufe gelöst, durchaus im Sinne des heutigen “G8-Gymnasiums”. Eine institutionalisierte Begabtenförderung war nicht gesondert vorgesehen, aber es gab freiwillige schulische Arbeitsgemeinschaften außerhalb des regulären Unterrichts, auch zu Fremdsprachen und zu Naturwissenschaften, traditionell auch Chor und Orchester sowie Rudern oder andere Sportarten.

Die “Entrümpelung”

In der Zeit von 1970 bis heute hat man allerdings die Ansprüche an die  Gymnasiasten heruntergefahren bei gleichzeitiger Ausweitung auf immer  höhere Anteile von Gymnasiasten an ihrem Jahrgang. Das ist an Schulbüchern abzulesen und wurde auch in den Lehrplänen durch das sogenannte “Entrümpeln” bewerkstelligt. Man entrümpelte Stoff aus dem Regelunterricht, weil man ihn für entbehrlich erklärte. Gerade das Fach Mathematik wurde oft als “zu schwierig” empfunden und sollte daher (als politische Vorgabe) vereinfacht werden.

Das begann schon in der Grundschule: Heutige Bildungspläne sehen keine schriftliche Division von Zahlen als Pflicht mehr vor, das gilt als “zu schwierig”. Das kleine 1×1 gibt es noch, aber es hat den Anschein, als würde es nicht mehr konsequent verlangt, sondern nur noch behandelt. Dasselbe könnte für die Bruchrechnung zutreffen. Als Ergebnis gibt es sogar Abiturienten mit bestandenem Abitur, die mit beidem Schwierigkeiten haben. In der Mittel- und Oberstufe wurde vieles an Mathematik “entrümpelt”, so auch der Grenzwertbegriff, auf dem die  gesamte Differential- und Integralrechnung basiert. Auch die “begabten” Schüler erfahren davon im normalen Unterricht nichts mehr. Aber dennoch wird eine Förderung auch der “begabten” Schüler heute nahezu überall postuliert, sogar in Berlin mit seiner insgesamt etwas maroden Schullandschaft:
https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/foerderung/begabungsfoerderung/

Begabtenförderung ist angesagt

Es heißt: “Dieser Zielsetzung liegt ein dynamischer, mehrdimensionaler Begriff von Begabung zugrunde.” Die Frage allerdings, wer als “begabt” zu gelten hat, wird dabei blumig umschrieben, so gibt es die “intellektuelle, sportliche, musische und soziale Begabung”. Allerdings war es wohl schon immer so, dass sich die Sportler und Musiker in Sportvereinen und Musikschulen tummelten, wo sie eigentlich ausreichend versorgt wurden. Wieso “sozial Begabte” sich im normalen Unterricht langweilen können, leuchtet nicht unmittelbar ein. Aber das Wort “sozial” klingt ja immer gut in offiziellen Dokumenten von Schulministerien.

Beschäftigt, damit sie sich nicht langweilen

Speziell was man denen dann konkret als Themen und Lernziele anbieten soll, wird im Internet selten genauer beschrieben. Verständlicherweise will man nicht für begabte Schüler Schulstoff vorwegnehmen, den alle dann später ohnehin bearbeiten sollen. Als Hauptmaßnahmen gelten heute “Akzeleration” und “Enrichment”. Das erste bedeutet ein schnelleres Durchlaufen der Schule, das zweite beschreibt in etwa, dass man begabte Schüler mit einem bunten Kaleidoskop von allem und jedem beschäftigt, damit sie sich nicht langweilen. Die Wichtigkeit der jeweiligen Themen allerdings ist höchst fraglich. Als Teil des normalen Schulstoffs stünden die vermutlich auch zum “Entrümpeln” an. Viel sinnvoller wäre doch, man böte ihnen das an, was aus den Lehrplänen “entrümpelt” wurde. Speziell in der Mathematik gibt es eigentlich kaum wirklich entbehrliches “Gerümpel”, man hat das aus durchsichtigen Gründen nur so genannt. Den “entrümpelten” Teil der Mathematik könnte man älteren Schulbüchern entnehmen. Wie ich höre, werden in Berlin noch gelegentlich alte, zerfledderte Mathematikbücher aus DDR-Zeiten kopiert. Man wird wissen, warum.

Erlebnispädagogische Kursmodule
Hier wird ausnahmsweise mal was Näheres zu den Enrichment-Themen gesagt, das ist ein G9-Gymnasium in NRW, das sich stolz nach Konrad Adenauer benennt:
https://old.kag-langenfeld.de/node/546
Da werden die Themengebiete des “Enrichment-Kurses” für das 6. und 7.  Schuljahr aufgelistet, sog. “erlebnispädagogische Kursmodule”. Alles ist von normalen Schulfächern weit entfernt außer das Thema “Widerstand im Nationalsozialismus”, das normalerweise im Geschichtsunterricht der Oberstufe behandelt wird (und damit vielleicht eine Vorwegnahme wäre) und vielleicht für die 11–12-Jährigen doch nicht optimal geeignet ist. Um sich mit “Graffiti” oder “Doping im Leistungssport” auseinanderzusetzen, warum soll man da “begabt” sein?  Könnte das nicht praktisch jeder?

Immerhin gibt man zu, dass auch eine “Vernetzung unter ‘Gleichgesinnten'” wichtig ist, was ein bisschen der herrschenden Ideologie vom Nutzen der Heterogenität und der damit verbundenen Verhinderung von Elitebildung widerspricht.

Immerhin gibt man zu, dass auch eine “Vernetzung unter ‘Gleichgesinnten'” wichtig ist, was ein bisschen der herrschenden  Ideologie vom Nutzen der Heterogenität und der damit verbundenen Verhinderung von Elitebildung widerspricht. Die beste Vernetzung wäre in meinen Augen eine gezielte Anreicherung der begabten Schüler in speziellen Schulen oder Schulklassen, also das Gegenteil des einheitlichen Schulsystems, das zwangsläufig eine Ausdünnung statt Anreicherung zur Folge hätte.

An einem Berliner Gymnasium wird u.a. das Bauen eines Musikinstruments “Cajon” als Enrichment angeboten. Tatsächlich handelt es sich aber nur um einen Holzkasten, auf dem dann getrommelt werden kann. Begabte Musiker (auch Schlagzeuger) werden da nur müde lächeln.

Warum nicht: Ellipsen, Hyperbeln, Beweise in der Geometrie der Mittelstufe, Darstellende Geometrie, Algebra als sog. “Buchstabenrechnen”,  Polynomdivision, algebraische Gleichungen usw., ganz zu schweigen von dem reduzierten Stoff der Oberstufe.

Auch Wikipedia merkt an: “Enrichment in der Schule ist nicht unumstritten, da die Programme oft nicht auf die Schüler und ihre Interessen ausgerichtet sind, sondern sich in reinen Beschäftigungsmaßnahmen erschöpfen.” An anderer Stelle wird es als Problem erkannt: “… weil zwischen dem System ‘Schule’ und dem System ‘Enrichment’ keine oder wenig Synergien entstehen.”

Polynomberechnung statt eine Trommel bauen

Was hat man denn für mathematisch Interessierte anzubieten? Auch ein Kurs “Mathematische Formen im Alltag” klingt mehr nach “Alltagsmathematik”, “mathematical literacy” und “Kompetenzorientierung”  als nach dem, was in den vergangenen Jahrzehnten alles “entrümpelt” wurde: Ellipsen, Hyperbeln, Beweise in der Geometrie der Mittelstufe, Darstellende Geometrie, Algebra als sog. “Buchstabenrechnen”,  Polynomdivision, algebraische Gleichungen usw., ganz zu schweigen von dem reduzierten Stoff der Oberstufe.

Dasselbe gilt für das, was aus dem Geschichtsunterricht “entrümpelt” wurde, der zugunsten von “Gesellschaftskunde” reduziert wurde. Das Thema “antike Mythen” und die “Olympischen Spiele der Antike” gehören vielleicht dazu, aber es sei daran erinnert, dass die antike Geschichte heutzutage auch mal ganz in den Latein- und Griechischunterricht ausgelagert wird (natürlich zu Lasten des eigentlichen Sprachunterrichts), so jedenfalls in Berlin.
Ein anderes Beispiel eines Berliner Gymnasiums https://hcg-berlin.de/lbb offenbart Verblüffendes: Die Innengestaltung der Mensa wird in der “inklusiven Schulkultur” zum Thema der Begabtenförderung gemacht. Von dem aus dem Mathematikunterricht “entrümpelten” Stoff ist nicht die Rede, wohl aber von “künstlicher Intelligenz”, so als könne man das mal eben en passant behandeln. Es kann natürlich sein, dass einige Lehrer hier einfach ihre Steckenpferde reiten, was ja auch legitim ist. Und es ist gerade in Berlin dringend anzunehmen, dass die ganze Sache von der Schulverwaltung oder dem zuständigen Staatssekretär nicht genehmigt würde, wenn etwa zugegeben würde, dass das “Entrümpeln” beim Übergang von G8 zu G9 vielleicht doch nicht so ideal war. Vielmehr muss alles einen “sozialen Aspekt” bekommen. Spötter könnten sagen, die begabten Schüler sollen sich weniger an der Wissenschaft als vielmehr an Mutter Teresa orientieren und mehr “Sozialkompetenz” entwickeln.

Auch in der Schweiz gibt es diese “Enrichmentangebote:

http://www.begabungsfoerderung-schweiz.ch/sites/default/files/publications/inklusion_und_schoolwide_enrichment_mueller-oppliger.pdf

Dass im Standardfall die Begabung mehr oder weniger offensichtlich ist, einfach durch besonders gute Leistungen, das will man wohl lieber nicht zugeben.

Da ist die Rede von der “inklusiven Begabungsförderung”, ja überhaupt scheint das ein Teil der neuen “Inklusion” zu sein. Man macht sogar eine Wissenschaft daraus mit einem Masterstudiengang “Integrative Begabungs- und Begabtenförderung” (Pädagogische Hochschule Nordwestschweiz). Da geht es dann auch um “diagnostische und didaktische Kompetenzen zum Erkennen und Fördern besonderer Begabungspotenziale”. Dass im Standardfall die Begabung mehr oder weniger offensichtlich ist, einfach durch besonders gute Leistungen, das will man wohl lieber nicht zugeben. Das wäre ja zu einfach, denn das wussten selbst Volksschullehrer schon seit 100 Jahren oder mehr. Stattdessen schickt man sich an, die versteckten Begabungen zu diagnostizieren und zu fördern. Vermutlich kommen bei diesem Inklusions-Eifer dann aber die “offensichtlichen” Begabungen, etwa im Bereich der Mathematik, zu kurz. Mathematik ist ja ohnehin unbeliebt, wer trotzdem einen Hang dazu hat, gilt leicht als “Spinner ohne Sozialkompetenz”.

Erst sorgt man dafür, dass sich begabte Schüler langweilen, und dann muss man ihnen irgendetwas Besonderes (eben das Enrichment) anbieten, um das wieder auszugleichen.

Hier verblödet ein Genie

Zusammenfassend weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll: Erst senkt man (in Deutschland) jahrzehntelang gerade an Gymnasien das Niveau auf breiter Front ab, und dann sieht man sich gezwungen, Gegenmaßnahmen gegen die unerwünschten Folgen einzuleiten. Erst sorgt man dafür, dass sich begabte Schüler langweilen, und dann muss man ihnen irgendetwas Besonderes (eben das Enrichment) anbieten, um das wieder auszugleichen. Spötter verweisen auf den angeblich in zahlreichen altmodischen Pulten eingeritzten Spruch: “Hier verblödete ein Genie.”

In der Hoffnung, dass wirkliche Talente eine gewisse “Resilienz” auch gegen das schulische Verblöden entwickeln mögen, wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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Nachlese zum Mathematikunterricht https://condorcet.ch/2021/03/nachlese-zum-mathematikunterricht/ https://condorcet.ch/2021/03/nachlese-zum-mathematikunterricht/#respond Sun, 14 Mar 2021 14:49:44 +0000 https://condorcet.ch/?p=8037

Während sich in unseren Gefilden die Mathematik zu einem der unbeliebtesten Fächern (nach Französisch) entwickelt, hat sie in den asiatischen Ländern einen ganz anderen Stellenwert. Der Condorcet-Blog berichtete darüber. Nun hat die Basler Zeitung einen Bericht über die Goldmedaillengewinnerin der Schweizer Mathematik-Olympiade veröffentlicht. Sie heisst Yanta Wang und stammt - wie könnte es anders sein - aus China.

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Yanta Wang: Auf jeden Fall nicht Lehrerin!

An der Mathematik-Olympiade können sich mathematikbegeisterte Jugendliche aus der ganzen Schweiz austauschen und messen. Der Wettbewerb besteht aus mehreren Runden sowie zahlreichen Vorbereitungstreffen und einem einwöchigen Lager für die Finalisten. Die Aufgaben sind jeweils in vier Kategorien aufgeteilt: Algebra, Kombinatorik, Geometrie und Zahlentheorie. Vieles davon wird im regulären Gymnasialunterricht nicht mit derselben Aufmerksamkeit behandelt.

Dieses Jahr setzten sich die besten 28 Nachwuchs-Mathematikerinnen und -Mathematiker der Schweiz coronabedingt zu Hause vor ihre Computer und grübelten online um die Wette. Das Finale der Olympiade, bei dem sich Yanta Wang gegen alle anderen durchsetzte, fand vom 14. bis 21. Februar statt.

In China hätte ich an einer solchen Olympiade keine Chance.

«Im Matheunterricht trainiere ich meistens für die Olympiade und folge nicht unbedingt der Lektion», sagt Wang. In den Prüfungen schreibe sie in der Regel Sechsen. Die Schülerin artikuliert zurückhaltend, überlegt ruhig, bevor sie antwortet, und wirkt besonnen. Es sind Eigenschaften, die man vermutlich nicht direkt einer 18-Jährigen zuschreiben würde. Doch obwohl sie den meisten Gleichaltrigen in der Schweiz einen Schritt voraus sein mag, sieht es in ihrem Heimatland China anders aus. «Dort hätte ich keine Chance an einer Mathe-Olympiade», sagt sie. Es gebe in China viel mehr Menschen, ausserdem habe Mathematik dort einen anderen Stellenwert. Wang lebt erst seit ihrem 13. Lebensjahr in der Schweiz.

Mit 13 in die Schweiz gekommen

Die junge Frau besucht das Gymnasium Oberwil im dritten Jahr. Bald wird sie sich auf die Maturaprüfungen vorbereiten. Ihren Schwerpunkt Mathe/Physik hat sie aus purem Interesse gewählt. Denn auch in der Freizeit beschäftigt sie sich mit Naturwissenschaften. Sie schlägt ihrem Vater nach, der bei der Novartis arbeitet. Was sie später einmal beruflich machen möchte, weiss sie noch nicht. Ihre Wunschstudiengänge sind aber Mathematik und Informatik.

Einen Beruf kann Wang allerdings jetzt schon ausschliessen: Sie kann sich nicht vorstellen, Lehrerin zu werden; Dinge zu erklären, liege ihr nämlich nicht. «Wenn meine Klasse mich etwas fragt, dann antworte ich zwar, danach ist sie aber immer noch sehr verwirrt», sagt sie. Für Wang ist es ein Rätsel, weshalb viele Menschen Mathe so sehr verabscheuen. Was kann man gegen diese Abneigung tun? Wang antwortet mit grosser Selbstverständlichkeit: «Man muss versuchen, das Interesse dafür zu finden. Wenn das nicht geht: Grundlagen nochmals anschauen!» Na dann.

Der Artikel stammt von Julia Schwamborn und ist zuerst in der Basler Zeitung erschienen.

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Sprachkompetenz im Mathematikunterricht https://condorcet.ch/2021/03/sprachkompetenz-im-mathematikunterricht/ https://condorcet.ch/2021/03/sprachkompetenz-im-mathematikunterricht/#respond Sun, 07 Mar 2021 14:09:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=7942

Professor Kühnel, emer. Mathematikprofessor in Stuttgart, stellt nicht nur die "Ethnomathematik" (Viel Phraseologie – wenig mathematische Didaktik, 4.3.21) in Frage. In diesem Beitrag wendet er sich auch gegen einen allzu sprachlastigen Mathematikunterricht, der die ohnenhin schon enorme Anpassungsleistung unserer Migrantenkinder zusätzlich erschwert. Der Artikel ist zuerst im Bildungsmagazin Profil erschienen.

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Prof. Wolfgang Kuehnel, Stuttgart: Den Migrankenkindern zu mehr Erfolgserlebnissen verhelfen.

Überall kann man sehen, dass Mathematikaufgaben heute meist mit langen Texten versehen werden, dass Aufgaben zur mathematischen Modellierung viel Kontext erfordern und deren Formulierung eben gute Sprachkenntnisse voraussetzt. Konkret führt das leider dazu (mehr als in anderen Ländern), dass Migrantenkinder in der Schule in Mathematik wegen ‘sprachlicher Hürden’ schlechter abschneiden (siehe Gogolin 2012, Prediger 2013). Warum in aller Welt müssen wir die Migrantenkinder selbst im Mathematikunterricht mit sprachlichen Problemen belasten, von denen es doch schon genug gibt? Sogar in der Presse wurde schon über zu komplizierte Texte mathematischer Abituraufgaben 2015 geklagt: »Besonders für Schüler mit nicht deutscher Muttersprache war das schwierig«, so wird eine Gymnasialdirektorin in Wien zitiert (Kurier 2015).

Warum denn nicht gleich Mathematikaufgaben ohne überflüssigen Text?

Das Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie besagt Folgendes:

»Ein wesentliches Ergebnis dieser Studie war, dass Schülerinnen und Schüler beim Reproduzieren des mathematischen Sinns von Aufgaben, die im Deutschen als Zweitsprache angeboten wurden, deutlich mehr Intensität und Zeit zur Klärung von sprachlichen Detailmerkmalen der zu bearbeitenden Texte verwendeten als die einsprachigen Gleichaltrigen. Während Letztere für die Mathematisierung irrelevante sprachliche Teile der Aufgaben tendenziell unbeachtet ließen (und somit Zeit für mathematisches Tun gewannen), verfolgten Erstere eher die Strategie der Schritt-für-Schritt-Erschließung des Sinns der sprachlichen Darbietung und traten erst nach Abschluss dieser Tätigkeit in die mathematische Arbeit im engeren Sinne über.« (Gogolin 2012, S. 159)

Mit anderen Worten: Wer clever ist, lässt gleich den überflüssigen Text weg und konzentriert sich auf das, was man eigentlich machen soll. Gerüchten zufolge ist das auch der Ratschlag erfahrener Gymnasiallehrer. Den Migrantenkindern fehlt diese Art von Cleverness oft schon allein wegen der Sprache. Ist das nicht unfair? Wozu braucht man die von Gogolin zitierten »irrelevanten sprachlichen Teile«? Etwas sarkastisch formuliert: Erst schafft man ein Problem für die Migrantenkinder (die  man doch eigentlich gar nicht schädigen will, im Gegenteil) durch die bombastischen Texte der angeblichen ‘

Leitfaden zum Textverstehen von Mathematikaufgaben: Ist das nötig?

Modellierungaufgaben’ (vgl. Kühnel 2015), und dann behauptet man, jetzt mehr Sprachförderung in den Mathematikunterricht einbringen zu müssen, natürlich zu Lasten des eigentlichen mathematischen Verständnisses. Warum denn nicht gleich Mathematikaufgaben ohne überflüssigen Text? Gerade ein kalkülmäßiges Bearbeiten von mathematischen Aufgaben ist sprachunabhängig: Jeder kann in seiner Muttersprache rechnen, und es muss immer dasselbe herauskommen, das ist doch schön. Warum sollen türkische Schüler das kleine Einmaleins oder die Regeln des ‘Buchstabenrechnens’ nicht auf Türkisch memorieren? Die Schriftzeichen für die Zahlen und Formeln sind zum Glück international immer dieselben, sogar in chinesischen Lehrbüchern. Sollte es dabei ‘kulturelle Unterschiede’ geben, so sind diese jedenfalls nicht dafür relevant, ob das Ergebnis bzw. der Rechenweg nun stimmt oder nicht. Ganz deutlich wird dies in den berühmten ‘Beweisen’ antiker Geometer, die eine Figur aufmalten und dann ‘Siehe!’ danebenschrieben. Jeder sollte die Figur ansehen und sich dann seinen Beweis selbst zusammenreimen, wobei es selbstverständlich auf eine bestimmte Sprache gar nicht mehr ankam. Das ist wahrhaft ‘internationale Verständigung’, fast so wie bei dem sprachlichen Wunder in der christlichen Mythologie zu Pingsten.

Zusätzlich gibt es dabei auch noch die Gender-Problematik:

»Der weiblichen Gender-Gruppe mit ihrer größeren Sensibilität für Sprache bereitet die sprachliche Ebene immer mehr Probleme als der männlichen« (Jungwirth o.J., S. 8). Also schafft man auch noch Probleme für die Mädchen, ganz im Gegensatz zu der offiziellen Politik, mehr Frauen in die MINT-Fächer zu locken.

Es fallen auch die Worte ‘Schwarzwald’, ‘Bedarfsspitzen’ und ‘Verbrauchseinbrüche’. Außerdem wird auf die Austrocknung des Aralsees Bezug genommen sowie auf den Baumwollanbau in Usbekistan.

Schön wäre es eigentlich, wenn die Schulbücher zur Mathematik darauf Rücksicht nähmen und sprachliche Probleme auf ein Mindestmaß reduzieren würden. Aber das Gegenteil ist der Fall: Schulbücher erzählen immer buntere Geschichten über alles und jedes, wobei diejenigen benachteiligt sind, die sprachlich eben nicht gut sind. In dem verbreiteten Buch (Elemente 2010) wird in der Einleitung des Kapitels 5 zur Integralrechnung über eine Seite lang erläutert, was ein Pumpspeicherkraftwerk tut. Müssen wir alle dieses Wort kennen? Es fallen auch die Worte ‘Schwarzwald’, ‘Bedarfsspitzen’ und ‘Verbrauchseinbrüche’. Außerdem wird auf die Austrocknung des Aralsees Bezug genommen sowie auf den Baumwollanbau in Usbekistan. Auch ein Hybridauto darf zur Motivation des Integralbegriffs nicht fehlen. Alles geschieht in guter Absicht, aber ob das nicht mehr ablenkt als nützt? Gelegentlich wird sogar behauptet, der Mathematikunterricht müsse quasi eine Art von »Fortsetzung des Deutschunterrichts mit anderen Mitteln« sein und zur Sprachförderung Entscheidendes beitragen. Das kostet natürlich Zeit, die anderswo fehlt.

Auch hat PISA 2012 ergeben, dass die mathematischen Kenntnisse der getesteten Schüler in Griechenland und in der Türkei durchschnittlich um mehr als 60 Punkte hinter denen in Deutschland zurückfielen (Migranten mitgezählt), was enorm viel ist, nämlich ein bis zwei Schuljahre. Ob das an mangelnder Sprachförderung der griechischen bzw. türkischen Schüler gelegen hat?

Bei einem Weiterbildungskurs (DZLM 2014) postuliert man wörtlich:

»… Daher ist Sprachförderung im Mathematikunterricht ein bedeutsamer Faktor zur Reduktion herkunft- und sozialbedingter Leistungsdisparitäten«.

Sprachförderung durch Mathematik?

Diese Behauptung übersieht geflissentlich, dass man diese Art von Disparitäten zum guten Teil selbst erst geschaffen hat, und es klingt fast so, als hätte es riesige Leistungsdisparitäten im Fach Mathematik nicht schon immer gegeben, auch innerhalb des klassischen Gymnasiums und innerhalb einer relativ homogenen sozialen Schicht, bei der von sprachlichen Defiziten keine Rede sein konnte. Auch hat PISA 2012 ergeben, dass die mathematischen Kenntnisse der getesteten Schüler in Griechenland und in der Türkei durchschnittlich um mehr als 60 Punkte hinter denen in Deutschland zurückfielen (Migranten mitgezählt), was enorm viel ist, nämlich ein bis zwei Schuljahre. Ob das an mangelnder Sprachförderung der griechischen bzw. türkischen Schüler gelegen hat?

Das alles ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Mathematiknote heutzutage eben tatsächlich nicht mehr allein  von mathematischen Fähigkeiten abhängen soll, und das nicht nur in der Grundschule, sondern sogar beim Gymnasium. Ein schönes Beispiel ist die Formulierung der Bildungsziele in der gymnasialen Oberstufe in Hamburg (Bildungsplan 2009), wo  es auf S. 25 explizit heißt: »Die für ein Semester vergebenen Gesamtnoten dürfen sich nicht überwiegend auf die Ergebnisse der Klausuren und der ihnen gleichgestellten Leistungen beziehen.« Stattdessen werden eine ganze Seite lang andere Bewertungskriterien aufgelistet, von denen etliche den sogenannten ‘soft skills’ zuzurechnen sind, etwa ‘Einhaltung von Gesprächsregeln’, ‘Übernahme der Verantwortung für den eigenen Lern- und Arbeitsprozess’, ‘Integration der eigenen Arbeit in Gruppenarbeit’, ‘Medieneinsatz’, ‘Zeitplanung’, ‘Kommunikation und Kooperation’ usw.

So gesehen scheint die vielbeschworene ‘Kompetenzorientierung’ unter anderem zur Folge zu haben, dass bei jedem Schulfach gewisse Standardkompetenzen eingehen, die mit dem Fach selbst gar nichts direkt zu tun haben. Ob das ursprünglich beabsichtigt war, als man sich über Kompetenzen Gedanken machte? So scheint das ganz offiziell dazu zu führen, dass Sozial- oder kommunikative Kompetenz in praktisch jedem Schulfach zu besseren Noten führt. Das aber ist im Fach Mathematik doch sehr fragwürdig: Was mathematisch nicht stimmt, wird durch noch so viel kommunikative Kompetenz nicht besser. Populär ausgedrückt: Mathematik ist nun einmal ein Fach, bei dem man nicht ‘drumherum schwätzen’ kann (gewiss keine neue Erkenntnis, aber doch wert, mal wieder in Erinnerung gerufen zu werden). Vergessen wird oft, dass der Mathematikunterricht u.a. auch auf das Denken und spezifisch auf das logischen Denken und logische Schließen zielt, im Gegensatz zu etlichen anderen Fächern. Die sogenannte ‘Bildungssprache’ (academic language) steht dagegen gar nicht im Fokus. Im Prinzip genügt eine schlichte Sprache mit schnörkellosen, nicht verschachtelten Sätzen und mit einem Standard-Vokabular, um in der Mathematik fast alles Relevante auszudrücken. Im Gegensatz dazu spricht man von ‘Hürden auf Wortebene’ und von hinderlicher ‘Komplexität von Satzstrukturen’ (Prediger 2013).

Negativ ausgedrückt: Die neue Betonung des Sprachlichen im Mathematikunterricht könnte dazu führen, dass man jetzt eben doch bei der Mathematik drum herumschwätzen und damit ausreichende oder bessere Noten bekommen kann. Wie man hört, werden nicht selten ‘Präsentationen’ und Referate dazu genutzt, fehlende Punkte auszugleichen, denn eine Präsentationsprüfung wird selten mit einer Note schlechter als ‘befriedigend’ benotet. Am Ende kann es sich ruinös auf das mathematische Niveau auswirken, wenn viele versuchten, auf diese Weise ‘durchzurutschen’. Und es benachteiligt gerade diejenigen, die mathematisch gut, aber sprachlich nicht gut sind. Muss das sein?

In der Kürze liegt die Würze, und Übersichtlichkeit ist eine Tugend! Schließlich ist die Formelsprache eine geniale und international verbindende Möglichkeit zu kommunizieren.

Die Migrantenkinder würden es uns vielleicht danken, wenn sie ausnahmsweise einmal nicht schon deshalb ins Hintertreffen geraten, weil ihr Deutsch nicht perfekt ist.

Positiv formuliert: Es sollte doch möglich sein, die Mathematik als Fach sui generis zu betrachten und nicht unnötigerweise mit Sprachproblemen zu belasten. In maßvollem Umfang sind Textaufgaben zu Anwendungen selbstverständlich auch willkommen, aber: In der Kürze liegt die Würze, und Übersichtlichkeit ist eine Tugend! Schließlich ist die Formelsprache eine geniale und international verbindende Möglichkeit zu kommunizieren. Die Migrantenkinder würden es uns vielleicht danken, wenn sie ausnahmsweise einmal nicht schon deshalb ins Hintertreffen geraten, weil ihr Deutsch nicht perfekt ist. Aktuell könnten vielleicht aufgeweckte Flüchtlingskinder beim Fach Mathematik erste Erfolgserlebnisse in der Schule haben, auch wenn ihr Deutsch noch sehr mager ist. Gönnen wir es ihnen doch. Möglicherweise werden so – auch unter den Nicht-Migranten – mehr mathematische Talente entdeckt, die eben nicht zugleich auch sprachliche Talente sind. Der pädagogische Traum, durch geeignete Förderung sämtliche Leistungsunterschiede im Bereich der Mathematik einzuebnen, dürfte wohl ohnehin unerfüllbar sein, Sprache hin – Sprache her.

Wolfgang Kühnel (* 1950) ist ein deutscher Mathematiker, der sich mit Differentialgeometrie und kombinatorischer Topologie beschäftigt. Er ist Autor von über 80 wissenschaftlichen Publikationen und Verfasser eines Standardlehrbuchs der Differentialgeometrie. Der Artikel erschien zuerst im Magazin PROFIL (Deutschland).

Literaturangaben:

Bildungsplan 2009: Bildungsplan gymnasiale Oberstufe Mathematik. Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg, 27 Seiten, www.hamburg.de/content- blob/1475206/data/mathe- matik-gyo.pdf

DZLM 2014: Weiterbildungskurs zur Sprachförderung im Ma- thematikunterricht, www.dzlm.de/fort-und-weiterbildung/kurse/sprachförderung-im-mathematikunterricht

Elemente 2010: Heinz Griesel et al. (eds.), Elemente der Mathematik für die Kursstufe in Baden-Württemberg. Schroe- del-Verlag, ISBN 978-3-507-87951-5

Gogolin 2012: Ingrid Gogolin, Sprachliche Bildung im Mathematikunterricht. In: Mathematikunterricht im Kontext von Realität, Kultur und Lehrerprofessionalität (W. Blum, R. Borromeo Ferri, K. Maaß, Hrsg.), Festschrift für Gabriele Kaiser, Springer Spektrum, S. 157-165

Kühnel 2015: Wolfgang Kühnel, Modellierungskompetenz und Problemlösekompetenz im Hamburger Zentralabitur zur Mathematik. Math. Semesterberichte 62 (2015), 69-82

Kurier 2015: http://kurier.at/lebensart/familie/zentralmtura-so-waren-die-mathema- tikklausuren/129.817.452

Prediger 2013: Susanne Prediger, Sprachmittel für mathematische Verstehensprozesse – Einblicke in Probleme, Vorgehensweise und Ergebnisse von Entwicklungsstudien, siehe: www.mathematik.uni- dortmund.de/~prediger/vero- eff/13-Prediger-MNU-FL- MuM_Sprachmittel.pdf

 

 

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