Förderung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 04 Mar 2024 05:31:13 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Förderung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Von der Not der Noten – und ihrem Wert https://condorcet.ch/2024/03/von-der-not-der-noten-und-ihrem-wert-2/ https://condorcet.ch/2024/03/von-der-not-der-noten-und-ihrem-wert-2/#respond Mon, 04 Mar 2024 05:31:13 +0000 https://condorcet.ch/?p=16068

Ein alter pädagogischer Schauplatz öffnet sich neu – der Disput um die Noten. Wer sie abschaffen will, verkennt den Wert der Noten. Das System dient Schülerinnen, Lehrern und Eltern als unkomplizierte Orientierung. Entscheidend bleibt dabei das lernförderliche Feedback. Gedanken zu einer kontroversen Thematik von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Die “Abschaffung der Noten” kommt als professionelle Forderung daher

Den Ziffernoten geht es an den Kragen. Sie sind umstritten, vielfach gar denunziert. Wie schon so oft, seit es sie gibt. Und dennoch haben sie bis heute Bestand. Einen Frontalangriff auf die Noten startete vor Kurzem der Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz, Thomas Minder.[i] Er leitet die Dachorganisation von 20 Kantonalverbänden der deutschsprachigen Schweiz, welche rund 2300 Schulverantwortliche zählt. Minder will die Noten eliminieren. Schülerinnen und Schüler sollten sich am Ende der Primarschule selbst selektionieren. Ziffern seien hier fehl am Platz. Sie gehören darum abgeschafft, postuliert der oberste Schweizer Schulleiter – für viele wohl mit etwas gar naivem reformpädagogischem Eifer. Zudem erstaunt es, dass die Abschaffung der Noten als professionelle Forderung daherkommt und so tut, als gäbe es keine Politik und keine öffentliche Meinung.[ii] Die Bevölkerung will mehrheitlich keine “notenfreien Schulen” – das ergibt sich aus Umfragen von Elterngremien und aus den Resultaten kantonaler Abstimmungen.[iii]

Condorcet-Autor Carl Bossard

Gleichzeitig wissen wir um das Konträre: Noten seien unverzichtbar, ja “unabdingbar, um Fairness und Vergleichbarkeit zu garantieren”, schreibt beispielsweise die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Prof. Susanne Lin-Klitzing, Erziehungswissenschaftlerin an der Philipps-Universität Marburg.[iv] Ein kontroverses Patt! Oder auf gut Deutsch: Die einen sagen so, die andern anders.

Der Züricher Kantonsrat als Abbild der Diskursfronten

Genau dieses argumentativ widersprüchliche Bild zeigte sich letztes Jahr im Zürcher Kantonsrat. Zur Debatte stand eine parlamentarische Initiative zur Notenpflicht in der Volksschule. Eingebracht hat sie die freisinnige Kantons- und Stadträtin Astrid Furrer aus Wädenswil. Die Initiantin wollte das Volksschulgesetz ändern. Das Ziel: Die Beurteilung der Leistung im Semesterzeugnis muss zwingend durch Noten erfolgen. Alternative Benotungssysteme wie Smileys und Krönchen oder Farbbalken à la Stadtschule Luzern[v] sind nur in der ersten Klasse und bei sonderpädagogischen Massnahmen erlaubt. Schulnoten dürften nicht dem pädagogischen Zeitgeist zum Opfer fallen, so die Angst und Absicht der parlamentarischen Mehrheit; sie müssten darum im Gesetz verankert sein.

Das kam einem Misstrauensvotum gegenüber der Zürcher Bildungsdirektion und dem Bildungsrat gleich. Ende Juni 2022 stimmte der Kantonsrat mit 101 Ja zu 62 Nein der Gesetzesänderung deutlich zu – nach langer und hitziger Debatte.[vi] Die bürgerlichen Parteien, die Grünliberalen und die Mitte sprachen sich für die Vorlage aus, Links-Grün und die EVP votierten geschlossen dagegen.[vii]

Die Skepsis gegenüber den Noten und ihr ramponierter Ruf

Die Debatte “Kein Verzicht auf Schulnoten” brachte all das zutage, was wir aus dem Diskurs um die Ziffernote längst kennen: Warum sie einerseits umstritten ist, und aus welchen Gründen sie anderseits für die Lernleistungs-Bewertung in Schulen bis heute offenbar als unverzichtbar gilt.[viii] Die Note sei, so ein Teil der Voten, unpräzise oder eben scheingenau und gleichzeitig informationsarm. Dazu sei ihr Zustandekommen nicht selten intransparent, manchmal gar willkürlich.[ix] Noten trügen kaum zur Bildungsgerechtigkeit bei und bezögen sich nicht auf den individuellen Lernfortschritt, sondern einzig auf den Klassendurchschnitt.[x] Diese sogenannten “Referenzgruppeneffekte” verfälschten die Noten, denn jede Klasse sei unterschiedlich leistungsstark.[xi] Zudem widersprächen sie dem Ideal des intrinsischen oder selbstgesteuerten Lernens mit dem Schwergewicht auf dem eigenen Lernweg.

“Misstraut allen Noten!”, liess darum der Erziehungswissenschaftler Hans Brügelmann, Universität Siegen, die ZEIT-Leserschaft apodiktisch wissen.[xii] Anstrengungen, die nur um des Prädikats willen getätigt würden, seien pädagogisch von geringem Wert. “Motivieren ohne Noten” nennt sich dieses suggestive Stichwort der Schulkritik von 1990.[xiii] Die These: Schülerinnen und Schüler lernten besser, wenn sie nicht durch Noten angeleitet würden.[xiv] Vergessen geht bei diesem Einwand, dass Lernende nicht primär durch einen isolierten Kommentar oder eine Note motiviert werden, sondern durch inspirierende Lehrerinnen und leidenschaftliche Pädagogen.

Schülerinnen und Schüler wollen wissen, wo sie stehen

Aller Kritik zum Trotz: Warum gibt es sie denn immer noch, diese Noten? Sie sind ja nichts anderes als ein verkürztes Feedback darüber, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Lerngruppe gekonnt, gewusst, verstanden wird. Die Ziffernote als Kürzel basiert auf dem vergleichenden Leistungsurteil durch eine Lehrperson. Nicht mehr, nicht weniger. Was also macht ihren Wert aus?

Anders als verbale Beurteilungen erlauben Noten keine rhetorischen Beschönigungen.

 

Kurz gesagt: Noten sind eine bewährte Form von Feedback und für die Kommunikation der Schulen nach aussen – Arbeitgeber, Eltern et al. – ohne ebenbürtigen Ersatz, ist Jürgen Oelkers, Erziehungswissenschaftler und emeritierter Professor der Universität Zürich, überzeugt. Alle anderen Formen hätten nicht annähernd den gleichen Grad leichter Verständlichkeit. Anders als verbale Beurteilungen erlauben Noten keine rhetorischen Beschönigungen. Ziffern führen kaum zu Wortklaubereien. Worte können verletzen; Zahlen sind neutraler. Zudem gilt: Schülerinnen und Schüler «vergleichen sich immer, egal ob sie Noten bekommen oder Berichtszeugnisse», sagt Ulrich Trautwein, Bildungsforscher an der Universität Tübingen.[xv] Sie wollen wissen, wo sie in der Klasse stehen, wo ihre Fähigkeiten liegen und ob sie sich verbessert haben. Noten ermöglichen auf einfache Art, Schüler-Lernleistungen in Relation zu Standards zu setzen und schulisches Können zu vergleichen – als Grundlage für ein lernförderliches Feedback. Ein Verzicht auf Vergleiche greift das Leistungsprinzip der Schule an.

Schule und Unterricht im dialektischen Spannungsfeld

Lehrerinnen und Lehrer stehen bei ihrer Arbeit im vielfachen Dilemma. Unterrichten ist eingebettet in dialektische Prozesse. Sie lassen sich nicht auflösen, sie lassen sich nur aushalten und konstruktiv handhaben. Auch bei den Noten. Die Ambiguitäten resultieren aus den widersprüchlichen Spannungsfeldern zwischen dem pädagogischen und dem soziologisch-gesellschaftlichen Auftrag der Schule, zwischen dem individuellen und sozialen Fördern, orientiert am Pädagogischen, sowie dem Leistungsprinzip, zentriert auf inhaltliche und kompetenzorientierte Bildungsziele. Die Schule kann gar nicht anders, als diese Widersprüche zu akzeptieren, wenn sie glaubwürdig bleiben will. Personifiziert ausgedrückt: Schule verkörpert den Antagonismus zwischen Wilhelm von Humboldt und Helmut Schelsky. Es ist ein Konflikt zwischen dem Bilden als Selbstbildung, dem Ausbilden als Qualifikation und dem Integrieren als Sozialisation einerseits sowie dem Selektionieren anderseits.[xvi] Das macht manchen Lehrpersonen zu schaffen, auch am Gymnasium. Korrigieren, bewerten und Noten setzen – und damit auch begabungsgerecht selektionieren, das kann nicht an Maschinen, nicht an digitale Test- und Bewertungswerkzeuge delegiert werden.[xvii] Es ist eine delikate, nicht selten mühsame Aufgabe. Für viele bedeutet sie eine Art Sacrificium Intellectus.

Nicht alle Jugendlichen können zu allen Ausbildungen und Berufen gelangen. Entschieden wird nach Lernleistung. Das gilt im Besonderen für den Übertritt ans Gymnasium.

 

Lern- und Denkleistungen beurteilen und sie gerecht bewerten ist ein verantwortungsvoller Vorgang. Er gehört konstitutiv zum Berufsauftrag. Nicht alle Jugendlichen können zu allen Ausbildungen und Berufen gelangen. Entschieden wird nach Lernleistung. Das gilt im Besonderen für den Übertritt ans Gymnasium. Zu bilden sind hier möglichst leistungshomogene Klassen. Sie erleichtern gutes Lernen.[xviii] Das Ersetzen von Noten durch Buchstaben oder Ampelfarben, durch Wörter oder Kreuzchen wäre lediglich pädagogische Kosmetik und änderte daran nichts.[xix] Der Auftrag bleibt: den Jugendlichen nach ihren Fähigkeiten und Interessen neue Wege aufzeigen. Zu evaluieren und zu bewerten sind die Lernleistungen. Sie sind der einzig sozialneutrale und damit auch demokratiegemässe Massstab. Wo aber kann nach Lernleistungen gemessen werden? An der Schule, nur an der Schule.

Hohe Grundansprüche an die Beurteilung

Noten aber sind ein komplexes Instrument und reflektiert zu vergeben. Sie hängen mit Prüfungen zusammen. Sie sollten so verlässlich wie möglich sein. Lehrkräfte müssen darum versuchen, allfällige Fehlerquellen auszuschliessen.[xx] Darum basieren gute Prüfungen, so hat man es uns in der Ausbildung gelehrt, auf vier Grundansprüchen:

. Validität: Was gemessen wird, entspricht dem, was man messen will. Und das Geprüfte ist eine bedeutsame und anerkannte Kompetenz.

. Objektivität: Die Beurteilung erfolgt nicht willkürlich; andere Bewertende kämen zur selben Ansicht. Und vor allem eines: Das Urteil muss frei von Vorurteilen gegenüber der geprüften Person sein.

. Reliabilität: Die Prüfung ist keine flüchtige Momentaufnahme. Darum müssten die Lernenden beim Wiederholen des Tests zu den approximativ gleichen Resultaten kommen.[xxi]

. Vergleichbarkeit: Geprüfte Schülerinnen und Schüler sollten in ihrer Lernleistung mit anderen verglichen werden können. Die Note 5 müsste in allen parallelen Klassen möglichst dasselbe bedeuten.

Noten sind nicht das Problem, Noten sind eine Hilfe

Wer den Prüfungen diesen Massstab zugrunde legt, schafft Klarheit und Erwartungssicherheit. Schülerinnen und Schüler wissen, dass es ums Bewerten ihrer Lernleistung geht, ihres Könnens und Verstehens – und nicht der Persönlichkeit. Sie akzeptieren die Note. In einem wertschätzenden Umfeld, in einer positiven und ermutigenden Atmosphäre sind Noten darum nicht das Problem, sondern eine Hilfe; sie generiert Transparenz und Sicherheit.

Das zeigt die Forschung, das legt die eigene Erfahrung nahe. Ein einziges Beispiel illustriert es: Ein Fünftklass-Gymnasiast hat in Chemie eine 4.5, sein Freund erreicht lediglich eine 3.5. Er will sich verbessern und gleichzeitig seinem Freund helfen. Der Chemielehrer gibt Feedback und zeigt ihm Wege, wie er das Lernen steuern kann.[xxii] Der Schüler vertieft sich in die Materie. Beim Lernen auf die Prüfung erklärt er seinem Freund den verlangten Inhalt. Im nächsten Zeugnis hat er eine 5, sein Freund eine 4. Diese Note habe ihm Klarheit verschafft, den Lernfortschritt signalisiert und ihn gleichzeitig motiviert, liess er mich als Klassenlehrer beim Überreichen der Zeugnisse wissen. Lernen lohne sich, fügte er verschmitzt bei. Dass (auch notenmässig belegte) Lernfortschritte das positive Selbstkonzept fördern, zeigte sich im Maturazeugnis. Er erreichte, notabene bei einem gestrengen Chemielehrer, eine blanke Sechs – und studierte dann an der ETH Zürich.

Feedback mit hohem Wirkwert

Noch etwas zeigt das Beispiel: Entscheidend ist das lernfördernde Feedback – im Sinne der Artikulation der Differenz zwischen Sein und Sollen, und dies in dreifacher Hinsicht: bezogen auf die Sache, auf den Prozess und auf die Selbstregulation. In der Metapher des OL-Sports gesprochen: Wo sind wir? Wohin wollen wir? Und wie kommen wir dorthin; welchen Weg wählen wir? Das müssten wir institutionalisieren und praktizieren. Und das müsste in der Schule intensiv und konkret erfolgen und vor allem in der Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule aufgezeigt und eingeübt werden. Die Einschätzung des Leistungsniveaus durch die Lehrperson hat nach John Hattie den höchsten Wirkwert aller Einflussgrössen aufs Lernen.[xxiii]

Die Abkehr vom klassischen Notenmodell bringt den Kindern und Jugendlichen keinen Mehrwert, den Lehrpersonen aber mehr Arbeit.

 

Für diese Feedbacks müssten die Lehrerinnen und Lehrer wieder mehr Zeit und Freiraum haben. Sie geben den Noten ihren Gehalt und Wert. Das Feedback gehört zu den effektivsten Instrumenten, die den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern steigern. Es muss an den Inhalt gebunden und sprachlich präzis formuliert sein und in einer fehlerfreundlichen Lernatmosphäre erfolgen. Darauf müsste sich eine gute Schule konzentrieren. Die Abkehr vom klassischen Notenmodell bringt den Kindern und Jugendlichen keinen Mehrwert, den Lehrpersonen aber mehr Arbeit. Es ist ein unnötiges Drehen an einer (Neben-)Stellschraube – ohne den Blick auf das systemische Ganze mit den anspruchsvollen Lehr- und Lernprozessen zu richten. Auf dieses Kernanliegen hat sich das System wieder zu konzentrieren.

 

Zur Person

Carl Bossard, Dr. phil, dipl. Gymnasiallehrer, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der Kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Er hat immer auch unterrichtet – und Lernleistungen bewertet. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen. www.carlbossard.ch

 

[i] Thomas Minder (2023), Schluss mit der Selektion, in: Fritz+Fränzi. Das Schweizer Elternmagazin, 31.08.2023: https://www.fritzundfraenzi.ch/gesellschaft/schluss-mit-der-selektion/ [abgerufen: 10.10.23]

[ii] Livesendung Forum von SRF 1: https://www.srf.ch/audio/forum/sind-schulnoten-noch-zeitgemaess?id=12449418

[iii] Verschiedene Kantone kehrten per Volksabstimmung wieder zum Notenobligatorium in der Primarschule zurück, so der Kanton Genf oder der Kanton Appenzell Ausserrhoden. Zu Noten kehrten auch Schulgemeinden zurück – mit der Begründung, manchen Kindern fehle sonst der Lernleistungswille.

[iv] Kathrin Müller-Lancé, Sind Noten noch zeitgemäss?, in: Süddeutsche Zeitung, 29.09.2023, S. 6.

[v] An den Stadtschulen Luzern steht nun statt der Note 4 ein «teilweise erreicht» – dazu ein Kreuz im Balken zwischen Gelb und Orange, in: https://www.zentralplus.ch/beruf-bildung/warum-selbst-luzerner-schueler-noten-bevorzugen-2577229/ [abgerufen: 10.10.23]

[vi] https://parlzhcdws.cmicloud.ch/parlzh5/cdws/Files/d389c7032ab94daba70e5487bcec3552-332/5/pdf

[abgerufen: 10.10.23]

[vii] Daniel Schneebeli, Jetzt kommt die Notenpflicht ins Gesetz, in: TagesAnzeiger, 05.07.2022, S. 17.

[viii] Vgl. Protokoll der beiden Debatten im Kantonsrat vom 24.02.2020 und vom 03.05.2022: KR-Nr. 69/2020. Msc. unpubl.

[ix] Urteile der Lehrpersonen mit Blick auf ihre Klasse sind recht verlässlich; darauf verweist Jürgen Oelkers. Er stützt sich dabei u.a. auf Franz E. Weinert (2001) (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim/Basel: Beltz-Verlag.

[x] Vgl. Wilfried Kronig (2007), Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs. Theoretische Erklärungen und empirische Untersuchungen zur Lernentwicklung und zur Leistungsbeurteilung in unterschiedlichen Schulklassen. Bern und Stuttgart: Haupt Verlag, S. 171ff.

[xi] Karlheinz Ingenkamp (1995), Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung. Texte und Untersuchungsberichte. 9. Aufl. Weinheim: Beltz Verlag, S. 194ff.

[xii] Hans Brügelmann (2006), Misstraut allen Noten!, in: DIE ZEIT, 13.07.2006, S. 52; vgl. Lisa Kunze (2022), Dialogbasierte Leistungsbeurteilung mit Portfolios. Theoretische Grundlagen, praktische Umsetzungsmöglichkeiten und empirische Befunde. Münster: Waxmann Verlag.

[xiii] Richard Olechowski/Karin Rieder (1990) (Hrsg.), Motivieren ohne Noten. Schule, Wissenschaft und Politik. Bd. 3. Wien [u.a.]: Verlag Jugend und Volk; vgl. Jürgen Oelkers, Warum Noten in der Schule? Msc. unpubl. Zürich: IfE, S. 2.

[xiv] Jürgen Oelkers, Beurteilen und Fördern – Notwendige Noten? Schulinfo Zug. 06.05.2019, S.2/6.

[xv] Ulrich Trautwein, «Sie wollen immer wissen, wo sie stehen», in: DIE ZEIT, 31.08.2023, S. 33.

[xvi] Gegen diesen Selektionsauftrag wehrt sich Thomas Minder, Präsident der Schweizer Schulleiter.

[xvii] Nils B. Schulz (2023), Kritik und Verantwortung. Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik. München. Claudius Verlag, S. 121.

[xviii] Wie wichtig lernleistungshomogene Klassen für gutes Lernen sind, zeigen Studien auf, u.a. von Prof. Wolfgang Schneider, Universität Würzburg, und aus den USA; vgl. Kari Kälin, Unter gleich Guten lernt es sich besser, in: Luzerner Zeitung, 23.03.2013, S. 12 (Hintergrund).

[xix] Winfried Kronig, Schulnoten – Glasperlenspiel des Bildungssystems, in: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik (2010) 9, S. 6-7.

[xx] Kathrin Müller-Lancé, a.a.O., S. 6.

[xxii] Gemäss Hattie ist dies ein Feedback zur Selbstregulation; es hat einen hohen Effektwert (d = 0.86).

[xxiii] Klaus Zierer (2023). Hattie für gestresste Lehrer 2.0. Kernbotschaften aus „Visible Learning“ mit über 2.100 Meta-Analysen. 4. erweiterte und aktualisierte Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S.137, 172; Hatties Wirkwert hat eine Effektgrösse von d = 1.46.

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In der Integrationsdebatte wird häufig über Schüler gesprochen, die den Unterricht permanent stören. Dabei geraten andere Schülerinnen und Schüler aus dem Blickfeld, deren Bedüfnisse man oft negiert. Alain Pichard zeigt uns eindrückliche Beispiele aus seinem Schulalltag und plädiert für mehr Pragmatismus.

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Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Separiert wird auch in inkludierten Modellen.

Ich habe den Fall von Delia bereits in einem früheren Beitrag erwähnt. (https://condorcet.ch/2022/03/integration-und-heilpaedagogik-der-markt-gibt-das-gar-nicht-her/) Hier sei der Fall noch einmal zusammengefasst: Delia* wurde mir im Mathematikunterricht zugeteilt. Ich unterrichtete eine 7. Klasse im Realniveau und Delia war ein sogenanntes «Pool1-Kind». Weil die früheren «Kleinklassen» auch in unserer Gemeinde zugunsten eines inkludierten Systems abgeschafft worden waren, sass sie nun in einer 7. Klasse der Sekundarstufe 1 und war im Fach Mathematik dem Realniveau zugeteilt. Das hiess, dass man Delia nicht mit den in dieser Stufe üblichen Aufgaben unterweisen konnte, sondern für sie spezielle und angepasste Lerninhalte vorbereiten musste. Überdies hatte sie Anrecht auf eine individuelle Förderung durch eine Heilpädagogin. Die gab es aber in unserem Schulhaus nicht, trotz mehrfacher Ausschreibung. Deshalb übernahm eine sogenannte Stützlehrerin (sie hatte ein Primarlehrerpatent) die vier Lektionen Sonderbetreuung im Mathematikunterricht. Allerdings musste sich dieselbe Lehrkraft auch noch um zwei weitere Schüler kümmern, die eine rILZ-Verfügung hatten (reduzierte Lernziele).

Zu Beginn der 7. Klasse startete ich mit dem Thema «Grössen», darin beinhaltet waren auch Umrechnungen. Also Zentimeter in Meter umwandeln und umgekehrt. Delia war auch von den einfachsten Aufgabenstellungen überfordert.

In der ersten Lektion nahm ich sie während einer Stillarbeit nach vorne, zeigte ihr den Wandtafelmassstab – genau einen Meter lang – ging mit ihr zur Türe, stellte den Massstab in den Türrahmen und fragte sie: «Was meinst du, wie viele Male passt dieser Massstab in die Höhe dieser Türe?»

Sie antwortete: «Etwa zehn Mal!» Ich zeigte ihr, dass der Massstab zweimal und ein bisschen drüber in diesen Türrahmen hineinging.

Delia brauchte eine physische Erfahrung.

Delia brauchte eine physische Erfahrung.

Was tun? Ich besprach mich mit der Stützlehrerin. Der heilpädagogische Werkzeugkasten bietet in diesen Fällen ein grosses Sortiment an didaktischen Massnahmen, welche das Verständnis fördern. Für Delia bedurfte es einer physischen Zahlenraumerfahrung. Wir organisierten ein 10 Meter langes Packpapier, rollten es im Gang aus und liessen Delia darauf Meter und Zentimeter mit Filzstift markieren. Das dauerte fast zwei Lektionen. Danach marschierten die Stützlehrerin und Delia den ganzen Packpapierweg Hand in Hand mehrfach ab. Langsam realisierte das Mädchen, das übrigens zwei Jahre älter war als im Jahrgang üblich, die räumliche Dimension von 10 Metern.

Unsere Schule entschied sich für einen pragmatischen Weg. Obwohl die Kleinklassen abgeschafft waren, gründete man schulhausintern eine sogenannte spezielle Lerngruppe, die im Büro der Stützlehrerin an ihren Programmen arbeitete. So blieben die Schüler mit Sonderbedarf in einigen Fächern integriert, nahmen an allen Schulanlässen teil und waren ein unbestrittener Teil des Schulalltags.

Fatima arbeitete stundenlang am Compi, ohne etwas zu tun.

Fatima ist anpassungsfähig

Aktuell unterrichte ich Fatima*. Sie ist stark lernbehindert. Sie besucht die 9. Klasse, versteht kaum einen Text, auch wenn er einfach geschrieben ist. Auch sie geniesst mit dem Sonderstatut eine Lernförderung von 6 Lektionen. Sie ist von ihrer Persönlichkeit her sehr verletzlich und wirkt beim Reden unsicher. Sie kann deshalb auch einfachste Botschaften oder Anliegen kaum klar kommunizieren. Irgendwie hat sie in ihrer Schulkarriere aber gelernt, nicht aufzufallen, den Schein einer fokussierten Arbeitsweise zu wahren, Anforderungen zu unterlaufen. Das weisst sie als eine durchaus lebenstüchtige und anpassungsfähige Frau aus. Es ist ganz selten, dass sie einmal etwas fragt. In Kleingruppen und einer Eins-zu-Eins-Betreuung lernt sie. Kürzlich haben wir eine ganze Woche der Berufswahl gewidmet. Bewerbungen schreiben, Lebensläufe formulieren, ein digitales Dossier erstellen, Adressen suchen. Für Fatima war klar, dass sie im Pflegebereich arbeiten will. Sie wurde in den ersten zwei Tagen von einer Lehrerin betreut, welche das ganze Dossier mit ihr erstellte und mehrere Adressen heraussuchte und zusammen mit ihr eine Bewerbung abschickte.

Schliesslich kam heraus, dass Fatima nur eine Bewerbung (diejenige, die sie mit ihrer Stützlehrerin machte) abgeschickt hatte. Sie hatte praktisch anderthalb Tage lang gar nichts zustande gebracht.

Daraufhin liess man Fatima alleine ihre Arbeit weitermachen. Sie war immer am Compi, wenn man bei ihr durchlief, waren Texte und Webseiten von Firmen zu sehen, keine Spur von Unkonzentriertheit. Dankbar, dass sie offensichtlich wusste, was zu tun war, konnten wir Lehrkräfte uns in der 24er-Klasse um viele andere Schülerinnen und Schüler kümmern, die ebenfalls eine starke Betreuung brauchten. Irgendwie geschah es dann, sie ging uns verloren im hektischen Alltagsstrudel, geprägt durch viele Hilfegesuche. Nach einer Woche fragte ich sie, ob sie eine Antwort erhalten hätte. Sie antwortete: «Noch nicht!». Weitere vier Tage später stiess ich nochmals nach. Sie verneinte wieder. Ich wollte daraufhin die Adressen erhalten, bei denen sie sich beworben hatte. Schliesslich kam heraus, dass Fatima nur eine Bewerbung (diejenige, die mit ihrer Stützlehrerin erstellt war) abgeschickt hatte. Sie hatte praktisch anderthalb Tage lang gar nichts zustande gebracht. Und es kam noch schlimmer. Eine Klassenkameradin fragte sie, ob sie schnell ihren Stick ausleihen könne. Sie nahm den Stick, scannte im Kopierraum ihre Zeugnisse und speicherte diese auf den Stick, um sie anschliessend auf ihren Laptop herunterzuladen. Die Zeugniskopien blieben auf dem Stick und Fatima lud die Zeugniskopien ihrer Klassenkameradin ebenfalls in ihr Bewerbungsdossier herunter. Weder die Stützlehrerin noch ich hatten dieses PDF-Fake erkannt. Es kam, wie es kommen musste. Fatima schickte in der Bewerbung versehentlich das – wesentlich bessere – Zeugnis ihrer Kollegin an die Personalverantwortliche. Diese meldete sich bei mir, weil sie von einem Betrug ausging. Natürlich konnte die ganze Sache mit einigem Aufwand bereinigt werden, aber die Stelle bekam Fatima nicht. Fatima wird die Schule in knapp sechs Monaten verlassen. Sie kann weder richtig lesen noch schreiben. Sie hat sich durchgeschlängelt und niemand hat es so richtig bemerkt. Denn Fatima ist eine liebe Schülerin und keineswegs dumm. Sie hat auch herzensgute Eltern, die nie auf der Matte stehen, zu allem nicken und wenig Deutsch versehen. Zu meiner Entlastung muss ich sagen, dass ich diese Klasse erst Mitte 8. Schuljahr übernommen habe.

Jeremy, der Unruheherd

Daneben unterrichten wir Jeremy, der ein ständiger Unruheherd ist, einer Lehrerin mitunter einmal auch «Bitch» austeilt, anregende Diskussionen verunmöglicht und mit anderen – sofern man sie nicht bremst oder unter Kontrolle hat – einen aktivierenden und vertiefenden Unterricht verunmöglicht. Bei allzu heftigen Reaktionen seitens der Lehrkraft, wie zum Beispiel den Rauswurf, steht am nächsten Tag der Vater vor dem Lehrerzimmer und verlangt ein Gespräch mit der Schulleitung. Ich pflege, wenn Jeremy und seine anderen Kumpanen anwesend sind, knallhart und strikt zu unterrichten. Wenn sie in einem Setting einzelbetreut sind, wird der Unterricht lockerer, vielfältiger und interessanter. Vor allem aber ist die Stimmung animierender. Und Jeremy ist zurzeit nicht der Einzige, der uns im Unterricht grosse Probleme verursacht.

Und zum Trost wird dann in Bildungsdiskussionen der unerträgliche Satz hinterhergeschoben: «Weisst du, die Angelika wird ihren Weg ja eh machen. Die ist intelligent und von zu Hause aus so gut umsorgt.»

Angelika resigniert

Und da wäre ja noch eine Angelika, eine brillante Schülerin, die Zusammenhänge schnell erkennt, Freude am Lernen hätte, wenn dieser Lernprozess nicht immer gestört würde. Angelika liebt Diskussionen. Zurzeit behandeln wir den Holocaust. Eine Klassendiskussion über die Pfeiler des Faschismus wurde durch einen Wurf eines Papierknäuels unterbrochen. Eine scharfe Reaktion meineseits unterband zwar die Störung, aber die Miene von Angelika verriet es. Sie resignierte, die Stimmung, in der spannende Gespräche gedeihen, war dahin. Für einen Teil der Schülerinnen und Schüler sind diese Art Diskussionen wie verklausulierte Botschaften aus einer anderen Welt. Sie verstehen Gehalt und Komplexität nicht. Sie beginnen sich zu nerven, weil sie sich ausgeschlossen fühlen oder sich schlicht langweilen. Kurz darauf setzen die Unterrichtsstörungen ein, damit sich die Aufmerksamkeit wieder auf die «Richtigen» konzentriert. Und zum Trost wird dann in Bildungsdiskussionen der unerträgliche Satz hinterhergeschoben: «Weisst du, Angelika wird ihren Weg ja eh machen. Die ist intelligent und von zu Hause aus so gut umsorgt.»

Dabei verkennt man, wie sich der Unterricht in vielen Lernumgebungen langsam wieder in Richtung «autoritäre, lehrerzentrierte Methodik» entwickelt, etwas, was gerade in Kreisen der Befürworter einer weitgehenden Inklusion immer wieder abgelehnt wird.

 

Eine völlig ideologisierte Debatte mit viel Wunschprosa.

Was zeigen uns diese vier Beispiele?

Die Kinder sollten in der Schule etwas lernen. Und effizient lernen können sie nur im Unterricht. Wenn dieser ständig gestört und verunmöglicht wird, sinkt der Lerneffekt. Darin sind sich alle einig, die Praktiker, die Bildungsforscher, die PH-Integrationsexpertinnen, die Eltern. Wenn letztere, also die Eltern, realisieren, dass ihre Kinder in der Schule zu wenig oder kaum etwas lernen, werden sie nervös. Deshalb erfährt auch die Initiative der Basler Lehrkräfte zu einer Einführung von Förderklassen viel Zuspruch. Die Zustimmung zu diesem Volksbegehren ist deshalb – trotz energischen Widerstands der Bildungsnomenklatura – sehr wahrscheinlich.

Separierende Angebote gibt es auch für die Delias und Fatimas, und zwar mehr als man denkt. Auch in Schulgegenden, die sich gegen aussen als inklusiv erklären.

Aber in dieser notwendigen Debatte spricht man nur über die Jeremys und nicht über die Delias, Fatimas oder Angelikas. Und auf Seiten der Integrationsexpertinnen blendet man dabei gerne die Tatsache aus, dass es bereits Sondersettings für Schüler wie Jeremy gibt. Sie heissen «Aquarium», «Startup», «Neustart». Das sind extrem teure Schulorte, weit entfernt von der eigentlichen Schule, in die man diese «schwierigen» Schüler für eine gewisse Zeit absondert. Die Zahl dieser «Inseln» ist kaum bekannt. Vor allem die Integrationsbefürworterinnen sind wenig daran interessiert, diese zu ermitteln, da es sich um separierende Massnahmen handelt. Und die Kosten kennen vor allem die Finanzabteilungen der Gemeinden.

Integration ohne Bildungseffekt

Separierende Angebote gibt es auch für die Delias und Fatimas, und zwar mehr als man denkt. Auch in Schulgegenden, die sich gegen aussen als inklusiv erklären. Die Stützlektionen werden zusammengelegt, damit eine Beschulung in sogenannten Kleingruppen möglich ist. Diese Art pragmatischer Integration ergäbe vielleicht auch eine Basis für künftige Kompromissvorschläge in der völlig ideologisierten Debatte. Denn auch Fatima und Delia benötigen sehr oft eine enge Lernbegleitung, nicht nur in den sogenannten «Selektionsfächern». Es sei denn, man betreibt eine vermeintlich soziale Integration ohne Bildungseffekt, was letztendlich diesen Kindern einen Bärendienst erweist.

*Namen geändert

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Wenn «Super!» nicht so super wirkt https://condorcet.ch/2021/11/wenn-super-nicht-so-super-wirkt/ https://condorcet.ch/2021/11/wenn-super-nicht-so-super-wirkt/#respond Sun, 21 Nov 2021 20:09:43 +0000 https://condorcet.ch/?p=9859

«Super gemacht!» gehört zu den meistgehörten Zurufen. Er soll motivieren, heisst es. Doch was bewirkt dieses Wort, und was macht Feedback aus? Ein kritischer Blick auf (vor-)schnelle Lobeshymnen von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard: Die Effekte dieses pauschalen Lobs auf die Lernleistung sind gering.

«Vieles geschieht, weniges aber wirkt», gibt der Philosoph Martin Heidegger zu bedenken. Was aber wirkt denn? Und worin liegt das wenige? Diese Fragen stellen sich auch für die Schule. Was wirkt im Unterricht, in dem so manches geschieht? Und heute, wie Erfahrungsberichte zeigen, überfordernd vieles.

Feedback als Top-Ten-Wirkfaktor

Von einem Effektfaktor wissen wir es besonders genau: Feedback zählt zu bestuntersuchten Methoden und erzielt eine der stärksten Wirkkräfte auf die Lernleistung von Schülerinnen und Schülern. Im Alltag der Lehr-Lern-Prozesse rangiert Feedback unter den «Top Ten» der Steuerungsinstrumente, diagnostiziert der neuseeländische Bildungswissenschafter John Hattie.[1] Er beruft sich dabei auf über 1’400 Einzelstudien und auf mehr als 30 Metaanalysen.[2] Feedback müsse aber eingebettet sein in eine positive Fehlerkultur, betont er und fügt bei: Effektives Feedback sei nur in einem angstfreien Klima möglich.

Wie wirksam Feedback fürs Leben sein kann, hat der (Dichter-)Lehrer Peter Bichsel

Peter Bichsel, Schriftsteller: Habe meinen Lehrer geliebt.

erfahren. Er erzählt: «Ich hatte in der 5. und 6. Klasse in Olten einen wunderbaren Primarlehrer: Er hat mich von mir selber überzeugt, mich zum Schriftsteller gemacht. Weil er unter dem ganzen Schlamassel von Rechtschreibefehlern entdeckt hat, dass ich gute Aufsätze schreibe. […] Ich habe ihn geliebt.»[3] Ein Lehrerfeedback, das wegweisend war und zeigt, wie bedeutsam es in einer Biographie sein kann.

Effektives Feedback kennt drei Perspektiven

Allerdings gibt es beim Wirkeffekt des Feedbacks enorme Unterschiede. Auch das belegen die Studien. Lerndende orientieren sich eher nach vorne, denken zukunftsorientiert; sie wollen wissen: «Was gibt es als Nächstes? Wie komme ich dorthin? Und wie kann ich allenfalls die Lücke schliessen?» Hattie spricht vom «Feed Forward». Es basiert auf dem Ist-Stand und erläutert den anvisierten Könnensstand. Lehrerinnen und Lehrer hingegen zeigen vielfach das Fehlende auf, was den Blick zurück erfordert: das «Feed Back». Sie verweisen auf die korrigierten Fehler und damit auf Defizite. Vergessen geht nicht selten das dritte Element, das «Feed Up». Es vergleicht den Ist-Stand mit dem angestrebten Zielzustand und benennt die so wichtige Differenz zwischen Sein und Sollen.

Das sind drei unterschiedliche Perspektiven. Sie zu verbinden, darin liegt das Geheimnis eines wirkungsvollen Feedbacks. Die Aspekte bauen aufeinander auf und ergeben miteinander ein umfassendes Bild.[4] Es sind die drei schlichten Fragen: Was ist (gewesen)? Was soll sein? Und wie gelange ich dorthin? Eine Art Drei-Punkte-Schema von hohem Effektwert.

Pauschales Lob ist oft kontraproduktiv.

Vorsicht mit pauschalem Lob

Wo ist nun das landläufige «Das hast du gut gemacht! » oder «Bravo, das war super!» anzusiedeln? Ein solches Feedback spielt auf der persönlichkeitsbezogenen Ebene des Selbst. Darunter lassen sich alle Rückkoppelungen zusammenfassen, die auf die Person des Feedbackempfängers fokussieren, beispielsweise: «Das hast du mit Bravour gemeistert!» Die Effekte dieses pauschalen Lobs auf die Lernleistung sind allerdings gering; solche Feedbacks enthalten keine inhaltlichen Informationen zum Lernprozess und dürfen nicht mit einem wirklich lernförderlichen Feedback verwechselt werden. Es sind oft leere Rituale und nicht viel mehr als flinke Floskeln. Ihr Wirkwert fürs Lernen ist beschränkt, nicht selten gar kontraproduktiv. Vorschnelle Lobenshymnen können von Anstrengung abhalten, sagt die Forschung.[5]

In Bezug auf die Lehrperson-Studierenden-Beziehung kann Lob aber durchaus positiv wirken. Allerdings gibt es weitaus wirksamere Wege, eine Atmosphäre des Vertrauens und Zutrauens zu schaffen. Feedbacks, die auf das Selbst wirken, sind darum wohldosiert einzusetzen. Darüber herrscht in der Forschung Konsens.

Wie habe ich gearbeitet? Wo ist die Konsistenz gegeben, wo nicht? Und wo war ich allenfalls schludrig? Mit vermeidbaren Fehlern? Und wie muss ich vorgehen, um die Aufgabe zu verstehen und sie adäquat zu bewältigen?

Feedback zählt zu bestuntersuchten Methoden.

Feedback operiert auf vier Stufen

Neben der persönlichkeitsbezogenen Ebene des Selbst gibt es drei weitere Feedback-Stufen. Es sind die leistungsbezogenen Ebenen von Rückkoppelung: Da ist einerseits die konkrete Aufgabe als solche, das Produkt der Leistung: Gemeint ist die Stufe des Was. Was kann und weiss ich als Lernender und was (noch) nicht? Was habe ich erreicht, und wie gut habe ich die Aufgabe erledigt? – oder eben nicht? Dann gibt es anderseits den Bereich des (Lern-)Prozesses, die Ebene des Wie. Wie habe ich gearbeitet? Wo ist die Konsistenz gegeben, wo nicht? Und wo war ich allenfalls schludrig? Mit vermeidbaren Fehlern? Und wie muss ich vorgehen, um die Aufgabe zu verstehen und sie adäquat zu bewältigen?

Und da ist drittens die Art, wie ich als Lernender die Aufgabe und den Prozess meiner Leistung steure: die Selbstregulation. Welche Strategien muss ich als Lernender anwenden, um Fortschritte zu erzielen und zum Ziel zu kommen? Empirische Analysen zeigen, dass sich Schülerinnen und Schüler vor allem auf dieser Ebene Rückmeldungen erhoffen, sie aber relativ wenig erhalten.

Die Qualität der Lernergebnisse korreliert mit der Qualität des Feedbacks.

Schülerinnen und Schüler – und wohl auch Erwachsene – brauchen Impulse und Resonanz, Echo und Rückkoppelung.

Feedback begleitet jeden erfolgreichen Lernprozess

Und noch etwas zeigt die Forschung: Die Qualität der Lernergebnisse korreliert mit der Qualität des Feedbacks. Bei den Mikroprozessen des Lernens liegt im Feedback darum ein wichtiger und nicht immer sorgsam genug beachteter Wirkwert. Schülerinnen und Schüler – und wohl auch Erwachsene – brauchen Impulse und Resonanz, Echo und Rückkoppelung. Auch das weiss man aus der empirischen Unterrichtsforschung.

Dabei sind die Ebenen zu unterscheiden. Gebe ich als Lehrerin, als Ausbildner ein Lob auf der persönlichen Ebene des Selbst oder ein korrektives Feedback auf der leistungsbezogenen Aufgabenebene mit der Frage: Ist das Lernergebnis richtig oder falsch? Oder formuliere ich ein elaboratives Feedback auf der Ebene des Prozesses und der Selbstregulation? Analysiere ich damit aufgrund kontinuierlich begleitender Lernprozessdiagnostik individuelle Schwierigkeiten, Denkfehler und Probleme beim Lernen?

Der Idealfall bleibt als Aufgabe

Feedback ist mehr als einfach nur oberflächliches Lob; Feedback ist für jede Lehrerin, jeden Lehrer ein anspruchsvoller und höchst anstrengender Auftrag – und für wirksame Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler konstitutiv. Der Idealfall ist vermutlich nie Realität, aber er bleibt als Aufgabe. Weil Feedback im Vielen des Unterrichts besonders wirkt!

 

[1] Marie-Christine Vierbuchen & Frederike Bartels (Hrsg.) (2019), Feedback in der Unterrichtspraxis. Schülerinnen und Schüler beim Lernen wirksam unterstützten. Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH, S. 11, 19.

[2] John Hattie & Klaus Zierer (2018), VISIBLE LEARNING. Auf den Punkt gebracht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 87.

[3] In: DIE ZEIT, 24.06.2021, S. 17.

[4] John Hattie & Klaus Zierer (2016), Gib und fordere Rückmeldung! In: PÄDAGOGIK; Heft 11, Weinheim: Beltz-Juventa, S. 45.

[5] John Hattie & Gregory C.R. Yates (2015), Lernen sichtbar machen aus psychologischer Perspektive. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning and the Science of How We Learn“, besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, v.a. S. 67.

 

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Condorcet-Autor Bonfranchi schreibt, dass viele Kinder im integrativen Setting aus den Schulen in eine HPS übertreten. Dort stellt man bei deren Ankunft erstaunliche Defizite fest.

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Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge und Buchautor.

Immer häufiger werden Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung, die zunächst in der Regelschule integriert worden sind, in eine Heilpädagogische Sonderschule (HPS) umplatziert. Meldungen aus den Medien zu diesem Trend decken sich mit meinen Erfahrungen aus meiner heilpädagogischen Beratertätigkeit. Die Gründe dafür liegen offensichtlich in der Bagatellisierung und Trivialisierung von Behinderung im integrativen Konzept.

Vorweg eine Spezifizierung: Wenn hier von Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung gesprochen wird, so sind ausschliesslich diejenigen mit einer geistigen Behinderung, einer Verhaltensauffälligkeit sowie einer starken Lernbehinderung gemeint. Letztere sollen von Kindern mit einer Lernschwäche unterschieden werden. Zu dem Personenkreis von sinnes- und/oder körperbehinderten Kindern und Jugendlichen, werden hier keine Aussagen gemacht.

Seit einiger Zeit stelle ich nun fest, dass immer jüngere Kinder aus dem integrativen Setting in eine HPS übertreten.

Umplatzierungen aus dem Regelunterricht an die HPS habe ich schon vor ca. 10 Jahren festgestellt. Es handelte es sich aber i.d.R. um behinderte Jugendliche aus der Oberstufe, die den Kindergarten sowie die Primarschule integriert absolviert hatten. Erst als es dann um die Frage der beruflichen Eingliederung ging, wurden sie in eine HPS «verlegt». Seit einiger Zeit stelle ich nun fest, dass immer jüngere Kinder aus dem integrativen Setting in eine HPS übertreten. Es betrifft vor allem den Übergang vom Kindergarten in eine Heilpädagogische Primarschule.

Unglaubliche Aussagen

Bemerkenswert sind die Aussagen der Schulischen Heilpädagoginnen über den Stand dieser Kinder, die nun zu ihnen in die Unter- oder Mittelstufe wechseln. Hier einige Beispiele hierzu:

  • Diese Kinder können weniger als ihre gleich stark behinderten Kollegeninnen und Kollegen.
  • Ihre Arbeitshaltung ist oft wesentlich schlechter als die ihrer gleich stark behinderten Mitschülerinnen und Mitschüler.
  • Sie verhalten sich unselbständiger.
  • Sie trauen sich weniger zu, sie sprechen auch weniger.
  • Sie sind unsicherer, verhalten sich häufig passiv, warten erst einmal ab, was passiert.

Eine weitere Auffälligkeit: Treten die Kinder dann in eine HPS ein, können sie ihre Defizite in relativ kurzer Zeit aufholen, trauen sich mehr zu, werden lernbegierig und damit auch zufriedener und glücklicher.

Eine weitere Auffälligkeit: Treten die Kinder dann in eine HPS ein, können sie ihre Defizite in relativ kurzer Zeit aufholen, trauen sich mehr zu, werden lernbegierig und damit auch zufriedener und glücklicher. Aussagen von Eltern dieser Kinder untermauern die Beobachtungen von professioneller Seite. So berichtete mir eine Mutter eines in die HPS umgeschulten Kindes, dass sie es nicht für möglich gehalten habe, dass ihr Kind in so kurzer Zeit lernt, sich selbst die Schuhe anzuziehen und zu binden. Gerade die Fortschritte in lebenspraktischen Bereichen verwundern nicht. An der HPS gehört dies zum Lehrplan, nicht so in der Regelschule.

Fazit: Weil man diesen Kindern im heute üblichen Setting der Integration nicht auf ihrem Niveau begegnet, ihre Bedürfnisse bagatellisiert und trivialisiert, führt sie sogar zu einer Vernachlässigung statt zu der beabsichtigten Förderung der Kinder. Kein Wunder also, dass die Heilpädagogischen Sonderschulen einen regen Zulauf haben. Dies aber nicht deswegen, weil mehr Kinder mit einer Behinderung geboren werden, sondern einfach, weil sie etwas später in eine HPS eintreten.

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