Geschichte - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 27 Mar 2024 13:21:01 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Geschichte - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 “Ich brauche keinen Deutschunterricht!” https://condorcet.ch/2024/03/ich-brauche-keinen-deutschunterricht/ https://condorcet.ch/2024/03/ich-brauche-keinen-deutschunterricht/#comments Wed, 27 Mar 2024 13:21:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=16298

Was ein Prädikat ist, weiß kaum jemand, der Wortschatz ist so winzig wie die Aufmerksamkeitsspanne – und die meisten Kinder bestreiten offen, dass sie sich für die deutsche Sprache interessieren. Der Autor, Thomas Brey, ist in einer Realschule als Deutschlehrer eingesprungen. Sein Bericht, der in der WELT erschien, schockiert.

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Nach fast vier Jahrzehnten als Auslandskorrespondent der Deutschen Presse-Agentur (dpa) kommt der Anruf des Schuldirektors: Ob ein “Feuerwehreinsatz” als Deutschlehrer möglich sei? Denn ein teils dramatischer Lehrermangel lasse einige Klassen ganz ohne Deutschunterricht. Die eigentlich für wenige Wochen geplante Aushilfe dauert am Ende vier Monate. Eine aussergewöhnliche Gelegenheit, in die Praxis einzutauchen, um die vielen Vorurteile auszuräumen oder zu bestätigen.

Gastautor Thomas Brey

Vorweg: Ja, es gibt sie noch – die interessierten, schlauen, mitarbeitenden und sozial agierenden Schülerinnen und Schüler. Und ja – viele Pädagoginnen und Pädagogen bemühen sich nach Kräften und manchmal auch mit bemerkenswerten Erfolgen und Lernresultaten. Hier ist jedoch die Rede von der Mehrzahl, vom schulischen Mainstream.

“Ich spreche so, wie ich spreche und das reicht mir!”

 

Tatort: Deutschunterricht in Realschulklassen mit Schülerinnen und Schülern zwischen 12 und 14 Jahren. Das deprimierende Urteil: Die Kenntnisse der Muttersprache sind erschreckend niedrig. Und was noch bedenklicher ist: Die meisten Kinder bestreiten offen, dass sie sich für die deutsche Sprache interessieren. Im Gegenteil. “Ich spreche so, wie ich spreche und das reicht mir!” und “Ich brauche keinen Deutschunterricht!”, lauten die “Rechtfertigungen”. Ob Deklinationen, Konjugationen, ob Tempora von Verben, die Bestimmung von Satzgliedern, Pronomen, Adverbien oder der Unterschied von Aktiv und Passiv – böhmische Dörfer für die meisten Schüler. Was Subjekte, Prädikate oder Objekte in deutschen Sätzen sind, weiss kaum jemand und will auch niemand wissen. 

Sprachliche Defizite

Ein schludriger Sprachgebrauch, ein sehr eingeschränkter Wortschatz und gravierende grammatische Fehler sind das Ergebnis schon auf den ersten Blick. Über das generelle Weglassen des “e” bei Verben in der ersten Person Präsens (ich fahr, schrei, hab, spiel) kann man vielleicht noch hinwegsehen. Doch beim Präteritum unregelmäßiger Verben (ich fliegte, schlafte, blaste, laufte) muss dann doch der Rotstift her. Die Schulbücher haben sich auf diese geringe Sprachkompetenz eingestellt und übersetzen in Fussnoten deutsche Vokabeln, die Schülerinnen und Schülern angeblich nicht geläufig sind.

“Absurd” wird mit “abwegig, verrückt” erklärt, “er stritt” mit “er kämpfte” und “unwirtlich” mit “arm, karg”. Selbst das Verb “posieren” (“eine gekünstelte Haltung einnehmen”) ist den Kindern laut Schulbuch unbekannt. Das gilt demnach auch für Begriffe wie Motel, Orchidee, Terrarium, Kuvert, Pforte, Stube, Wache, Beute, Makkaroni, Sweater oder ein Dutzend, die allesamt übersetzt und damit erklärt werden sollen.

Vokabeln wie behände (flink, geschickt), töricht (dumm), hoch aufgeschossen (gross), hervorlugen (schauen), nahm sich Urlaub (nahm sich frei), flau im Magen (schwach) und dramatische Turbulenzen (spannende Entwicklung) kommen laut dieser Annahme im Wortschatz Heranwachsender nicht vor. Diese Reihe könnte um dutzende Beispiele verlängert werden.

Schulbücher mit Aktualisierungsbedarf

Das Themenkapitel “Balladen erschliessen” beginnt mit diesem Text: “Ab dem 16. Jahrhundert bis ins 18./19. Jahrhundert zogen sogenannte ‘Bänkelsänger’ durch die Ortschaften, um auf Marktplätzen und Jahrmärkten schauerliche Geschichten (z.B. von Morden oder unglücklicher Liebe) zu erzählen”. Welches Kind soll mit solchen Texten angesprochen werden?

Das Kapitel “Fabeln” stützt sich wesentlich auf die Stücke des griechischen Dichter Äsop aus dem 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, die dann noch in einer antiquierten deutschen Übersetzung daherkommen, die für viele nicht mehr zu verstehen ist. Die Schulbuchtexte als Anschauungs- und Übungsmaterial – ob aus der Literatur oder aus den Medien – stammen vorwiegend aus den Neunzigerjahren, sind also drei Jahrzehnte als. Die Schulbücher müssten in kürzeren Zeiträumen aktualisiert werden, um wieder einen Bezug zur Lebenswirklichkeit der jungen Menschen zu finden.

Die Corona-Pandemie bot eine gute Gelegenheit, sich mit Krankheiten und Medizin während der verschiedenen Epochen zu beschäftigen.

 

Das gilt offensichtlich auch für den Geschichtsunterricht, in dem Kaiser, Könige und Schlachten nach wie vor dominieren. Statt Schülerinnen und Schüler mit faktografischem Kleinklein abzuschrecken, sollten die Themen an die Aktualität anknüpfen: Die Corona-Pandemie bot eine gute Gelegenheit, sich mit Krankheiten und Medizin während der verschiedenen Epochen zu beschäftigen. Themen wie Hygiene (besonders die Geschichte der Toiletten), Ernährung, Familie oder Wohnverhältnisse und Haustiere kommen ebenfalls für einen “Ritt durch die Geschichte” infrage. Mit dieser “Geschichte zum Anfassen” könnten tiefer gehende Probleme und Analysen einzelner Abschnitte der Historie verknüpft werden.

Kein Wunder, dass auch beim letzten Bildungsvergleich Pisa deutsche Schülerinnen und Schüler besonders im Fach Deutsch schlecht abschneiden. Extrem kritisch sieht es beim Textverständnis aus. In einer anderen Realschule hatte ich mit 10- und 11-Jährigen ein Lied einstudieren wollen. Dazu bat ich mehrere Kinder, die einzelnen Strophen mit jeweils vier Zeilen vorzulesen, dann den Text zur Seite zu legen und mit eigenen Worten zusammenzufassen, was gerade vorgelesen wurde. In vielen Fällen waren die Schülerinnen und Schüler dazu ausserstande. Folgerichtig haben die Bundesländer Bayern und Mecklenburg-Vorpommern fürs kommende Schuljahr für die Klassen drei bis zehn die Aufstockung von Deutsch im Stundenplan beschlossen.

Fragwürdiges Klassenklima

Neben den inhaltlichen Defiziten erschwert das Klassenklima nicht selten den Unterricht überhaupt. Die Kombination von Handy, Süssem und Trinken führt zu ständiger Unruhe, die in ziellosem Aktionismus mündet: Kaum jemand kann länger als ein paar Minuten in üblicher Körperhaltung auf seinem Stuhl sitzen, um dem Unterricht zu folgen. Viele hocken mit angezogenen Beinen auf ihren Plätzen. Dem Nachbarn oder Hintermann werden ohne Grund die Stifte oder das gesamte Etui mit Schreibutensilien weggenommen. Stifte werden zerbrochen und andere damit “abgeworfen”, wie es im Jargon der Jugendlichen heisst. Durch die Klassen geworfene Papierkügelchen gehören zum Unterrichtsalltag.

An manchen Tagen sieht der Boden des Klassenzimmers aus wie ein “Schlachtfeld”: abgerollte Papierhandtücher, leere Flaschen und zerbrochene Stifte… – Nicht ohne Grund gibt es in jeder Klasse einen Fegedienst, weil sich die Putzkräfte sonst weigern, diese “verwüsteten” Klassenräume nach Schulschluss zu säubern.

Das Dauertrinken erinnert ebenfalls stark ans längst vergangene Babyalter. Die top gestylten Trinkflaschen – oft mit süssem Saft – sind für die Sitznachbarn eine ständige Quelle der Begierde.

 

Regelmässig fallen dauerkippelnde Schülerinnen und Schüler unter großem Jubel der Klasse mit ihren Stühlen um. Einzelne krabbeln unmotiviert wie Kleinkinder auf dem Boden unter Tischen und Stühlen herum. Besonders aktive Jungen werfen sich ohne ersichtlichen Grund auf den Boden und behaupten, sie hätten sich den Fuss verstaucht oder gar einen Muskelfaserriss zugezogen. Das sorgt für lautstarke Heiterkeit. Das Dauertrinken erinnert ebenfalls stark ans längst vergangene Babyalter. Die top gestylten Trinkflaschen – oft mit süssem Saft – sind für die Sitznachbarn eine ständige Quelle der Begierde. Wenn es gelingt, die zu “entwenden”, steht nicht nur in dieser Sitzreihe “Aufruhr”, der sich in konzentrischen Kreisen ausweitet.

Handys sind im Dauereinsatz – wenig erfindungsreich getarnt unter dem Tisch, im aufgeklapptem Federmäppchen oder Schulbuch. Ein Dauerthema. “Meine” Schule versucht es jetzt mit einer “Handygarage”: Zu Beginn des Schultages müssen Schülerinnen und Schüler ihre liebsten Spielgeräte dort deponieren. Am Ende nehmen sie ihre Mobiltelefone wieder an sich.

Das Kämmen langer Haare im Unterricht wird ebenso als selbstverständlich angesehen wie das ständige Aufsuchen der Toiletten. Natürlich geht es in den wenigsten Fällen wirklich ums Klo. Der Toilettengang wird als willkommene Unterbrechung des Unterrichts betrachtet – mit entsprechender Unruhe in der gesamten Klasse.

Fehlende Medienkompetenz

Diese ständige Unruhe und das Ablenken vom Unterrichtsstoff führt zu einer Aufmerksamkeitsspanne, die oft nicht länger als zwei, drei Minuten währt. Möglicherweise ist die intensive Nutzung von TikTok mit standardmässigen Videos von 30 bis 60 Sekunden für dieses Konzentrationsdefizit mitverantwortlich.

Nicht unbegründet ist vor diesem Hintergrund das von der EU-Kommission gegen TikTok eröffnete Verfahren. Denn in der Tat steht die Online-Plattform im Verdacht, durch die Analyse des Nutzerverhaltens Blasen zu bilden, die Suchtgefahren hervorrufen und den Jugendschutz unterlaufen könnten. Schliesslich will Brüssel untersuchen lassen, ob die Algorithmen zulassen, dass sich junge Menschen von diesem Kanal “losreissen” können.

In einer kleinen Unterrichtseinheit für eine 10. Hauptschulklasse konnte ich besichtigen, dass es Schülerinnen und Schülern beinahe vollständig an Einsichten in die Funktion der Medien fehlt, mit denen sie sich nonstop beschäftigen.

 

Um den Gefahren der extremen Nutzung von Social Media etwas entgegenzustellen, müssten Schulen dem Training von Medienkompetenzen viel mehr Aufmerksamkeit widmen. Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser Themen wird zwar nicht in Abrede gestellt. Doch es fehlt an Lehrkräften, Unterrichtsmaterialien und an der Finanzierung eines solchen Angebots. In einer kleinen Unterrichtseinheit für eine 10. Hauptschulklasse konnte ich besichtigen, dass es Schülerinnen und Schülern beinahe vollständig an Einsichten in die Funktion der Medien fehlt, mit denen sie sich nonstop beschäftigen.

“Deutsch als Zweitsprache”

Ein zweiter Schwerpunkt meines Feuerwehreinsatzes waren zwei Kurse für Migrantenkinder (“Deutsch als Zweitsprache – DaZ”). Es handelte sich um Flüchtlinge aus der Ukraine, aus Russland, Syrien, Afghanistan und Serbien. Die DaZ-Gruppen waren sehr inhomogen und verlangsamten damit Sprachfortschritte. Es gab Teilnehmer, die vorher vergleichsweise gute Schulen im Heimatland besucht hatten und andere, die über Jahre keine Schule von innen gesehen hatten bzw. solche Schülerinnen und Schüler, die schon in ihrer Heimatsprache prinzipielle Lücken aufwiesen. Hier ist die Alphabetisierung erstes Ziel, bevor überhaupt mit dem Deutschunterricht begonnen werden kann. Vor allem Kinder aus der Ukraine nehmen oft nur widerwillig an diesem Unterrichtsangebot teil. Sie behaupten, ihre Familien kehrten bald in ihre angestammte Heimat zurück. Daher lohne es sich nicht, Deutsch zu lernen.

Der Unterricht wird oft in Eigenregie der Lehrkräfte gestaltet, meist ohne klare Standards, Curricula und Angebote zur Weiterbildung oder gar Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern. Dem DaZ-Unterricht müsste viel mehr Bedeutung eingeräumt werden. Denn nur eine sprachliche Teilhabe macht gesellschaftliche Integration überhaupt erst möglich.

Mit den hier beschriebenen Zuständen ist das Thema natürlich längst nicht erschöpft. Allerorten wird beklagt, dass Universitäten am Bedarf der Schulen vorbei ausbilden. Musiklehrkräfte fehlten auf weiter Flur, weil die Unis zu hohe Massstäbe ans Beherrschen von Instrumenten anlegten, Englischlehrer seien rar, weil immer weniger Studierende bereit und finanziell in der Lage seien, ein Jahr im englischsprachigen Ausland zu absolvieren.

Wichtige kognitive Fähigkeiten erwerben

Warum arbeiten heute trotz jahrelangen Lehrermangels sage und schreibe 42,3 Prozent der deutschen Lehrkräfte nur in Teilzeit? Und ist an der jüngsten „Lehrerschelte“ des OECD-Bildungsdirektors Andreas Schleicher (auch im Interview mit der Welt) etwas dran? Schließlich: Stimmt es, dass Familien immer weniger Zeit für die Erziehung ihrer Kinder haben und diese Aufgaben an die Schulen abschieben, die damit überfordert sind?

Warum arbeiten heute trotz jahrelangen Lehrermangels sage und schreibe 42,3 Prozent der deutschen Lehrkräfte nur in Teilzeit?

 

Im Prinzip sind sich Eltern, Lehrer und die Wissenschaft einig, dass Schulen die junge Generation befähigen müssen, wichtige kognitive Fähigkeiten zu erwerben. Die werden als zentrale Zukunftsressource für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik angesehen. Doch diese schulischen Grundaufgaben werden offensichtlich immer weniger erbracht. Mit weitreichenden Folgen für die Forschung, den Arbeitsmarkt und nicht zuletzt für die Funktion des demokratischen Systems.

Denn gebildete Bürger sind die unverzichtbare Voraussetzung für parlamentarische Demokratien. Sie müssen fähig sein, politische Angebote zu beurteilen und zu diskutieren, um ihre Stimme für gesellschaftspolitische Konzepte abzugeben. Damit stehen wir alle vor der wohl grössten innenpolitischen Herausforderung. Die meisten Anzeichen sprechen aber dafür, dass die länderspezifisch zersplitterten Bildungspolitiker dieses Themenfeld immer noch nicht als das zentrale Zukunftsanliegen Deutschlands identifiziert haben, das von ihnen schnelle Reaktionen verlangt.

Meine – sicher zunächst selektive – Erfahrung lässt nur diesen Appell zu: An der Finanzierung des Bildungssystems darf nicht gespart werden. Denn diese Gelder müssen als Zukunftsinvestitionen betrachtet werden. Ihr Ausbleiben birgt kaum abschätzbare Gefahren.

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Eine 147-jährige Ära geht zu Ende https://condorcet.ch/2024/03/eine-147-jaehrige-aera-geht-zu-ende/ https://condorcet.ch/2024/03/eine-147-jaehrige-aera-geht-zu-ende/#respond Tue, 12 Mar 2024 17:43:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=16159

Mit dem Urnenentscheid am 3. März 2024 ist das Ende der Schulgemeinden in Nidwalden besiegelt. Am 31. Dezember ist Schluss. Geschaffen wurden die Schulgemeinden 1877 – im Zuge des eidgenössischen Schulobligatoriums von 1874. Ein schulgeschichtlicher Rückblick auf die aufreibende Anfangszeit der Schulgemeinden.

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Bis weit ins 19. Jahrhunderts hinein haben es Schule und Unterricht schwer: Einen regelmässigen Schulbesuch gibt es nicht. In einer bäuerlich-gewerblichen Gesellschaft besitzt Bildung einen bescheidenen Stellenwert. Sie bleibt das Vorrecht weniger.

Condorcet-Autor Carl Bossard

Die Bevölkerung ist arm, das Leben vieler kärglich, der Unterricht darum schmal. Man braucht die Kinder als Hilfskräfte auf Feld und Hof. Der Stall ist notgedrungen stärker als die Schiefertafel, das Brot wichtiger als ein Buch. Der obligatorische Schulbesuch, wie ihn die Helvetik von 1800 postuliert und der liberale Bundesstaat von 1848 vorsieht, ist darum schwierig zu konkretisieren. Auch im Kanton Nidwalden.

Schulgemeinde als Antwort auf Schulpflicht 

Mit der Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung von 1874 müssen alle Kantone die Primarschulpflicht durchsetzen. Die neue Bundesverfassung verordnet die allgemeine Schulpflicht. Der Primarunterricht wird für alle Kinder obligatorisch und unentgeltlich. Die revidierte Bundesverfassung führt drei Jahre später, 1877, zur neuen Nidwaldner Kantonsverfassung. Sie schafft eine kommunale Schulgemeinde als autonome Körperschaft.

“Ringelreihen” beim Landsgemeindeplatz: “Schulspaziergang” nach Wil/Oberdorf um 1900. (Bild: zvg/Staatsarchiv Nidwalden)

Die neue Schulbehörde findet ein weites Feld vor. Sie ist gefordert. Zwar gibt es seit 1829 einen kantonalen Schulrat und das Schulinspektorat. Doch der Weg zu einer fundierten Bildung ist steil und steinig. Vieles liegt brach, manches im Argen. An den meisten Orten gibt es nur eine Winterschule, und zwar von Anfang November bis Ende April. Es fehlt an gut ausgebildeten Lehrpersonen, es fehlt an Raum, es fehlt an Lehrmitteln. Es fehlt an fast allem. Bildung muss mühsam aus dem Wirrwarr des Zufallslernens befreit und zeitgerecht institutionalisiert werden.

Das Schulhaus als stolzes Fortschrittszeichen

Doch es geht vorwärts. Der kantonale Schulrat und die neuen Schulgemeinden packen an, zuerst und allem voran mit neuen Schulhäusern. Der Bildungsaufbruch im jungen Bundesstaat ruft nach zusätzlichem Raum. Die baulichen Verhältnisse sind prekär. Der Unterricht findet nicht selten in der stickigen Enge einer Schulstube statt, manchmal in einer muffig-maroden Kammer. Jede Gemeinde baut nach und nach ihr eigenes Schulhaus.

Das Knabenschulhaus Stans, eingeweiht 1879, undatiert. (Bild: zvg/Staatsarchiv Nidwalden – Fotosammlung Stans)

1879 zum Beispiel weiht die Schulgemeinde Stans das neue Knabenschulhaus auf der Tellenmatt ein – mit Pomp und Pathos, mit Weihwasser und Weihrauch, mit Lob und Lied. Der festlich-feierliche Akt vereint das kommunale und kirchliche Element. Der Bau sei ein Werk, das “der Gemeinde zur Ehre, der lieben Jugend zum Wohl und Heil gereicht […] für Zeit und Ewigkeit”, meint der Stanser Dorfpfarrer und Schulpräsident in seiner Rede. Jedes Schulzimmer bietet zwischen 64 und 72 Kindern Platz. Gross ist die Zuversicht und hoch sind die Erwartung, die Kirche und Behörde auf die Schule projizieren: “Gebt mir eine wahrhaft gute Schule, und ich verspreche Euch eine glückliche Gemeinde!” Das Schulhaus wird überall zum stolzen Fortschrittszeichen.

Der Stall ist notgedrungen stärker als die Schiefertafel, das Brot wichtiger als ein Buch.

 

Ähnlich klingt es bei der Einweihung vieler Gemeindeschulhäuser. In allen Nidwaldner Gemeinden wird das Schulhaus nach 1850 neben der Kirche zum zweiten Wahrzeichen. Entsprechend stolz präsentiert Nidwalden an der Schweizer Landesausstellung von 1914 seine Schulhäuser im Bild. Die Fotocollage sämtlicher 24 öffentlicher und privater Schulen hat der kantonale Schulrat speziell anfertigen lassen.

Die 24 Nidwaldner Schulhäuser als Zeichen des Fortschritts und Aufbruchs in eine neue Zeit – auf einer Collage für die Landesausstellung 1914 in Bern. (Bild: zvg/Staatsarchiv Nidwalden)

 

 Zur Bildung steigt man empor 

Wer ein Auge für Schweizer Schulhäuser aus der zweiten Hälfte des 19. und dem beginnenden 20. Jahrhunderts hat, staunt über die architektonische Pracht dieser Gebäude. Viele weisen Residenzcharakter auf. Sie signalisieren Aufbruch und Fortschritt. Erinnert sei an das Kniri-Schulhaus in Stans oder an das majestätische Schulgebäude von Beckenried – eine Art Bildungstempel. Er signalisiert die neue Epoche und den Aufbruch in eine bessere Zeit: Bei manchen Bauten führt eine breite Treppe nach oben; die Kinder durchschreiten für den Unterricht die markante Eingangstüre. Sie steigen zur Bildung empor. Symbol und Auftrag zugleich.

Lernen für die Rekrutenprüfung 

Der bildungspolitische Fortschritt muss erkämpft werden. 1879 wird die Ganzjahresschule mit 42 Schulwochen eingeführt. Gemäss neuem Schuldekret sind “widersetzliche Kinder polizeilich in die Schule” zu führen. Das Gesetz erklärt sechs Primarschuljahre als Obligatorium, ebenso die Arbeitsschule für Mädchen. Die Sekundarschule bleibt fakultativ. Der Unterricht ist unentgeltlich, nicht aber das Schulmaterial.

Das Kniri-Schulhaus in Stans etwa im Jahr 1900, eingeweiht 1898 als Mädchenschule. (Bild: zvg/Staatsarchiv Nidwalden – Fotosammlung Franz Kaiser)

Verpflichtend ist auch die Wiederholungsschule für Knaben. Viel Arbeit für die einzelnen Schulgemeinden! Die Wiederholungsschule verschreibt sich vor allem dem Kampf gegen das Verlernen des Primarschulstoffes. Während zweier Jahre müssen die schulentlassenen Knaben, vorzugsweise im Winter, jeweils mindestens 96 Schulstunden besuchen. Der Grund dafür liegt in der Einführung der eidgenössischen Rekrutenprüfungen im Jahr 1875; die Resultate werden veröffentlicht. Kein Kanton will sich auf den hintersten Rängen wiederfinden. Darum veranstaltet der Kanton Nidwalden vor den offiziellen Prüfungen jeweils obligatorische Vorprüfungen. Schwänzer werden “strenge bestraft” und die ungenügend Gebildeten für Nachschulungen aufgeboten.

Die Schule ist früh weiblich 

Noch mangelt es an geeigneten Lehrerinnen und Lehrern. Wie ein Geschenk des Himmels erscheinen nach 1851 die ersten Lehrschwestern aus dem Kloster Menzingen, später von Ingenbohl und Baldegg. Keine Schulgemeinde kommt ohne sie aus. Die Ordensfrauen sind gut ausgebildet, einzig für die Schule da, katholisch und anspruchslos. Zudem arbeiten sie fast für Gotteslohn und kommen die armen Schulgemeinden billiger zu stehen als die weltlichen Lehrerinnen, die das Stanser Kapuzinerinnenkloster St. Klara ausbildet. Das entlastet das kärgliche Gemeindebudget und verbessert die Schulqualität, wie die Inspektoren erfreut feststellen. Die Lehrschwestern aus den drei Klöstern spielen im Nidwaldner Schulwesen während 150 Jahren eine wichtige Rolle.

Die Lehrschwestern tragen entscheidend dazu bei, den Bildungsnotstand der Zeit zu beheben.

 

Das wissen die Bildungsverantwortlichen. Die Lehrschwestern tragen entscheidend dazu bei, den Bildungsnotstand der Zeit zu beheben. Dank dieser pädagogischen Alltagsarbeit verfügt auch Nidwalden über eine zeitgemässe Ausbildung. Sie hält dem Vergleich mit den Schulsystemen aus protestantischem und liberalem Geist durchaus stand. Ja, “katholische Kantone [erzielen] dank ihren Lehrschwestern [in den eidgenössischen Rekrutenprüfungen] teilweise wesentlich bessere Ränge”, müssen liberal-radikale Bildungspolitiker wie beispielsweise der damalige Aargauer Regierungs- und Ständerat Augustin Keller um 1875 ernüchtert feststellen. Ein Kompliment von unerwarteter Seite! Es ist hart erkämpft. Mut und Weitsicht sind wegweisend.

Die politischen Schulgemeinden tragen viel zum Fortschritt bei. Nun sind sie Geschichte.

 

 Drei Vaterunser gegen das Schulschwänzen

Das wichtige Gut der Schulpflicht ist heute selbstverständlich. Das war nicht immer so. Im Gegenteil! Der obligatorische Unterrichtsbesuch für alle musste im 19. Jahrhundert hart erkämpft werden. Gegen den Willen mancher Eltern und über Jahrzehnte hinweg. Dabei stützten sich die staatlichen Behörden auch auf Polizei und Kirche. Mit ihrer Hilfe erzwangen sie den Gang in die Schulstube. Das zeigen Protokolle des Nidwaldner Polizeigerichts von 1850 bis 1877.

Die Akten legen beredtes Zeugnis über Väter und Mütter ab, die “wegen ihrer pflichtvergessenen Nachlässigkeit hinsichtlich schuldiger Schulbildung” ihrer Kinder bestraft wurden. Viele Eltern schickten ihre Söhne und Töchter “höchst unfleissig in die Schule”, heisst es in den Akten. “Eines kömt heut, das andere morgen.” In Oberdorf besuchten 1854 nur die Hälfte der Knaben den Unterricht. Man brauchte die Kinder für die Mithilfe auf Feld und Hof. Sie waren Arbeitspotenzial. Der obligatorische Schulbesuch, wie ihn die Helvetik (1798–1803) postulierte und der liberale Bundesstaat in der Verfassung von 1874 für alle anordnete, war darum schwierig zu konkretisieren. So ist es verständlich, dass es Schüler gab, die “ohne Entschuldigung die Schule bis 100 Male versäumten”.

Eltern solcher Kinder werden vor den örtlichen Pfarrer geladen oder zu Geldstrafen verurteilt; sie müssen bei den Behörden Abbitte leisten oder “unter polizeilicher Aufsicht zwei Monate mit ihren Kindern die Christenlehre besuchen. “Selbst Gebete werden Fehlbaren als Busse aufgetragen, beispielsweise drei Vaterunser. Gesetzliche Vorschriften stehen auf der einen, materielle Not und Unverständnis auf der anderen Seite. Bildung und Schule haben es lange schwer. Die neuen Schulgemeinden sind gefordert.

 

* Der Autor Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der Kantonalen Mittelschule Nidwalden, des «Kollegi» in Stans, und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Er beschäftigt sich ausserdem mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

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Wozu Geschichte in dürftiger Zeit? https://condorcet.ch/2024/02/wozu-geschichte-in-duerftiger-zeit/ https://condorcet.ch/2024/02/wozu-geschichte-in-duerftiger-zeit/#comments Mon, 26 Feb 2024 17:03:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=16022

Gerne macht die Redaktion unsere Leserinnen und Lesern auf ein Referat von Professor Mario Andreotti aufmerksam, das am 21. März in Solothurn gehalten wird. Über die Entwertung des Geschichtsunterrichts haben wir in unserem Blog schon einige Beiträge veröffentlicht, unter anderem auch von Herrn Andreotti.

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Geschichte am Klosterplatz 7

 Donnerstag, 21.März 2024, 18.30 Uhr

 Kabinett für sentimentale Trivialliteratur

 Klosterplatz 7, 4500 Solothurn

 Eintritt frei, Kollekte

 

Wozu Geschichte in dürftiger Zeit?

Die schleichende Entwertung eines Fachs und ihre Folgen

Henry Dunant? Nie gehört. Tagsatzung? Keine Ahnung. Ulrich Wille? Vielleicht ein Forscher oder etwa der Gründer der Migros? Die Geschichtskenntnisse unserer Jugendlichen nehmen drastisch ab, so dass vielen von ihnen wichtigste historische Ereignisse nicht oder nur noch bruchstückhaft bekannt sind. Daran ist unser Bildungssystem nicht unschuldig, kommt doch das Fach Geschichte an den meisten Schulen zu kurz.

In meinem Vortrag gehe ich zunächst auf die Frage ein, ob es in einer Zeit, die uns mit ihren eigenen Problemen schon voll in Anspruch nimmt, noch angebracht ist, sich mit der Vergangenheit zu befassen. Danach werde ich einige zentrale Gründe nennen, warum Geschichte und Geschichtsunterricht, unter anderem im Zuge der Schulreformen, zunehmend abgewertet wurden. Schliesslich wird aufzuzeigen sein, dass es dringend geboten ist, das Fach Geschichte aufzuwerten, und wie dies gelingen kann.

Lehrpersonen, Eltern und Interessierte sind zum Vortrag herzlich eingeladen.

 

Referent:

Prof. Dr. Mario Andreotti

Germanist und Historiker, ehem. Gymnasiallehrer und Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen. Heute Fachreferent in der Weiterbildung der Lehrkräfte an höheren Schulen und Leiter von Literaturseminaren. Mitglied der Jurys für den Bodensee-Literaturpreis und für den Ravicini-Preis, Solothurn. In seinem vielbeachteten Buch Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache (Verlag FormatOst 2019) befasst er sich u.a. mit der Abwertung der Geschichte und ihren Folgen. mario.andreotti@hispeed.ch

 

 

 

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Wer einen Schatz an Geschichten und Sachwissen hat, liest besser https://condorcet.ch/2023/12/wer-einen-schatz-an-geschichten-und-sachwissen-hat-liest-besser/ https://condorcet.ch/2023/12/wer-einen-schatz-an-geschichten-und-sachwissen-hat-liest-besser/#comments Fri, 15 Dec 2023 05:57:00 +0000 https://condorcet.ch/?p=15498

Vielen Schulabgängern fällt das Lesen bereits einfachster Texte schwer, wie die PISA-Studie wieder einmal aufgezeigt hat. Dass ein Viertel unserer Schuljugend schlechte Karten für das Erlernen einer ganzen Reihe von Berufen hat, ist ein bildungspolitischer Tiefpunkt. Bei den Experten der Schulentwicklung herrscht Ratlosigkeit, weshalb sich die Lesefähigkeiten trotz aller Stützmassnahmen verschlechtert haben. Alles Mögliche und Unmögliche wird jetzt gefordert, um aus dieser Krise herauszukommen. Die Ratlosigkeit ist so gross, dass einige Bildungspolitiker als Heilmittel gar eine personalintensive Doppelbesetzung in allen Regelklassen vorschlagen. Doch Utopien helfen nicht weiter, meint Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz.

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Es gilt, die Lesekrise nüchtern zu analysieren und genau zu schauen, was denn schon seit einigen Jahren schiefläuft. Sicher liegt es nicht am Engagement der allermeisten Lehrkräfte. Mit kreativen Methoden versuchen sie, auch den Schwächeren beim Lesen zum Erfolg zu verhelfen. Zu Recht beklagen sich viele, dass die unzähligen Kompetenzziele eines randvollen Bildungsprogramms eine Konzentration aufs Wesentliche erschweren. Das parallele Lernen dreier Sprachen in der Primarschule erweist sich als Hypothek, weil die Zeit fürs Üben in der deutschen Sprache fehlt. Dieses Training lässt sich auch nicht abkürzen, indem man auf eine Mehrsprachendidaktik setzt, die schwächere Kinder heillos überfordert.

Gastautor Hanspeter Amstutz

Zusammen mit den sprachfördernden Realienfächern (Natur, Mensch, Gesellschaft) muss das Fach Deutsch wieder ins Zentrum des Unterrichtsgeschehens gestellt werden. Kompetenter Deutschunterricht bietet eine Fülle an Lernmöglichkeiten und verlangt vielfältige methodische Kompetenzen der Lehrpersonen. Dazu gehören tägliches sprachliches Üben, sei es Rechtschreibung, Satzbautraining oder das inhaltliche Erschliessen von Sachtexten. Die Schriftlichkeit muss in Form von Berichten, kurzen Zusammenfassungen und Aufsätzen immer wieder trainiert werden. All das sind unverzichtbare Grundlagen, die nur mit Fleiss erarbeitet werden können.

Eintauchen in neue Lebenswelten schafft starke innere Bilder

Doch gehaltvoller Unterricht braucht “du pain et de la confiture”. Lernen soll auch Freude bereiten und die Schüler sollen den Reichtum unserer Muttersprache erleben. Und guter Deutschunterricht, nicht selten auch in Kombination mit Geschichte oder Naturkunde, bietet viel Anregendes. Spannende Erzählungen der Lehrerin lassen die Herzen der Kinder höherschlagen. Gut recherchierte Geschichten über historische Ereignisse mit anschliessenden Klassendiskussionen ziehen Jugendliche in ihren Bann. Generell beflügelt ein Unterricht mit narrativen Sequenzen ihre Phantasie und weckt literarisches Interesse. Mit dem Eintauchen in neue Lebenswelten werden starke innere Bilder geschaffen, die beim Lesen von Texten wieder wirksam werden.

Bedauerlicherweise wird in der Lehrerbildung zu wenig Zeit eingesetzt, um die Kunst des Erzählens intensiv zu fördern.

Als Gestalterin einer Geschichte kommt jeder Lehrerin eine zentrale Rolle zu. Wie sie sich in der Geschichte in die Rollen der Hauptpersonen versetzt und welche Worte sie wählt, ist für die Kinder sehr prägend. Das sprachliche Vorbild der Lehrerin ist wirksam, indem es den kindlichen Sprachaufbau emotional unterstützt. Bedauerlicherweise wird in der Lehrerbildung zu wenig Zeit eingesetzt, um die Kunst des Erzählens intensiv zu fördern. Offenbar erachtet man es als wichtiger, wertvolle Ausbildungszeit in Abhandlungen über didaktische Modeströmungen zu investieren. Zum Glück schafft es manche Lehrerin, später aus eigener Initiative einen Weg zum erfolgreichen Erzählen zu finden. Umso schöner ist es zu sehen, was anregende Geschichten auslösen können, wenn ganze Schulklassen durch freiwillige Lektüre auf literarische Entdeckungsreisen gehen.

Realienstunden sind eine attraktive Art der Sprachförderung

Leider wird diese Lesefreude durch die stundenlange Bildschirmzeit vieler Kinder oft massiv gestört. Erschöpft von den Kurzfutter-Informationen auf ihren elektronischen Geräten, nimmt die Aufnahmefähigkeit der Kinder für längere Lektüre rasch ab. Diese unerfreuliche Entwicklung ist nicht nur bei Schülern aus der Unterschicht zu beobachten. Die Schule wird nicht darum herumkommen, die Eltern beim Umgang ihrer Kinder mit den digitalen Geräten viel stärker an ihre erzieherische Verantwortung zu erinnern. Sonst läuft die Schule Gefahr, bei der Leseförderung Sisyphusarbeit zu verrichten.

Leicht geht vergessen, dass die attraktivste Art der Sprachförderung häufig in den Realienstunden geschieht. In diesen Lektionen wird ein Stück Welt ins Schulzimmer geholt. Wo ein vom Thema begeisterter Lehrer einen Sachverhalt erklärt, sind die Schüler fasziniert und bereit zu lernen. In solchen Stunden bietet sich die Chance, auch sprachlich verschlossene Buben aus der Reserve zu locken. Auf einmal ist ein präziser Wortschatz nützlich, wenn es darum geht, die Funktion eines Elektromotors den Mitschülern zu erklären. Bei der Bauanleitung für den Motor merken alle, wie wichtige gewisse Schlüsselbegriffe sind.

Die populäre, aber falsche Behauptung, dass der Erwerb von Wissen im Internetzeitalter eine Zeitverschwendung sei, hat in der Pädagogik leider eine unsägliche Verwirrung ausgelöst.

Je anspruchsvoller die Texte sind, desto mehr spielt fachliches Vorwissen eine zentrale Rolle. Wir alle wissen aus Erfahrung, dass es schwierig ist, einen Text aus einem inhaltlich wenig bekannten Bereich zu entziffern. Jugendliche verstehen einen Bericht über eine Herzoperation viel besser, wenn sie bereits Grundkenntnisse über Bau und Funktion des Herzens haben. Ihr neuronales Netzwerk an gespeicherten Wissenselementen hilft ihnen beim Lesen und ist effizienter als beim Arbeiten mit dauernden Suchanfragen im Internet. Die populäre, aber falsche Behauptung, dass der Erwerb von Wissen im Internetzeitalter eine Zeitverschwendung sei, hat in der Pädagogik leider eine unsägliche Verwirrung ausgelöst.

Schlüsselfunktion für verstehendes und kritisches Lesen

Die Bedeutung eines attraktiven Realienunterrichts für das Allgemeinwissen und den Spracherwerb kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dies gilt besonders für den Geschichtsunterricht, wo Grundfragen unserer Gesellschaft zur Sprache kommen und kritisches Denken einen hohen Stellenwert hat. In Zeiten von fake News leistet das Fach einen wertvollen Beitrag an Aufklärung, indem das Spiel der politischen Interessen in verschiedenen Epochen aufgedeckt wird. Lebendiger Geschichtsunterricht bietet die Chance, zweckgerichtetes menschliches Handeln im gesellschaftlichen Rahmen zu erklären. Das Fach schliesst eine Lücke in der Medienkunde und legt den Boden für politisches Verstehen. Es ist deshalb schwer verständlich, dass dieses wichtige Fach aktuell ohne klares inhaltliches Profil und mit reduzierter Lektionenzahl auskommen muss.

Deutsch und die Realienfächer haben eine Schlüsselfunktion für verstehendes und kritisches Lesen. Diese Fächergruppe verdient eine umfassende Aufwertung in der Lehrerbildung und im Rahmen des Lehrplans. Der zentrale Auftrag der Volksschule im Lesen und in der grundlegenden Kulturförderung kann nur erfüllt werden, wenn die Gewichte klar zugunsten des Deutsch- und Realienunterrichts verschoben werden.

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Geschichtslehrer fordern Umdenken https://condorcet.ch/2023/11/geschichtslehrer-fordern-umdenken/ https://condorcet.ch/2023/11/geschichtslehrer-fordern-umdenken/#respond Wed, 22 Nov 2023 17:04:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=15341

Professor Mario Andreotti und Hanspeter Amstutz haben an einem Podium des Vereins „Starke Volksschule St. Gallen“ ihre Thesen zum Geschichtsunterricht vorgestellt. Die beiden Geschichtslehrer, die auch im Condorcet-Blog regelmässig Beiträge veröffentlichen, sparten dabei auch nicht mit Kritik am Lehrplan 21 und der Lehrplanreform der Gymnasien. Daniel Wahl, Journalist des "Nebelspalter", war dabei.

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Die Fakten: Seit mehr als 100 Jahren hat die Geschichte im Fächerkanon der Gymnasien einen festen Platz: mindestens zwei Wochenlektionen über alle vier Jahre. Mit der Maturitätsreform findet dort nun ebenso ein Abbau statt, wie er bereits an Primar- und Sekundarschulen erfolgt ist. Jetzt formulieren Geschichtslehrer Hanspeter Amstutz und Mario Andreotti Thesen, um die anstehenden Debatten in Bildungsräten und diversen Kantonsparlamenten gegen den weiteren Abbau des Geschichtsunterrichts zu unterstützen.

Gastautor Daniel Wahl, Journalist beim “Nebelspalter”

Warum das wichtig ist: Immer weniger Jugendliche können erzählen, wie sich die Schweiz konstituiert hat. Wie Germanist und Geschichtslehrer, Professor Mario Andreotti, als Kompanie-Kommandant bei Fourier-Anwärtern nach Befragungen festgestellt hat, ist “wichtiges Geschichtswissen praktisch nicht mehr vorhanden”.

  • Die drei Gewalten Judikative, Legislative und Exekutive könnten nicht mehr benannt werden.
  • Das Wissen, wie sich eine repräsentative von einer direkten Demokratie unterscheidet, sei nahezu nicht mehr vorhanden.
  • Das Desinteresse an der Geschichte zeige sich auch an den Universitäten. Dort sei ein dramatischer Einbruch der Geschichtsstudenten von 40 Prozent über die letzten fünf Jahre zu verzeichnen.

O-Ton Andreotti: “Man muss sich nicht wundern, wenn Leute, die nie von Demokratie etwas gehört haben, nicht an Abstimmungen teilnehmen.”

Bei der Geschichtskunde gehe es nicht einfach darum, aus der Vergangenheit das Heute zu verstehen. Es gehe um die Möglichkeit, die menschliche Existenz zu begreifen. “Die Geschichte gibt Antwort auf die Frage: Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind”, sagt der Professor.

O-Ton Amstutz: “Das Fach Geschichte braucht wieder ein klares Profil. Lehrer und Eltern möchten gerne wissen, was denn an Schweizer Sekundar- und Primarschulen verbindlich unterrichtet wird.”

Es könne nicht sein, dass nur in einigen wenigen Klassen ein lebendiger Einblick ins 20. Jahrhundert vermittelt wird, während die Mehrheit irgendwo zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg stecken bleibt.

  • Die Schweizer Geschichte trägt bei zum nationalen Zusammenhalt.
  • Geschichte ist identitätsbildend.

The Big Picture: Die Marginalisierung des Geschichtsunterrichts hat verschiedene Ursachen und mit der linken Gegenkultur der 1968er-Bewegung eingesetzt. Zunächst wurden die Schattenseiten von historischen Persönlichkeiten hervorgehoben. Zum Beispiel wird Alfred Escher angebliche Beziehung zur Sklaverei unterstellt (Link). Demontiert wurden Schritt für Schritt Wilhelm Tell, die Schlacht von Morgarten und Arnold Winkelried. Hauptverantwortlich macht Andreotti dafür die beiden Historiker Thomas Maissen und Werner Meyer, die beide Geschichtsmythen bekämpften.

O-Ton Andreotti: “Es geht mir nicht um Verklärung von Helden. Aber Mythen sind der Kitt der Gesellschaft und für die Identitätsfindung wichtig. Es gibt keinen Staat ohne mythisches Fundament.”

Der Geschichtsabbau an den Schulen fand gemäss Amstutz und Andreotti wie folgt statt:

  • 2000 erste PISA-Studie: Der Geschichtsunterricht wird nicht “gemessen”, sondern nur das, was volkswirtschaftlich “nützlich” erscheint, wie Rechnen oder Leseverständnis. Die unterschwellige Botschaft an die Historiker: Geschichte ist überflüssig
  • 2004 verabschiedete die Eidgenössische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) das Konzept mit zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe. Es ging auf Kosten des Geschichtsunterrichts.
  • Ab 2014 Lehrplan 21: Reduzierung des Geschichtsunterrichts auf Primarschulebene im Sammelfach “Räume Zeiten Gesellschaften”. Ohne verbindlichen Aufbau, was die Beliebigkeit der Lehrinhalte begünstigte.
  • Lehrplan 21: An den Sekundarschulen ist Geschichte mit Geografie vereint und von vier auf drei Stunden reduziert worden. Die Lehrer verteilen die Stunden oft nach ihren eigenen Präferenzen.
  • Lehrplan 21: Statt Inhalte werde Kompetenzen formuliert. Dazu Andreotti: “Für den Geschichtsunterricht sind Kompetenzen Gift. Es geht um Inhalte.”
  • Maturitätsreform: Geschichte wird nur noch im zweiten, dritten und vierten Gymnasialjahr vermittelt. Eine dritte Stunde findet im vierten Jahr als Thema “politische Bildung” statt.
Mit Geschichte steht der Fächerkanon auf Kriegsfuss.

Die Indikatoren dafür, dass der “Geschichtsunterricht in den Schulen am Boden” ist, wie sich Hanspeter Amstutz ausdrückt, sind folgende:

  • Es gibt (wie Andreotti und Amstutz sagen) keinen eigenen Lehrstuhl mehr für Schweizer Geschichte an einer Schweizer Universität.
  • An den Schweizer Lehrerfortbildungstagen in St. Gallen gab es bei 111 Kursen keinen einzigen Weiterbildungskurs im Bereich Geschichte.
  • Als Kursleiter in Weiterbildung für Geschichte an der Sekundarschule hat Amstutz Einblick in den Geschichtsunterricht: die Vermittlung von aufbauender Geschichte, die zu einem chronologischen Geschichtsverständnis führt, ist die Ausnahme. Häufig sind nur noch Längsschnitte – “eine Postmoderne Beliebigkeit”: Man unterrichte beispielsweise Geschichte zum Thema Energie oder zum Thema Kolonialismus.
  • All dies kratzt am Berufsbild: Das Interesse am Geschichtsfach an Universitäten nimmt rapide ab, trotz steigender Studentenzahl.

 

Die neusten Zahlen will die Universität Zürich dem “Nebelspalter” nicht vorlegen, weil es sich angeblich noch um eine provisorische Erhebung handeln würde. Der Abbau der vergangenen Jahre ist aber wie folgt dokumentiert.

Grafik Datawrapper Sinkende Zahl von Studenten an der Universität Zürich

 

Wie es weitergeht: Zur Aufwertung des Geschichtsunterrichts haben Amstutz und Andreotti Thesen aufgestellt und diese vergangene Woche Interessierten in St. Gallen präsentiert.

Fürs Gymnasium in Kürze:
  • Durchgehender Unterricht von der ersten bis zur vierten Klasse mit mindestens zwei Wochenlektionen
  • “Politische Bildung” soll als eigenständiges Fach geführt werden
  • Chronologischer Aufbau des Geschichtsunterrichts
  • Genügend Raum für die Schweizer Geschichte, zum besseren Verständnis der Demokratie
  • Geschichte soll in Deutsch unterrichtet werden und ein vollwertiges Maturafach sei
Für die Volksschule:
  • Verbindliche Inhalte statt Kompetenzziele. “Kompetenzen sind das Nebenprodukt”
  • Vermittlung der Erfolgsgeschichte Schweiz als verbindlicher Auftrag an die Schule
  • Chronologischer Aufbau der Schweizer Geschichte anhand von “Meilensteinen”
  • Förderung der Erzählkunst an den Pädagogischen Hochschulen
  • Erhöhung der Lektionenzahl wieder auf mindestens zwei Geschichtsstunden pro Woche.

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Fehlender politischer Rückhalt für den Unterricht in Schweizer Geschichte https://condorcet.ch/2023/09/fehlender-politischer-rueckhalt-fuer-den-unterricht-in-schweizer-geschichte/ https://condorcet.ch/2023/09/fehlender-politischer-rueckhalt-fuer-den-unterricht-in-schweizer-geschichte/#respond Sun, 24 Sep 2023 17:41:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=15007

Wenn mit einem Lernangebot ein sanfter Druck auf die Lehrerschaft ausgeübt wird, bei historischen Schweizer Persönlichkeiten ausführlich auf dunkle Stellen ihrer Biografie hinzuweisen und sich verbreiteter rassistischer Symbole unserer Tage bewusst zu werden, ist Vorsicht am Platz. Darin verstecken sich zuweilen spezifische politische Anliegen - oder unzulässige Geschichtsklitterung, schreibt Condorcet-Gastautor Hanspeter Amstutz.

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«Zürich und der Kolonialismus» lautet der Titel eines Lehrmittels, welches das Präsidialamt der Stadt Zürich in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Zürich den Stadtzürcher Sekundarschulen zur Verfügung stellt. Das attraktiv gestaltete 76-seitige Schulbuch soll die Verstrickungen von Zürcher Kaufleuten in den Sklavenhandel im frühen 19. Jahrhundert aufdecken und alltäglichen Rassismus in der heutigen Zeit erkennen. Das Anliegen steht im Einklang mit dem Lehrplan, da das Ringen um Menschenrechte und mehr soziale Gerechtigkeit zu den zentralen Themen des Geschichtsunterrichts gehört.

Gastautor Hanspeter Amstutz

Tendenziöses Lehrmittel für Stadtzürcher Sekundarschulen

Trotz dieser positiven Vorzeichen wird man beim Engagement der Zürcher Stadtbehörden den Eindruck nicht los, es gehe den Verfassern weniger um ein pädagogisches als um ein spezifisches politisches Anliegen. Mit dem Lernangebot wird ein sanfter Druck auf die Lehrerschaft ausgeübt, bei historischen Persönlichkeiten ausführlich auf dunkle Stellen ihrer Biografie hinzuweisen und sich verbreiteter rassistischer Symbole unserer Tage bewusst zu werden. So heisst es im Glossar des Lehrbuchs, Rassismus sei ein «institutionalisiertes System, das weisse Menschen und ihre Interessen konsequent bevorzugt». Diese Definition trifft zwar den Kern des europäischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert, schiebt aber auch in der Gegenwart den rassistischen Überlegenheitswahn einseitig den hellhäutigen Menschen zu. Unzulässige Geschichtsklitterung wird im Lehrbuch betrieben, wenn der Eisenbahnpionier Alfred Escher als indirekter Profiteur von Erträgen aus der Sklavenplantage seines Onkels bezeichnet wird. Gewiss war der Hauptinitiant des Gotthardbahnprojekts eine umstrittene Figur. Er hatte grosse Ziel, besass eine fast übermenschliche Schaffenskraft, war aber oft rücksichtlos im Umgang mit seinen politischen und wirtschaftlichen Konkurrenten. Doch Escher mit dem Sklavenhandel in Verbindung zu bringen, ist absurd.

Wenn die Politik sich um Inhalte des Geschichtsunterrichts kümmert, darf sie den Blick aufs Ganze nicht verlieren. Macht sie dies wie der Zürcher Stadtrat, droht sie ihre pädagogische Glaubwürdigkeit zu verspielen. Jugendliche in der Sekundarschule verfügen in der Regel noch nicht über das nötige Grundwissen, um historische Persönlichkeiten souverän beurteilen zu können. Was Jugendliche in diesem Alter brauchen, ist vielmehr das Kennenlernen von Meilensteinen unserer Landesgeschichte der letzten gut 200 Jahre. Es gilt, die Umsetzung wirklich grosser Ideen im politischen Alltag mitzuverfolgen und dabei einige Kapitel ausführlich zu behandeln. Dazu zählt mit Sicherheit die aufregende Zeit rund um das Revolutionsjahr 1848. Und da spielte Alfred Escher im aufstrebenden jungen Bundesstaat eine entscheidende Rolle. Neben dem Berner Ulrich Ochsenbein und dem Winterthurer Jonas Furrer gehörte er zu den führenden Köpfen, welche in den politisch aufgeladenen Gründerjahren für eine Aufbruchstimmung sorgten.   

Verfassung von 1848 als Lehrstück für konstruktive Politik 

Als im Frühjahr 1848 Revolutionen in unseren Nachbarländern ausbrachen und die alte europäische Ordnung aus den Fugen geriet, tat sich für unser Land unerwartet eine Türe auf. Die Interventionsdrohung der Grossmächte verblasste, sodass in der Verfassungskommission der Tagsatzung ohne Einmischung von aussen die Idee eines modernen Schweizer Bundesstaates konkretisiert werden konnte. Es fehlte nicht an Dramatik, denn es war eine Herkulesaufgabe, in dem zwischen konservativen und liberalen Kantonen polarisierten Schweizer Staatenbund einen Ausgleich zu finden. Zum Glück gab es besonnene Persönlichkeiten auf beiden Seiten, welche die Gunst der Stunde erkannten und eine überzeugende Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen vorschlugen. Wie diese Einigung zwischen den unterschiedlichen Interessen gelang, ist ein Lehrstück konstruktiver Politik und ein Meilenstein der Schweizer Geschichte.

Ein solches Konzept würde Kritik an Unzulänglichkeiten der damaligen Politik nicht ausklammern, schafft aber eine respektvolle Grundstimmung für die Leistungen unserer Vorfahren. 

Völlig zu Unrecht gilt die Grundsteinlegung der modernen Schweiz als wohl langweiligste Revolution der Weltgeschichte. Dabei bietet diese Zeit des Aufbruchs genug Stoff für anschaulichen Geschichtsunterricht mit markanten Persönlichkeiten und grossartigen Ideen.

Wie wäre es, wenn die Zürcher Stadtregierung allenfalls in Zusammenarbeit mit Vertretern anderer Kantone den gut sichtbaren Spuren dieser prägenden Epoche in einem weiteren Lehrmittel nachgehen würde? Es wäre ein Zeichen, dass man gewillt ist, unserer Jugend ein wesentliches Stück unserer Schweizer Geschichte auf positive Weise zu vermitteln. Ein solches Konzept würde Kritik an Unzulänglichkeiten der damaligen Politik nicht ausklammern, schafft aber eine respektvolle Grundstimmung für die Leistungen unserer Vorfahren. 

Politisch verunsicherte Lehrerinnen und Lehrer ohne inhaltlichen Auftrag

Leider muss man schon froh sein, wenn in den Sekundarschulen ein knapper Abriss über den Aufbau unseres Staatswesens vermittelt wird. Kaum jemand bestärkt die Lehrpersonen in der Überzeugung, dass sie einen wichtigen Auftrag für die staatspolitische Grundbildung unserer Jugend haben. Solange die Politik es ablehnt, ein ungeschöntes Narrativ der jüngeren Schweizer Erfolgsgeschichte mitzutragen, fehlt dem Fach der nötige Rückhalt. In der Primarschule wiederum sind die Heldengeschichten aus der Sturm- und Drangzeit der Alten Eidgenossenschaft, welche im Unterricht einst patriotische Gefühle weckten, längst entzaubert worden. So wagen es die meisten Primarlehrkräfte heute gar nicht mehr, über den Tell-Mythos hinauszugehen. Das alles wäre zu verkraften, wenn man sich dafür umso mehr der neueren Geschichte zuwenden würde. Doch das geschieht höchstens noch bruchstückweise. Dabei sind die meisten Jugendlichen an unserer jüngsten Geschichte mit ihrer offensichtlichen Relevanz für die aktuelle Politik höchst interessiert.

Solange die Politik es ablehnt, ein ungeschöntes Narrativ der jüngeren Schweizer Erfolgsgeschichte mitzutragen, fehlt dem Fach der nötige Rückhalt.

Im Lehrplan wird zwar festgehalten, dass Einblicke in wichtige Epochen zum Bildungsprogramm gehören. Auch wird den geschichtlichen Erzählungen ein hoher Stellenwert zugestanden. Doch das Konzept, den Unterricht strikt auf Kompetenzziele auszurichten, erschwert eine inhaltlich kohärente Vermittlung unserer Landesgeschichte. Da der Lehrplan den Kompetenzzielen unzählige mögliche Inhalte zuordnet, ist in den Schulen der Eindruck einer grossen Beliebigkeit in der Stoffvermittlung entstanden. Man vermisst einen klaren inhaltlichen Bildungskompass für das Fach Geschichte. 

Für eine Schweizer Geschichte mit verbindlichen Kernthemen

Es ist beschämend, wie wenig man sich in der Politik fragt, was denn in den Schulen im Fach Geschichte tatsächlich unterrichtet wird. Selbst die Zürcher Bildungsdirektion tappt diesbezüglich im Dunkeln, wie vor kurzem die Antwort auf eine Interpellation im Kantonsrat aufgedeckt hat. Es genügt absolut nicht, einige Themen nur zu empfehlen und zu hoffen, dass etwas geschieht. Vielmehr geht es darum, dass in der Lehrerbildung eine gründliche wissenschaftliche und didaktische Auseinandersetzung mit verbindlichen Kernthemen stattfindet. Didaktisch bedeutet hier primär, dass die im Geschichtsunterricht so zentrale Erzählkunst bei den Studierenden stärker gefördert wird und Elemente der Spannung in den Unterricht eingebaut werden. Wissenschaftlich heisst, dass geschichtliche Entwicklungslinien erkannt und unterrichtsrelevante Kenntnisse zu ausgewählten Epochen erworben werden. Diese fachdidaktische Aufwertung wäre neben der politischen Unterstützung der beste Garant, um den Lehrerinnen und Lehrern Mut für einen gehaltvollen Geschichtsunterricht zu machen.

Es braucht eine gründliche Reform des Geschichtsunterrichts in der Volksschule.

Die Feiern zum Verfassungsjubiläum von 1848 mit dem Lob auf die staatspolitische Weitsicht der Gründerväter sind vorbei. Man fragt sich, was in der Bevölkerung hängenbleibt. Naiv wäre es zu glauben, schon mit einigen politischen Podien und attraktiven Museumsveranstaltungen für Jugendliche könne ein breites politisches Interesse geweckt werden. Was es vielmehr braucht, ist eine gründliche Reform des Geschichtsunterrichts in der Volksschule. Das Fach muss aus seiner Randstellung geholt und mit einem inhaltlich klaren Bildungsauftrag versehen werden. Damit kann sichergestellt werden, dass unsere moderne Landesgeschichte mit ihren politischen Verflechtungen zu einem wesentlichen Thema in den Schweizer Schulklassen wird.

Hanspeter Amstutz

 

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Die Geschichte eines Sprechverbots: An der Uni wird wieder der bestraft, der anders denkt https://condorcet.ch/2023/07/die-geschichte-eines-sprechverbots-an-der-uni-wird-wieder-der-bestraft-der-anders-denkt/ https://condorcet.ch/2023/07/die-geschichte-eines-sprechverbots-an-der-uni-wird-wieder-der-bestraft-der-anders-denkt/#comments Sat, 29 Jul 2023 15:49:56 +0000 https://condorcet.ch/?p=14663

Der Condorcet-Blog wurde seinerzeit gegründet, weil seine Initiatoren der Meinung waren, es werden in den Medien, in den PH’s, in der Verwaltung und in den Parteien nicht mehr alle Meinungen abgebildet oder zugelassen. Ausserdem würde sehr oft versucht, umstrittene Personen mit „Kontaktschuld“ und Etikettierung aus dem Diskurs fernzuhalten. Vier Jahre nach der Gründung unseres Bildungsblogs müssen wir feststellen, dass die Problematik der „Cancel culture“ um sich greift. Wenn verlangt wird, dass Professorinnen, die sogenannt missliebige Studien veröffentlichen, von ihrer Fakultät entlassen oder namhafte Wissenschaftler mit unpopulären Meinungen am Auftreten gehindert werden, müssen wir das klar benennen und uns dagegen wehren. Es widerspricht unseren Prinzipien einer offenen und freien Debatte. Von Anfang an suchten wir immer den Dialog mit Persönlichkeiten, die auch andere Überzeugungen haben und bemühten uns um das Prinzip „Rede und Gegenrede“. In keinem Milieu gedeiht die Einengung des Diskurses so prächtig wie an den Universitäten. Das Verrückte dabei ist: Niemand ist in Deutschland und in der Schweiz so abgesichert wie ein auf Lebenszeit berufener Hochschullehrer. Es kann ihm nichts passieren, wenn er sich querlegt oder einfach nur das macht, was er für richtig hält. Und dennoch ziehen alle sofort den Kopf ein, wenn Ärger droht. Jan Fleischhauer berichtet im Fokus von einem Fall an der Uni Erlangen.

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Von der Cancel Culture behaupten einige Leute hartnäckig, es gebe sie gar nicht. Was ist dann bloß an der Universität Erlangen passiert, wo gerade einer der bekanntesten Althistoriker Deutschlands ausgeladen wurde? Die Alte Geschichte ist eine stille Wissenschaft. Die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigt, sind seit Langem tot. Tote Völker, tote Steine, tote Sprachen. Nichts, womit man Aufregung oder gar Empörung auslösen könnte. Sollte man meinen.

Gastautor Jan Fleischhauer

Wie man sich doch täuschen kann. Vor zwei Wochen war der Althistoriker Egon Flaig an die Universität Erlangen eingeladen, um mit einem Abendvortrag ein Symposium zum Thema „Freiheit“ zu eröffnen. Flaig ist einer der wenigen Vertreter seines Fachs, die auch außerhalb der Fachwelt bekannt sind. Bis zu seiner Emeritierung hatte er den Lehrstuhl für Alte Geschichte in Rostock inne, noch immer ist er regelmäßig in großen Zeitungen mit Aufsätzen vertreten.

Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität.

Vor wenigen Monaten erst erschien von ihm ein viel beachteter Text, mit dem er sich in die Postkolonialismus-Debatte einmischte. Flaig wies in dem Artikel darauf hin, dass der Sklavenhandel nicht nur weiße, sondern auch schwarze Täter kannte – und auch weiße Opfer. Eine Million Europäer haben die Araber in die Sklaverei geführt, eine Zahl, die zeigt, dass der Wunsch nach historischer Wiedergutmachung nicht so leicht zu erfüllen ist, wie manche meinen.

Was wäre ein besserer Ort, um über historische Perspektiven zu debattieren, als eine Hochschule? Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität.

Was wäre ein besserer Ort, um über historische Perspektiven zu debattieren, als eine Hochschule? Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität. Dafür wird die akademische Welt vom Staat mit viel Geld ausgestattet. Dafür genießen Professoren eine materielle Absicherung, die ihresgleichen sucht.

Universität zieht Einladung zurück

Eine Woche vor dem geplanten Auftritt in Erlangen erreichte Flaig ein Schreiben des Professors, der ihn eingeladen hatte, des Archäologen Andreas Grüner. Mit dem größten Bedauern sehe er sich gezwungen, die Einladung zurückzuziehen, schrieb Grüner.

Was war geschehen? Das fragte sich auch Flaig und bat um Rückruf. Am Telefon darauf: Ein zerknirschter Kollege, der beteuerte, wie leid ihm alles tue. Man habe sich schon sehr auf den Vortrag gefreut, aber dann habe sich der Dekan der Universität eingeschaltet, ob man wirklich einem wie Flaig eine Plattform bieten wolle?  In einem weiteren Schreiben aus dem Dekanat hieß es, das Meinungsbild innerhalb der Fakultät sei eindeutig. Die Gründe? Im Unklaren.

Professor fürchtet sich vor „Repressalien“

Auf Flaigs Hinweis, als Professor stehe Grüner doch frei zu entscheiden, wen er einlade und wen nicht, bat dieser noch einmal um Entschuldigung. Er müsse an die jungen Leute denken. Würde er bei seiner Einladung bleiben, würde das möglicherweise Kreise ziehen und die wissenschaftlichen Mitarbeiter Repressalien aussetzen. Es täte ihm furchtbar, furchtbar leid, aber ihm bleibe keine andere Wahl.

Der Kolumnist Harald Martenstein hat neulich darauf hingewiesen, dass es sich bei der Cancel Culture wie mit der Stadt Bielefeld verhält, von der Spaßvögel auch behaupten, es gebe sie gar nicht.  Parallel zur Praxis der Cancel Culture hat sich ein regelrechter Wissenschaftszweig etabliert, der die Cancel Culture als Hirngespinst betrachtet. Wäre der Begriff nicht schon anderweitig vergeben, würde man von Cancel-Culture-Leugnern sprechen.

Ist die Cancel Culture doch nur Einbildung?

Der bekannteste Vertreter der neuen Profession ist der Literaturwissenschaftler Adrian Daub. Daub hat ein ganzes Buch vorgelegt, dass die Cancel Culture zu einem Missverständnis erklärt. Es wollten heute halt auch Leute mitreden, die bis eben noch ausgeschlossen gewesen seien, Frauen, Schwarze, Transmenschen. Das führe bei den etablierten Diskursanführern zu einem Störgefühl, das sie mit Cancel Culture verwechselten. Alles also Einbildung? Ich neige in der Sache eher zu Martenstein. Dafür laufen da draußen, wie er sagen würde, nicht nur zu viele Bielefelder, sondern auch Gecancelte herum.

Die akademische Welt ist derzeit der heißeste Frontabschnitt im Kampf um die Meinungsfreiheit. Der Fall Flaig ist dabei so interessant, weil er die Grenze verschiebt, von der offenen Auseinandersetzung ins Heimliche und Verdeckte. Bis heute ist unklar, woher die Initiative zur Ausladung kam. War es der AStA, der sich beschwerte? Oder ein Kollege, der fand, dass jemand, der daran erinnert, dass der Sklavenhandel auch schwarze Nutznießer hatte, nicht nach Erlangen passt?

Die akademische Welt ist derzeit der heißeste Frontabschnitt im Kampf um die Meinungsfreiheit.

Oder war es am Ende eine einsame Entscheidung des Dekans, der schlechte Presse fürchtete? All das liegt im Unklaren. Es gibt noch nicht einmal eine Begründung, weshalb Flaig in Erlangen unerwünscht ist. Publik gemacht hat den Fall der ehemalige SPD-Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern Mathias Brodkorb. „Akademischer Suizid?“ lautete die Überschrift seines Artikels in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Heute ist das ein Todesurteil

Aber auch Brodkorb gegenüber wollte die Universität nicht sagen, warum sie ihren Gast wieder ausgeladen hat. Der Dekan beruft sich auf Vertraulichkeit. Das ist nicht nur feige – dem Betroffenen wird so jede Möglichkeit genommen, sich gegen die Rufschädigung zur Wehr zu setzen. Wie soll man sich gegen einen Vorwurf verteidigen, den man nicht kennt?

Man darf sich nicht vertun: Eine Ausladung wie die in Erlangen hat Folgen. Andere Fakultäten werden sich gut überlegen, ob sie noch eine Einladung aussprechen. Es braucht nicht viel, um sich das Gespräch vorzustellen. „Ach, muss es der XY sein? Der ist doch so umstritten. Lass uns jemand anderes nehmen.“ Die Zeit, als umstritten zu sein, noch ein Grund war, jemanden erst recht zu bitten, ist lange vorbei. Heute ist das ein Todesurteil.

Universitäten legen den freien Diskurs in Ketten. Auch jenen über den Sklavenhandel.

Das ist das Gemeine: Wenn man gar nicht erst eingeladen wird, braucht es anschließend keine Ausladung mehr. Dann ist man gecancelt, ohne beweisen zu können, dass man gecancelt wurde. Genauso ist es auch bezweckt. Es versteht sich von selbst, dass alles im Namen der Meinungsfreiheit geschieht. Die Suspendierung der Freiheit, um die Freiheit zu garantieren, das ist der eigentliche Twist.

Vor Jahren erhielt ich einen Anruf meines Freundes Henryk M. Broder, ob ich am nächsten Tag in London sein könne. Die „German Society“ an der London School of Economics hatte Broder, den langjährigen „Spiegel“-Kulturchef Hellmuth Karasek und den gerade als Bestsellerautor hervorgetretenen Bundesbanker Thilo Sarrazin zu einer Podiumsdiskussion eingeladen.

Eigentlich hätte die damalige ZDF-Korrespondentin die Diskussion moderieren sollen, aber die hatte plötzlich kalte Füße bekommen. Also saß ich am kommenden Tag im Flugzeug. Am Nachmittag fand ich mich mit dem gut gelaunten Broder und seinen beiden Mitstreitern vor Ort ein. Doch dann trat ein Vertreter der Universität an uns heran.

„Free Speech Aktivisten“ schaden dem freien Diskurs

Die „Free Speech Group“ der London School of Economics hatte Protest angemeldet. Sarrazin und Broder seien „Provokateure“, deren „Unwissenschaftlichkeit“ dem freien Diskurs schade. Dem Argument folgend, dass die Ausübung der freien Rede nachteilige Folgen haben könne, hatte die Verwaltung die Nutzung des Hörsaals untersagt.

Die Diskussion fand dann doch noch statt, im Ballsaal des nahe gelegenen „Waldorf Hilton“. Der Vorsitzende der German Society Marc Fielmann, Sohn des bekannten Brillenhändlers, verfügte über die nötigen Kontakte. So war es am Ende eine Hotelkette, die die Ausübung der Meinungsfreiheit sicherstellte, gegen die Free-Speech-Aktivisten.

So war es am Ende eine Hotelkette, die die Ausübung der Meinungsfreiheit sicherstellte, gegen die Free-Speech-Aktivisten.

Der deutsche Professor war noch nie ein großer Kämpfer für die Freiheit. Man soll mit historischen Vergleichen vorsichtig sein, aber an dieser Stelle muss man es vielleicht doch erwähnen:  Als die deutsche Professorenschaft 1934 aufgefordert wurde, einen Eid auf Adolf Hitler abzulegen, gab es lediglich zwei Hochschullehrer, die diesen verweigerten. Der eine war der Theologe Karl Barth, der war allerdings Schweizer. Der andere war Kurt von Fritz, Professor für Altgriechisch an der Universität Rostock.

Manchmal lohnt es, sich vorzustellen, wie sich Menschen in einer anderen Zeit in einem anderen System verhalten hätten. Wer in Erlangen studiert, hat nun eine begründete Vermutung, was seine Professoren, angeführt von dem Dekan Rainer Trinczek, angeht.

 

Lesen Sie dazu auch: https://condorcet.ch/2023/05/die-ethnologin-susanne-schroeter-steht-unter-druck-wissenschaft-ist-auch-eine-charakterfrage/

 

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Ein Palast für die Bildung https://condorcet.ch/2023/07/ein-palast-fuer-die-bildung/ https://condorcet.ch/2023/07/ein-palast-fuer-die-bildung/#respond Thu, 13 Jul 2023 13:42:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=14549

Wer ein Auge für Schweizer Schulhäuser aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat, staunt über die architektonische Pracht dieser Bauten. Viele weisen Residenzcharakter auf. Sie signalisieren Aufbruch und Fortschritt. Ein Blick in die damalige Kleinstadt Zug von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Bis weit ins 19. Jahrhunderts hinein haben es Schule und Unterricht schwer: Einen regelmässigen Schulbesuch gibt es nicht. In einer bäuerlich-gewerblichen Gesellschaft besitzt Bildung einen bescheidenen Stellenwert. Sie bleibt das Vorrecht weniger. Die Bevölkerung ist arm, das Leben vieler kärglich, der Unterricht darum schmal. Man braucht die Kinder als Hilfskräfte auf Feld und Hof. Der Stall ist notgedrungen stärker als die Schiefertafel, das Brot wichtiger als ein Buch. Der obligatorische Schulbesuch, wie ihn die Helvetik von 1800 postuliert und der liberale Bundesstaat von 1848 vorsieht, ist darum schwierig zu konkretisieren.

Von der schmalen Schulstube zum majestätischen Bildungstempel

Mit der Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) von 1874 müssen alle Kantone die Primarschulpflicht durchsetzen: Die neue BV verordnet die allgemeine Schulpflicht. Der Primarunterricht wird für alle Kinder obligatorisch und unentgeltlich. Der Weg dahin aber ist steil und steinig. Bildung muss mühsam aus dem Wirrwarr des Zufallslernens befreit und zeitgerecht institutionalisiert werden. Doch es geht vorwärts.

Das Burgbachschulhaus in der Stadt Zug von 1875 (Bild: Stadtarchiv Zug)

Die Bildungsexpansion nach 1850 ruft nach Raum. Die Stadt Zug beispielsweise errichtet auf den Kellergewölben des alten Spittels ein repräsentatives Schulgebäude – aus Natursandstein und gehalten ganz im Stil der zeitgenössischen Neugotik: das Burgbachschulhaus. Der Bau wird 1875 eingeweiht und zum zentralen Schulhaus der Stadt Zug – allerdings nur für Knaben.[1] Die oft stickige Enge des Zimmers weicht nun der Weite eines Gebäudes. Der Wechsel aus der muffig-maroden Schulstube früherer Zeiten ins geräumig-grosse Burgbach-Schulhaus gleicht einem Siebenmeilenschritt. Es umfasst sechs luftige und helle Unterrichtsräume, dazu einen Musiksaal und auch Fachräume. Das Neue wird fassbar und konkret.

Die Schulhausuhr signalisiert eine neue Epoche

Jede Gemeinde baut ihr Schulhaus, oft mit klassizistischen Säulen, meist mit klar gegliederter Fassade, weiten Fenstern und einem grossen Treppenaufgang: Die Kinder steigen nun zur Bildung empor – und durchschreiten für den Unterricht die grosse Eingangspforte. Symbol und Auftrag zugleich. Auch beim Burgbachschulhaus.

Eindrücklich kommt das beim imposanten Stadtzuger Neustadtschulhaus (heute Musikschule) zum Ausdruck: die breite Stiege und die markante Türe mit dem Rundbogen und den allegorischen Figuren. Sie steht auch Mädchen offen – allerdings erst nach hartem politischem Ringen.

Das Stadtzuger Neustadtschulhaus von 1909 mit dem Aufgang und Eingang zur Bildung (Foto: Stadt Zug/zVg)

Neben der Kirche erhält vielfach auch das Schulhaus eine Uhr. Sie signalisiert die neue Epoche: Das Schulleben geht im Takt – die Zeit der Uhr als standardisierte Normalität. Zeiten der Schule sind Zeiten des Lernens. 

Ein neoklassizistischer Schulpalast

Wer die beiden Stadtzuger Schulhäuser betrachtet, wundert sich über die architektonische Eleganz dieser Bauten. Beide weisen Residenzcharakter auf. Sie gelten – wie viele Schulhäuser aus dieser Zeit – als Tempel des bildungspolitischen Aufbruchs und Fortschritts. Der Bau signalisiert die neue Ära: Das Land realisiert ideell und dann auch materiell-organisatorisch, was bereits die Helvetische Republik (1798–1803) unter ihrem Bildungsminister Philipp Albert Stapfer erreichen wollte: eine umfassende und für alle Kinder obligatorische Bildung und Erziehung als Fundament des demokratischen Staates.

1870 entsteht etwas ausserhalb der Stadt Zug eine private Knabenschule. Errichtet wird ein eindrücklicher Schulpalast im neoklassizistischen Stil. Dazu gehört auch eine Turnhalle – die erste im Kanton Zug; dazu zählen Spielplätze, eine Allee und ein weiter Park mit Springbrunnen, Grotten und einem Weiher. Das Areal reicht bis zum See. Die Gotthardbahn existiert noch nicht. Erst 1897 durchschneiden ihre Geleise die weitläufige Grünfläche dieser herrschaftlichen Schulanlage.

«Minerva» bei Zug, Erziehungs- und Unterrichts-Anstalt für Knaben – um 1880 (Bild: Stadtarchiv Zug)

Zeitzeuge und Erinnerungsort vieler Gymnasialjahrgänge

Die Schule trägt den Namen Minerva, nach der römischen Göttin der Weisheit. 1906 entsteht auf dem Campus ein privates «Mädchengymnasium und eine internationale höhere Töchterschule»; Namensträgerin wird Athene, die griechische Göttin der Wissenschaft. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs muss die Schule schliessen.

1920 zieht die Kantonsschule Zug ins imposante Schulgebäude der Athene ein – mit rund 100 Schülern und einigen wenigen Schülerinnen. Der Name Athene ist Programm und Auftrag: humanistische Bildung, orientiert an der griechisch-​römischen Klassik – für unzählige Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. 50 Jahre später zählt die Schule über 700 Personen. Das Bauwerk ist zu klein geworden. 1975 zieht das Zuger Gymnasium an einen neuen Standort – nach einem rauschenden Abschiedsfest und einer «wilden Nacht mit Athene».[2]

Der alte Schulpalast von 1870 soll einem Neubau weichen. Doch eine Volksinitiative rettet diesen Zeitzeugen und Erinnerungsort vieler Gymnasialjahrgänge vor dem Abriss. Das Gebäude wird sorgfältig renoviert.[3] Heute beherbergt die Athene die kantonale Fachmittelschule FMS und die Berufsvorbereitungsschule BVS.

Bildung als Bergaufprozess

Das «Volk im Zwilch», die einfachen Leute, aus seiner Not herausführen und emporführen – und es dem «Volk in Seide» über Bildung gleichstellen, das ist Johann Heinrich Pestalozzis Idee, davon träumen die Repräsentanten der Helvetik, das realisiert der neue Bundesstaat von 1848. Doch Bildung ist anstrengend und anspruchsvoll, lernen und sich bilden ein steter Bergaufprozess und kein linearer Schnellpfad – das weiss die Gründergeneration der Schweizer Volksschule. Die Treppe zum Schulhaus symbolisiert es. Keine Spur von der aktuellen Leichtigkeitsillusion! Viele alte Schulhäuser erinnern an diesen Aufbruch – und den Aufstieg zur Bildung.

Die repräsentativen Schulgebäude von damals zeigen zugleich, welche eindrückliche Form man der Formatio, der Bildung, gegeben hat: Der Weg führte aus der engen, stickigen Schulstube hinaus zum majestätischen Bildungstempel. Bildung als Befreiung. Ganz im Sinne des Philosophen Immanuel Kant. Das erstaunt nicht. Die frühen Promotoren einer besseren Bildung waren vielfach am Denker aus Königsberg geschult. Das galt für Stapfer wie für Pestalozzi.

 

[1] Die Mädchen gehen weiterhin zu den Lehrschwestern von Maria Opferung oberhalb der Stadt Zug zur Schule.

[2] Andreas Grosz, ATHENE oder: Aus der Schule plaudern, in: NZZ, 25./26.02.1989, S. 86-88

[3] Renato Morosoli, Göttin am Zugersee, in: Personalziitig 86/2018, S. 14f.

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Die gute „alte Schule“ von anno dazumal – an Klassentreffen oft nostalgisch überhöht. Der Autor weiss um diesen "Verklärungseffekt". Er wagt es trotzdem: eine essayistische Skizze aus der Primarzeit, subjektiv formuliert und aufgetragen mit grobem Pinsel von Condorcet-Autor Carl Bossard.*

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Ganze Generationen gingen einst zu den gleichen Lehrerinnen und Lehrern in den Unterricht: zu Fräulein Alfonsa Moos im Zuger Burgbachschulhaus beispielsweise oder zum legendären Lehrer Miran Meyer im Neustadt. Pädagogische Konstanten über Jahre und Jahrzehnte. Ausdruck von Stabilität. Jedermann wusste, welche Werte sie vertraten und wofür sie einstanden. Wandel war wenig, weder gesellschaftlich noch pädagogisch.

Aufwachsen in einer engen Welt

Aufwachsen in der katholisch-tridentinisch geprägten Welt der Kleinstadt Zug hiess gross werden im manichäischen Weltbild von gut und böse, fleissig und faul, korrekt und nonkonform, immer auch belastet mit dem bleischweren Gewicht der Sünde. Nur keine unkeuschen Gedanken!, lautete das priesterliche Verdikt – mit dem Strafgericht Gottes als finaler Drohung. Das Weltgericht über dem Chorbogen in der Stadtzuger St. Oswaldskirche – das imposante “Jüngste Gericht” des Malers Melchior Paul von Deschwanden – wies den Weg: hier die Gottesfürchtigen, dort die Sündigen.

Condorcet-Autor Carl Bossard

Die Hierarchie von Himmel, Fegefeuer und Hölle war gottgegeben. Wir wussten genau, warum wir auf der Welt waren. Der Katechismus deklarierte es, auswendig deklamierten wir es: “Wir sind auf der Erde, um Gott zu gefallen, ein anständiges Leben zu führen und einmal in den Himmel zu kommen.” Katechismuswahrheit als Leitwert für den Alltag.

Die Kirchenglocken gaben den Ton an

Die Zeit der 50er- und der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts war eine geschlossene, mental und soziokulturell homogene Welt. Ein Leben fast nach dem Rhythmus der Kirchenglocken. Sie läuteten nicht nur, sie gaben auch den Ton an – und setzten damit Werte und Normen. Religion und Tradition prägten den Alltag. Der sonntägliche Messbesuch war wie Militärdienst: obligatorisch. Und in dieser gefestigten, wohl geordneten Welt galt die Lehrerin, der Lehrer als Inkarnation fachlicher und pädagogischer Autorität. Ihr Sozialprestige war hoch und intakt – fast auf der Stufe des Stadtpfarrers, nur wenig unter dem Chefarzt des Bürgerspitals. Man glaubte und vertraute ihnen; kein Zweifel störte. Warum auch? Die Schule war unbestrittene Bastion von Zucht und Erziehung. Niemand klopfte an die Schultür, kaum jemand reklamierte und verlangte Neues. Inhalte und Lehrbücher veränderten sich nur wo wirklich nötig. Die Wiederkehr des Gleichen war das Grundmuster des damaligen Lebens. Rackern und Sich-Mühen waren Pflicht, die schulischen Prinzipien so klar wie die zehn Gebote Gottes.

Lernen in einer gefestigten, wohlgeordneten Welt.

Im Übrigen war es die Zeit des Kalten Krieges, der Feind kam aus dem Osten. Die Welt war zweigeteilt. Man wusste, was galt; hier wie dort. Kritische, offene Auseinandersetzung? – Fehlanzeige. Entsprechend waren die Schülerinnen und Schüler die braven, gefügigen Empfänger pädagogischer Intention. Gehorchen war Gebot.

Die Schulwelt war männlich

Die Fräuleins oder die Menzinger Lehrschwestern unterrichteten die erste und zweite Klasse. Weiter brachten sie es kaum. Für die weltlichen Lehrerinnen galt im Übrigen das pädagogische Zölibat. Wollten sie heiraten, mussten sie den Lehrberuf aufgeben. Ab dem dritten Schuljahr wurde die (Schul-)Welt männlich. Nur noch Lehrer. Mit ihnen kamen neue Werte. Hierarchischer und asymmetrischer wurde das Verhältnis. Von oben blickten sie uns an, und wir schauten zu ihnen hinauf. Irgendwie wussten wir: Da stand jemand vor uns, der eine Ahnung vom Leben hatte, vom wirklichen Leben. Unser 3./4.-Klasslehrer, der Wandervater Fridolin Stocker, erfand das gelb markierte Netz der Schweizer Wanderwege. Jeden Freitag erklang seine Stimme auf Radio Beromünster. Das tröstete über alle didaktischen Albträume hinweg. Und der 5./6.-Klasslehrer Miran Meyer: Theaterstücke schrieb er und führte Regie. Auch hier ganz Magister und fachliche Autorität – tatenorientiert und konfrontativ.

Irgendwie wussten wir: Da stand jemand vor uns, der eine Ahnung vom Leben hatte, vom wirklichen Leben.

So traten beide auf, so wirkten sie, so konfrontierten sie, und so rieben wir uns an ihnen. Sie setzten sich mit uns jungen Männern leibhaft auseinander. Unbewusst inkarnierten sie für uns eine Art positiver Aggressionsvorbilder. Ihre subkutane Botschaft: “Lasst uns Männer sein!” Eben: Die Schule war männlich.

Zur Bildung stiegen wir empor

Stramm und straff begann der Tag. In Zweierkolonne standen wir ein, Knaben und Mädchen auf sichere Distanz getrennt: die Knaben beim Vordereingang des grossen Gebäudes, die Mädchen hinten. Abmarsch die Treppe hoch zur Bildung, vorbei am Lehrer durch die mächtige Tür ins Schulhaus. Symbol und Auftrag zugleich. Unsere Klasse: alle katholisch und deutschsprachig, alle grau gekleidet und die Haare kurz geschoren.

Zur Bildung stieg man empor: das Neustadtschulhaus der Stadt Zug mit der mächtigen Eingangstüre. (Bilder: Stadt Zug/zVg)

Im Schulzimmer rangierten wir nach Notendurchschnitt. Eins war die beste Note, die Fünf figurierte am Ende der Skala. Der Schüler mit dem tiefsten und besten Schnitt sass ganz hinten, derjenige mit dem höchsten Wert vorn, direkt vor dem Katheder. Zwei Ausnahmen: der Türchef und der Tafelchef – Notenschnitt Nebensache.

Jeden Morgen wartete die vielköpfige Schar auf den Lehrer. Einer horchte. War er im Anmarsch, schnellten wir hoch. Er kam, trat ein, schritt würdig zum Katheder, stieg die Stufe hoch, legte den Kittel auf die Stuhllehne. Dann blickte er in die Schülerschar und sagte militärisch knapp: “Setzen!”

Eine Schule mit fast militärischer Disziplin

48 sassen im engen Schulzimmer; mucksmäuschenstill war es. Der Lehrer auf dem Thron, wir in den Holzbänken. Er kommandierte, und wir gehorchten; er fragte, und es wurde geantwortet; er sprach “ruhig!”, und es ward still. Kein Widerspruch, kein Aufmüpfen. Die Disziplin war fast preussisch, das Turnen militärisch, die Ordnung straff. Heftführung und Aussprache, Schreiben und Rechnen hatten hohe Priorität. Dazu kamen Kantonsgeografie und Schweizer Geschichte.

Wurden wir aufgerufen und abgefragt, standen wir auf. Wer die Antwort wusste, setzte sich wieder, sonst blieb er aufrecht. Manchmal stand fast die ganze Klasse. Angst war spürbar, gar greifbar, fahle Furcht, etwas nicht zu wissen. Sie lähmte und drückte auf das Gemüt, eine Art Appetitlosigkeit der Seele.

Die Angst frass sich in uns hinein und trieb kalte Schweissperlen auf die Stirn.

Standen wir alleine vor der schwarzen Tafel, war sie wieder da, die Furcht. Wie Schiffbrüchige kamen wir uns vor, kalkbleich und allein gelassen – unfähig, über etwas nachzudenken und den andern zu erklären, was wir gelernt hatten, vergeblich bemüht, unser Gehirn zu zermartern. Die Angst frass sich in uns hinein und trieb kalte Schweissperlen auf die Stirn. Wir ertrugen es stoisch; denn wir wussten: Der Lehrer war zu allen gleich und konnte auch ganz anders sein als nur streng.

Autoritär und achtsam zugleich

Unser Fünft- und Sechstklasslehrer kannte vermutlich nur zwei Schulreisen, und beide führten ins Urnerland, die eine aufs Rütli, die andere ins kahle Urserental. Keine spektakuläre Reise, keine Actions, keine Events. Noch heute schaue ich hinauf zum trutzigen Turm, wenn ich mit der Matterhorn-Gotthard-Bahn (MGB) an Hospental vorbeifahre. Warum? Der Schulreise wegen. Lange und langsam waren wir auf der Wanderung von Hospental nach Andermatt unterwegs. Zuerst verweilten wir beim imposanten Turm, diesem Zeugen aus alter Zeit. Dann tauchten wir in den dunklen Schutzwald ein. Der Lehrer zeigte uns, was der Bannwald für das Dorf bedeutete und darum gehütet war wie ein Schatz.

Ich erlebte den strengen, starken Mann, wie er sich liebevoll den Details zuwandte, spürte seine elegisch-lyrische Ader. Wir, eine wilde Bande von fast 50 Knaben, waren gefangen vom Augenblick und aufmerksam, achtsam. Darum war es einprägsam und wirksam, was er uns erzählte. Noch heute weiss ich, wie er uns die kleine Kapelle St. Karl Borromäus bei Hospental erklärte und die Inschrift deutete. Sie wurde zur Metapher des menschlichen Lebens und blieb unauslöschlich im Gedächtnis.

Hier trennt der Weg,
o Freund, wo gehst Du hin?
Willst du zum ew’gen Rom hinunterziehn.
Hinab zum heil’gen Köln.
Zum deutschen Rhein.
Nach Westen weit in’s
Frankenland hinein?

Die Kapelle St. Karl Borromäus in Hospental (Bild: Uri Tourismus)

Auf dieser Schulreise zählte nicht das Besondere, bedeutungsvoll war das Naheliegende. Unser Lehrer hatte ein Auge für das Bedeutsame im Kleinen, ein Gespür für das Grosse im begrenzten Mikrokosmos seines heimatlichen Urserentals. Ein Lehrer mit einem achtsamen Auge für das Grosse im Kleinen, leidenschaftlich verliebt in die Geheimnisse dieser Landschaft, vertraut mit den unscheinbaren Phänomenen dieses Gebirgstals.

Ein Ding richtig können

Die Schulreise ist paradigmatisch: Was wir “durchnahmen”, nahmen wir gründlich durch, mündlich und schriftlich, mit vielen Sinnen, präzis und diszipliniert. Ein Ding richtig können, ist mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Was Goethe sinngemäss sagte, lebte unser Lehrer und verlangte es. Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv und genau! – Non multa, sed multum!, heisst es beim römischen Denker Plinius. Jeden Aufsatz hat er sauber korrigiert und mit jedem einzelnen persönlich besprochen. In zwei Jahren schrieben wir über 20 Aufsätze. Das bedeutete für ihn die Korrektur von rund tausend Texten.

Intelligenzen für die Zukunft

Es war eine harte und patriarchalische Schule, fordernd und anspruchsvoll, bemüht um elementares Basiswissen – eine Bildung, die sich ganz unflexibel einer Sache und ursprünglicher Erfahrung hingab. Welcher Wandel der Modelle, der Themen und Stile im Vergleich zu heute. Und doch: Unser Fünft- und Sechstklasslehrer verkörperte und verlangte etwas von dem, was der amerikanische Erziehungswissenschaftler Howard Gardner als Intelligenzen für das 21. Jahrhundert formuliert: diszipliniertes und kreatives Arbeiten und Denken.

Es war eine männliche Schule – und dennoch vorwärtsorientiert, obwohl die Zukunft gemäss der deutschen Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich schon damals weiblich war.

 

*  Der Verfasser beschreibt, was er erlebt hat – ohne jeden Transfergedanken auf die heutige Zeit. Es ist keine Laudatio temporis acti.

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Der neue Lehrplan: Hehre Bildungsziele https://condorcet.ch/2022/10/der-neue-lehrplan-hehre-bildungsziele/ https://condorcet.ch/2022/10/der-neue-lehrplan-hehre-bildungsziele/#comments Mon, 31 Oct 2022 21:42:28 +0000 https://condorcet.ch/?p=12167

Dominic Iten setzt sich in seinem Bericht mit den hehren Zielen des Lehrplans 21 auseinander und konfrontiert diese mit den in der Praxis eingesetzten Lehrmitteln. Eine Fallstudie mit Durchblick.

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Dominic Iten, Lehrer in Bern, Redaktor von Widerspruch

Die gemäss Lehrplan 21 vermittelte Bildung soll den Einzelnen ermöglichen, ihre «Potenziale in geistiger, kultureller und lebenspraktischer Hinsicht zu erkunden, sie zu entfalten und über die Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt eine eigene Identität zu entwickeln.» Bildung soll befähigen «zu einer eigenständigen und selbstverantwortlichen Lebensführung, die zu verantwortungsbewusster und selbstständiger Teilhabe und Mitwirkung im gesellschaftlichen Leben in sozialer, kultureller, beruflicher und politischer Hinsicht führt.» Besonderer Wert wird im Lehrplan 21 ausserdem auf die Bildung für nachhaltige Entwicklung gelegt: «Die Schüler:innen setzen sich mit der Komplexität der Welt und deren ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander. Sie erfassen und verstehen Vernetzungen und Zusammenhänge und werden befähigt, sich an der nachhaltigen Gestaltung der Zukunft zu beteiligen.» Das klingt vielversprechend.

 

Geschichte wird zu RZG: Geschichte von unten?

Nun formuliert der neue Lehrplan nicht nur eine Reihe kompetenzorientierter Bildungsziele – mit der Einführung des neuen Lehrplans geht auch eine tiefgreifende Umstrukturierung des Bildungswesens einher. Dies betrifft sowohl die Form, in der Bildungsinhalte vermittelt werden sollen als auch die Inhalte selbst. Geschichte wird im Zuge der Einführung des Lehrplans 21 als eigenständiges Unterrichtsfach aufgelöst und findet Eingang in den neu geschaffenen Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG). «Im Zentrum [des Fachbereichs NMG] steht die Auseinandersetzung der Schüler:innen mit der Welt. Um sich in der Welt zu orientieren, diese zu verstehen, sie aktiv mitgestalten und in ihr verantwortungsvoll handeln zu können, erwerben und vertiefen sie grundlegendes Wissen und Können.» Auch das klingt erst mal gut.

Angepeilt ist eine Hinwendung zur Lebenswirklichkeit des einzelnen, unabhängig von Geschlecht, Alter oder sozialer Stellung.

Und eine genauere Betrachtung der didaktischen Hinweise für das Fach RZG (das dem ehemaligen Fach Geschichte am nächsten kommt) lässt hoffen: Nicht mehr rohes Faktenwissen soll vermittelt werden, kein Auswendiglernen von grossen Namen und bedeutenden Daten im Vordergrund stehen: «Geschichtsunterricht zielt darauf ab, dass Schüler:innen anhand von Beispielen aus der Vergangenheit allgemeine, über das konkrete Beispiel hinausweisende Einsichten für die Gegenwart und Zukunft gewinnen.» Der Unterricht soll sich bewusst abwenden von grossen Erzählungen, der Geschichte der grossen Männer und der entscheidenden Schlachten. Angepeilt ist eine Hinwendung zur Lebenswirklichkeit des einzelnen, unabhängig von Geschlecht, Alter oder sozialer Stellung und insbesondere zu den Zusammenhängen zwischen der individuellen Lebenswirklichkeit und den gesellschaftlich übergreifenden Strukturen und Prozessen, denen diese unterworfen sind.

Das entsprechende Lehrmittel: Der Durchblick

Doch wie siehts in der Praxis aus? Wie wird in den nach Lehrplan 21 gestalteten Lehrmitteln Bezug auf den Alltag der Schüler:innen genommen? Wird hier tatsächlich eine didaktische Brücke zwischen der Lebenswelt des Lernenden und dem Politikbezug des Lerngegenstandes geschaffen oder ist die pädagogische Alltagsorientierung eher als Entpolitisierungsprozess zu verstehen, der Fachbezüge zugunsten von Lebensweltbezügen ersetzt? Wird in den hier untersuchten Lehrmitteln tatsächlich der Versuch gemacht, an die gesellschaftlichen Wurzeln zu fassen, oder handelt es eher um eine am Bestehenden und Herrschenden orientierte Heimatsuche?

Durchblick, Band II

Das nach Vorgaben des Lehrplan 21 entwickelte Lehrmittel für den Fachbereich Geschichte nennt sich Durchblick und erscheint in zwei Bänden. Es wurde von einem interkantonalen Autorenteam verfasst und behandelt in Band I grob gesprochen die Kernthemen Revolution, Schweizergeschichte und die europäische Industrialisierung, in Band II den Imperialismus, die beiden Weltkriege, den Wandel der Schweiz sowie Demokratie und Menschenrechte. Gemessen an den grossen Forderungen und hohen Ansprüchen des Lehrplans kommen die Lehrmittel auf den ersten Blick erstaunlich konventionell daher. Die beiden Bände bieten einerseits einen klassischen Abriss der grossen Themen der Weltgeschichte, oftmals festgemacht an grossen Männern: Auf Luther und Zwingli folgen Louis IX und Napoleon, danach Bismarck, bald einmal Hitler und Stalin und zuletzt (bemerkenswerterweise) Emilie Lieberherr. Andererseits wird der Geschichte der Schweiz auffallend viel Platz eingeräumt: Die sagenumwobene Entstehung der Eidgenossenschaft, der Rütlischwur, die Gründung des Bundesstaates und schliesslich Guillaume-Henri Dufour. Die Geschehnisse im Mittelalter, die Reformation der Kirche oder die Geschichte der Weimarer Republik werden überwiegend in Form von Ereignisgeschichte dargestellt.

In den beiden Büchern werden vorwiegend positive Errungenschaften diskutiert.

Bezüge eines historischen Gegenstandes zur Lebenswelt der Schüler:innen sind nicht in übermässiger Fülle vorhanden und dienen meist dazu, die positiven Aspekte der Gegenwart gegenüber der tristen Vergangenheit hervorzuheben. Im Begleitband für Lehrpersonen wird zwar für die Behandlung des Themas ‚Industrialisierung in Europa‘ noch empfohlen, sowohl die Licht- als auch die Schattenseiten von Neuerungen, insbesondere des Wandels der Industriegesellschaft zu betonen. Und auch wenn da einleitend erwähnt wird, dass mit dem schnellen Fortschritt der Industrialisierung sich auch Widersprüche eröffneten, dass das Bürgertum «sich durch den neuen Reichtum zu einer einflussreichen Schicht [erhob], während die Arbeiterfamilien um das tägliche Brot kämpfen mussten», so werden im Folgenden die Schattenseiten moderner Prozesse doch kaum beleuchtet. Die Kehrseite des Fortschritts findet höchstens noch Erwähnung in Form von ökologischen Problemen, der hohen Umweltbelastung als Folge des massiven Verbrauchs fossiler Energien beispielsweise. Ansonsten aber werden vorwiegend positive Errungenschaften diskutiert.

Der Durchblick: Wohnen

Das wird etwa deutlich an der Betrachtung der sich entwickelnden Wohnverhältnisse. Infolge der Urbanisierung und einer hohen Geburtenrate im 19. Jahrhundert wurde der Wohnraum in den Städten knapp. Begehrte, geräumige Wohnungen in Mietskasernen konnten sich nur die Gutverdienenden leisten, während in unmittelbarer Nähe zu den Fabriken Arbeiter:innensiedlungen entstanden, in denen teils prekäre Wohnverhältnisse herrschten: Durchschnittlich lebten sechs Menschen in einem Zimmer von 20 Quadratmetern. Die Lernenden sollen einen Vergleich zur eigenen Lebenswelt anstellen: «Es ist für die Empathie der Schülerinnen und Schüler gewinnbringend, einen Aktualitätsbezug herzustellen und ihre gegenwärtige mit der damaligen Lebenssituation zu vergleichen», steht im Begleitband. Wer sich wegen zu wenig Wohnraum beschweren möchte, wer mit der Teilung seines Zimmers mit seinen Geschwistern sich unzufrieden zeigt, dem dürfte «der Vergleich zu einer Familie in einer Arbeitersiedlung im 19. Jahrhundert […] die Augen öffnen», steht da weiter.

Durchschnittlich lebten sechs Menschen in einem Zimmer von 20 Quadratmetern.

Mangelnder Wohnraum soll nicht auf ökonomische oder politische Verhältnisse zurückgeführt werden.

Zwar werden die krassen Unterschiede zwischen einem Leben in der Arbeiter:innenklasse und dem Bürgertum thematisiert – allerdings bloss bezüglich der längst überwundenen Vergangenheit. Neben Bildern von in winzigen Wohnräumen zusammengepferchten Arbeiter:innenfamilien sehen die Lernenden den prunkvollen Speisesaal, in dem das Grossbürgertum zu speisen pflegt. Auch Quellenberichte werden zur Verdeutlichung dieses Gegensatzes herangezogen: Die Erinnerungen eines Kaufmannssohns um 1900 berichten von Mahagoni, hölzernen Wandverkleidungen, Messing, Kristall und Servicemädchen. Der Bericht eines Arbeiters kontrastiert diese Welt des Wohlstands und erzählt feuchten Wänden, schmalen Fenstern und kalten Nächten. Freilich war um 1900 der Gegensatz zwischen den beiden Klassen deutlich sichtbar, trat offen zutage und äusserte sich im Alltagsleben in Form unmenschlicher Wohn- oder Arbeitsbedingungen. Doch ist dieser Gegensatz heute verschwunden? Den Schüler:innen wird folgende Aufgabe gestellt: «Gibt es auch in der heutigen Zeit verschiedene Bevölkerungsschichten? Wenn ja, in welcher Form? Wo liegen die Unterschiede gegenüber der Zeit um 1900?» Im Begleitband für Lehrpersonen ist als Lösung festgehalten, dass die heutige Gesellschaftsstruktur zwar in eine Arbeiter:innen-, Mittel- und Oberschicht unterteilt werden kann, dass aber «jeder Mensch einen Anspruch auf Grundversorgung, soziale Absicherung und ein menschenwürdiges Leben» hat. «Im Vergleich zur Situation um 1900 geht es den Menschen heute sehr gut.» Hier deutet sich ein Entpolitisierungsprozess an: Mangelnder Wohnraum soll nicht auf ökonomische oder politische Verhältnisse zurückgeführt werden. Selbst der kleinste Wohnraum ist verglichen mit der Wohnsituation eines Arbeitenden um 1900 ein Luxus. Sollten sich die Schüler:innen während ihrer späteren Ausbildung keine Wohnung in den zentrumsnahen Gebieten leisten können, wird ihnen hier nicht das Werkzeug in die Hand gegeben, solche Missstände als Gentrifizierungsprozesse wahrzunehmen und diese auf ökonomische Grundlagen oder strukturelle Ungleichheiten zurückzuführen. Hier wird nicht die im Lehrplan geforderte Auseinandersetzung «mit der Komplexität der Welt und deren ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen» gefördert.

Der Durchblick: Arbeit

Zur Herstellung eines direkten Bezugs von der Vergangenheit zur heutigen Lebenssituation der Lernenden eignet sich selbstverständlich das Thema Kinderarbeit. Da die tiefen Löhne der Fabrikarbeiter:innen des 19. Jahrhunderts nur allzu oft nicht zur Ernährung einer Familie ausreichten, arbeiteten beispielsweise in der Textilindustrie bereits sechsjährige Kinder. Ihre kleinen Hände oder ihre geringen Körpermasse befähigten sie zu Arbeiten, die für den ausgewachsenen Menschen nur mühsam zu bewältigen waren. Auch die ihnen ausbezahlten, sehr niedrigen Löhne machten sie bei Unternehmern zu einer äusserst beliebten Arbeitskraft. Der Begleitband meint: «Heutzutage ‚müssen‘ die Schüler:innen jeden Tag in die Schule. Dass es sich dabei um ein Privileg handelt, werden die meisten wohl eher verneinen.» Dieses Privileg soll den Lernenden über einen direkten Alltagsvergleich vor Augen geführt werden: «Die Schüler:innen beschreiben einen Tagesablauf eines Fabrik-Kindes und vergleichen den Arbeitstag mit dem eigenen Alltag.»

Die Botschaft lautet: Schlechter war es früher und ist es woanders.

Interessanterweise werden auch Vergleiche zum gegenwärtigen Alltag von Kindern in anderen Regionen der Welt gezogen. Rund 190 Millionen Kinder (etwa zwei Drittel davon in Asien) im Alter zwischen fünf und vierzehn Jahren arbeiten heute in der Landwirtschaft, in Steinbrüchen oder Fabriken und können keine Schule besuchen. Globale Zusammenhänge oder strukturelle Ursachen für diesen traurigen Missstand werden aber nicht aufgezeigt. Einzig die sogenannte Schuldknechtschaft in Südasien wird als Ursache für noch heute existierende Kinderarbeit genannt: «Die Schulden werden an die nächste Generation weitergegeben und alle Familienmitglieder, auch die Kinder, werden zu Sklaven des Unternehmers.» Die Botschaft lautet: Schlechter war es früher und ist es woanders. Heute darfst du in die Schule, deine Wohnung ist geräumig und es erwartet dich eine Arbeitswelt, in der du dich verwirklichen kannst. Das ist angesichts tatsächlicher Arbeitswelten von heute mindestens schönfärberisch.

Der Durchblick: Geschlechterverhältnisse

Dass Frauen heute wählen und abstimmen dürfen, bis zu einem gewissen Grad in die Arbeitswelt integriert wurden und sich die Rollenbilder gewandelt haben, wird im Buch als erreichte Gleichstellung der Geschlechter präsentiert.

Auch die Stellung der Frau in der Gesellschaft unterliegt stetiger Veränderung und zwischen dieser zu früheren Zeiten und heute lassen sich anschauliche Bezüge herstellen. Im ‚Durchblick‘ ist dem Vergleich zwischen der Stellung der Frau in der Schweiz Anfang des 20. Jahrhunderts und heute eine Doppelseite gewidmet. Frauen mussten seit Beginn des 19. Jahrhunderts in den Fabriken arbeiten und «wurden in der Textilindustrie sogar den Männern vorgezogen, da sie gemäss damaligen Frauenbild fügsamer waren und weniger Widerstand leisteten als Männer. Die Unternehmer mussten ihnen ausserdem für die gleiche Arbeit weniger Lohn zahlen.» Die Schüler:innen sollen insbesondere die dadurch entstehende Doppelbelastung für die Frau im Zeitalter der Industrialisierung erkennen, denn auch die Erledigung der Hausarbeit war Sache der Frau. Und dies in einer Zeit, bevor das Aufkommen technischer Hilfsmittel das Führen des Haushalts erleichterte: Lebensmittel mussten auf dem Markt gekauft, Kleidung selbst genäht und ausgebessert werden. Gewaschen wurde von Hand, mit Seife und Waschbrett und politisches Engagement war den Frauen untersagt. «In vielen Bereichen des Lebens waren die Frauen gegenüber den Männern benachteiligt. […] Seit dem 19. Jahrhundert hat sich viel verändert.»

Frauen begannen seit Beginn des 19. Jahrhunderts vermehrt in den Fabriken zu arbeiten.

Dass Frauen heute wählen und abstimmen dürfen, bis zu einem gewissen Grad in die Arbeitswelt integriert wurden und sich die Rollenbilder gewandelt haben, wird hier als erreichte Gleichstellung der Geschlechter präsentiert. Die im Begleitband für Lehrende abgedruckte Lösung zur Aufgabe der Beschreibung des Rollenwandels der Frau seit der Industrialisierung lautet: «Heute sind Frauen und Männer gleichgestellt. Sie haben somit die gleichen Rechte und Pflichten wie Männer.» Die bis heute andauernde ungleiche Entlöhnung zwischen den Geschlechtern wird zwar im Begleitband thematisiert, im Lehrbuch für Schüler:innen steht jedoch: «Um die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann durchzusetzen, verfolgt die Regierung in der Schweiz eine Gleichstellungspolitik. Dass für die gleiche Arbeit gleicher Lohn gezahlt wird, ist heute ohnehin selbstverständlich.» Abgesehen davon, dass das schlichtweg nicht stimmt, hätten auch hier weiterführende Diskussionen angestossen werden können: Inwiefern überwindet die Integration der Frau in den Arbeitsmarkt deren Unterdrückung? Weshalb wurde und wird Hausarbeit im Gegensatz Arbeit ausser Haus nicht entlöhnt? Worin wurzelt eigentlich die Unterdrückung der Frau? Ein Geschichtsunterricht, der darauf abzielt, «dass Schüler:innen anhand von Beispielen aus der Vergangenheit allgemeine, über das konkrete Beispiel hinausweisende Einsichten für die Gegenwart und Zukunft gewinnen», müsste diese Fragen stellen. Ansonsten könnte sich die Schülerin von heute eines Tages wundern, weshalb sie, obwohl sie einen ganz ordentlichen Arbeitsplatz besetzt, weiterhin als Frau wie als Mensch sich ausgebeutet fühlt.

Der Durchblick: Umwelt

Zuletzt wird mit dem Thema Umwelt beziehungsweise deren Zerstörung in gleicher Weise verfahren. «Mit der Industrialisierung in Europa im 19. Jahrhundert begann ein Raubbau an der Natur und eine Verschmutzung der Umwelt in zuvor unbekannten Ausmassen.» Die Liste vernichtender Eingriffe in die Natur ist lang: Zerstörung einzigartiger Landschaften durch Abbau und Transport von Rohstoffen, Rodung von Wäldern, Begradigung, Stauung und Verschmutzung von Gewässern, Luftverschmutzung durch ätzende Abgase der Industrie und vieles mehr. Den Schüler:innen wird aufgezeigt, dass dieser rücksichtslose Umgang mit der Umwelt Folge der ungebremsten Industrialisierung war und sich die Situation bis heute in Europa stark verbessert hat. Ein Gemälde aus dem Jahre 1881 zeigt in düsteren Farben eine von rauchenden Schornsteinen geprägte Stadt und soll den Lernenden zeigen, «dass in Europa die Luftverschmutzung damals schlimmer war als heute.» Das «liegt vor allem daran, dass es bessere (aber auch teurere) Technologien gibt und dass strenge Umweltschutzgesetze eingeführt wurden […].»

Dass Industrie- und Schwellenländer aufgrund globaler ökonomischer Zusammenhänge zu billiger Produktion gezwungen sind und auch die westliche Welt weiterhin unter haarsträubenden Bedingungen produziert und konsumiert – all das wird ausgeblendet.

Umweltprobleme gibt’s nur noch anderswo: «Es vergeht kaum ein Monat, in dem nicht über den Smog in Peking berichtet wird.» In enger Verschränkung mit der Hervorhebung des europäischen Fortschritts berichten die Lehrmittel von rückständigen Zuständen in Schwellen- und Entwicklungsländern – das erinnert an das oben erwähnte Beispiel der Kinderarbeit und wirkt fast wie ein Fingerzeig: «Zwar gibt es heute ein grösseres Bewusstsein für den Schutz der Umwelt und entsprechende Gesetze, doch Korruption und Missmanagement – besonders (aber nicht nur) in Schwellen- und Entwicklungsländern – führen dazu, dass der Umwelt auch weiterhin Schaden zugefügt wird.» Über einem Bild des smogverseuchten Peking prangt der abschätzig wirkende Titel: «Nichts gelernt? Industrialisierung auf Kosten der Natur.»

In den Begleitband findet zwar noch die Überlegung Eingang, dass es «ein Stück weit vermessen [wäre], von den Schwellen- und Entwicklungsländern zu verlangen, dass sie Gesetze wie die unseren sofort befolgen müssen», da schliesslich der europäische Wohlstand wesentlich der ungebremsten, nicht durch gesetzliche Rahmenbedingungen eingeschränkten Produktion geschuldet ist. Tiefergehende Gedanken bleiben aber aus. Dass etwa die Ausbeutung von Natur und Mitmensch gewissermassen in der kapitalistischen Produktionsweise angelegt ist; dass Industrie- und Schwellenländer aufgrund globaler ökonomischer Zusammenhänge zu billiger Produktion gezwungen sind und Europa an dieser Produktion auch durchaus ihr Interesse bekundet; dass auch die westliche Welt weiterhin unter haarsträubenden Bedingungen produziert und konsumiert – all das wird ausgeblendet. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil sowohl im Lehrplan 21 als auch in den danach gestalteten Lehrmitteln dem Wunsch nachhaltiges Denken und Handeln zu fördern besonderer Nachdruck verliehen wird.

Rückzug in die bestehenden Verhältnisse

Im ‘Durchblick’ hat der Griff nach der gesellschaftlichen Wurzel sein Ziel verfehlt.

Wohnen, Arbeit, Geschlechterverhältnisse und Umwelt – das sind nur Beispiele dafür, dass es dem ‘Durchblick’ nicht gelingt, die geforderten Bildungsziele zu erreichen. Zwischen den Zeilen des Lehrplans schimmert überall der Wunsch nach der Förderung der demokratischen Selbsttätigkeit, der Schaffung eines mündigen Menschen durch: Jeder soll seiner eigenen Geschichte nachforschen, seinen Lebenszusammenhang verstehen, sich und sein Leben in grössere Zusammenhänge einbetten ohne Spielball anonymer Mächte zu sein. Doch im ‘Durchblick’ hat der Griff nach der gesellschaftlichen Wurzel sein Ziel verfehlt. Die vorhandenen Lebensweltbezüge dienen der Romantisierung des Alltags. Konsequent wird die Gegenwart gegenüber der düsteren Vergangenheit verherrlicht. Manchmal könnte man ja befürchten, dass dort, wo die Gegenwart und die Zukunft für eigenes Handeln zunehmend verstellt und undurchdringbar scheinen, die Interessen sich von ihnen abwenden und sich überschaubaren, harmonischen historischen Gegenwelten zuwenden.

Das aus den Zwängen der modernen Gesellschaft, dem Leiden an sozialer Desintegration und der versperrten Zukunft resultierende Bedürfnis nach sozialräumlicher Verortung wird mittels einfachster, entpolitisierter Lebensweltbezüge befriedigt.

Aber hier stehen wir vor der umgekehrten Gefahr: Vergangenheit wird nicht zum nostalgischen Fluchtpunkt, sondern dient der Darstellung überwundenen Leids und lässt die Gegenwart als Abschluss des historischen Prozesses erscheinen. Oder anders gesagt: Das aus den Zwängen der modernen Gesellschaft, dem Leiden an sozialer Desintegration und der versperrten Zukunft resultierende Bedürfnis nach sozialräumlicher Verortung wird mittels einfachster, entpolitisierter Lebensweltbezüge befriedigt. Nochmals anders: Dieses Lehrmittel befördert den Rückzug in die bestehenden Verhältnisse.

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