Kant - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 23 Feb 2023 16:30:38 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Kant - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Immanuel Kant über Pädagogik https://condorcet.ch/2022/04/immanuel-kant-ueber-paedagogik/ https://condorcet.ch/2022/04/immanuel-kant-ueber-paedagogik/#comments Tue, 05 Apr 2022 11:09:24 +0000 https://condorcet.ch/?p=10758

Die Pädagogik verdankt dem «Kopernikus der Philosophie» viele Anregungen, die auf Theorie und Praxis der Erziehung fruchtbringend gewirkt haben. Trotzdem konnte die menschliche Natur noch nicht in der optimistischen Form entwickelt werden, wie sie Kant für die Menschheit als angemessen vorschwebte. Unser Haushistoriker Peter Aebersold berichtet, wie sich Kant in seinen pädagogischen Lehren von Rousseau und Montaigne beeinflussen liess. «Rousseaus Buch dient die Alten zu bessern», sagte er bewundernd zu seiner Lieblingslektüre «Emile».

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Der Erziehungsroman von Rousseau: Kants Lieblingslektüre.

Philosophische Pädagogik

Während seiner akademischen Vorbereitungsjahre war Kant als Hauslehrer tätig, was auch seine späteren pädagogischen Gedankengänge beeinflusste. Aus der Verpflichtung der Universität Königsberg, dass jeder Professor der Philosophie auch Vorlesungen über Pädagogik zu halten hatte, entstand die Schrift «Über Pädagogik». Sein Schüler Friedrich Theodor Rink hatte Kants Vorlesungen nachgeschrieben und 1803 unter dem Titel «Immanuel Kant über Pädagogik» veröffentlicht.  In seiner Pädagogik ging Kant von Rousseau und den Philanthropen aus und entwickelte daraus eine philosophische Pädagogik: 1764 schrieb er, «dass das noch unentdeckte Geheimnis der Erziehung dem alten Wahn entrissen werde, um das sittliche Gefühl frühzeitig in dem Busen eines jeden jungen Weltbürgers zu einer tätigen Empfindung zu erhöhen».

Erzieherisches Credo

Die Erziehung war für ihn der Motor des kulturellen Aufstiegs der Menschheit, als dominierende Kraft für die Sittlichkeit des Einzelnen und der Gesamtheit. Daraus folgt Kants erzieherisches Credo: «Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss … der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht … Vielleicht, dass die Erziehung immer besser werden, und dass jede folgende Generation einen Schritt näher tun wird zur Vervollkommnung der Menschheit … Von jetzt an kann dieses geschehen. Denn nun fängt man an, richtig zu urteilen und deutlich einzusehen, was eigentlich zu einer guten Erziehung gehöre. Es ist entzückend, sich vorzustellen, dass die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und dass man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist. Dies eröffnet uns den Prospekt zu einem künftigen glücklicheren Menschengeschlechte.»

Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss… der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung.

Erziehung durch den Mitmenschen

Ein Tier braucht dank seines vererbten Instinkts keine Unterweisung. Der Mensch jedoch muss die «Tierheit» in sich in die «Menschheit» umwandeln, er muss anstelle des triebhaften Verhaltens die Vernunft setzen und er ist nur «menschlich», wenn er den Gesetzen der Vernunft folgt. Dazu brauche es in der Kindheit, in der Körper und Geist des Menschen noch hilflos sind, einer Erziehung durch Mitmenschen, die sich aus Pflege, Disziplin und Unterweisung nebst der Bildung zusammensetzt. Der beste Erzieher werde immer der sein, der selbst gut erzogen ist. Mit grosser Umsicht und Liebe könne der Zögling soweit gebracht werden, dass er seinen Erzieher übertrifft. So könne der Mensch von einer Generation zur anderen einen Schritt zur Vollkommenheit tun. Eine ideale Erziehung müsse alle Möglichkeiten des Menschen zutage fördern, nur eine weitgehend uneingeschränkte Selbstentfaltung scheine dem Zweck des menschlichen Daseins angemessen.

Bei seiner Geburt ist der Mensch noch kein moralisches Wesen, das Gute muss zuerst entwickelt werden.

Moralische Erziehung zur Verbesserung der Menschheit

Bei seiner Geburt ist der Mensch noch kein moralisches Wesen, das Gute muss zuerst entwickelt werden. Weil das so schwer ist, sieht Kant die Erziehung als das grösste Problem und das schwerste, das dem Menschen aufgegeben werden könne.

Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, dass sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand hervorgebracht werde.

Sie (die Eltern) sollten sie besser erziehen.

Die Menschheit komme hier nur langsam voran und falle oft in die Rohheit zurück, woraus sie sich nur mit Mühe wieder erhebe: «Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, dass sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand hervorgebracht werde.» «Man darf nicht hoffen, dass die Regierungen, gleichsam von oben her, eine gerechte Weltordnung zustande bringen werden; wir sind vielmehr auf die «Privatbemühungen» verwiesen, und jeder, der die Erziehung im Elternhaus und Schule fördert, trägt zu allgemeinen Verbesserung bei». Es genüge nicht, für die Schule zu erziehen, der wahre Erzieher erziehe für das Leben, dazu gehöre die «Erziehung zur Persönlichkeit».

Einfügen in die Gemeinschaft

Der beste Erzieher werde immer der sein, der selbst gut erzogen ist.

Wenn der Zögling sich in die Gemeinschaft der Menschen einfügen soll, muss er lernen, mit dem Guten und Bösen in der Welt fertig zu werden. Um das Gute tun zu können, bedürfen wir der Einsicht und deshalb ist die Ausbildung unserer Vernunft auch die Schulung der Moralität. Die sittlichen Grundsätze muss der Mensch in sich selber finden, durch Strafe oder Diktat wird keine Humanität verankert. In der Erziehung geht es vor allem darum, einen «Charakter zu bilden». Charakter besitzt nur der aufrechte Mensch, der nicht von den Eltern bestraft oder gezwungen wurde. Je mehr die Persönlichkeit im Kinde geachtet werde, umso wahrhaftiger, offenherziger, geselliger und heiterer werde es sein.

Würde des Menschen nicht verleugnen

Der Mensch müsse den Kampf gegen seine Leidenschaft aufnehmen und sein Leben im Sinne einer weisen Mässigkeit einrichten, nach dem stoischen Grundsatz: «Dulde und entbehre!». Es sei unsere Pflicht, die «Würde des Menschen in unserer eigenen Person nicht zu verleugnen.» Masslosigkeit, Laster, sklavische Gesinnung und unwürdiges Benehmen würden in uns selbst die Menschheit beleidigen. Hier mündet Kants Pädagogik in die Ethik, aus der sie hervorgegangen ist. Die Pädagogik als «ethische Praxis» führt die Erziehung zum «Kategorischen Imperativ», der in der «Kritik der praktischen Vernunft», Kants ethischen und moralphilosophischen Hauptwerk, der Schlüssel zum sittlichen Verhalten darstellt. Nur wer im anderen Menschen und in sich selbst die Person achtet, ist wahrhaft frei. Freiheit ist nur möglich bei gegenseitiger Achtung vernünftiger Wesen: «Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eine jeden anderen jederzeit als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest.»

Quellen:

https://de.wikisource.org/wiki/%C3%9Cber_P%C3%A4dagogik «Immanuel Kant über Pädagogik» (online Buch)

https://catalog.hathitrust.org/Record/101816726 «Immanuel Kant über Pädagogik» (online Buch, Original in Fraktur)

https://de.wikipedia.org/wiki/Immanuel_Kant Leben und Werk

 

 

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Was dürfen wir hoffen? https://condorcet.ch/2022/03/was-duerfen-wir-hoffen/ https://condorcet.ch/2022/03/was-duerfen-wir-hoffen/#comments Wed, 16 Mar 2022 08:17:12 +0000 https://condorcet.ch/?p=10668

Der Krieg in der Ukraine kommt auch bei uns in die Kinderzimmer und in die Schulstuben. Via Medien. Die Bilder belasten. Was können Lehrerinnen und Pädagogen tun? Um standhalten und Halt geben zu können, braucht es ein geistiges Fundament, ist Condorcet-Autor Carl Bossard überzeugt.

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Carl Bossard: Lehrerinnen und Pädagogen sind für manche Kinder die einzigen Ansprechpersonen.

Bilder haben Macht. Das spüren Lehrerinnen und Lehrer im Gespräch mit ihren Schülerinnen und Schülern in diesen Tagen ganz besonders. Über YouTube, TikTok und andere soziale Netzwerke sind Kinder und Jugendliche direkt mit dem Ukrainekonflikt konfrontiert. Oft sind sie dabei allein. Das Gesehene tragen sie in den Unterricht. Es belastet und bedrückt sie. «Kommt der Krieg auch zu uns?», fragen sie und wollen wissen: «Warum denn gibt es diese Kämpfe?» Zu Hause bekommen sie auf ihre Fragen nicht selten keine Antwort. Lehrerinnen und Pädagogen sind für manche Kinder die einzigen Ansprechpersonen.

Kants aufklärerische Hoffnung

Doch was sagen Lehrpersonen? Wie reagieren sie? Der Philosoph Immanuel Kant sprach von einer Pflicht zur Zuversicht. Sie gilt gerade in prekären Zeiten. Kinder müssen dies von Erwachsenen vorgelebt erhalten, auch in der Schule. Zuversicht ist etwas anderes als der naive, illusionäre Optimismus. Sie hat nichts zu tun mit dem schnell herbeizitierten positiven Denken oder gar mit dem kitschigen Blick durch die rosarote Brille. Nein, Zuversicht ist das Aufklärungsvertrauen, die geistige Widerstandskraft als menschliche Grundhaltung. Für junge Menschen eine Art mentaler Lebensversicherung und damit grundlegende Ressource des Lebens. Seelische Kräfte leben von dieser Antriebsenergie der Zuversicht.

Vielleicht erinnern sich Lehrerinnen und Lehrer in diesen Tagen an Kants dritte Frage: «Was darf ich hoffen?» Sie bildet zusammen mit «Was kann ich wissen?» und «Was soll ich tun?» die drei Grundfragen der Philosophie. Später hat Kant das lapidare «Was ist der Mensch?» als vierte zusammenfassende Frage hinzugefügt.

Der Königsberger Aufklärer beschreibt die Geschichte als ein qualitatives Fortschreiten, das uns zu hoffen erlaubt. Ich darf hoffen, so sagt er, hoffen, dass es eine Entwicklung zu besserem Leben, weniger Gräuel und Krieg, mehr Möglichkeiten der Entfaltung und neuen Lebenschancen gibt.

Immanuel Kant: Der Königsberger Aufklärer beschreibt die Geschichte als ein qualitatives Fortschreiten, das uns zu hoffen erlaubt

Das Lernen geht durch Brüche hindurch

Kants Grundidee zielt dahin: Die menschliche Evolution ist der Entwicklungsprozess einer Gattung, die lernen kann. Wir Menschen seien lernfähig, betont er. Darin besteht die aufklärerische Hoffnung. Gleichzeitig aber verdeutlicht der Philosoph auch: Dieses Lernen geht durch furchtbare Brüche hindurch, durch entsetzliche Katastrophen. Was dürfen wir angesichts dieser existentiellen und geschichtlichen Erfahrung hoffen? Kant sagt: Wir dürfen hoffen, dass es gut geht. Er hält daran fest trotz der Tatsache, dass die Geschichte auch Rückschläge, Brüche und Beben kennt, wie wir sie im Moment in der Ukraine dramatisch erleben. Der Mensch ist eben ein Wesen, in dem es auch Anlagen zum Bösen gibt.

Zweifache pädagogische Verantwortung

Nicht umsonst spricht die politische Philosophin Hannah Arendt von der doppelten Form der Verantwortung von Eltern und Lehrpersonen. Beide hätten das Kind vor der Welt zu schützen und gleichzeitig die Welt vor dem Kind. Jeder Mensch trüge eben zweierlei in sich, das Gute wie das Destruktive. Darum übernähmen Erzieherinnen und Erzieher «die Verantwortung für beides, für Leben und Werden des Kindes wie für den Fortbestand der Welt». Und beides bedürfe eines Schutzes, die Welt wie das Kind.[1] «Diese beiden Verantwortungen fallen keineswegs zusammen, sie können sogar in einem gewissen Widerspruch miteinander geraten», betont Hannah Arendt weiter und weist so auf die unvermeidliche Ambivalenz der Erzieheraufgabe hin. Eines sei dabei wichtig: «Die Schönheit der Welt muss dem Kind gezeigt werden.» In ihr liegt das Hoffnungsvolle.

Hannah Arendt: Erwachsene müssen Kinder schützen.

«Was darf ich hoffen?», fragt Kant. Hoffnung ist eine Weise der realistischen Sicht auf die Welt, die trotz allem vertraut. Vielleicht trifft der französische Dichter Romain Rolland mit seinem Satz aus dem Michelangelo-Roman das Gemeinte: «Es gibt keinen anderen Heroismus, als die Welt zu sehen, wie sie ist, und sie dennoch zu lieben.» – Wie trivial das ist. Und doch so schwer. Gerade in diesen Zeiten.

Doch Kinder brauchen genau diese Zuversicht. Schule muss angesichts des Erschreckens über Ereignisse wie den Ukrainekrieg eben auch gegenhalten und zur Zuversicht erziehen. Das gehört zu ihrem pädagogischen Auftrag. Die Menschen stärken, die Sachen klären, wie es der Pädagoge Hartmut von Hentig einst ausgedrückt hat.

 

[1] Hannah Arendt (1994), Die Krise der Erziehung, in: Dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München: Piper, S. 266f.

 

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Auf der rechten Suche nach der verloren gegangenen Selbstverständlichkeit https://condorcet.ch/2022/01/auf-der-rechten-suche-nach-der-verloren-gegangenen-selbstverstaendlichkeit/ https://condorcet.ch/2022/01/auf-der-rechten-suche-nach-der-verloren-gegangenen-selbstverstaendlichkeit/#comments Sun, 16 Jan 2022 10:42:44 +0000 https://condorcet.ch/?p=10343

Man kann es als Lesewarnung verstehen, die der Condorcet-Autor Georg Geiger hier ausspricht. Seine Buchbesprechung von Caroline Sommerfelds Erziehungsbuch «Wir erziehen – Zehn Grundsätze» setzt sich überaus kritisch mit dem Inhalt auseinander, den die Ikone der Neuen Rechten der Öffentlichkeit vermittelt. Dabei verkennt Georg Geiger nicht, dass hier durchaus relevante Fehlentwicklungen angesprochen werden. Den Rezepten von Frau Sommerfeld attestiert er aber viel Geschwätzigkeit und einen Hang zu rechtsnationalem Denken.

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Georg Geiger, pens. Gymnasiallehrer, Basel-Stadt.: Für alles Negative sind letztlich die linksgrünen, urbanen Eliten mit ihren «Gleichheits- und Menschheitsbeglückungsutopien» verantwortlich.

Die rechtsintellektuelle Publizistin Caroline Sommerfeld, die sich selbst als «anthroposophische Katholikin» bezeichnet, macht sich auf die Suche nach dem «konservativ-revolutionären Geist» der Reformpädagogik von Maria Montessori, Peter Petersen und Rudolf Steiner, um Grundbegriffe wie «Führung», «Autorität», «Rasse», «Heimat» und «Grenze» neu zu entdecken und markant zu installieren. Ihr Anspruch ist es, wie sie in der Danksagung formuliert, «ein wegweisendes Erziehungsbuch» der Neuen Rechten im deutschsprachigen Raum vorzulegen, das helfen soll, «führungsunfähige» und «verweifelte» Eltern aus ihrem «postmodernen Schlummern» zu wecken und sie hinzuführen zur Wiederentdeckung einer verloren gegangenen Selbstverständlichkeit, die es dann wieder ermöglichen soll, «dass Deutschsein die lebendige Wesensform der Heranzubildenden» wird. Ihre Suche gestaltet sich zu Beginn akademisch belesen, oft geschwätzig und anekdotenhaft, zunehmend kalt und letztlich fanatisch, dass es einem bei der Lektüre graut.

Seit ihrem publikumswirksamen Auftreten an der Frankfurter Buchmesse 2017, als Sommerfeld ihr zusammen mit dem österreichischen Publizisten Martin Lichtmesz verfasstes Buch «Mit Linken leben» vorstellte und Björn Höcke hierzu die Einleitung gestaltete, wird Sommerfeld zu einer intellektuellen Ikone der Neuen Rechten heraufstilisiert. Besonders pikant an ihrer Biographie scheint zu sein, dass sie mit dem linksintellektuellen Germanisten Helmut Lethe liiert ist, mit dem sie drei Kinder hat. Sommerfeld kokettiert auch auf der ersten Seite ihres Erziehungsbuches in der Danksagung mit dieser Les-extrèmes-se-touchent-Beziehung: «Allen voran ist mein Mann zu nennen, der auch als 68er nie ein Antiautoritärer war und der sich stets nach Form sehnt wie ich.»

Besonders pikant an ihrer Biographie scheint zu sein, dass sie mit dem linksintellektuellen Germanisten Helmut Lethe liiert ist, mit dem sie drei Kinder hat.

Caroline Sommerfeld-Lethen (geb. Sommerfeld; * 1975 in Mölln)[1] ist eine deutsche Philosophin und Publizistin: Die Grenzen wiederentdecken.
Nun, nach welcher Erziehungsform sehnt sich Sommerfeld mit ihren zehn Grundsätzen in ihrem appellativen Erziehungsbuch «Wir erziehen»? Sie bezieht sich hauptsächlich auf die Reformpädagigik von Maria Montessori (1870-1952), Peter Petersen (1884-1952) und Rudolf Steiner (1861-1925): «Die seinerseits konservativ-revolutionäre, lebensphilosophische Kultur- und Modernekritik der im Grunde ‘rechten’ Reformpädagogik ist mit dicken Schichten linker Freiheits-, Gleichheits- und Grenzenlosigkeitsvorstellung überpinselt worden. Ich habe also an diesen Schichten zu kratzen begonnen. Hervor traten – kaum gebraucht, fast neu – Grundbegriffe wie Führung, Distanz zwischen Kind und Erwachsenen, Autorität, Gemeinschaft und Heimat sowie ein ausserordentlich inspirierender Zugriff hinauf in geistige Höherentwicklung, der die Selbsterziehung des Erwachsenen einbegreift. Am vorläufigen Ende meiner Grabungsarbeit trat mir das vor Augen, was uns seit der Jahrtausendwende fehlt: die Wiederentdeckung der Grenze und damit überhaupt erst die Möglichkeit der Erziehung.»

Sommerfeld: Wir erziehen: Das Übel sind die «68er Pädagogen».

Damit ist der grosse Bogen von der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum politischen Erweckungserlebnis der Identitären Rechten 2015 mit den offenen Grenzen der deutschen Asylpolitik geschlagen. Sieglinde Jornitz kommentiert in ihrer differenzierten Buchkritik «Form und Inhalt. Über Erziehungsvorstellungen in Sommerfelds Buch ‘Wir erziehen’» (Pädagogische Korrespondenz 61/20) diese historische Ausgrabung mit folgenden Worten: «Erziehungswissenschaftlich ist es von Interesse, dass sie sich vor allem auf drei Autoren stützt, deren Verwicklung mit dem Nationalsozialismus und italienischen Faschismus bzw. im Falle von Steiner: dessen rassentheoretischen Schriften sie zu problematischen, wenn nicht gar belasteten Autoren werden lassen.» Nun, mit dem Nationalsozialismus setzt sich Sommerfeld kaum auseinander. Sie distanziert sich zwar in einem einzigen (!) Satz davon, wie der deutsche Faschismus «äusserliche Führerschaft» oktroyierte, doch für Sommerfeld liegt der politische und pädagogische Sündenfall des 20. Jahrhunderts ganz woanders, und dem ist ihr Buch obsessiv und wirklich grenzenlos gewidmet: Das Übel sind die «68er Pädagogen», die «akademische Neue Linke», die «Linken Pädagogen», die «Linksintellektuellen», «die sowjetischen Kinderheimerzieher und ihre 68er Adepten», die «Gesellschaftsplaner», die «Kuschelpädagogik», kurz: «die linke Elite»!

Der Trick der linken Elite ist es ihrer Ansicht nach, die Geschichte durch die Konstruktion falscher Gegensätze zu kontrollieren und planmässig zu steuern.

Und dieser Machelite unterstellt sie einen geheimen Plan der Zerstörung: «Ich bin versucht, anzunehmen, dass diese Grossangelegtheit, Planmässigkeit, Steigerung, Überdrehung, Unfassbarkeit der Bewegung zwischen Grenze und Entgrenzung System hat.» Der Trick der linken Elite ist es ihrer Ansicht nach, die Geschichte durch die Konstruktion falscher Gegensätze zu kontrollieren und planmässig zu steuern: «Die heutige gruselige Melange in der pädagogischen Avantgarde besteht aus vom Marxismus zur politischen Korrektheit  übergegangenen Linken, die uns eine globale, digitalisierte und demokratische Weltgesellschaft verheissen und gleichzeitig mit naturwissenschaftlichen Begründungen der traditionellen Erziehung politisch den Garaus machen will.» Und diese linke Elite will auch, dass die Öffentlichkeit und die Elternhäuser «uniform denken». Mit dem Aufoktroyieren von Begriffen wie ‘Freiheit’ und ‘Selbstbestimmung’ lastet dann ein sozialer Druck «als ideologischer Machtapparat auf den Eltern und Lehrern und hat natürlich auch die Kinder angesteckt.»

Den linken Gesellschaftsplanern schiebt Sommerfeld nun alles in die Schuhe, was zu  ihrem Unbehagen in der Kultur gehört: Die Hirnforschung, der Kompetenzbegriff, der übersteigerte Individualismus, die Ökonomisierung aller Lebenszusammengänge, die Säkularisierung, der Konstruktivismus, das neoliberale Konzept der Selbstoptimierung und natürlich die Globalisierung mit all ihren Folgen.

Immanuel Kant: Hin zu deutscher Tradition.

Den linken Gesellschaftsplanern schiebt Sommerfeld nun alles in die Schuhe, was zu  ihrem Unbehagen in der Kultur gehört: Die Hirnforschung, der Kompetenzbegriff, der übersteigerte Individualismus, die Ökonomisierung aller Lebenszusammengänge, die Säkularisierung, der Konstruktivismus, das neoliberale Konzept der Selbstoptimierung und natürlich die Globalisierung mit all ihren Folgen. Für alles Negative sind letztlich die linksgrünen, urbanen Eliten mit ihren «Gleichheits- und Menschheitsbeglückungsutopien» verantwortlich. Was bleibt da noch Positives und Widerständiges, auf das sie als identitäre Rechte zurückgreifen kann? Es ist der Rückgriff auf das, «was früher (…) einfach war, was jedermann konnte, nämlich seine Kinder ordentlich erziehen …» Das steckt auch im Titel des Buches: «Wir erziehen – Zehn Grundsätze» In alttestamentarischer Art bemüht sich Sommerfeld, auf eine Ordnung zurückzugreifen, die es schon immer gegeben haben soll: Weg vom pädagogischen Rattenfänger-Utopisten Rousseau hin zu Vater Kant und damit zu einer «alten deutschen Tradition», wonach «das Kleinkind von Natur aus als Triebwesen» mit einem zu überwindenden Willen angesehen wird, um dann gelenkt und geführt zu werden.  Das ergibt dann den «guten und gesunden sozialen Normalfall», wo wir wehmütig auf «die Zeit vor der digitalen Zeit» zurückblicken, wo wir das «Deutschsein» als die «lebendige Wesensform der Heranzubildenden» wiederentdecken, wo die «bäuerliche Selbstversorgerwirtschaft» das grosse Vorbild ist, wo Eltern besser erziehen, weil sie wieder gläubig sind, und wo es Tischgebete und freitags immer Fisch gibt.

Je länger sich das Buch mit seiner geschwätzigen Kritik («Ich kenne Eltern, die….») den alltäglichen pädagogischen Erfahrungen hingibt, um so mehr verliert es an intellektuellem Bemühen und verfällt am Schluss dem, was der deutsche Philosoph Ernst Bloch 1935 in seinem Buch «Erbschaft dieser Zeit» als Kern des deutschen Nationalsozialismus» nennt: dem «Blutmythos». Bei Sommerfeld heisst das dann «Rasse», «Lebensraum und Seelenraum», wo eine «höhere Macht die Menschenwelt in der Geschichte nach Rassen und Völker ordnet». So finden dann «wir» – im Unterschied zu den anderen – zu unserem  «in der volklichen Eigenart verwurzelten Volkstum und Volk-Sein». Dies ist der Weg, den Sommerfeld den «Völkern Europas» vorschlägt, um dem drohenden  Aussterben durch den «grossen Austausch» zu entkommen.

Es ist höchste Zeit, diese Besprechung hier abzubrechen. Das «Rechtssein als Lebensform», wie es der Erziehungswissenschaftler Christian Niemeyer in seinem bissigen Kommentar vom 17. August vergangenen Jahres  (www.hagalil.com) beschreibt, endet in «Fanatismus und Kälte» und artet zu einem rauschhaften Bekenntnis zu Blut und Boden aus, dass einem angst und bang wird.

Georg Geiger

Caroline Sommerfeld: Wir erziehen – Zehn Grundsätze. Schnellroda 2020. 2.Auflage

ISBN: 978-3-944422-78-7

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Riesen zur Schnecke machen – weite Teile der Cancel-Culture sind das Symptom einer intellektuellen Misere https://condorcet.ch/2021/05/riesen-zur-schnecke-machen-weite-teile-der-cancel-culture-sind-das-symptom-einer-intellektuellen-misere/ https://condorcet.ch/2021/05/riesen-zur-schnecke-machen-weite-teile-der-cancel-culture-sind-das-symptom-einer-intellektuellen-misere/#comments Sun, 02 May 2021 11:47:20 +0000 https://condorcet.ch/?p=8445

Ein beträchtlicher Teil dessen, was heute unter den Auspizien politisch korrekter Woke-Kultur «nicht mehr geht», ist Opfer des genetischen Fehlschlusses. Man beschäftigt sich nicht mehr mit der Geltung eines Werkes, sondern mit dessen Urheber. Wehe, es fehlt ihm an Moral. Ein Beitrag von Eduard Kaeser.

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Edouard Kaeser ist Physiker, Philosoph, Jazzmusiker und freier Publizist. Er schrieb auch im «Einspruch».

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Es gibt eine auf Heroismus basierende Wissenschafts- und Philosophiegeschichte. Sie kuratiert ihre Helden und Legenden. Und sie hat eine Lieblingsmetapher: Wir stehen alle auf den Schultern von Riesen. Die klassische Physik steht auf den Schultern von Newton, die moderne Biologie auf den Schultern von Darwin, die aufgeklärte Philosophie auf den Schultern von Kant, und so weiter. Jede Disziplin wartet mit solchen Riesen auf. Nur weil wir deren Geisteshöhe erreicht haben, so suggeriert das Bild, können wir jetzt weiter blicken.

Weltbild aus Sicht der Weissen

Das Bild hat eine fiese Rückseite. Sie zeigt sich derzeit in der Praxis namens Cancel-Culture. An einer amerikanischen Privatschule spricht man im Physikunterricht nicht mehr von Newtons Gesetzen, sondern von den fundamentalen Gesetzen der Physik. Grund: Newton war ein weisser Mann. Und die Schule sehe es als geboten an, sagte ein Schüler, das Weltbild aus Sicht der Weissen zu dezentrieren.

Nicht nur das: Es scheint in Schwang gekommen zu sein, die Riesen als Dreckskerle zu entlarven. Nicht Newton, aber andere. Jüngst hat es den französischen Philosophenkönig Michel Foucault erwischt. Ein Artikel der britischen «Times» stellt ihn hin als Pädophilen, der es mit minderjährigen tunesischen Knaben auf dem Friedhof von Sidi Bou Saïd trieb. Ein anderes rezentes Beispiel ist Ronald Fisher, ein Pionier der modernen Statistik und Evolutionstheorie. Nach ihm ist der Fisher-Preis benannt, eine der höchsten Ehren der Disziplin. Seit 2020 trägt der Preis nicht mehr Fishers Namen. Der Wissenschafter wurde des eugenischen und rassistischen Gedankenguts «überführt».

Am Ende bleiben nur noch ein paar integre Geisteskümmerlinge übrig.

Man geht davon aus, dass der Andere ein Dreckskerl ist, und zeigt, wie sein Werk von seinem Charakter besudelt ist.

Aristoteles: Am Ende nur noch Geisteskümmerlinge

Kant und Voltaire, die Riesen der Aufklärung, erfahren heute ein Bashing aufgrund ihrer rassistischen Äusserungen. Francis Bacon, einer der ersten modernen Naturphilosophen, sprach von der «männlichen Geburt der Zeit», und er forderte die Forscher zur Bandenvergewaltigung der Natur auf. Man müsste ihn also schleunigst als Chauvinist aus der Geschichte tilgen. So gesehen kann man den Radiergummi gleich bei Aristoteles ansetzen. Er war xenophob, sexistisch, ein Verfechter der Sklaverei. Und mit dem purifizierten Blick liesse sich die gesamte europäische Geistesgeschichte nach Moralschurken durchstöbern. So dass wahrscheinlich am Ende nur noch ein paar integre Geisteskümmerlinge übrig blieben.

Genetische Fehlschlüsse

Brillante Denker können moralisch anrüchig, geradezu Ekel sein, und ihre Brillanz dient ihnen nicht selten als Lizenz zu ihrer moralischen Verderbtheit. Aber müssen wir deswegen jetzt zu einer radikalen postumen Geschichtssäuberung antreten? Soll ich jetzt «Sein und Zeit» wegwerfen, weil der Autor ein Nazisympathisant war? Soll ich Marx nicht mehr lesen, weil ihn auch Stalin, Mao oder Pol Pot lasen? Soll ich den Fisher-Test in der Statistik nicht mehr durchführen, weil Ronald Fisher ein unbelehrbarer «Volksveredler» war? Sollte man den Satz des Pythagoras vom Lehrplan streichen, wenn sich herausstellte, dass der griechische Mathematiker sich an seinen Jüngern reihenweise sexuell verging?

Soll ich Marx nicht mehr lesen, weil ihn auch Stalin, Mao oder Pol Pot lasen?

Man mag solche Fragen albern finden, aber sie sind Ausdruck des sogenannten genetischen Fehlschlusses. Man beschäftigt sich nicht mit der Geltung einer Aussage, sondern mit deren Urheber. Etwas läuft schief. Denken ist eine soziale Tätigkeit. Ein untrügliches Indiz des Denkens ist deshalb die Beobachtung, dass andere auch denken. Eine häufig angewandte und perfide, weil nicht auf ersten Blick erkennbare Form der Diskreditierung besteht darin, dass man im Denken des Anderen nur den Anderen und nicht sein Denken wahrnimmt und anspricht.

Man geht vom Axiom aus, dass der Andere falsch liegt, und erklärt, warum er falsch liegt.

Philosoph Leo Strauss: «reductio ad Hitlerum»

Im Englischen spricht man von «Bulverism». Der Begriff stammt vom Schriftsteller Clive S. Lewis, genauer von dessen fiktiver Figur Ezekiel Bulver, der als Knabe hörte, wie seine Mutter die Beweisführung seines Vaters, die Summe zweier Seiten eines Dreiecks sei grösser als die dritte Seite, mit den Worten abschmetterte: «Du sagst das nur, weil du ein Mann bist.» In zeitgemässer «identitätspolitischer» Formulierung hiesse das: weil du männlich, weiss und alt bist.

Man geht vom Axiom aus, dass der Andere falsch liegt, und erklärt, warum er falsch liegt. Auf die Cancel-Culture bezogen: Man geht davon aus, dass der Andere ein Dreckskerl ist, und zeigt, wie seine Arbeiten von seinem Charakter besudelt sind. Der Philosoph Leo Strauss prägte den Begriff «reductio ad Hitlerum»: Man bringe eine Aussage auf irgendeine Weise in Verbindung mit Äusserungen des Führers und seiner Entourage, und schon ist sie als «faschistisch», «nazistisch» oder «antisemitisch» diffamiert – also auslöschen.

Trennung von Erkenntnis und Moral

So wie die Aufklärer einst für die Trennung von Staat und Kirche eintraten, so müsste sich heute eine neue Aufklärung für die Trennung von Erkenntnis und Moral starkmachen. Aus der Vermischung beider entsteht ein giftiges Motivationsgebräu, das leicht in Hauen und Stechen endet. Das bedeutet nicht, dass Erkenntnis nichts mit Moral zu tun hätte, es bedeutet, epistemisches und moralisches Urteil klar zu unterscheiden. Geistesgrösse bürgt nicht notwendig für moralische Grösse, und umgekehrt.

Damit entbinde ich mich bloss von der Denkarbeit, die Fehlerhaftigkeit der rassistischen Argumentation nachzuweisen.

Ich kann also den Fisher-Test umbenennen, weil er mit dem Namen eines Rassisten kontaminiert ist, aber damit entbinde ich mich bloss von der Denkarbeit, die Fehlerhaftigkeit der rassistischen Argumentation nachzuweisen. Man kann jetzt Foucault als Dreckskerl schmähen, wichtiger wäre freilich das «Schmähen» seiner Theorie der Sexualität, die den Verkehr von Erwachsenen und Minderjährigen legitimieren soll. Foucaults Behauptung etwa, ein Kind sei sexuell souverän – fähig, zu erklären, was mit ihm geschah und fähig, seine Zustimmung zu geben –, gehört in die Demontage. Und wichtiger in diesem Zusammenhang wäre ohnehin eine Kritik der nicht nur in Frankreich endemischen Kastenarroganz von Intellektuellen, die sich jenseits von Gut und Böse wähnen. Man muss ihnen nicht den moralischen, sondern den denkerischen Prozess machen.

Cancel-Culture ist eine Form von Denkflucht.

Prinzip der übelwollenden Interpretation

Cancel-Culture entpuppt sich – wie gesagt – als Symptom einer intellektuellen Misere, nämlich jener, sich nicht genauer mit dem Gedankengut hinter einem «inkriminierten» Namen zu beschäftigen. Man könnte vom Prinzip der übelwollenden Interpretation sprechen. Es versprüht das Miasma des Misstrauens, Unterstellens, Denunzierens. Eigentlich handelt es sich um magisches Denken: Indem man den Namen auslöscht, wiegt man sich im falschen Bewusstsein, das Gedankengut hinter dem Namen auch beseitigt zu haben. Cancel-Culture ist eine Form von Denkflucht.

Indem man den Namen auslöscht, wiegt man sich im falschen Bewusstsein, das Gedankengut hinter dem Namen auch beseitigt zu haben.

Wie der Erfinder des Bulverismus schrieb: «Solange der Bulverismus nicht zerschlagen ist, kann die Vernunft keine wirksame Rolle in menschlichen Angelegenheiten spielen. Jede Seite schnappt sie sich als Waffe gegen die andere, aber zwischen den Fronten gerät die Vernunft in Verruf.» Damit landen wir auf Feld eins der Aufklärung. Denn ihr ging es genau um eine nicht parteilich vereinnahmte Vernunft, die als universeller «Gerichtshof» zwischen gegnerischen Positionen vermitteln könnte. Cancel-Culture diffamiert aufklärerische Ideale: Sie zersetzt den argumentativen Streit im Schlichten von Meinungsdifferenz, wertet das Streben nach objektivem Wissen ab, verhindert eine «Dreifach-F-Diskus­sion»: frank, frei, furchtlos.

Verstockte kulturelle Heterogenität verträgt sich nicht mit einer universellen Rationalität.

Kant ahnte, dass ein «Gerichtshof der Vernunft» ein unerreichbares Ideal darstellt. Zumindest in heutigen heterogenen Gesellschaften ist das der Fall. Und so gesehen, stehen wir vor einem postkantischen Dilemma: Verstockte kulturelle Heterogenität verträgt sich nicht mit einer universellen Rationalität. Uns bleibt, fallweise zu verhindern, dass diese Unverträglichkeit gewaltförmige Züge annimmt. Denn andernfalls ist die Vernunft – so Kant – «gleichsam im Stande der Natur, und [sie] kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen als durch Krieg». Ersetzen wir «im Stande der Natur» durch «im Stande der Identitätspolitik», dann charakterisieren wir aufs Trefflichste den eklatanten geistigen Rückschritt, den die Cancel-Culture mit sich bringt.

Eduard Kaeser ist Physiker und promovierter Philosoph. Er ist als Lehrer, freier Publizist und Jazzmusiker tätig. Dieser Beitrag ist zuerst in der NZZ erschienen.

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Tausendkünstler*in https://condorcet.ch/2019/05/tausendkuenstlerin/ https://condorcet.ch/2019/05/tausendkuenstlerin/#comments Wed, 08 May 2019 13:51:15 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=897 Immanuel Kant warnt in seiner «Grundlegung zur Metaphysik der Sitten» davor, zu viele Geschäfte zugleich zu treiben. Denn wo «jeder ein Tausendkünstler» sei, da würden «die Gewerbe noch in der größten Barbarei» liegen. Dagegen hätten alle «Gewerbe, Handwerke und Künste» durch «die Verteilung der Arbeiten gewonnen», um sie besser und mit mehr Leichtigkeit leisten zu […]

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Immanuel Kant warnt in seiner «Grundlegung zur Metaphysik der Sitten» davor, zu viele Geschäfte zugleich zu treiben. Denn wo «jeder ein Tausendkünstler» sei, da würden «die Gewerbe noch in der größten Barbarei» liegen. Dagegen hätten alle «Gewerbe, Handwerke und Künste» durch «die Verteilung der Arbeiten gewonnen», um sie besser und mit mehr Leichtigkeit leisten zu können.

Die Figur des Tausendkünstlers geistert durch alle Epochen und alle Berufsgruppen. Seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert sind Wissenschaftler besonders anfällig für diese Form der Barbarei. Das Psychoprofil ist relativ einfach: Wir haben einen begabten Physiker, Biologen, Hirnforscher, Arzt, Soziologen oder Philosophen, der auf seinem angestammten Fachgebiet Grosses leistet und im Erfolg dann plötzlich vergisst, zu unterscheiden, was er wirklich weiss und was nicht.

Die Undiszipliniertheit ist unterschiedlich ausgeprägt. Im harmloseren Fall beschränkt sich der moderne Tausendkünstler auf den Wissenschaftsbetrieb. Er will eine Einheitswissenschaft, Antworten auf alle Welträtsel, eine Weltformel. Im schlimmeren Fall zeigt sein Verhalten eine politische Note. Der Tausendkünstler beschliesst, die Gesellschaft zu therapieren. Moral und Bildung sind beliebte Kampfplätze. Seine Zukunftsversprechen zielen auf das Ganze. Er wirbt etwa für einen neurowissenschaftlichen Masterplan, um die Gesellschaft von Kriminellen zu säubern oder Kinder für die Leistungsgesellschaft fit zu machen. Im Extremfall steigert sich der Tausendkünstler ins Revolutionäre. Er propagiert nun die Erlösung von Weltproblemen, etwa von der sozialen Ungerechtigkeit oder dem menschlichen Leiden.

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war das Tausendkünstlertum eine klassische Männerdomäne. Heutzutage ergänzt die Tausendkünstler*in die Szenerie. Im Kern bleiben die Allmachtsphantasien die gleichen, links wie rechts, männlich wie weiblich wie divers. Kants Empfehlung bleibt darum aktuell: Verteilung der Arbeiten. Das bedeutet mehr Debatten, mehr Kompromisse, aber auch mehr Qualität und weniger Barbarei.

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