Erziehung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 29 Apr 2024 07:09:06 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Erziehung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 «Denn alles Lehren ist mehr Wärmen als Säen» Teil 2 https://condorcet.ch/2024/04/denn-alles-lehren-ist-mehr-waermen-als-saeen-teil-2/ https://condorcet.ch/2024/04/denn-alles-lehren-ist-mehr-waermen-als-saeen-teil-2/#respond Thu, 25 Apr 2024 10:42:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=16581

Levana ist in der römischen Mythologie die Schutzgöttin der Neugeborenen, deren Beistand angerufen wurde, wenn ein neugeborenes Kind dem Vater zu Füssen gelegt wurde, damit er durch Aufheben (levare) dasselbe als das seinige anerkenne und zur Erziehung übernehme. Die Quintessenz dieses theoretisch-pädagogischen Werkes, das in seiner skurrilen, verschnörkelten Weise nicht nur das Leben, sondern auch die Pädagogik in Dichtung verwandelt, bringt Jean Paul im Vorwort zur zweiten Auflage von 1811 mit folgenden Worten zum Ausdruck: «Leben belebt Leben, und Kinder erziehen besser zu Erziehern als alle Erzieher. Lange vor der ersten Levana waren überhaupt Kinder (d.h. also Erfahrungen) dessen Lehrer und die Bücher zuweilen die Repetenten.» * Wir bringen den Teil 2 des Essays unseres Condorcet-Autoren Georg Geiger.

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«Hingegen über die Erziehung schreiben heisst beinahe über alles auf einmal schreiben» 

Im Juli 1805 begann Jean Paul mit der Arbeit an seinem pädagogisch-theoretischen Werk «Levana», das kein geschlossenes wissenschaftliches System sein sollte und dessen Eklektizismus sowohl bei den Leserinnen aus den adligen und bildungsbürgerlichen Kreisen wie beispielsweise bei Herders Witwe oder beim sonst Jean Paul gegenüber sehr reservierten Goethe  auf äusserst positive Resonanz stiess. Kurz nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches, nach der Niederlage Preussens in der Schlacht bei Jena und Auerstedt gegen die Truppen Napoleons  im November 1806 beendet er das Ergänzungsblatt zur Erziehlehre. Das in einer Auflage von 2500 Exemplaren erschienene Werk zählte in dieser Zeit zu den beliebtesten Büchern Jean Pauls, so dass 1808 sogar ein «Wörterbuch zur Levana» erschien.

Condorcet-Autor Georg Geiger, pensionierter Gymnasiallehrer, Basel-Stadt

«Levana oder Erziehlehre» ist in 9 sogenannte «Bruchstücke» aufgeteilt, wobei das letzte als «Schlussstein» bezeichnet wird. In der Vorrede zur ersten Auflage von 1806 macht er gleich zu Beginn klar, von wem er sich inspirieren liess und wer ihn in seiner Pädagogik prägte: «Er hat nicht alles gelesen, was über die Erziehung geschrieben worden, sondern etwa nur eines und das andere. Rousseau’s Emil nennt er zuerst und zuletzt. Kein vorhergehendes Werk ist seinem zu vergleichen;» Pestalozzi wird dann noch namentlich als der «stärkende Rousseau des Volkes» gelobt.

Erstes Bruchstück: Der Stellenwert der Erziehung

 Im ersten Kapitel geht es um die «Wichtigkeit der Erziehung», die Jean Paul mit einer fiktiven «Antrittsrede im Johanneum-Paulinum, oder Erweis, dass Erziehung wenig wirke» beginnen lässt: «Verehrtestes Scholarchat, Rektorat, Kon- und Subrektorat, Terziat! Werteste Lehrer der untern Klassen und Kollaboratores! Ich drücke , hoff’ ich, mein Vergnügen, als letzter Lehrer in unserer Erziehanstalt angestellt zu sein, nach meinen Kräften aus, wenn ich meinen Ehrenposten mit dem Erweise antrete, dass Schulerziehung sowie Hauserziehung weder üble Folgen haben, noch andere. Bin ich so glücklich, dass ich uns allen eine ruhige Ueberzeugung von dieser Folgenlosigkeit zuführe: so trage ich vielleicht dazu bei, dass wir alle unsere schweren Aemter leicht und heiter bekleiden – ohne Aufblähen – mit einer gewissen Zuversicht, die nichts zu fürchten braucht;»

Wer aber erzieht denn nun gemäss Jean Paul wirklich? Es ist der «Volks- und Zeit-Geist», der mit dem Prinzip der Wiederholung und der «lebendigen That» erziehe.

 

Wie entlastend ist es doch, dass Jean Paul seine Erziehlehre mit einem solchen Plädoyer für heitere pädagogische Bescheidenheit beginnt! Das können wir uns auch in unserer Gegenwart zu Herzen nehmen! Wer aber erzieht denn nun gemäss Jean Paul wirklich? Es ist der «Volks- und Zeit-Geist», der mit dem Prinzip der Wiederholung und der «lebendigen That» erziehe. «Kein Volkslehrer bleibt sich so gleich, als das lehrende Volk.» Und dadurch, dass er die schulische Bildung in ein gesellschaftliches Ganzes setzt, kommt er auch zu dem Schluss, «dass wir wenig oder nichts durch Erziehung wirken.» Denn es sind viele Kräfte, die auf das Kind einwirken: «Das Schulgebäude der jungen Seele besteht nicht aus blossen Hör- und Lehrzimmern, sondern auch aus dem Schulhof, der Schlafkammer, der Gesindestube, dem Spielplatze, der Treppe und aus jedem Platze. Himmel! Welche Verwechslungen  anderer Einflüsse immer zum Vorteil und Vorurteil der Erziehung!»

Das Buch als Inbegriff des Wahren und Guten

Die Erfindung des Buchdruckes ist gemäss dem Redner für die Schule von zentraler Bedeutung: «Nun ist keiner mehr allein, ja nicht einmal eine Insel im fernsten Meer», wobei das Buch zum Inbegriff des Wahren und Guten wird: «Die Bücher stiften eine Universalrepublik, einen Völkerverein, oder eine Gesellschaft Jesu im schönern Sinne». Zwar bewirke das Buch, «dass kein Volk einen unverfälschten, mit keinen fremden Farben besprengten Blumenflor mehr ziehen» könne, aber andererseits sei «durch das ökumenische Concilium der Bücherwelt kein Geist mehr der Provinzialversammlung seines Volkes knechtisch angekettet»! Das tönt ähnlich wie die Lobeshymnen zu Beginn des Internet-Zeitalters!

Ein Hoch auf die frühkindliche Erziehung

Zum Schluss des ersten Bruchstückes erfolgt noch ein Plädoyer für die Bedeutung der frühkindlichen Erziehung: «Daher giebt man der Erziehung den Rat, im ersten Lebensjahre am meisten zu thun, weil sie hier mit halben Kräften mehr bewegt als im achten mit doppelten bei schon entfesselter Freiheit und bei der Vervielfältigung aller Verhältnisse; und wie Wirtschafter im Nebel am fruchtbarsten zu säen glauben, so fällt ja die erste Aussaat in den ersten und dicksten Nebel des Lebens.»

An dieser Stelle taucht noch eine stereotype Figur auf, die durch die ganze Erziehlehre hindurch immer wieder erwähnt wird, ohne dass auf sie auch nur an einer einzigen Stelle (!) näher eingegangen würde: es geht um «den Wilden» oder «den Neger». In der Vorrede taucht er zum ersten Mal auf, wenn dort von der «Unwissenheit der Wilden» die Rede ist, «welche Schiesspulver säeten, anstatt es zu machen». Dieser einfältig-naive Wilde wird auch im Zusammenhang mit der Bedeutung der «Sittlichkeit» in der frühkindlichen Phase nochmals erwähnt: «Der innere Mensch wird, wie der Neger, weiss geboren und vom Leben zum Schwarzen gefärbt.»

Fragwürdige rousseauistische Idealkonzeption: bei der Geburt sind wir alle rein, weiss, unschuldig – auch die Schwarzen….

Gegen jede biologische Plausibilität erzählt Jean Paul hier diesen Unsinn über die Hautfarbe bei der Geburt eines schwarzen Menschen, denn der Typus des Wilden soll seine rousseauistische Idealkonzeption des reinen Menschen von der individuellen auf die gattungsmässige Ebene der Menschheit heben und so zur Natur des Menschen erklärt werden: bei der Geburt sind wir alle rein, weiss, unschuldig, und erst der Prozess der Zivilisation färbt ab und macht uns dunkler. Es ist anzunehmen, dass Rousseau für den stereotypen, völlig unhistorischen Jean Paulschen «Wilden» die Inspirationsquelle war.

Als das «eigentlich tückische Erbe von Rousseau» bezeichnen Graeber/Wengrow aber nicht die Idee des «edlen Wilden», sondern die des «faulen Wilden».

 

Wer Interessantes zu diesem Aufklärungsstereotypus erfahren möchte, dem oder der empfehle ich das erste Kapitel «Abschied von der Kindheit der Menschheit» des englischen Archäologen David Wengrow und des vor vier Jahren verstorbenen US-amerikanischen Anthropologen David Graeber in ihrem grossartigen Werk «Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit» aus dem Jahre 2022. Die beiden Autoren machen darin klar, dass es keine «lineare Geschichte vom Naturzustand des besitzlosen, egalitären Jägers und Sammlers zum kriegerischen Bauern mit Privatbesitz» gegeben habe, wie es Alexandra Böhm in ihrer Rezension in der Basler Zeitung vom 5. Februar 2022 gut verständlich zusammenfasst.

Rousseau und die europäische Aufklärung waren für diese falsche Erzählung zentral. Obwohl Rousseau seine Ueberlegungen zum «edlen Wilden» lediglich als unhistorisches Gedankenexperiment verstand, klingt sein Narrativ als evolutionsmässige Abfolge bis in die aktuellen Werke von Yuval Noah Harari und Jared Diamond nach. Als das «eigentlich tückische Erbe von Rousseau» bezeichnen Graeber/Wengrow aber nicht die Idee des «edlen Wilden», sondern die des «faulen Wilden». In dieser Variante wird er uns auch noch in den weiteren Bruchstücken von Jean Pauls aufklärerischem Erziehungsbuch immer wieder begegnen.

Zweites Bruchstück: Ueber den «Geist und Grundsatz der Erziehung».

Es beginnt mit einer Tirade gegen egoistische Eltern und duckmäuserische Lehrer: «Viele Eltern erziehen die Kinder nur für die Eltern, nämlich zu schönen Steh-Maschinen, zu Seelen-Weckern, welche man so lange nicht auf das Rollen und Tönen stellt, als man Ruhe begehrte.» Und er doppelt heftig nach, indem er die Reduzierung von Bildung auf reine Ausbildung kritisiert: «Verwandt den Lehrmeistern, welche Maschinenmeister zu sein wünschten, sind die Erzieher nach aussen und zu Staatsbrauchbarkeit, eine Maxime, die, rein durchgeführt, nur Zöglinge oder Säuglinge gäbe, allfolgsam, knochenlos, abgerichtet, alltragend – (…) – das Staatsgebäude würde von toten Spinnmaschinen, Rechenmaschinen, Druck- und Saugwerken, Oelmühlen und Modellen zu Mühlen, Saugwerken, zu Spinnmaschinen u.s.w. bewohnt.»

Was hält er dem entgegen? Diesen wunderbar einfachen Satz: «Gleichwohl ist der Mensch früher als der Bürger und unsere Zukunft hinter der Welt und in uns grösser, als beides:» Und seine Kritik umfasst auch die Kirche: «Viel davon gilt sogar gegen die häuslichen Waisenhausprediger, welche die ganze Kinderzucht in eine Kirchenzucht und Bibelanstalt verwandeln und die frei- und frohgeborenen Kinderseelen in gebückte Kloster-Novizen.»

Interesse für metaphysische Urbedürfnisse

Jean Pauls Gottesverständnis sprengt die kirchlichen Mauern und verhilft dem Individuum zu einer emanzipatorischen Freiheit: «Erinnere dich, dass du ein Mensch, erinnere dich, dass du ein Gott oder Vice-Gott bist, auch für Kinder gälte!» Das erwachte Selbstbewusstsein paart sich mit der Einbettung in die Dimension des unüberschaubaren Ganzen in einem ganz aktuellen Sinne des heutigen ökologischen Bewusstseins im Sinne eines Bruno Latour: «Je älter die Erde wird, desto leichter kann sie als Alte prophezeien und wird prophezeien. Aus der Vorwelt spricht ein Geist, eine alte Sprache, zu uns, die wir nicht verstehen würden, wenn sie uns nicht angeboren wäre. Es ist der Geist der Ewigkeit, der jeden Geist der Zeit richtet und überschaut.»

Für diesen «religiösen Sinn» im Sinne eines «metaphysischen Urbedürfnisses» (H.Pfotenhauer) interessiert sich Jean Paul auch in der Pädagogik. Und die Poesie und die Philosophie spielen dabei fast eine wichtigere Rolle als die Theologie. Sie sollen helfen, das Kind mit Widerstandskräften auszurüsten, um «der Entkräftung des Willens, der Liebe, der Religion» begegnen zu können. Die Religion  ist für ihn keine «Nationalgöttin» mehr: «Wo Religion ist, werden Menschen geliebt und Tiere und alles All. Jedes Leben ist ja ein beweglicher Tempel des Unendlichen.»

Der rechte Glaube bezieht sich nicht auf das Dogma, «sondern auf die Erblindung gegen das Ganze».

 

Wie soll das Kind in diese spirituelle Welt geführt werden? Seine Antwort: «Durch Beweise nicht.» Und nur diejenigen können Religion lehren, «als wer sie besitzt.» Und der rechte Glaube bezieht sich nicht auf das Dogma, «sondern auf die Erblindung gegen das Ganze.» Jean Paul liefert hier wichtige Hinweise für den Umgang mit dem Religiösen in der Welt der Erziehung, die auch heute noch hoch aktuell sind. Und natürlich «giebt es keinen schöneren Priester für die junge Seele, der sie vor dem Hoch-Altar der Religion gleichsam unter Tänzen und Entzückungen führe und geleite, als der Dichter ist, welcher eine sterbliche Welt einäschert, um auf ihr eine unsterbliche zu bauen».

Jean Paul war spirituell radikal

Auch Pfotenhauer würdigt diese spirituelle Radikalität von Jean Paul: «Deshalb sei dem Kind und uns als seinem Erzieher auch jede Religion  heilig wie die eigene. Selbst wer nur an das Unendliche, an das Göttliche in der Natur glaube, nicht an den Unendlichen selbst, einem personifizierten Gott, wer also wie Spinoza alles Leben für heilig und wundersam halte, habe und gebe Religion, da das Höchste immer den Höchsten spiegle. Jean Paul geht hier, um seiner liberalen, unorthodoxen Religionspädagogik willen, weit, sehr weit: Sein Freund Jacobi bezeichnet solchen Spinozismus als Atheismus, weil darin kein persönlicher Gott mehr vorkomme. Jean Paul aber ist die anthropologische Herleitung des Religiösen als einem menschlichen und somit auch kindlichen Grundbedürfnis wichtiger als philosophische Linientreue.»

Drittes Bruchstück: «Wann fängt die geistige Erziehung ihr Werk an?»

Auf diese gleich zu Beginn gestellte Frage folgt umgehend die dezidierte Antwort: «Bei dem ersten Atemzuge des Kindes, aber nicht früher.» Früher, das wäre die Zeit des Embryos in der Gebärmutter, deren Bedeutung Jean Paul mit gröbster Rhetorik kleinredet: «Himmel! Wenn der Ekel an Speisen und Menschen, die Gier nach Unnatürlichkeiten, die Furcht, die Weinerlichkeiten und Schwächlichkeiten so geistig einflössen, dass der Mutterleib die erste Adoptionsloge und Taubstummenanstalt der Geister, und die Weiblichkeit das Geschlechtskuratorium der Männer wäre: welche sieche, scheue, weiche Nachwelt fortgepflanzter Schwangerer! – Es gäbe keinen Mann mehr – jeder lebte und thränte und gelüstete und wäre nichts.»

So wie der stereotypisierte Wilde unreflektiert durch die Erziehlehre geistert, so patriarchal pauschalisierend nimmt Jean Paul grossmaulig das Wort «Weib», nicht «Frau»!, ständig in den Mund und geht von einer natürlichen, Gott gegebenen wesensmässigen Unterschiedlichkeit von «Weib» und «Mann» aus, die in allen Kapiteln immer wieder thematisiert wird. Er will unter keinen Umständen, «dass die Neun-Monate-Mutter über Geistes- und Körper-Gestalt entscheide», denn mit dem ersten Atemzug tritt der Vater in der zentralen Rolle des Erziehers auf: «Endlich kann das Kind zum Vater sagen: Bilde höher, denn ich atme.»

«Alles Erste bleibt ewig im Kinde»

Die ersten paar Lebensjahre sind in der Entwicklung des Menschen für Jean Paul entscheidend, denn: «Alles Erste bleibt ewig im Kinde» und so müsse man «beim Kinde einen ersten Abschnitt der drei ersten Jahre machen, innerhalb welcher es, aus Mangel an Kunstsprache, noch im tierischen Kloster lebt und nur hinter dem Sprachgitter der Naturzeichen mit uns zusammen kommt.» Anfangs verlange der Säugling nur Wärme: «Und was ist Wärme für das Menschenküchlein? – Freudigkeit.» Er nennt es auch Heiterkeit im Gegensatz zu Verdruss und Trübsinn und grenzt es ab von Genuss: «Wenn der Genuss eine sich selber verzehrende Rakete ist, so ist die Heiterkeit ein wiederkehrendes lichtes Gestirn, ein Zustand, der sich, ungleich dem Genusse, durch die Dauer nicht abnützt, sondern wiedergebiert.» Und hier kommt das Spiel ins Spiel: «Spiele, d.h. Thätigkeit, nicht Genüsse erhalten Kinder heiter.» Und dieses Spielen bezeichnet er als die «erste Poesie des Menschen».

«Das frühe Spiel wird ja später Ernst.»

 

Dabei dürfe die das Kind umgebende Wirklichkeit nicht zu reich sein, das schade nur der Phantasie: «Folglich umringt eure Kinder nicht, wie Fürsten-Kinder, mit einer Kleinwelt des Drechslers; reicht ihnen nicht die Eier bunt und mit Gestalten übermalt, sondern weiss;  sie werden sich aus dem Innern das bunte Gefieder schon ausbrüten.» Kinder sollten vor allem mit Kindern spielen und Kinder sollten durch Kinder geschult werden.» Das Spielen und Treiben meint er «ernst- und gehaltvoll an sich und in Beziehung auf ihre Zukunft», denn: «Das frühe Spiel wird ja später Ernst». Er plädiert dafür, dass sich die Kleinkind-Erzieher als «Freuden- und Spielmeister» verstehen. (Was würde Jean Paul wohl zu den Lernberichten in unseren heutigen Kindergärten sagen?) Er propagiert leere Spielzimmer, Spielgärten und Spielschulen vor den Lernschulen. «Das Kind tändle, singe, schaue, höre;» Dabei ist ihm das Sprechen das «schönste und reichste Spiel»! Auch lobt er in diesem Zusammenhang den Tanz und die Musik.

Tiere und Wilde hätten nie Langeweile und der Tanz könne nicht früh genug kommen.

Jean Paul setzt den Prozess der Individuation in Analogie zur Evolution der Gattung Mensch: «In der Kindheit der Völker war das Reden Singen; dies werde für die Kindheit der Einzelwesen wiederholt.» Und schon wieder taucht «der Wilde» auf , wenn er im Zusammenhang mit der Bedeutung des Spielens das Kind als «halb Tier, halb Wilder» versteht. Tiere und Wilde hätten nie Langeweile und der Tanz könne nicht früh genug kommen: «Tanz ist unter allen Bewegungen die leichteste, weil sie die engste und vielseitigste ist; daher der Jubel nicht ein Renner, sondern ein Tänzer wird; daher der träge Wilde tanzt und der müde Negersklave, um sich nach und durch Bewegung wieder zum Bewegen anzufachen;» Hier erfährt man implizit auch, dass eine der Quellen, was denn nun ein «Wilder» eigentlich für Jean Paul sein soll, wohl aus der Welt der Sklaverei stammt.

«In der Kindheit der Völker war das Reden Singen; dies werde für die Kindheit der Einzelwesen wiederholt.»

 

Das sechste Unterkapitel «Gebieten, Verbieten, Bestrafen und Weinen» beginnt mit einer klaren Abgrenzung zu seinem grossen Vorbild: «Diesen Paragraphen könnte Rousseau nicht schreiben, denn er war anderer Meinung.» Er glaubte nämlich gemäss Jean Paul, dass der Zögling sich von selbst und ohne äusseren Zwang zum Guten entschliesse, wenn er «die schlimmen oder guten Folgen seines Thuns regelmässig zu tragen habe und alle erzieherische Einwirkung, alles Belohnen und Strafen nicht als solches, sondern ebenfalls als eine natürliche, notwendige Folge seines Verhaltens sich ihm darstelle.»

Bestrafen soll nie zu einer Schandstrafe werden

Jean Paul dagegen plädiert für «entschiedene feste Strenge und Kraft ohne Nachgeben, im Wechsel mit längerer Milde und Liebe». Er ist gegen zu viel bestrafendes Reden und Belehren, stattdessen empfiehlt er das konsequente Schweigen. Das Nachzürnen lehnt er auch ab, höchstens ein «Nachleiden» sei erlaubt. Am schlimmsten ist für ihn das pauschalisierende Richten: «Was schon als Klugheits-, ja Gerechtigkeits-Regel gegen Erwachsene zu befolgen ist, dies gilt noch mehr als eine gegen Kinder, die nämlich, dass man niemals richtend ausspreche z.B.: Du bist ein Lügner, oder (gar) ein böser Mensch, anstatt zu sagen: Du hast gelogen, oder böse gehandelt.» Das Bestrafen soll nie zu einer Schandstrafe werden und der elterliche Gram wegen kindlichem Ungehorsam soll nie mit schmerzendem Spott vermischt werden.

Eine patriarchale Stereotypisierung der Geschlechterrollen, dass es fast nicht zum Aushalten ist.

Beim Thema Strafe taucht «der Wilde» öfters auf in Kombination mit einer patriarchalen Stereotypisierung der Geschlechterrollen, dass es fast nicht zum Aushalten ist. Die väterlichen Verbote werden nach Ansicht Jean Pauls aus folgenden Gründen besser erfüllt als die mütterlichen: «der erste, seine stärkere und doch weit vom Zorne entlegene Stimme, ist schon angesagt. Der zweite ist, dass der Mann meistens, wie der Krieger, immer nur Ein und folglich dasselbe Schlag- und Wurzelwort und Kaiser-Nein sagt, indes Weiber schwerlich ohne Semikolon und Kolon und nötigste Frag- und Ausrufzeichen zum Kinde sagen: Lass! (…) Der dritte Grund ist, dass der Mann das Neinwort seltener zurücknimmt.» Die Mütter würden eben leichter ins Nachstrafen geraten als die Väter, «schon weil dieses ihrer sich gern ins Kleine zerteilende Thätigkeit mehr zusagt und sie gern, nicht wie der Mann mit Stacheln den Stamm besetzen, sondern mit Stechspitzen die Blätter.»

Abgründe tun sich auf in dieser unreflektierten Begrifflichkeit!

 

Beim Bestrafen kommt eine Schattenseite des «edlen Wilden» zum Vorschein, wie sie auch dem Kinde eigen sei: «Kinder haben, wie Wilde, einen Hang zur Lüge, die sich mehr auf Vergangenheit bezieht.» Woher hat er diese Pauschalisierung wohl, dass Wilde einen Hang zur Lüge hätten? Haben nicht alle Menschen diesen Hang oder diese Anlage, kaum können sie sprechen, oder doch eher nur diese «Wilden», von denen man nie weiss, was genau darunter zu verstehen ist? Wenn er denn beim Wilden an den Sklaven denkt: ist dort nicht eher das System des ganzen Sklavenhandels eine institutionelle Lüge? Abgründe tun sich auf in dieser unreflektierten Begrifflichkeit!

Plädoyer für Abhärtung

Zum Schluss kommt Jean Paul noch auf das «Schrei-Weinen der Kinder» und auf die «physische Erziehung» zu sprechen. Das «weiche und fünfsinnliche Herz» der Weiber führe in Kombination mit ihrer «weichen, mitleidenden Mutterstimme zu nichts: «fremdes Mitleiden flösst ihm eines mit sich selber ein , und es weint fort zur Luft.» Nur beim  Weinen über Krankheit sei die «milde und mildernde Mutterstimme am rechten Ort.»

Beim Plädoyer für körperliche Abhärtung ist nicht mehr der Wilde mit dem Hang zur Lüge, sondern der stämmige wilde Krieger gefragt: «Jäger, Wilde, Aelpler, Soldaten fechten alle mit ihrer Kraft für die Vorteile der freien Luft;» Auch der Hunger dient der gesunden Abhärtung: «das Kind werde, wie der Wilde, im Schlaf und Essen öfters frei und irre gemacht; die leibliche Natur wird dann entweder geübt oder besiegt, und die geistige krönt sich in beiden Fällen.» In der Welt der «freundlichen, lobenden, nachsichtigen Weiber-Zirkeln» werde das Kind «mehr verdreht und entkräftet als in den kalten, trockenen Herren-Gelagen.»

Man hat den Eindruck, dass Jean Paul mit seiner Polemik gegen die Frauen eigentlich auch über sich selbst und seinen eigenen weiblichen Anteil daherzieht.

 

Die Männer seien von Natur aus den Frauen in diesen Belangen der Erziehung haushoch überlegen: «Da Weiber schon an sich, als geborenes Stubengeschlecht, als Hausgötter – indes wir blosse Meer- und Land- und Luftgötter sind, oder gegen jene Haustauben nur sanftwilde Feldtauben – die Wärme lieben, wie den Kaffee, und daher neben den Schleiern Erwärmhüllen suchen». Nichts gegen barfuss gehen, Luftbad und kaltes Wasserbad oder eine erfrischende Regenpartie, aber das Poltern gegen die «geistreichen Weiber» mit ihrem angeblichen Hang zur Verweichlichung wirkt mit der Zeit ermüdend.

Weiber-Schelte

Und man hat den Eindruck, dass Jean Paul mit seiner Polemik gegen die Frauen eigentlich auch über sich selbst und seinen eigenen weiblichen Anteil daherzieht, wenn er schreibt: «Da Weiber so gerne ihre Empfindungen in Worte übersetzen (aber das ist doch gerade eine Spezialität von Jean Paul selbst, oder nicht?) und durch Vielberedsamkeit mehr, als wir uns, sich von den Papageien unterscheiden, worunter die weiblichen wenig reden – daher nur männliche nach Europa kommen: – so halte man kleinen Mädchen das Vorreden zu Reden, nämlich einiges Weinen und Schreien, als Ueberfliessungen des künftigen Stromes zu gute. Ein Knabe muss seinen Schmerz trocken verdauen, ein Mädchen mag einige Tropfen nachtrinken.»

Es gibt sogar eine Stelle, wo durchschimmert, dass ihm bewusst ist, dass er mit seiner Weiber-Schelte auch als Mann mitgemeint ist: «Woher kommt diese Unart der Heilsucht den Weibern und – lassen sie uns dazusetzen – den andern Menschen, z.B. mir (mein ganzer Brief bezeug’ es) und den vorigen Menschen,  wie ein langes lateinisches Sprichwort und Eulenspiegel beweisen, dem jeder Vorbeigehende gegen sein Vexier-Zahnweh ein Mittel verschrieb?»

ENDE TEIL 2

 

(* Ich beziehe mich im Folgenden auf die von Karl Lange in der «Bibliothek Pädagogischer Klassiker» herausgegebene «Levana», die 1892 in Langensalza in einer zweiten, verbesserten Auflage erschienen ist. Der Text kann aber auch online und kostenlos beim Projekt Gutenberg gelesen werden.)

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Ein Essay über die Erziehlehre “Levana” des deutschen Schriftstellers und Pädagogen Jean Paul Friedrich Richter (1763-1825) – Teil 1 https://condorcet.ch/2024/04/ein-essay-ueber-die-erziehlehre-levana-des-deutschen-schriftstellers-und-paedagogen-jean-paul-friedrich-richter-1763-1825-teil-1/ https://condorcet.ch/2024/04/ein-essay-ueber-die-erziehlehre-levana-des-deutschen-schriftstellers-und-paedagogen-jean-paul-friedrich-richter-1763-1825-teil-1/#respond Sat, 20 Apr 2024 07:51:03 +0000 https://condorcet.ch/?p=16519

Levana ist in der römischen Mythologie die Schutzgöttin der Neugeborenen, deren Beistand angerufen wurde, wenn ein neugeborenes Kind dem Vater zu Füssen gelegt wurde, damit er durch Aufheben (levare) dasselbe als das seinige anerkenne und zur Erziehung übernehme. Die Quintessenz dieses theoretisch-pädagogischen Werkes, das in seiner skurrilen, verschnörkelten Weise nicht nur das Leben, sondern auch die Pädagogik in Dichtung verwandelt, bringt Jean Paul im Vorwort zur zweiten Auflage von 1811 mit folgenden Worten zum Ausdruck: "Leben belebt Leben, und Kinder erziehen besser zu Erziehern als alle Erzieher. Lange vor der ersten Levana waren überhaupt Kinder (d.h. also Erfahrungen) dessen Lehrer und die Bücher zuweilen die Repetenten." * Condorcet-Autor Georg Geiger hat uns ein Essay zur Verfügung gestellt, das wir in drei Teilen publizieren,

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«Levana oder Erziehlehre» erschien erstmals 1807 und zählte zu dieser Zeit mit einer Auflage von 2500 Exemplaren zu den beliebtesten Werken Jean Pauls. Gegenüber dem Braunschweiger Buchhändler Friedrich Vieweg pries Jean Paul als mittlerweile dreifacher Vater sein pädagogisches Werk folgendermassen: «Das Werk selber ist für die höhere (elegante) Welt und für die Mütter didaktisch geschrieben –  geht von dem Allgemeinsten, dem Geiste der Zeit, der Bildung zur Religion (…) bis zu den bestimmtesten Regeln herab, über Spiele, Freuden, Strafen (…) der Kinder – Von der Ausbildung des Menschen bis zu einem Briefe über Bildung der Fürsten, der Weiber (…) und bis zur physischen Erziehung – Es ist wie meine Aesthetik eine Frucht oder Blüte langer Sammlungen und Jahre und Erfahrungen. Nur zuweilen wird der didaktische Ton durch den Nachschlag eines komischen unterbrochen oder geschlossen.»

Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel, Condorcet-Autor

Die 2019 verstorbene Schriftstellerin Brigitte Kronauer empfiehlt in ihrem Portrait «Kosmonaut mit Winkelsinn» (NZZ vom 23.3.2013) aus Anlass des 250. Geburtstages von Jean Paul Friedrich Richter das 1818 verfasste autofiktionale Fragment «Selberlebensbeschreibung» als Einstieg in das Werk eines Autors zu nehmen, das ebenso populär wie zugleich schwer verständlich sei und dessen Urheber sich um 1800 wie kein anderer «mit solcher Konsequenz ausschliesslich als Schriftsteller verstand», wie es der Germanist Helmut Pfotenhauer in seiner Jean Paul – Biographie «Das Leben als Schreiben» (München 2013) betont, denn schon mit 18 Jahren brach Jean Paul sein Theologiestudium ab und beschloss Berufsschriftsteller zu werden! Am Ende seines von grosser ökonomischer Not und ebensolchen literarischen Erfolgen geprägten Arbeitslebens hinterliess der autodidaktische Universalgelehrte Jean Paul eine vieltausendseitige Zettelkastensammlung von Exzerpten aus Geschichte, Meteorologie, Botanik, Astronomie, Physik und Chemie sowie eine Vielzahl literarischer Prosa-Werke in Form von 11’000 Druckseiten, 40’000 Seiten in Handschrift und einer 4000 Seiten umfassenden Briefsammlung.

«Selberlebensbeschreibung»

«Geneigteste Freunde und Freundinnen!»

«Verehrteste Herren und Frauen!»

Mit diesen Worten richtet sich der selbsternannte «Professor der Selbergeschichte» an sein Publikum und es ist kein Zufall, dass neben den Männern auch die Frauen explizit in den ersten beiden Vorlesungen angesprochen werden, waren sie doch die wichtigste Gruppe seines Lesepublikums. Er schildert den  Tag seiner Geburt gleich zu Beginn mit folgenden Worten: «Es war im Jahre 1763, wo der Hubertsburger Friede zur Welt kam und gegenwärtiger Professor der Geschichte von sich; – und zwar in dem Monate, wo mit ihm noch die gelbe und graue Bachstelze, das Rotkehlchen, der Kranich, der Rohrammer und mehrere Schnepfen und Sumpfvögel anlangten, nämlich im März: – und zwar an dem Monattage, wo, falls Blüten auf seine Wiege zu streuen waren, gerade dazu das Scharbock- oder Löffelkraut und die Zitterpappel in Blüte traten, desgleichen der Ackerehrenpreis oder Hühnerbissdarm, nämlich am 21sten März; – und zwar in der frühesten frischesten Tageszeit, nämlich am Morgen um 1 ½ Uhr; was aber alles krönt, war, dass der Anfang seines Lebens zugleich der des damaligen Lenzes war.» Wann hat jemals ein deutscher Schriftsteller mit einer solch sorgfältigen und kundigen Naturbeobachtung seine Geburt in den Kreislauf der  Natur und zugleich in einen geschichtlichen Kontext eingebettet!

Bewunderer Rousseaus

Der junge Johann Paul Friedrich – die Umformulierung ins französische Jean ab dem Jahre 1792 hatte mit seiner Bewunderung für Jean-Jacques Rousseau zu tun – war an sich ein wissensdurstiges, neugieriges Kind: «Alles Lernen war mir Leben, und ich hätte mit Freuden, wie ein Prinz, von einem Halbdutzend Lehrern auf einmal mich unterrichten lassen, aber ich hatte kaum einen rechten.» Der Vater, ein verarmender protestantischer Landpfarrer, Lehrer und Organist, nahm nach einem Zwischenfall  seine beiden Söhne aus der Dorfschule von Joditz und unterrichtete sie selbst. «Vier Stunden vor- und drei nachmittags gab unser Vater uns Unterricht, welcher darin bestand, dass er uns bloss auswendig lernen liess, Sprüche, Katechismus, lateinische Wörter und Langens Grammatik.» Es war ein Lernen ohne zu verstehen. Seltsamerweise unterrichtete der klavierfertige Vater seine Söhne nicht einmal in Musik! Und auch Geschichte, Naturgeschichte, Erdbeschreibung, Arithmetik, Astronomie und Orthographie kamen im väterlichen Privatunterricht bis in sein zwölftes Lebensjahr nicht vor. Bei fehlerhaftem Lernen oder Lernunwilligkeit wurde sein Bruder Heinrich, der sich 1789 aus Verzweiflung wegen der prekären ökonomischen Situation der Familie das Leben nahm, vom Vater oft geschlagen. Dass der «Allherrscher Vater» Johann Paul verschonte, lag daran, dass dieser stets darum bemüht war, «das Seinige immer zu wissen».

Entscheidend für seine persönliche Entwicklung war die Entstehung eines philosophischen Zugangs zur Welt, eine Art «Weltweisheit».

 

Im Pfarrhof von Joditz lebten die Brüder eingeschlossen und abgesondert von der Dorfjugend. Zum Glück kamen immer wieder der Frühling und der Sommer: «Da werden wir armen, vom ganzen Winter und Kerkermeister in den Pfarrhof eingeschlossnen Kinder durch den vom Himmel gesandten Engel der Jahrzeit befreiet und hinausgelassen in die freien Felder und Wiesen und Gärten.»  Ab dem dreizehnten Lebensjahr ging Johann Paul dann in Schwarzenbach in den geregelten Unterricht einer Dorfschule, die er folgendermassen beschreibt: «Die Schulstube oder vielmehr die Schularche fasste Abc-Schützen, Buchstabierer, Lateiner, grosse und kleine Mädchen – welche, wie an einem Treppengerüste eines Glashauses oder in einem alten römischen Theater, vom Boden bis an die Wand hinauf sassen – und Rückkehr und Kantor samt allem dazugehörigen Schreien, Summen, Lesen und Prügeln in sich.»

Eine Art «Weltweisheit» als Himmelspforte für den Einblick in «lange, lange Freudengärten», die für Jean Paul zu einer Art von individuellem Erweckungserlebnis führte.

Jean Paul gehörte in dieser Gesamtschule zur Spezialgruppe der Lateiner, und neben dem Unterricht in der öffentlichen Schule genoss er auch noch Privatunterricht bei Kaplan Völkel, der ihn in Philosophie und Geographie unterrichtete und ihm sogar noch Klavierstunden gab. Entscheidend für seine persönliche Entwicklung war die Entstehung eines philosophischen Zugangs zur Welt, eine Art «Weltweisheit». Ein Wort, das ihm wie eine Himmelspforte Einblick verschaffte in «lange, lange Freudengärten», und die zu einer Art von individuellem Erweckungserlebnis führte, an das er sich genau erinnerte: «Nie vergess ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewusstseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiss. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht: ich bin ein Ich, wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mir fuhr und seitdem leuchtend stehenblieb: da hatte mein Ich zum ersten Mal sich selber gesehen und auf ewig.»

Der kleine Johann Paul übernahm jedes Mal ohne Widerrede das Trägeramt, obwohl der Preis schrecklich war.

 

Und dieses Ich war von schier unerschöpflicher Phantasie erfüllt, die ihm leider im Umgang mit der Angst vor Gespenstern arg in die Quere kam: «Manches Kind voll Körperfurcht zeigt gleichwohl Geistermut aber bloss aus Mangel an Phantasie, ein anderes hingegen – wie ich – bebt vor der unsichtbaren Welt, weil die Phantasie sie sichtbar macht». So wie Goethe davon erzählte, dass er sich als Student in Strassburg im Kreise seiner Kommilitonen die Gespensterfurcht systematisch auszutreiben versuchte, so wurde der kleine Jean Paul von seinem Vater brutal mit seiner «Geisterscheu» konfrontiert, indem er immer wieder gezwungen wurde, bei Beerdigungen die Bibel seines Vaters durch die leere Kirche in die Sakristei zu tragen, wenn «der Leichenzug mit Pfarrer, Schulmeister und Kindern und Kreuz und mir von der Pfarrwohnung an bei der Kirche vorüber zu dem Kirchhof neben dem Dorfe sich mit seinem Singgeschrei hinausbewegte.» Und der kleine Johann Paul übernahm jedes Mal ohne Widerrede das Trägeramt, obwohl der Preis schrecklich war: «aber wer von uns schildert sich die bebenden, grausenden Fluchtsprünge vor der nachstürzenden Geisterwelt auf dem Nacken und das grausige Herausschiessen aus dem Kirchentore?»

Phantasie als Plage und Geschenk

Die Phantasie war aber nicht nur eine Plage, sondern  auch ein Geschenk, das ihn früh zur Dichtkunst führte und das ihn mit Mut erfüllte, sobald er ins Reden und Schreiben kam. Dabei verstieg er sich in seinem Leben in den Kontakten mit anderen Menschen – gebildete Frauen, Adlige, Dorfleute –  zu skurillen Selbstinszenierungen, die typisch sind für diesen so angepassten und doch wieder so rebellischen Kauz, dass er sogar selbst ins Schmunzeln kam: «Nahm er nicht an einem Nachmittage, wo sein Vater nicht zu Hause war, ein Gesangbuch und ging damit zu einer steinalten Frau, die jahrelang gichtbrüchig darniederlag, und stellte sich vor ihr Bette, als sei er ein erwachsener Pfarrer und mache einen Krankenbesuch, und hob an, ihr aus den Liedern Sachdienliches vorzulesen? Aber er wurde bald unterbrochen von dem Weinen und Schluchzen, mit welchem nicht etwan die alte Frau das Gesangbuch anhörte – diese liess sich kalt auf nichts ein-, sondern er selber.»

Auch wenn er davon spricht, dass «die reine Liebe nur geben will», so hat man eher den Eindruck, dass es ihm vor allem um seine eigenen Gefühle geht, für die er kaum nach aussen einstehen will.

 

Die Freude an der verspielten Selbstinszenierung zeigte sich auch in seiner ersten Liebe: «Es war ein blauaugiges Bauernmädchen seines Alters, von schlanker Gestalt, eirunden Gesicht mit einigen Blatternarben, aber mit tausend Zügen, welche eben wie Zauberkreise das Herz gefangennehmen.» Und auch wenn er davon spricht, dass «die reine Liebe nur geben will», so hat man eher den Eindruck, dass es ihm vor allem um seine eigenen Gefühle geht, für die er kaum nach aussen einstehen will. Da ist viel unaussprechliche «Süssigkeit», ein «Herzens-Auseinanderwallen, ein himmlisches Vernichten und Auflösen des ganzen Menschen», aber wenig Bezogenheit auf ein geliebtes Gegenüber, so dass er seine erste Liebe mit folgenden lakonischen Worten bilanziert: «Dennoch blieb ihm mehr das Gefühl als ihr Gesicht, von welchem er nichts behalten als die Narben.»

Und er bezeichnet es als eine Eigenart von ihm, «dass er jedes weibliche Gesicht, dessen sogenannte Hässlichkeit nur keine moralische sein darf, ohne alle kosmetische Kunstgriffe, ohne Schmink- und Salbbüchse, ohne März- und Seifenwasser und ohne Nachtlarven im höchsten Grade reizend und bezaubernd zu machen vermag, wenn man ihm dazu nur einige Abende, Gesänge, Herzworte einräumt, dass wohl niemand schöner erscheint als eben  die gedachte Person – aber natürlich nur in seinen eignen Augen; denn wer spricht von andern?» Auch aus seiner Erinnerung an den Besuch des Höferjahrmarktes mit seiner Mutter wird deutlich, wie sehr er es liebte,  sich in sicherer Distanz in alle Frauen schwärmerisch zu verlieben: «und er verliebte sich unten vorbeimarschierend überall hinauf», wo die «vornehmsten und schönsten Damen» aus den Fenstern schauten. Seine Devise dem weiblichen Geschlecht gegenüber brachte er gegen Ende seines autobiographischen Fragments folgendermassen auf den Punkt: «Ferne schadet der rechten Liebe weniger als Nähe.»

Jean Pauls «erotische Akademie»

Ganz ähnlich taucht die Reinheit der ersten Liebe im 1790 entstandenen  «Leben des vergnügten Schulmeisterlein Wutz in Auenthal» auf. Da heisst es nicht etwa, dass sich das Schulmeisterlein verliebt habe, sondern «er wurde verliebt». Er erliegt jedem weiblichen Begehren und er ist ihm auf passive Weise ausgeliefert: «Denn einem Schnupftuch in einer weiblichen Hand erlag er stets auf der Stelle ohne weitere Gegenwehr, wie der Löwe dem gedrehten Wagenrade und der Elefant der Maus.»

Kurze Zeit später benennt er dasselbe Beziehungsmuster auf noch zugespitztere Weise  folgendermassen: «Ueberhaupt hab ich bisher mir unnütze Mühe gegeben, es zu verstecken, dass er in alles sich verliebte, was wie eine Frau aussah;» Wenn der Erzähler von den auf Distanz verehrten Frauen zu seiner Ehefrau Justine wechselt, spricht er diese als «Mutter» an, und er umschreibt die Vorteile der ehelichen Beziehung folgendermassen: «Er prahlte vor niemand als vor seiner Frau; und ich schätze den Vorteil so hoch, als er wert ist, den die Ehe hat, dass der Ehemann durch sie noch ein zweites Ich bekommt, vor welchem er sich ohne Bedenken recht herzlich loben kann.» So schwach ist der Mann, der sich in der Ehe als der Starke, Ueberlegene inszeniert, dass er noch ein zweites Ich benötigt, das ihm die Frau auf mütterliche Weise von aussen zuführen soll, wobei es zu dieser patriarchalen Selbstverständlichkeit zu bedenken gilt, dass wir uns hier am Anfang des 19.Jahrhunderts befinden.

Nicht lieben, sondern die Liebe nur schildern

Viermal verlobte sich Jean Paul und er erweiterte seine «erotische Akademie» zu einem Kreis gebildeter und hochgestellter Frauen aus ganz Deutschland. Zu den Verehrerinnen gehörten etwa Charlotte von Kalb, Rahel Levin, spätere Varnhagen, Karoline von Feuchtersleben oder sogar die preussische Königin Louise. Im Oktober 1799 versprachen sich Karoline und Jean Paul die Ehe, die dann einige Monate später nicht wegen der empörten adligen Familie ob dieser unstandesgemässen Verbindung wieder aufgelöst wurde, sondern wegen Jean Paul, der die Liaison unvermittelt mit folgenden Worten aufkündigte: «Nicht ihr Stand, sondern moralische Unähnlichkeiten scheiden uns». Johann Gottfried Herder meinte in einem Trostbrief an Karoline treffend, Jean Pauls Beruf sei nicht zu lieben, sondern die Liebe zu schildern und so «aller Frauen Mann zu sein.» Der Dichter hatte eben Karoline und ihre höfische Umgebung vor allem als Material für sein literarisches Schaffen benützt.

Im Sommer 1800 lernte er dann in Berlin seine spätere Ehefrau Karoline Mayer kennen, die ihn verehrte und die als gebildete Frau trotzdem bereit war, «zu ihm aufzublicken und ihm ein häusliches Leben zu garantieren», wie es Pfotenhauer in seiner Biographie formulierte. In einem Brief an Ludwig Gleim umschrieb Jean Paul, was er von den Frauen wollte: «Ausser der Ehe verstrikt man sich durch die Phantasie in so viele Verbindungen mit Weibern, die immer eine oder gar zwei Seelen auf einmal beklemmen und unglücklich machen. Mein Herz wil die häusliche Stille meiner Eltern, die nur die Ehe giebt. Es will keine Heroine – denn ich bin kein Heros -, sondern nur ein liebendes sorgendes Mägden: denn ich kenne jetzt die Dornen an jenen Pracht- und Fackeldiesteln, die man genialische Weiber nent.» Am 22.November 1800 wird die Verlobung angezeigt und am 27.Mai 1801 heiraten Jean Paul und Karoline Mayer. 1802 wird die Tochter Emma geboren, 1803 der Sohn Max und 1804, nach dem Umzug der Familie nach Bayreuth, kommt Odilie als drittes Kind zur Welt.

Toleranz und möglichst grosse Zurückhaltung mit Autorität und Strenge

Auch wenn Jean Paul gleich wie sein Vorbild Jean Jacques Rousseau im Kind den reinen, unschuldigen, idealen Menschen sah, den erst der Prozess der Zivilisation verderbe, so kombinierte er in der Erziehung seiner eigenen Kinder wie auch in seiner Pädagogik als Hauslehrer immer Toleranz und möglichst grosse pädagogische Zurückhaltung mit Autorität und Strenge. Ueber Erziehungsfragen kam es zwischen den Eltern immer wieder zu schweren Konflikten, die die ersehnte häusliche Stille empfindlich störten. Seine Kinder durften frei reden, auch Spass war erlaubt. Trotzdem war er auch wieder streng, tadelte seine Mädchen und den Knaben züchtigte er auch körperlich. Waren die Kinder krank, so wollte sie der Vater selbst kurieren und dabei mutete er ihnen auch viel Schmerz zum Zwecke der Abhärtung zu, während die Mutter eher auf den Rat der Aerzte hörte. Der Vater liess die Kinder barfuss gehen und sie durften auch auf den Boden spucken. In einem Bericht von 1809, so berichtet der Biograph Pfotenhauer, hiess es deshalb, «er erziehe seine Kinder wie das Vieh».

Und nach den Vormittagsstunden folgte er den Kindern nach Hause, «da er sich’s ausgebeten hatte, reihum bei den einzelnen Familien mittags zu speisen.»

 

Seit 1805 führte er ein Tagebuch über seine Kinder, das er zusammen mit seiner jahrelangen Lehrtätigkeit in Schwarzenbach und Hof für seine Erziehlehre «Levana» direkt verwendete. Ab 1790 war er für 4 Jahre als Lehrer in Schwarzenbach für 6 Knaben und 1 Mädchen verantwortlich. Er unterrichtete diese Kinder, die zwischen 7 und 15 Jahre alt waren, 30 Wochenstunden in 15 (!) verschiedenen Fächern: Biblische Geschichte, Moral, Logik, Latein, Französisch, Deutsch, Mythologie, Geschichte, Geographie, Physik, Naturgeschichte, Anatomie, Astronomie, Rechnen und Kurztexte verfassen. Und dies alles in räumlich prekären Verhältnissen, denn er klagte gemäss Karl Lange in einem Brief, «dass unter ihm gespult, neben ihm gezwirnt und draussen gehämmert werde.» Und nach den Vormittagsstunden folgte er den Kindern nach Hause, «da er sich’s ausgebeten hatte, reihum bei den einzelnen Familien mittags zu speisen.»

Eine seiner didaktischen Eigenheiten war es, die Kinder zu Verknüpfungen und unterhaltsamen Aehnlichkeiten verschiedener Wissensgebiete anzuregen. Er verleitete sie zu Wortspielen und Witzen, um nach oberflächlichen Analogien zu suchen. Zucht und Ordnung waren aber in den Schulregeln ebenfalls wichtig.  Nach 4 Jahren Gesamtschule mit verschiedenen Niveaus – binnendifferenzierter integrativer Unterricht heisst das heute! – wurde diese kleine Privatschule aufgelöst und Jean Paul ging zu seiner seit 1779 verwitweten Mutter nach Hof zurück, wo er auch wieder Kinder im kleinen Kreis unterrichtete.

«Ueberall das Ganze meinend»

In der Vorrede zur ersten Auflage von «Levana» 1806 formuliert er das Hauptanliegen seiner Pädagogik folgendermassen: «Allein obgleich der Geist der Erziehung – überall das Ganze meinend – nichts ist als das Bestreben, den Idealmenschen, der in jedem Kinde umhüllt liegt, frei zu machen durch einen Freigewordenen». Die «rechte Erziehung» besteht für ihn in der «entfaltenden, durch welche die lange zweite, die heilende, oder die Gegenerziehung zu ersparen wäre.» Dies führt ihn zu folgender Maxime: «Jeder neue Erzieher wirkt weniger ein als der vorige, bis zuletzt, wenn man das ganze Leben für eine Erziehanstalt nimmt, ein Weltumsegler von allen Völkern zusammengenommen nicht so viele Bildung bekommt als von seiner Amme.» Dieser Rousseauschen Idealkonzeption kann Jean Paul trotzdem nicht ganz nachkommen, denn die Erziehung in der frühen Kindheit in den ersten 3 bis 5 Lebensjahren ist ihm sehr wichtig, entscheide sich doch in dieser Phase die ganze Entwicklung des Menschen.

Jean Pauls Vorbild Jean-Jacques-Rousseau ausruhend auf einem Gemälde des Schweizer Künstlers Jean-Louis David.

Es ist erstaunlich, mit welcher Radikalität Jean Paul an dieser Stelle den Staat und die  Gesellschaft kritisiert: «Leider raubt entweder der Staat oder die Wissenschaft dem Vater die Kinder über die Hälfte; die Erziehung der meisten ist nur ein System von Regeln, sich das Kind ein paar Schreibtische weit vom Leibe zu halten und es mehr für ihre Ruhe als für seine Kraft zu formen, höchstens wöchentlich einige Male ihm unter dem Sturmwinde des Zornes so viel Mehl der Lehren zuzumessen, als er verstäuben kann.» Es wird an dieser Stelle deutlich, wie willkürlich und zwanghaft die Konstruktion des reinen, guten Menschen ist, der lediglich durch den Zivilisationsprozess in seinem späteren Leben verdorben werde.

Weil ihm grundsätzlich die Widersprüchlichkeit des Menschen zu widersprüchlich war, rettete er sich in eine Idealkonstruktion, die schlussendlich in einer vagen und pauschalisierenden Kritik der städtischen Kultur und des zeitlichen Verlaufs aller Dinge endete: «Aber ich möchte die Geschäftsmänner fragen, welche Bildung der Seelen mehr auf der Stelle erfreuend belohne, als die der unschuldigen, die dem Rosenholze ähnlich sind, das Blumenduft austreuet, wenn man es formt und zimmert? Oder was jetzt der fallenden Welt – unter so vielen Ruinen des Edelsten und Altertums – noch übrig bleibe als Kinder, die Reinen, noch von keiner Zeit und Stadt Verfälschten. Nur sie können in einem höheren Sinn, als wozu man sonst Kinder gebrauchte, in dem Zauberkrystall die Zukunft und Wahrheit schauen und noch mit verbundenen Augen  aus dem Glücksrade das reichere Schicksal ziehen.»

Bei Jean Paul ist die Dringlichkeit der Gesellschaftskritik im Verbund mit pädagogischen Visionen um einiges heftiger und man spürt die sich anbahnende Revolutionierung der Gesellschaft durch die Industrielle Revolution in der verwendeten Maschinenmetaphorik.

 

Jean Paul steht mit seiner pädagogischen Kritik des Drills und des Gehorsams in einer langen Tradition, wie sie etwa schon der ihm bekannte französische Humanist Michel de Montaigne in seinem berühmten Essay «Ueber die Schulmeisterei» Ende des 16. Jahrhunderts folgendermassen vorgetragen hatte: «In Wahrheit zielen Sorge und Aufwand unserer Väter auf weiter nichts ab, als uns den Kopf mit Wissen anzufüllen; von Urteil und Charakter ist nicht viel die Rede (…) Wir mühen uns nur, das Gedächtnis vollzupfropfen, und lassen Verstand und Gewissen leer.» Doch bei Jean Paul ist die Dringlichkeit der Gesellschaftskritik im Verbund mit pädagogischen Visionen um einiges heftiger und man spürt die sich anbahnende Revolutionierung der Gesellschaft durch die Industrielle Revolution in der verwendeten Maschinenmetaphorik. So etwa in den «Selberlebensbeschreibungen», wo sich der Erzähler gegen Ende der Autobiographie richtig in Rage redet: «Aber so sind die Menschen durch alle Aemter hinauf; sie haben keine Lust, knechtische Maschinen zu freien Geistern zu machen und dadurch ihre Schöpf-, Herrsch- und Schaffkraft zu zeigen, sondern sie glauben diese umgekehrt zu erweisen, wenn sie an ihre nächste oder Obermaschine aus Geist wieder eine Mittelmaschine und an die Zwischenmaschinen endlich die letzte anzuschienen und einzuhäkeln vermögen, so dass zuletzt eine Mutter-Marionette erscheint, welche eine Marionettentochter führt, die wieder ihrerseits imstande ist, ein Händchen in die Höhe zu heben. Gott, der Reinfreie, will nur Freie erziehen; der Teufel, der Reinunfreie, will nur seinesgleichen.»

«Wer keinen Gott im Himmel und keine Hoffnung auf ein Jenseits im Herzen hat, der mag bis zu den höchsten Spitzen menschlicher Weisheit durchgedrungen sein – zum Erziehen taugt er nicht.»

Sein Hang zur ernst gemeinten Spiritualität ohne viel Respekt vor der kirchlichen Dogmatik liess ihn auch trotz seiner Bewunderung für das höfische Leben den Untertanengeist der feudalen Welt schonungslos kritisieren: « Und doch sag ich: wie glücklicher seid ihr jetzigen Kinder, die ihr aufgerichtet erzogen werdet, zu keinem Niederfallen vor dem Range belehrt und von innen gegen den äusseren Glanz gestärkt!» Für die Stärkung von innen heraus war ihm als Deist Gott «ein ordentliches Lebensbedürfnis» und er war «ein Christ, der zwar von kirchlichen Dingen wenig hält, dafür aber mit einer Wärme und Festigkeit seine religiösen Ueberzeugungen lebt, wie sie in dem dürren Zeitalter der Aufklärung nur sehr wenigen ‘starken Geistern’ eigen war», wie Karl Lange es formuliert, denn «wer keinen Gott im Himmel und keine Hoffnung auf ein Jenseits im Herzen hat, der mag bis zu den höchsten Spitzen menschlicher Weisheit durchgedrungen sein – zum Erziehen taugt er nicht.» 120 Jahre nach Lange betonte auch Roman Bucheli in der NZZ vom 23.März 2013: «Gegen den Tod und gegen die Leere einer drohenden Gottlosigkeit mobilisiert er fortan die Kunst.»

«Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab» 

Am eindrücklichsten kommt das in der «Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei» zum Ausdruck, die sich innerhalb des Romans «Siebenkäs»  findet. In dem «ersten Blumenstück» taucht dieses bekannte Pamphlet auf, das die atheistische Vorstellung von der Nichtexistenz Gottes als veritablen Albtraum schildert: «Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner – er trauert mit einem verwaisten  Herzen, das den grössten Vater verloren, neben dem unermesslichen Leichnam der Natur, den kein Weltgeist regt und zusammenhält, und der im Grabe wächset; und er trauert so lange, bis er sich selber abbröckelt von der Leiche.

Die ganze Welt ruht vor ihm wie die grosse, halb im Sande liegende ägyptische Sphinx aus Stein; und das All ist die kalte eiserne Maske der gestaltlosen Ewigkeit.» Und es erinnert schon fast an die Episode mit dem sowjetischen Kosmonauten Gagarin, der als erster Mensch im Weltraum war und nach seiner Rückkehr auf die Erde gesagt haben soll: «Ich war im Weltraum, aber Gott bin ich nicht begegnet». Jean Paul lässt Christus in seiner Rede sagen: «Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstrassen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott.»

Schade, dass sich Jean Paul nicht zu einem pantheistischen Verständnis eines Spinoza durchringen konnte, wonach Gott Natur ist.

 

Die Säkularisierung und die zunehmende Individualisierung enden in dieser Rede von Christus in einer grossen, unaushaltbaren Einsamkeit: «Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.» Und dieses «starre, stumme Nichts» hat schreckliche Folgen: «Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgeengel sein?» Doch der Albtraum – «mein Gott, warum hast du mich verlassen?» – endet versöhnlich, denn nach dem Erwachen folgt die grosse Erleichterung: «Meine Seele weinte vor Freude, dass sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet.»

Schade, dass sich Jean Paul nicht zu einem pantheistischen Verständnis eines Spinoza durchringen konnte, wonach Gott Natur ist, denn gerade Jean Pauls Beziehung zur Natur hätte ihm dieses Verständnis nahebringen können. Stattdessen landet er am Ende dieser Rede in einer Art katholischem Vater-Idyll, das sein ganzes Werk immer wieder kitschig einfärbt: «Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem kleinen Monde zu, der ohne eine Aurora im Morgen aufstieg; und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater; und von der ganzen Natur um mich flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken.»

ENDE TEIL 1 VON 3

 

(* Ich beziehe mich im Folgenden auf die von Karl Lange in der «Bibliothek Pädagogischer Klassiker» herausgegebene «Levana», die 1892 in Langensalza in einer zweiten, verbesserten Auflage erschienen ist. Der Text kann aber auch online und kostenlos beim Projekt Gutenberg gelesen werden.)

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Schul-Visionäre in Basel-Stadt https://condorcet.ch/2024/03/schul-visionaere-in-basel-stadt/ https://condorcet.ch/2024/03/schul-visionaere-in-basel-stadt/#comments Fri, 01 Mar 2024 21:22:54 +0000 https://condorcet.ch/?p=16041

Die neuste Ausgabe des Basler Schulblattes enthielt wieder einmal die aktuellsten Visionen über die ewige Frage, wie doch endlich die Schule anders gestaltet werden könnte. Condorcet-Autor Felix Schmutz zerlegt die behördliche Wunschprosa im Detail.

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Was genau tun die Behördenfunktionärinnen und -funktionäre des Erziehungsdepartementes eigentlich den ganzen Tag? Auf diese Frage antwortet die neue Ausgabe des Basler Schulblattes (1): Die Leute entwickeln Visionen, Visionen für die künftige Entwicklung der Volksschule. Wie die Autorin des Artikels, Charlotte Staehelin, weiss, handelt es sich um einen Prozess, der auf fünf bis acht Jahre angelegt ist. Die Volksschulleitung entwickelt die Visionen, die Schul- und Fachstellenleitungen sollen die Umsetzung an den Schulen einleiten. Die Lehrerschaft wird wohl nur in den sogenannten “Echogruppen” dazu angehört.

Condorcet-Autor Felix Schmutz

Wie war das noch mit den flachen Hierarchien? Und hiess es nicht erst noch, man müsse “Betroffene zu Beteiligten machen”? Davon ist jedenfalls nichts zu spüren, wenn der Ablauf des Prozesses derart hierarchisch vorstrukturiert ist. Die Betroffenen, nämlich die Lehrkräfte, dürfen die ihnen von den Visionären und den Schulleitungen eingebrockte Suppe auslöffeln, nachdem sie in Echogruppen pro forma zu den faits accomplis noch ihren Senf haben dazugeben dürfen, und zwar möglichst in zustimmendem Sinne.

Auffällig, wie ein solches Top-Down-Gebaren bereits der ersten Vision widerspricht, die im Kernsatz gipfelt: “Die Volksschule bereitet auf ein selbstbestimmtes Leben vor.” Die Vorstellung vom selbstbestimmten Leben wird unter anderem konkretisiert mit der Maxime: “Die Volksschule ist eine Gemeinschaft im Kleinen; demokratisches Handeln wird vermittelt und gelebt.” (2) Damit sollen Lehrpersonen als die untersten Befehlsempfänger in der politischen Bildungshierarchie plötzlich als Garanten einer demokratischen Gemeinschaft im Kleinen fungieren. Ob man den Visionären etwas in den Kaffee geschüttet hat, dass sie diese Ungereimtheit nicht bemerkten?

Unterricht ist eine Veranstaltung, die darauf angelegt ist, Wissen und Können zu vermitteln

Stutzig wird der Leser auch beim zweiten Kernsatz der Visionäre: “Lernen ist mehr als Unterricht”. Dieser Satz setzt die Gleichung voraus: “Lernen gleich Unterricht.” Selbst wenn man dies nachsichtig mit «pädagogischer Lyrik» entschuldigt, muss doch darauf hingewiesen werden, dass die Aussage absurd ist. Unterricht ist eine Veranstaltung, die darauf angelegt ist, Wissen und Können zu vermitteln. Lernen bedeutet die Aufnahme und das Verständnis von neuen Sachverhalten und Anwendungen, die sich Schülerinnen und Schüler zu eigen machen. Der Vergleich der beiden Begriffe ist etwa so unsinnig, wie wenn man sagen würde: “Essen ist mehr als die Küche” oder “Lesen ist mehr als ein Buch” oder “Skifahren ist mehr als eine Piste”.

“Böse” Blicke auf die ideale Schule…

Natürlich offenbart dieser Kernsatz eine versteckte Kritik an dem schulischen Unterricht. Unterricht hat für die Visionäre insgeheim einen negativen Anstrich. Das lässt sich an den Konkretisierungen ablesen:

  • Bildung bedingt Bindung.
  • Von der Unterrichtsentwicklung zur Lernentwicklung.
  • Lernarrangements orientieren sich an den individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler.
  • Dem motivationalen Aspekt des Lernens wird grosses Gewicht gegeben.
  • Alle Schülerinnen und Schüler werden in ihrer Individualität wahr- und angenommen. Sie erfahren Orientierung und Ermutigung.
  • Die Schülerinnen und Schüler werden sowohl gefördert als auch gefordert. (2)

Unterricht wird demnach als etwas gesehen, das Bindung erschwert, dem Lernen zu wenig Aufmerksamkeit schenkt, zu wenig individualisiert, zu wenig motiviert, etwas das entmutigt, zu wenig fördert und fordert. Es ist im Grunde das Lamento von Leuten, deren Erinnerung an die Schulzeit durch Misserfolge, schlechte Erfahrungen, Langeweile belastet ist und die jetzt in ihrer Rolle als Behördenmitglieder ihre Wünsche von einer heilen Schulwelt auf die von ihnen verwaltete Schule projizieren.

Konträre Visionen

Auch die übergewichtige Betonung des “Individualisierens” kontrastiert deutlich mit der ersten Vision, welche das hohe Lied der “Gemeinschaft” singt:

  • Die Volksschule bereitet die Schülerinnen und Schüler auf ein selbstständiges, kooperatives und verantwortungsvolles Handeln in der Gesellschaft vor.
  • Die Volksschule ist eine Gemeinschaft im Kleinen; demokratisches Handeln wird vermittelt und gelebt.
    Geltende Werte und gemeinsam festgelegte Regeln stärken sowohl das Ich als auch das Wir.
  • Die Schülerinnen und Schüler übernehmen Verantwortung für sich, die Gemeinschaft und die Umwelt.
  • Die Schülerinnen und Schüler lernen, sich in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft verantwortungsvoll und kompetent zu bewegen. (2)

Der Unterricht soll jedem Kind das angemessene Programm vorsetzen, sozusagen private Schulung simulieren, während gleichzeitig auf wundersame Weise gemeinschaftliches Handeln und Verantwortung für die Gemeinschaft und die Umwelt entsteht. Dass gemeinschaftliches Handeln nur zu haben ist, wenn individuelle Bedürfnisse auch mal hintangestellt werden, sich der oder die Einzelne einmal anpassen und anstrengen muss, ist den Visionierenden in ihren Höhenflügen nicht bewusst. Man darf den Schulleitungen und Lehrpersonen viel Glück wünschen bei der Umsetzung solch konträrer Visionen.

Die Visionen sind das ewige Wiederkäuen derselben Phrasen und längst bekannten Kitschformeln, die schon die früheren Schulreformen begleitet und die Schulqualität in Basel kaum verbessert haben.

Leider muss man feststellen, dass Jahrzehnte der Schulpolitik nach dem bekannten Top-Down-Muster bei den Verantwortlichen noch keinen Lernprozess angeregt haben. Die drei weiteren von der Basler Erziehungsnomenklatura genannten Visionen sind ebenfalls weder neu noch originell. Sie sind das ewige Wiederkäuen derselben Phrasen und längst bekannten Kitschformeln, die schon die früheren Schulreformen begleitet und die Schulqualität in Basel kaum verbessert haben:

  • Die Volksschule trägt dazu bei, die Chancengerechtigkeit zu fördern.
  • Wir leben eine kooperative Zusammenarbeit.
  • Die Volksschule ist eine lernende Organisation.

Die Frage sei erlaubt: Wenn die Leute im Erziehungsdepartement Basel-Stadt Zeit haben, sich fünf bis acht Jahre mit solchen Visionen, wie sie es nennen, zu beschäftigen, braucht es diese Stellen überhaupt noch? Könnte man hier nicht mit Einsparungen beginnen? Sozusagen der Beginn eines “lernenden Departementes”! Oder könnte man diesen Leuten nicht offene Stellen an Schulen anbieten, damit sie ihre Visionen direkt selbst umsetzen können? Sie könnten dann vielleicht demonstrieren, wie Lernen mehr ist als Unterricht.

 

(1) https://www.edubs.ch/publikationen/baslerschulblatt/aktuelle-ausgabe-1/BSB_01_2024.pdf/@@download/file/BSB_01_2024.pdf?inline=true

(2) https://www.edubs.ch/publikationen/baslerschulblatt/artikel/integration-innovation-inspiration-unsere-schulen-gestalten?searchterm=Integration%2C+Innovation%2C+Inspiration

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“Man muss manche Kinder und Jugendliche eng führen und strenger kontrollieren” https://condorcet.ch/2024/02/man-muss-manche-kinder-und-jugendliche-eng-fuehren-und-strenger-kontrollieren/ https://condorcet.ch/2024/02/man-muss-manche-kinder-und-jugendliche-eng-fuehren-und-strenger-kontrollieren/#comments Sun, 18 Feb 2024 11:50:20 +0000 https://condorcet.ch/?p=15979

Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach stellt einen grundlegend falschen Ansatz in der deutschen Pädagogik fest: Die Folgen der bei den 68ern beliebten antiautoritären "Emanzipation" schade vor allem leistungsschwachen Kindern. Reichenbach zeigt Auswege für ratlose Eltern auf. Das Interview erschien in der WELT.

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WELT: Herr Reichenbach, steckt Deutschland in einer Erziehungskrise?

Roland Reichenbach: Hannah Arendt führte 1958 in ihrem berühmten Vortrag “Krise in der Erziehung”, das, was sie als Erziehungskrise bezeichnete, auf eine strukturelle Krise der Moderne zurück. Sie glaubte, dass Erziehung ein konservatives Geschäft sei.

Man könne, so Arendt, nur das weitergeben, was sich irgendwie bewährt hat, was man kennt, was man weitergeben möchte. Das Neue dagegen “bringen die Neuen”, das heisst Kinder und Migranten, sie verändern die Welt. Wenn die Erziehung ihre konservierende Aufgabe vergisst, ist, was sich eigentlich verbirgt hinter deren Krise, eine Autoritätskrise und eine Traditionskrise. Das hat Arendt so konstatiert, aber so pauschal kann man das, glaube ich, nicht bestätigen.

WELT: Aber?

Reichenbach: Aber es gibt eine Krise des Gemeinsinns und eine Krise der Repräsentation. Es ist den Eltern kaum mehr klar, wofür sie eigentlich einstehen sollen und wofür die Schule steht. Das hat zu tun mit der modernen Bewegung hin zum Individuum, hin zur an sich ja großartigen Bedürfnisorientierung. In deren Engführung sieht man plötzlich nur noch das Individuum, das Kind, das Hirn.

Es ist den Eltern kaum mehr klar, wofür sie eigentlich einstehen sollen und wofür die Schule steht.

 

Die Schule als Ganzes und ihre Funktion in der Gesellschaft gerät aus dem Blick – bis dahin, wo Kinder, Schüler als Ansammlung frei flottierender Atome betrachtet werden. Die Eltern sind, wenn überhaupt, primär am eigenen Kind interessiert. Und dazu kommt noch, dass es weniger und mehr privilegierte Familien und Kinder gibt und dass die herrschende individualisierte Pädagogik zugespitzt eigentlich eine Pädagogik für Gewinner ist.

Roland Reichenbach (61) ist Professor der Allgemeinen Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich (Bild: Roland Reichenbach/zvg)

WELT: Was bedeutet “Pädagogik für Gewinner”?

Reichenbach: Es herrscht die Annahme, selbst organisiertes Lernen, individualisiertes Lernen sei universell ein probates Mittel. Das passt für jene, die von zu Hause aus irgendwie wissen, dass sie in der Welt einen Platz erhalten. Jene aber, die leistungsschwach sind, aus welchen Gründen auch immer, mangelnde Motivation, familiärer Hintergrund und so weiter, für die ist eine andere Pädagogik nötig.

Es gibt manche Kinder und Jugendliche, die muss man eng führen. Man muss sie aber auch ermutigen, und man muss sie strenger kontrollieren. Und das tönt für moderne pädagogische Ohren überhaupt nicht attraktiv.

WELT: Weil?

Reichenbach: Weil in Debatten der Nachkriegszeit über Autorität, besonders durch die 68er, der Begriff der “Emanzipation”, der Befreiung der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt der Pädagogik gerückt wurde. Man könnte auch sagen, die Pädagogik ist politisiert worden.

WELT: Adorno etwa postulierte, kurz gesagt, nach dem Krieg den “autoritären Charakter” durch falsche Erziehung als Ursache des Erfolgs der Nazis, durch andere Erziehung sei er zu überwinden. 

Reichenbach: Vor Adornos Studien gab es noch den Psychologen Kurt Lewin, aber ja: Zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die autoritäre Erziehung als ein Problem gefunden. Autorität in der Erziehung galt als schlecht. Demgegenüber gestellt ist bis heute, das werden Sie in allen möglichen Leitlinien und Bildungskonzepten finden, die gute “demokratische Erziehung”.

Alles soll verhandelbar, auf Augenhöhe sein. Pädagogik ist aber nun mal eine asymmetrische Angelegenheit.

 

Nun sind beide Begrifflichkeiten, Demokratie und auch Autorität, politische. Man kann sich auch fragen, warum und woher kommt eigentlich die Idee, dass die Erziehung demokratisch, also volksherrschaftlich, sein soll? Was soll das bedeuten?

WELT: Von Ihnen gibt es ein Buch, “Pädagogische Autorität. Macht und Vertrauen in der Erziehung”. Woran denken Sie bei Autorität in der Erziehung?

Reichenbach: Daran, dass ohne irgendeine Bereitschaft, sich führen zu lassen, es überhaupt nicht geht mit dem Zusammenleben in einer Gesellschaft. Das ist eine Kompetenz, die man nur gegenüber einer glaubhaften Autorität erwerben kann. Ob man sie erwirbt, hängt fundamental davon ab, dass es sich für mich lohnen muss, mich führen zu lassen. Das jemand ausgeübte Autorität annimmt, ist abhängig von einem Versprechen. Eine bestimmte Ökonomie muss stimmen, irgendwo muss die Möglichkeit eines Tauschakts gesellschaftlich vorhanden sein.

WELT: Was erhält man im Tausch gegen das Sich-führen-Lassen?

Reichenbach: Man könnte so sagen: Die ältere Generation muss es schaffen, der jüngeren glaubhaft zu vermitteln, dass sie, wenn sie sich in deren Führung begibt – an der Schule heisst das: sich anstrengen, wohl verhalten, lernen – eine individuell attraktive Zukunft erwarten kann. Schulische Bildung ist somit nicht Selbstzweck, sondern ganz konkret Mittel zum Zweck, auch wenn Pädagogen das heute nicht gerne hören.

WELT: Erziehung also als Gütertausch – du lässt dich erziehen, dafür bist du später in der Lage, dir ein Häuschen zu leisten. Das aber stimmt für ganz viele Kinder nicht mehr.

Reichenbach: Es ist ganz evident, dass es Segmente der Gesellschaft gibt und also Kinder und Jugendliche, die vielleicht aus gutem Grund nicht an die Wirksamkeit der Bildung glauben können. Warum sollte ich mich dann einem schulischen Regime unterwerfen? Letztlich haben wir ein also ein Sinnproblem.

WELT: Nur in dem Sinn, dass materielle Tauschgüter unerreichbar sind? Oder auch in einem immateriellen Sinn, dass es einen Mangel sinnstiftender Arbeit gibt?

Reichenbach: Mir ist Richard Sennetts (amerikanisch-britischer Soziologe, d. Red.) “passiver Nihilismus” näher. In Umfragen äußert sich das so: Menschen, die ihren Job und den Lohn als in Ordnung beschreiben, antworten auf die Frage, ob sie dort noch in fünf Jahren arbeiten wollen: “Auf keinen Fall.” Und auf die Frage, was Sie nun dagegen tun wollen: “Keine Ahnung”.

Die Leute haben sich daran gewöhnt, dass sie in einer Art Krise sind, nicht wissen, wohin die Reise geht, und das verläuft relativ störungsfrei, ohne Leiden.

 

In einer hochflexiblen, hoch veränderlichen Arbeitswelt ist es für Arbeitgeber auch von Vorteil, wenn die Angestellten gar nicht wissen, was sie eigentlich wollen; dieser passive Nihilismus ist somit funktional, es handelt sich dabei um eine kulturell adaptive Identitätsdiffusion. Das heißt, die Leute haben sich daran gewöhnt, dass sie in einer Art Krise sind, nicht wissen, wohin die Reise geht, und das verläuft relativ störungsfrei, ohne Leiden.

WELT: Das meinen Sie also, wenn Sie sagen, die Eltern wüssten kaum, wofür sie einstehen sollen?

Reichenbach: Wer nicht weiss, wohin er will, hat ein pädagogisches Problem, denn das Zeigen ist die Grundoperation in der Pädagogik, wie der Erziehungswissenschaftler Klaus Prange schrieb. Die ältere Generation muss also wissen, was sie zeigen will. Stattdessen verhält es sich immer häufiger so, als ob die Älteren ihre Verantwortung an die Jüngeren abgeben wollten.

Statt “Ich habe dich immer unterstützt, du konntest machen, was du willst” wäre besser, wenn man sagt: “Studier’ BWL!” oder “Übernimm den Hof!”. Dann kann das Kind entgegnen: “Nein!”, und sich überlegen, was es stattdessen will. Ich will sagen: Freiheit ohne Befreiung funktioniert nicht.

WELT: Und die Befreiung erfolgt als Negation des Erzieherwillens?

Reichenbach: Ja, oft; es geht also nicht darum, ob man schafft, wie vielfach heute das Leitbild, dass die Jungen von sich aus herausfinden, was sie wollen. Sondern darum, dass die ältere Generation sagt, was ihr wichtig ist – und dass sie weiss, dass die Jungen es dann eh machen, wie sie wollen. Das ist der Kern von Friedrichs Schleiermachers Pädagogik.

Womöglich haben wir es in der Gegenwart nicht mit der “falschen” Pädagogik zu tun, sondern mit einer “fehlenden” Pädagogik.

 

Die pädagogische Frage würde lauten, meinte er: Was will denn die ältere Generation von der jüngeren? Zur gleichen Zeit wusste er, dass die Jüngeren nicht so rauskommen, wie die Älteren es wollen. Genau das ist modern. In diesem Sinne würde ich abschließend die These wagen: Womöglich haben wir es in der Gegenwart nicht mit der “falschen” Pädagogik zu tun, sondern mit einer “fehlenden” Pädagogik.

WELT: Weil die Alten das “Zeigen” scheuen? Warum ist das so?

Reichenbach: Heute wollen Führungspersonen, Lehrpersonen, auch Professoren von ihren Studierenden oder Mitarbeitern geschätzt, am besten noch geliebt werden. Das ist eine Krankheit, die habe ich auch ein bisschen, auch als Vater von vier erwachsenen Kindern. Man möchte geschätzt werden, aber das ist vielleicht nicht so gut.

Ich bin mir ganz sicher, dass das für meine Eltern nie eine Frage war: Ob ihre Söhne sie lieben. Wir waren ihre Söhne, sie haben uns geliebt, das war es. Und nun haben wir ein fundamentales Bestreben, alle Kommunikation zu symetrisieren und halten es kaum aus, wenn das nicht der Fall ist – alles soll verhandelbar, auf Augenhöhe sein. Pädagogik ist aber nun mal eine asymmetrische Angelegenheit.

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Die amerikanische Manie, die Kinder permanent zu überwachen, zu betreuen und zu fördern, kann Angststörungen auslösen https://condorcet.ch/2023/12/die-amerikanische-manie-die-kinder-permanent-zu-ueberwachen-zu-betreuen-und-zu-foerdern-kann-angststoerungen-ausloesen/ https://condorcet.ch/2023/12/die-amerikanische-manie-die-kinder-permanent-zu-ueberwachen-zu-betreuen-und-zu-foerdern-kann-angststoerungen-ausloesen/#respond Sat, 30 Dec 2023 16:56:23 +0000 https://condorcet.ch/?p=15558

Das Phänomen der omnipräsenten Helikopter-Eltern schwappt immer mehr aus den USA nach Europa über. Doch nun wird Kritik an diesem Erziehungsstil laut. Manche Forscher vermuten sogar einen Zusammenhang mit den zunehmenden Angststörungen und Depressionen unter Jungen. Wir bringen einen Artikel des NZZ-Journalisten David Signer.

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Zieht man mit Kindern in die USA um, sticht einem der andere Erziehungsstil ins Auge. Was man in der Schweiz spöttisch Helikopter-Eltern nennt, ist hier normal. Ständig kreisen Mütter und Väter in einer Mischung aus Überbehütung und Kontrolle über ihren Kindern.

Gastautor David Signer, NZZ-Journalist

Das beginnt schon beim Schulweg: Im Gliedstaat Illinois dürfen Kinder erst ab 14 Jahren allein zur Schule gehen, selbst wenn es sich nur um eine Viertelstunde zu Fuss handelt. Allein zu Hause lassen darf man sie in Illinois ebenfalls erst ab 14. Ebenso wenig dürfen Kinder ohne Aufsicht draussen spielen, nicht einmal im Hinterhof oder auf dem Rasen vor dem Haus. Es besteht das reale Risiko, dass ein Nachbar die Polizei oder die Kinderschutzbehörde anruft. Auch auf dem Spielplatz weichen die meisten Eltern kaum von der Seite ihres Nachwuchses.

Die Vorbereitung auf das College beginnt kurz nach der Geburt

Aber die meisten Kinder haben sowieso kaum Zeit zum Spielen, weil die Eltern sie nach der Schule gleich zum Schwimmunterricht, ins Ballett, zur Geigenstunde oder in den Nachhilfeunterricht bringen. Treffen mit anderen Kindern beschränken sich auf organisierte “play dates”, bei denen die Erwachsenen daneben sitzen und für Anregungen und Leitplanken sorgen.

Viele Eltern sind besessen von der Idee der Frühförderung und sorgen sich, kaum ist das Kind geboren, ob es wohl den Sprung in ein gutes College schaffen wird. Zur Nonstop-Erziehung passt auch das permanente Lob. Der häufigste Satz auf Spielplätzen ist: “Good job, buddy!”, selbst wenn das Kind bloss die Rutschbahn heruntergekommen ist. Wohlgemerkt: Das hat eine sympathische, liebevolle, positive und förderliche Seite; es zeigt aber auch, wie Eltern sich in den Mittelpunkt stellen und alles bewerten. Eigentlich sollte man auf dem Spielplatz ja nicht Mutter oder Vater zufriedenstellen, sondern Spass haben.

Zusammenhang zwischen Überbetreuung und Angststörungen

Nun gibt es jedoch zunehmend Kritik an diesem Erziehungsmodell, das nicht nur in den USA, sondern mit einer Zeitverzögerung auch in Europa immer mehr dominiert. Organisationen wie Let Grow setzen sich für mehr kindliche Autonomie und eine Änderung der Gesetze ein und werden zu einer landesweiten Bewegung.

Auch auf wissenschaftlich-pädagogischer Ebene werden kulturelle Gewissheiten infrage gestellt. Peter Gray, Psychologieprofessor am Boston College, veröffentlichte kürzlich im “Journal of Pediatrics” einen Artikel, der heftiges Medienecho auslöste. Er postuliert, dass die psychischen Störungen und die Suizide im Kindes- und Jugendalter, die beide seit Jahren markant zunehmen, im Zusammenhang stehen mit der elterlichen Intensivbetreuung und dem Mangel an freiem Spiel.

Auf einmal galt es als unterschichtstypische, bildungsferne Vernachlässigung, die Kinder “unbeaufsichtigt” zu lassen und sie nicht in jeder freien Minute zu “fördern”.

Oft wird der Anstieg von frühen Angststörungen und Depressionen mit sozialen Netzwerken, Bildschirmzeit und Corona erklärt. Laut Gray setzte die Zunahme jedoch schon vor etwa fünfzig Jahren ein, als sich auch das “overparenting” langsam ausbreitete. Offenbar begann der Trend in der – oberen, akademischen – Mittelklasse, die von Abstiegsängsten geplagt wird. Zugleich nahm die Zahl der Geschwister ab und breitete sich populärwissenschaftliches Wissen über Pädagogik und Psychologie aus.

Die Konklusion war: Man muss Kinder so früh wie möglich systematisch fördern, damit sie den Sprung in die höhere Bildung schaffen, als Garant für sozialen Aufstieg oder zumindest Status quo. Das erzieherische Mikromanagement wurde im Laufe der Jahre als vorbildlich und normal angesehen und sickerte von den oberen Klassen in die unteren. Auf einmal galt es als unterschichtstypische, bildungsferne Vernachlässigung, die Kinder “unbeaufsichtigt” zu lassen und sie nicht in jeder freien Minute zu “fördern”.

Freies, unstrukturiertes Spiel unter Gleichaltrigen ist wichtig

Vergessen ging dabei laut Gray, dass Kinder – sozial, kognitiv, intellektuell, motorisch – am meisten im freien Spiel mit Kameraden lernen. Und auch beim Nichtstun: Gerade Langeweile kann zu neuen Ideen inspirieren. Die “unstrukturiert” verbrachte Zeit ist nicht vergeudet, auch wenn man damit im Gegensatz zu Klavierstunden und Sportklub im Aufnahmeverfahren für Highschool und College nicht punkten kann. Die Optimierungsmanie führt nicht nur bei den Kindern zu Konformitätsdruck und Leistungsdenken, sondern auch bei den Eltern: Alle haben das Gefühl, in verantwortungsloser Art zu wenig für ihren Nachwuchs zu tun.

So ist es selbst bei Kindergeburtstagen üblich, dass man ein Formular unterschreiben muss, das die Gastgeber vor Klagen im Falle eines Unfalls schützt.

Hinzu kommt, vor allem in Grossstädten, die Furcht vor Autounfällen, Überfällen, Kidnapping, Pädophilen und allgemein vor der “stranger danger” – die diffuse Angst vor “gefährlichen Fremden”. Sie ist auch ein Grund für den Waffenkult. Ausgerechnet die USA, die Selbstverantwortung, Freiheit und Draufgängertum hoch bewerten, sehen, im Gleichschritt mit “woken” Überzeugungen, Kinder und Jugendliche nicht mehr als Entdecker, Forscher und Abenteurer, sondern als verletzliche Opfer, die man vor der gefährlichen Welt beschützen muss. Damit sind Ängste vorprogrammiert.

Die Jungen kennen nichts anderes als die Dauerbetreuung

Zu dieser Übervorsicht passen auch die Tendenz zum Homeschooling, das Alkoholverbot bis 21 Jahre, die um sich greifenden Bücherverbote in Schulbibliotheken sowie die Obsession mit Versicherungen und Haftungsausschuss. So ist es selbst bei Kindergeburtstagen üblich, dass man ein Formular unterschreiben muss, das die Gastgeber vor Klagen im Falle eines Unfalls schützt. Selbst über einer harmlosen Party hängt das Damoklesschwert von Verletzungen, Anwälten und Schadenersatzforderungen.

Der Prozess verstärkt sich im Lauf der Generationen. Die Jungen von heute erinnern sich, im Gegensatz zu den Älteren, nicht mehr, dass es einmal anders war: dass man stundenlang allein oder mit Kameraden draussen spielte, ohne dass sich irgendjemand Sorgen machte deswegen. Für die junge Generation ist pausenlose Betreuung normal, und so wird sie wohl dereinst auch ihre eigenen Kinder aufwachsen lassen. Diejenigen, die selbst unter den verbreiteten Angststörungen leiden, werden erst recht versuchen, ihre Schützlinge gegen Gefahren abzuschirmen, anstatt ihnen Stärke, Mut und Neugierde mit auf den Weg zu geben.

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Neue Autorität – oder wie man den Lehrern Konzepte verkauft https://condorcet.ch/2023/10/neue-autoritaet-oder-wie-man-den-lehrern-konzepte-verkauft/ https://condorcet.ch/2023/10/neue-autoritaet-oder-wie-man-den-lehrern-konzepte-verkauft/#comments Sat, 21 Oct 2023 12:09:37 +0000 https://condorcet.ch/?p=15148

Condorcet Autor Urs Kalberer berichtet über eine von der Schulkommission angeordnete Weiterbildung an seinem Kollegium. Dabei geht es dem Autor nicht um die Qualität der Arbeit von Haim Omer, sondern um die Umsetzung einer an und für sich interessanten Idee und die Tendenz, vermehrt in das operative Geschäft der Schulen einzugreifen, ganz im Sinne des Change Managements.

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Kürzlich gab es in unserem Schulhaus eine schulinterne Weiterbildung zum Thema “Neue Autorität”. Die Coaches waren bestrebt, uns während eines Tages das Konzept dazu näher zu bringen und schmackhaft zu machen. Der Entscheid für die Durchführung dieser obligatorischen Weiterbildung wurde durch die Schulkommission gefällt. Die Schulkommission ist ein vom Gemeinderat eingesetztes Gremium, das aber nicht vom Stimmvolk gewählt wird. Schon nach kurzer Zeit stellten viele Lehrpersonen fest, dass das Konzept der “Neuen Autorität” eigentlich nichts Neues ist und von vielen bereits praktisch umgesetzt wird. Es basiert auf der Theorie von Haim Omer, welcher folgende Grundfrage aufwirft: “Welche Pädagogik/Erziehung braucht es heute, damit es uns gelingt, die Verantwortung für das Kind, seine Entwicklung und die Beziehung auch in schwierigen Situationen zu übernehmen?”

Urs Kalberer, Sekundarlehrer

Es ist ein typisches Beispiel, wie heute Veränderungsprozesse in der Schule umgesetzt werden:

  • Zuerst steht da ein Entscheid einer (demokratisch nicht legitimierten) Behörde ohne Rücksprache mit dem Lehrerteam.
  • Dann sucht man im Pool der Coaching- und Beratungsszene einen passenden Anbieter.
  • Ein obligatorischer Weiterbildungskurs wird durchgeführt.
  • Im Kurs geht es darum, die Angst vor dem Neuen zu nehmen. In unserem Beispiel wird die Neue Autorität als Synthese der traditionellen Autorität und der antiautoritären Erziehung dargestellt.

 

Grafik: Sina neue Autorität

 

  • Und schliesslich kommt man auf den Punkt und stellt die Neue Autorität der traditionellen Autorität plakativ gegenüber. Dabei nimmt man Rückgriff auf die bewährte Technik der Diffamierung des Bisherigen.

 

Grafik: Sina neue Autorität

 

Es handelt sich hier um eine Originalfolie aus der Weiterbildung. Mal abgesehen davon, ob man den Begriff Autorität überhaupt zweiteilen kann, griff der Kursleiter hier zum rhetorischen Zweihänder. Mit dem beigefügten “traditionell” wird erst einmal klar gemacht, auf welcher Seite man zu stehen hat. Dann wird die böse traditionelle der guten Neuen Autorität gegenübergestellt.

Genauso wie wir das schon von der Einführung des LP21 oder der Frühfremdsprachen kennen, wird das Bisherige schlechtgeredet, um den Boden fürs Neue vorzubereiten. Dazu würzt der Kursleiter die böse traditionelle Autorität noch mit furchterregenden Beispielen aus der Vergangenheit.

Wir sehen: Die Zeiten des Change Managements in der Schule sind noch nicht vorbei. Das Kollegium bewertete den Kurs grösstenteils positiv.

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„Ich sehe Erzieher, die aussteigen und lieber als Reinigungskräfte arbeiten“ https://condorcet.ch/2023/08/ich-sehe-erzieher-die-aussteigen-und-lieber-als-reinigungskraefte-arbeiten/ https://condorcet.ch/2023/08/ich-sehe-erzieher-die-aussteigen-und-lieber-als-reinigungskraefte-arbeiten/#respond Fri, 11 Aug 2023 05:48:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=14765

Frühpädagogik-Expertin Ilse Wehrmann untersucht die prekäre Lage in Deutschlands Kindertagesstätten. Was in den ersten sechs Jahren nicht an Grundlagen gelegt werde, könnten die Kinder nie mehr aufholen, sagt sie – mit hohen Folgekosten für die ganze Gesellschaft. Wir bringen einen Beitrag der WELT-Journalistin Sabine Menkens.

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WELT: Frau Wehrmann, wir haben in Deutschland seit 1996 den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Drei- bis Sechsjährige, seit zehn Jahren auch für Kinder unter drei Jahren. Doch die Plätze reichen bei Weitem nicht aus. Was ist ein Rechtsanspruch wert, wenn er nicht eingelöst werden kann?

Ilse Wehrmann: Wenig. Im Grunde begeht unsere Regierung jeden Tag Verfassungsbruch. Auch unabhängig von der starken Zuwanderung haben wir seit langer Zeit zu wenig Kita-Plätze geplant und realisiert. Die Bewilligungsverfahren im öffentlichen Bereich dauern bis zu fünf Jahren. Ich habe viele Unternehmen beim Aufbau von Betriebs-Kitas unterstützt und weiß: Das geht viel schneller. Die Unternehmen wissen, dass ein gutes Betreuungsangebot ein Wettbewerbsvorteil im Kampf um Mitarbeiter ist. Diesen Druck gibt es im öffentlichen Bereich leider nicht. Wenn ich sehe, wie viele Büroräume, Geschäfte und Autohäuser leer stehen, kann ich nur sagen: Da geht noch was.

Sabine Menkens, Gastautorin und WELT-Journalistin

WELT: Setzt die Politik die Prioritäten falsch?

Wehrmann: Genehmigungsverfahren für Kitas dauern länger als für ein LNG-Terminal an der Ostsee. Wir setzen die Prioritäten falsch, und wir machen keine kinderfreundliche Politik. Das sieht man schon daran, wie schwer es uns fällt, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Die Kita-Krise muss Chefsache werden. Ich glaube, in den Unternehmen geht es nur deshalb so schnell, weil der Kita-Bau immer ein Vorstandsthema ist.

Ich habe jetzt einen Hilfebrief an den Bundeskanzler, die Ministerpräsidenten und zuständigen Minister und den Landkreistag geschrieben. Es muss gehandelt werden – um der Kinder willen. Wir hinterlassen ihnen bereits ein kaputtes Klima und einen Berg von Schulden. Wir machen uns umso schuldiger, wenn wir ihnen auch noch die Bildungschancen vorenthalten.

WELT: Welche Folgen hat die Kita-Krise für die Gesellschaft, für die Familien – und vor allem für die Kinder?

Wehrmann: Wir berauben sie ihrer frühen Fördermöglichkeiten. Das ist bei den vielen Kindern mit Migrationshintergrund gerade mit Blick auf den Spracherwerb fatal. Die ganze Bildungsbiografie wird dadurch beeinträchtigt. Was wir in den ersten sechs Jahren nicht an Grundlagen legen, holen wir nie wieder auf. Die Reparaturkosten unterlassener Bildung sind ein Vielfaches teurer als das, was wir in den Kita-Bereich stecken müssen. Es gibt dazu handfeste volkswirtschaftliche Berechnungen. Für jeden Euro, den wir in die Kitas investieren, sparen wie vier Euro an Folgekosten. Wir schieben den Kita-Kollaps schon viel zu lange vor uns her.

Die Kita-Krise muss Chefsache werden. Ich glaube, in den Unternehmen geht es nur deshalb so schnell, weil der Kita-Bau immer ein Vorstandsthema ist.

 

WELT: Nach einer Umfrage der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sind bereits 57 Prozent der Eltern von zeitweisen Schließungen oder verkürzten Öffnungszeiten der Einrichtungen betroffen. Manche Kitas warnen sogar, sie könnten ihrer Aufsichtspflicht nicht mehr nachkommen. Welche Auswirkungen hat das auf die Familien?

Wehrmann: Die Auswirkungen sind ganz katastrophal. Ich sehe das System tatsächlich vor dem Kollaps. Ich sehe Erzieher, die aus dem Beruf aussteigen und lieber als Reinigungskräfte arbeiten – nur, weil sie sich nicht schuldig machen wollen, wenn etwas passiert. Menschen, die sich eigentlich berufen fühlten für die Arbeit mit Kindern. Wir haben so viele Notsituationen, dass Einrichtungen schon mittags schließen oder nur noch an vier Tagen die Woche öffnen. Es ist eine Katastrophe.

Die Eltern sind verzweifelt und wissen nicht mehr, wie sie den Alltag organisieren sollen. Und in solchen Überforderungssituationen nehmen auch die Kindesmisshandlungen zu. Wir müssen das Ruder jetzt herumreißen, sonst ist es zu spät.

WELT: Nach Erkenntnissen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung sind es vor allem die Kinder aus unterprivilegierten Bevölkerungsschichten, die im Rennen um einen Kita-Platz leer ausgehen. Geben die Kitas die Plätze lieber an Kinder aus Mittelschichtsfamilien, weil die womöglich pflegeleichter sind?

Wehrmann: Das kann ein Grund sein. Es kann aber auch daran liegen, dass gerade die sozial schwachen Eltern sich zu wenig wehren können und im Zweifel davor zurückschrecken, auch mal einen Anwalt einzuschalten. Dabei brauchen wir gerade in unterprivilegierten Stadtteilen mehr Plätze und eine bessere Personalausstattung. Stattdessen verschließen wir die Augen vor den Problemen.

Ilse Wehrmann, Diplom-Sozialpädagogin und Erzieherin (Bild: Frank Thomas Koch)

WELT: Es gibt nicht nur zu wenig Plätze, sondern auch zu wenig Erzieherinnen und Erzieher. Dabei war der Bedarf ja absehbar. Wie konnte es dennoch zu diesem Fachkräftemangel kommen?

Wehrmann: Wir haben die Ausbildungskapazitäten einfach nicht in ausreichendem Ausmaß ausgebaut. Vorübergehend müssen wir jetzt mit multiprofessionellen Teams arbeiten, zudem braucht es eine schnellere Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Wichtig ist mir aber, dass das nicht dauerhaft zulasten der Qualität geht. Ich möchte nicht Tür und Tor öffnen für nicht ausgebildetes Personal. Auf die Idee würde man in der Medizin nicht kommen.

WELT: Es gibt zwar inzwischen die praxisintegrierte Ausbildung mit Azubi-Gehalt, die schulische Erzieherausbildung ist aber noch immer nicht vergütet. Wie will man so junge Menschen für den Beruf begeistern?

Wehrmann: Richtig. Wir brauchen eine vergütete Ausbildung, um attraktiver zu werden. Wir brauchen aber auch eine andere gesellschaftliche Bewertung des Berufes. Erzieherinnen und Erzieher sind Zukunftsgestalter des Landes. In dem Augenblick, wo der Kita-Bereich zur Chefsache wird, fühlen Mitarbeiter sich auch anders gesehen und wertgeschätzt. Hier kann der öffentliche Bereich einiges von den Privaten lernen.

WELT: Kitas sind personell noch immer eine eher akademikerferne Zone. Muss der Beruf stärker professionalisiert werden?

Wehrmann: Wir sind weltweit fast die einzigen, die nach wie vor nur auf Fachschulniveau ausbilden. Alle anderen Länder haben die Ausbildung längst akademisiert. Auch in Deutschland gibt es inzwischen über 90 Studiengänge für Frühpädagogik. Aber die einzelnen Länder erkennen die Abschlüsse zum Teil gegenseitig nicht an, sodass sich die Absolventen als Erzieher nachqualifizieren müssen. Das macht natürlich kein Mensch.

Wir brauchen für den Bildungsbereich ein Sondervermögen wie bei der Rüstung.

WELT: Das heißt, der Bildungsföderalismus ist hier eher hinderlich?

Wehrmann: Er ist ein ganz großes Problem. In jedem Bundesland sind die Ausbildungswege und die Anerkennungsverfahren anders. Es gelten sogar unterschiedliche Raumvorgaben für Kitas. Was wir brauchen, ist eine nationale Strategie für Bildung, ein Staatsvertrag, der für alle 16 Bundesländer gilt und der zumindest für den Kindergartenbereich einheitliche Standards vorgibt. Und Bundeskanzler Scholz muss sich an die Spitze der Bewegung setzen.

WELT: Sie fordern auch ein stärkeres finanzielles Engagement des Bundes. Dieser Tage ist der Startschuss für das Kita-Qualitätsgesetz gefallen, über das in den nächsten zwei Jahren fast vier Milliarden Euro an die Länder fließen, unter anderem für Personalgewinnung. Ist das nicht ein wichtiger Schritt?

Wehrmann: Nein. Ich bin damit überhaupt nicht zufrieden, auch nicht mit der Summe des Geldes. Wir brauchen für den Bildungsbereich ein Sondervermögen wie bei der Rüstung. Der Sanierungsstau bei den Schulen ist riesig, und es fehlen fast 400’000 Kindergartenplätze. Da sind wir leicht bei 100 Milliarden Euro. Wir sehen ja, dass es an Geld in Deutschland nicht scheitert. Es scheitert nur dann, wenn es um Kinder geht. Dabei werden die Grundlagen des Landes in den ersten sechs Jahren gelegt. Deshalb gehören die Ausgaben dafür an die erste Stelle.

WELT: Welche Folge hat es, wenn es nur noch um Verwahrung geht, statt um Betreuung und Bildung?

Wehrmann: Die Folge ist, dass individuelle Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder nicht stattfinden. Weil niemand Zeit hat, ihnen wirklich zuzuhören, ihnen Anregungen zu geben. Wir verwalten die Kinder nur. Ich wünsche mir, dass mein Buch ein Weckruf wird. Deshalb habe ich mich für Aufstand statt Ruhestand entscheiden. Ich ertrage es nicht, dass so viele Kinder ohne Erziehungs- und Bildungschancen leben. Bildung ist der einzige Rohstoff, den unser Land hat.

 

Von Ilse Wehrmann erscheint am 14. August das Buch „Der Kita-Kollaps. Warum Deutschland endlich auf frühe Bildung setzen muss!“ im Verlag Herder.

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Basler Lehrer spricht über schwierige Zustände und Gewalt im Klassenzimmer https://condorcet.ch/2023/01/basler-lehrer-spricht-ueber-schwierige-zustaende-und-gewalt-im-klassenzimmer/ https://condorcet.ch/2023/01/basler-lehrer-spricht-ueber-schwierige-zustaende-und-gewalt-im-klassenzimmer/#comments Sun, 29 Jan 2023 16:53:09 +0000 https://condorcet.ch/?p=12994

Was ist in den Schulzimmern los, dass viele Lehrpersonen die Wiedereinführung von Kleinklassen fordern? Markus Harzenmoser, Mitglied des Initiativkomitees für Förderklassen und Primarlehrer, gewährt Einblick. Wir schalten ein Interview der Tamedia-Journalistin Dina Sambar mit dem Basler Primarlehrer Markus Harzenmoser auf, das in der Basler Zeitung erschienen ist.

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Tamedia-Journalistin Dina Sambar führte das Interview.

Herr Harzenmoser, wie muss ich mir die aktuellen Probleme im Klassenzimmer ganz konkret vorstellen?

Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele. Ich hatte einen Erstklässler, der aus Ohnmacht und Wut einen Tisch umgeworfen und mich und andere Lehrpersonen getreten und geschlagen hat. Meine Brille musste auch schon dran glauben. Ein anderer verprügelte auf dem Pausenhof Kinder, weil sie nicht mehr mit ihm Frisbee spielen wollten. Danach ist er weggerannt und hat sich wie ein geschlagener Hund irgendwo im Quartier versteckt. Ein Junge ertrug es nicht, wenn wir sangen und es gemeinsam schön hatten. Er begann dann immer herumzuschreien. Ein Schüler rastete aus, wenn man ihn auf Fehler aufmerksam machte. Er zerriss das Papier und ass es. Zudem habe ich von einer Klasse gehört, in der sogar Scheren herumgeworfen wurden.

Sie sind seit 38 Jahren Lehrer. Früher gab es sicher auch herausfordernde Kinder.

Stimmt. Doch die Anzahl hat stark zugenommen. In jeder Klasse gibt es heute zwei bis vier Kinder, die sich sehr auffällig verhalten. Fast jede 1. und 2. Primarklasse hat eine Klassenassistenz – meist ein Zivildienstler –, der die Kinder beruhigt, wenn es brodelt. Diese Kinder beanspruchen auch einen grossen Teil der Aufmerksamkeit der Lehrperson. Das geht auf Kosten der anderen 17, 18 Schülerinnen und Schüler. Das ist nicht gut.

Wie reagieren die restlichen Kinder auf ihre verhaltensauffälligen Schulkameraden und -kameradinnen?

Es gibt Kinder, die halten das gut aus. Andere schalten einfach ab. Und dann gibt es Kinder, die damit beginnen, Aufmerksamkeit auf die gleiche Art und Weise einzufordern. Es ist, wie wenn im Coop zwei Äpfel in der Früchtekiste faul sind. Lässt man sie drin, hat man bald eine Kiste voller fauler Äpfel. Tönt hart, kann aber passieren.

Deshalb müsste es Ihrer Meinung nach wieder Förderklassen für verhaltensauffällige Kinder geben.

Das Verrückte ist, die Kinder können nichts dafür, dass sie so sind. Es gibt immer Gründe dafür. Ich finde, sie haben ein Recht darauf, so sein zu dürfen. Allerdings braucht es dafür einen Ort, an dem sie die anderen Schülerinnen und Schüler nicht stören. In kleinen Klassen mit sechs bis acht Kindern und zwei, drei heilpädagogisch ausgebildeten Lehrpersonen würde sich ihr Verhalten beruhigen. Man könnte fast sagen, die Seele der Kinder käme so zur Ruhe. Als ich vor 38 Jahren im Kleinbasel zu unterrichten begann, gab es das noch. Die heilpädagogisch ausgebildeten Lehrpersonen waren für die Kinder wichtige Bezugspersonen. Sie waren ihre Anker. Später können sie locker zurück in die Regelklasse.

    «Kindern, die psychisch und seelisch vernarbt und angeschlagen sind, macht man keinen Gefallen, wenn man sie in grosse Klassen steckt, bevor sie zur Ruhe gekommen sind.»

Haben Sie ein Beispiel?

Ich hatte einen Jungen in meiner Klasse, der aus einem Kriegsgebiet geflüchtet war. Seine Mutter erhielt hier aber keinen Aufenthaltsstatus und beging Suizid. Er war der Junge, der immer geschrien hat, wenn wir gemeinsam sangen. Er war «sprachlos», hatte keine Worte, um auszudrücken, was in ihm vorgeht. Sein Verhalten hat andere Kinder angesteckt. Wir haben ihn in das SpA (Heilpädagogisches Spezialangebot, Anm. d. Red.) geschickt. Mittlerweile ist er wieder in der Regelklasse und ist eine coole Socke geworden – weil sie in der SpA viel mehr Zeit für ihn hatten.

Eben, es gibt doch bereits Spezialangebote, bei denen Kinder in kleinen Klassen unterrichtet werden.

Die SpA ist tatsächlich dem von uns Geforderten sehr ähnlich. Es bräuchte einfach viel mehr davon. Integration in Regelklassen ist für Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen ein super Ansatz. Aber Kindern, die psychisch und seelisch vernarbt und angeschlagen sind, macht man keinen Gefallen, wenn man sie in grosse Klassen steckt, bevor sie zur Ruhe gekommen sind.

    «Ich sehe immer mehr Eltern, die nicht mehr wissen, was es bedeutet, Kinder zu erziehen.»

Weshalb sind die Kinder überhaupt verhaltensauffällig?

Sie sind psychisch angeschlagen und noch nicht reif für die Schule. Sie haben beispielsweise nicht gelernt, Fehler zu machen und Misserfolge auszuhalten. Sie können nicht damit umgehen, dass es Kinder gibt, die schneller, besser und schlauer sind. Manche sind angeschlagen, weil sie unter einem sehr grossen Erwartungsdruck stehen, den die Eltern, die Gesellschaft oder sie sich selbst auferlegen.

Und weshalb hat Ihrer Meinung nach die Anzahl so zugenommen?

Abgesehen von den tragischen Schicksalen sehe ich auch immer mehr Eltern, die nicht mehr wissen, was es bedeutet, zu erziehen. Sie meinen es sehr gut mit ihren Kindern, erlauben ihnen alles und räumen ihnen jedes Steinchen aus dem Weg. So lernen die Kinder nicht, mit Misserfolgen umzugehen, die Spielregeln des sozialen Umgangs einzuhalten oder gestellten Anforderungen nachzukommen. Ich hatte viele Kinder in der Klasse, die keinen Purzelbaum machen, nicht über ein Bänkli gehen oder Bälle fangen können. Das sind nicht nur vernachlässigte Kinder, sondern auch überbehütete.

Die Eltern sind schuld?

Nein. Man kann nicht einfach den Eltern die Schuld geben. Die hatten ja auch schon Eltern, die sie zu dem erzogen haben, was sie heute sind. Irgendetwas stimmt in der Gesellschaft nicht mehr.

     “Die Ausbildung der Lehrpersonen ist für die Situation in den heutigen Klassenzimmern nicht passend.”

Welche Rolle spielen die Lehrpersonen?

Es ist traurig, zu sehen, dass viele junge Lehrpersonen schwimmen und ins Burn-out geraten. Eigentlich sind sie nach fünf Jahren aufgebraucht. Viele wechseln den Beruf. Dabei ist das ein so toller Job. Ich behaupte, das hat auch damit zu tun, dass sie nicht gut vorbereitet sind. Die Ausbildung ist für die Situation in den heutigen Klassenzimmern nicht passend. Die angehenden Lehrpersonen lernen tonnenweise Theorie. Doch sie haben nie selbst erlebt, wie man mit schwierigen Kindern oder Eltern umgeht. Das beginnt sich jetzt zum Glück wieder zu ändern.

Die geforderten Förderklassen klingen demnach wie Symptombekämpfung. Könnte das integrative Modell, bei einer richtigen Ausbildung und mit genügend Ressourcen, nicht auch ohne funktionieren? Studien zeigen, dass integrative Modelle für alle Kinder viele Vorteile haben.

Grundsätzlich finde ich den integrativen Gedanken gut. Doch für die Situation, in der wir uns jetzt befinden, sind Förderklassen der schnellstmögliche und hilfreichste Weg für alle Betroffenen. Parallel dazu muss aber auch die Ausbildung angepasst und müssen mehr Heilpädagoginnen ausgebildet werden. Nur das integrative Modell zu verbessern, geht mir zu langsam.

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«Ein Kind, das alles ohne Gegenleistung bekommt, wird nicht gestärkt» https://condorcet.ch/2022/12/ein-kind-das-alles-ohne-gegenleistung-bekommt-wird-nicht-gestaerkt/ https://condorcet.ch/2022/12/ein-kind-das-alles-ohne-gegenleistung-bekommt-wird-nicht-gestaerkt/#comments Wed, 21 Dec 2022 15:58:31 +0000 https://condorcet.ch/?p=12717

Die Zahlen, die das Bundesamt für Statistik (BFS) diese Woche veröffentlicht hat, geben zu denken: Psychische Störungen waren die häufigste Ursache für eine Hospitalisierung bei den 10- bis 24-Jährigen (knapp 20’000 Fälle). Vor allem der Anstieg von 26 Prozent bei den Mädchen und jungen Frauen nannte das BFS «beispiellos» (der Anstieg bei den gleichaltrigen Männern betrug 6 Prozent). Die SonntagsZeitung führte ein Interview mit der Psychologin und Heilpädagogin Eliane Perret, die mehr als 30 Jahre lang an einer Schule für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten unterrichtete. Eliane Perret ist auch in unserem Blog keine Unbekannte. Zusammen mit dem Heilpädagogen und Condorcet-Autor Riccardo Bonfranchi hat sie vor kurzem ein Buch zum Thema Integration geschrieben (https://condorcet.ch/2022/11/welche-bildungschancen-haben-kinder-und-jugendliche-mit-behinderungen/).

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Bettina Weber ist Autorin der SonntagsZeitung und schreibt über gesellschaftspolitische Themen.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von der grossen Zunahme psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen hörten?

Sie überraschten mich in dieser Deutlichkeit. Aber sie passen zu dem, was ich seit Jahren beobachte und was mir seit Jahren Sorgen macht. So gesehen müssen wir der Pandemie fast dankbar sein: Sie hat dieses Problem ans Tageslicht gebracht und wir müssen darüber sprechen.

Ist die Pandemie nicht der Grund für die Zunahme, sondern eher eine Art Katalysator?

Die Pandemie verstärkte und warf ein Schlaglicht auf eine Situation, die schon lange andauert, aber bislang vielleicht zu wenig genau angeschaut wurde.

Was meinen Sie damit?

Ich leitete unsere Schule während 30 Jahren, bis 2020. Wir haben hier Kinder, die uns vom schulpsychologischen Dienst oder von der Kinder- und Jugendpsychiatrie zugewiesen werden, weil es in der Regelschule nicht mehr geht und sie oft auch eine zu grosse Belastung für die Klasse und die Lehrpersonen sind. Wir stellten schon lange vor der Pandemie fest, dass die Anzahl der Kinder mit psychiatrischen Diagnosen zunimmt.

Sie sagen: «Kinder mit Diagnosen». Was heisst das?

Die meisten Kinder kommen zu uns wegen Verhaltensauffälligkeiten und Lernschwierigkeiten. Viele leiden unter ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen. Dazu gehören entsprechende Symptomkataloge, die ein bestimmtes Verhalten beschreiben. Man hat bisher für diese Diagnosen keine Biomarker gefunden, sie lassen sich beispielsweise nicht im Blutbild nachweisen. Im Laufe der vergangenen Jahre beobachtete ich eine Art «Trends» von jeweils dominierenden Diagnosen: POS, ADHS, Autismus-Spektrum-Störung, Ritzen, Magersucht, Schulverweigerer. Jetzt haben wir vermehrt Depressionen und Angststörungen.

Gemäss Statistik sind deutlich mehr Mädchen betroffen. Ist das bei Ihnen auch so?

Nein. In den unteren Stufen sind es vor allem Buben. In den oberen Klassen sind es eher Mädchen, und diese Mädchen kommen immer häufiger nach einem Klinikaufenthalt zu uns. Das gab es früher kaum, und das empfinde ich als gravierend: Mehrere Wochen oder gar Monate in der Psychiatrie zu verbringen, macht etwas mit einem jungen Menschen.

Was macht es?

Wenn ein junger Mensch schon im Alter von 16 Jahren ein zehn Zentimeter dickes Krankendossier hat, empfindet er sich selbst als krank und überlegt sich, was eigentlich mit ihm los ist. Einer der ersten Jugendlichen, die vor mehr als 20 Jahren nach einem solchen Klinikaufenthalt zu uns an die Schule kamen, fragte: «Frau Perret, was soll denn noch aus mir werden, wenn ich jetzt schon in der Psychi war?» Ich sagte: «Sieh es umgekehrt: Du hast es nun schon hinter dir.» Genau so war es dann. Der junge Mann machte bei uns die Schule fertig und absolvierte danach eine anspruchsvolle Lehre. Er musste nie wieder psychiatrisch behandelt werden.

 «Wir beobachten, dass viele Kinder orientierungslos und haltlos sind. Sie wissen nicht recht, wohin mit sich. Diese Leere füllen sie mit den sozialen Medien.»

Wie erklären Sie sich diese grosse Zunahme?

Es hat sicher auch mit den sozialen Medien zu tun, aber das erklärt nicht alles. Man muss sehr genau hinschauen. Und sich zum Beispiel fragen, warum denn die sozialen Medien eine solche Anziehungskraft ausüben.

Kinder, die sich im Internet und in den sozialen Medien tummeln, sind wie Laien, die ohne Handbuch Pilze sammeln.

Wie lautet Ihre Antwort?

Wir beobachten, dass viele Kinder orientierungslos und haltlos sind. Sie wissen nicht recht, wohin mit sich. Diese Leere füllen sie mit den sozialen Medien. Heute redet man viel von Selbstwirksamkeit, aber eine solche erlebt man nur in der echten Welt, nicht virtuell. Jugendliche brauchen deshalb mehr Bodenhaftung, mehr Realität. Damit meine ich übrigens nicht nur die sozialen Medien, sondern auch die Jugendbücher.

«Glücklicherweise machen bei uns nach wie vor viele Jugendliche eine Berufslehre. Das wirkt oft korrigierend und gibt ihnen eine neue Perspektive.»

Was ist damit? Ist es nicht erst einmal gut, dass überhaupt noch Bücher gelesen werden?

Auf jeden Fall. Aber wenn ich mir anschaue, was da so auf den Markt kommt, stelle ich fest: Das sind fast nur Geschichten aus virtuellen Welten, Fantasy-Geschichten mit Figuren, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Deshalb brauche ich den Begriff Bodenhaftung: Kinder und Jugendliche erleben oft zu wenig, dass sie bestehen können im realen Leben. Sie fühlen sich den alltäglichen Anforderungen nicht gewachsen und werden schnell mutlos, wenn es schwierig wird. Aber das Gefühl, Schwierigkeiten bewältigen zu können und sich dabei auch mit anderen zusammenzutun, ist essenziell für junge Menschen.

Kinder wuchsen noch nie so behütet auf wie heute. Es klingt paradox, dass sie zunehmend orientierungs- und haltlos sein sollen.

Wir haben als Gesellschaft die Aufgabe, Jugendlichen zu zeigen, was das Leben ist. Damit meine ich, dass das Leben Aufgaben stellt – und dass diese durchaus zu meistern sind. Glücklicherweise machen bei uns nach wie vor viele Jugendliche eine Berufslehre. Das wirkt oft korrigierend und gibt ihnen eine neue Perspektive.

Inwiefern denn das?

In einer Berufslehre müssen Jugendliche Lösungen für reale Aufgaben entwickeln, sich anleiten lassen und sich das nötige Wissen aneignen. Wir staunen immer wieder, welche Entwicklungsschritte Jugendliche machen, nachdem sie eine Lehre angefangen haben. Sie kommen dann vorbei und sagen den anderen hier: «Uh, ihr wisst gar nicht, wie schön Schule ist, arbeiten ist superstreng!» Aber sie sind auch stolz. Und stehen mitten im Leben.

Manche Eltern sehen aber das Gymi als einzige Möglichkeit für ihre Kinder, um im Leben zu reüssieren.

Leider. Wir stellen bei vielen Eltern – nicht nur bezüglich des beruflichen Werdegangs ihrer Kinder – eine grosse Verunsicherung fest. Sie haben Angst, etwas falsch zu machen und das Kind in seiner Entwicklung zu stören. Vor allem, wenn es darum geht, etwas von ihm zu verlangen oder ihm einen Wunsch abzuschlagen. Aber so geben sie dem Kind genau das nicht, was es dringend brauchen würde: Anleitung und Orientierung für das, was im Leben wichtig ist.

«Man nimmt Kinder nicht ernst, wenn man ihnen sämtliche Schwierigkeiten aus dem Weg räumt.»

Die sichere Bindung oder eben das Gefühl von Sicherheit entsteht, wenn ein Kind von den Eltern klare Leitplanken erhält.

Brauchen Kinder klare Leitplanken?

Genau, früher sprach man von Werten. Heute gilt das Vermitteln von Werten als spiessig, leider! Das hat mit gesellschaftlichen Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten zu tun. Der Wertewandel nach 1968 hat die Erziehung massgeblich verändert. Das war gut und nötig. Es ändert aber nichts daran, dass in der Erziehung unserer Kinder die Vermittlung von Werten – oder wie man das auch immer nennen mag – essenziell ist. Wir Erwachsene müssen hier unsere Verantwortung wieder vermehrt wahrnehmen.

Wie sieht denn das konkret aus?

Kinder müssen die Sicherheit bekommen, dass sie auch in schwierigen Lebenssituationen Kräfte mobilisieren können, um diese zu bestehen. So werden sie in ihrem Gefühl der Selbstwirksamkeit und der sozialen Verbundenheit gestärkt. Aber das müssen sie erfahren und lernen. Ein Kind, das alles ohne Gegenleistung bekommt, wird nicht gestärkt. Man nimmt Kinder nicht ernst, wenn man ihnen sämtliche Schwierigkeiten aus dem Weg räumt.

«Gemäss meiner langjährigen Erfahrung wird heute die Bindungstheorie häufig falsch verstanden.»

Neben Corona und den sozialen Medien werden auch die Klimakrise oder der Ukraine-Krieg als Gründe für die zunehmenden Erkrankungen vermutet. Bloss sind diese Themen ja nicht neu: Es gab den Kalten Krieg und das atomare Wettrüsten, das Waldsterben und Tschernobyl – warum reagieren die heutigen Jugendlichen empfindlicher?

Wir waren früher vielleicht tatsächlich robuster. Oder um das Modewort zu verwenden: Resilienter.

Aber warum?

Man weiss aus der Entwicklungspsychologie, dass eine sichere Bindung zentral ist für Kinder. Eine sichere Bindung entwickeln sie, wenn sie wissen, dass da jemand ist, auf den sie zählen können, ein sicherer Hafen, von dem aus sie die Welt erkunden können. Je stabiler die Bindung, desto weniger anfällig ist das Kind für psychische Störungen. Gemäss meiner langjährigen Erfahrung wird heute die Bindungstheorie häufig falsch verstanden. Viele Eltern meinen es unbestritten gut, machen aber einen Überlegungsfehler.

Worin besteht der?

Eine starke Bindung entsteht nicht dadurch, dass Eltern die Bedürfnisse eines Kindes stets sofort und unmittelbar befriedigen. Eben gerade nicht!

«Die sichere Bindung oder eben das Gefühl von Sicherheit entsteht, wenn ein Kind von den Eltern klare Leitplanken erhält.»

Haben Sie ein Beispiel?

Eine befreundete Ärztin erzählte mir kürzlich, dass sie oft Mütter in der Praxis habe, mit denen sie etwas besprechen sollte. Ein Gespräch sei aber kaum möglich, weil sie immer wieder unterbrochen würden von Kindern, die an der Mutter zerrten. Irgendwann sagte meine Freundin zu einer solchen Patientin, sie dürfe ihrem Kind ruhig sagen, dass es sich nun einen Moment gedulden müsse. Worauf die Mutter antwortete: «Darf ich das?» Das meine ich mit falsch verstandener Bindungstheorie: Die Mutter getraute sich nicht, dem Kind seinen Wunsch abzuschlagen, weil sie dachte, damit dem Kind irgendwie zu schaden.

Was hätte denn die Mutter stattdessen tun sollen?

Dem Kind erklären, dass es nun einen Moment warten muss, weil die Mama etwas zu besprechen hat. Kinder müssen lernen, auch mal zu warten. Damit lernen sie, sich in ein soziales Gefüge einzuordnen und sich in die Situation der anderen Menschen einzudenken. Sie werden so sozial kompetenter. Das ist ein sehr wichtiger Entwicklungsschritt. Die sichere Bindung oder eben das Gefühl von Sicherheit entsteht, wenn ein Kind von den Eltern klare Leitplanken erhält. Die Resilienzforschung hat da eindeutige Befunde.

Den heutigen Kindern und Jugendlichen fehlt es also vor allem an innerer Robustheit?

Zumindest ist ihr Sicherheitsgefühl nicht tiefgreifend genug. Das hängt auch damit zusammen, dass sie oft vom echten Leben ferngehalten werden, aus lauter Angst, sie könnten negativen Gefühlen ausgesetzt sein. Aber Kinder müssen damit klarkommen, dass jemand besser Klavier spielt oder die schmaleren Hüften hat. Und wenn man ihnen heute überall Mitspracherecht gibt, an unserer Schule selbstverständlich auch, gehören dazu eben auch Pflichten. Und Aufgaben. Kinder brauchen Aufgaben und sie übernehmen sie gern, Kinder und Jugendliche sind gern sozial!

«Man sollte Kinder nicht vor dem Leben beschützen wollen.»

Es heisst doch, sie stünden schon jetzt so unter Druck.

Das heisst es immer, ja, aber ich mag es nicht so recht glauben. Jugendliche haben sehr viel leere Zeit, und da ist der Griff zum Handy nicht weit oder auch der Zweifel an der eigenen Bedeutung hat einen guten Nährboden.

Man sollte Kinder nicht vor dem Leben beschützen wollen.

Deshalb brauchen sie Aufgaben?

Das stärkt sie. Es geht dabei um die viel zitierte Selbstwirksamkeit, weil sie merken, dass sie für andere Menschen eine Bedeutung haben, dass sie wichtig sind. Und zwar für reale Menschen in der realen Welt. Man sollte Kinder nicht vor dem Leben beschützen wollen. Das populärste Beispiel sind Eltern, die ihre Kinder in die Schule chauffieren. Das ist genauso wenig hilfreich wie jene Eltern, die finden, sie müssten ihren Kindern möglichst grosse Wahlfreiheit lassen und sagen: «Das muss mein Kind selbst entscheiden.» Klingt gut, ist aber nicht im Sinn des Kindes.

«Kinder, die sich im Internet und in den sozialen Medien tummeln, sind wie Laien, die ohne Handbuch Pilze sammeln.»

Weshalb nicht?

Kinder und Jugendliche brauchen Reibungsfläche, denn Reibung erzeugt Wärme! Sonst orientieren sie sich halt woanders als bei den Eltern – zum Beispiel im Internet und in den sozialen Medien. Und das ist sehr problematisch. Kinder, die sich im Internet und in den sozialen Medien tummeln, sind wie Laien, die ohne Handbuch Pilze sammeln. Sie suchen, was ihnen fehlt, treffen auf andere, denen dasselbe fehlt oder die glauben, eine Antwort gefunden zu haben. Sie suchen einen Ausweg aus ihren Unsicherheiten, und auf einmal ist ein Krankheitsbild Teil der Identitätsbildung und ein exklusives Persönlichkeitsmerkmal, das manche gar nicht mehr korrigieren wollen.

Es geht auch um Aufmerksamkeit?

Ja, deshalb beobachten wir das Zusammenspiel von Eltern und Kind sehr genau. Dazu eine Geschichte aus meiner Kindheit, die zeigt, dass dieses Phänomen im Grunde nicht neu ist: Als ich in der zweiten Klasse war, bekam meine beste Freundin ein Geschwisterchen, und als es irgendwann anfing zu reden, war es überall der Mittelpunkt, alle fanden es toll. Da fand ich: Ich rede jetzt auch in dieser Babysprache, dann finden mich auch alle toll. Meine Mutter meinte nur trocken: «Damit kannst du gleich wieder aufhören.» Jetzt stellen Sie sich vor, sie wäre mit mir zum Arzt gegangen und hätte gesagt: «Meine Tochter hat eine Spracherwerbsstörung.» Warum hätte ich dann damit aufhören sollen? Denn so lernen die Kinder, dass sie nur dann Bedeutung haben, wenn sie mit irgendwas nicht klarkommen. Sie merken rasch: Aha, dann redet man über mich, dann bin ich Thema. Das kann sehr heikel sein.

Kann es Eltern nicht auch entlasten, wenn ihnen eine Diagnose das Verhalten ihres Kindes erklärt?

Zunächst einmal ist es für Eltern ein Schock, wenn sie merken, dass sich ihr Kind merkwürdig verhält oder merkwürdige Dinge tut. Wenn es zum Beispiel morgens einfach nicht mehr aufsteht, wie das bei Schulverweigerern der Fall ist. Das ist für Eltern sehr schwer. Deshalb kann ich gut nachvollziehen, dass sie sich eine Erklärung für dieses Verhalten wünschen und erleichtert sind, wenn sie von Fachleuten einen Grund geliefert bekommen.

«In der Heilpädagogik fand ganz klar eine Psychiatrisierung statt.»

Eltern wünschen sich eine Erklärung für das Verhalten ihres Kindes und sind erleichtert, wenn sie von Fachleuten einen Grund geliefert bekommen.

Aber hilfreich ist es letztlich nicht?

Eltern orientieren sich verständlicherweise stark an den Symptomen und an der Diagnose. Aber dabei darf man nicht stehen bleiben. Die Diagnose ist der Anfang der Behandlung. Dabei müssen wir die ganze Entwicklungsgeschichte des Kindes anschauen. Zum Beispiel: Wie ist die Situation innerhalb der Familie? Wir hatten Kinder, die sich hier an der Schule nach und nach beruhigten – und auf einmal machten ihre Geschwister Schwierigkeiten. Es kam also zu einer Art Rollentausch, und das hatte mit der familiären Dynamik zu tun.

Finden Sie, Kinder werden zu schnell mit einem Etikett versehen?

In der Heilpädagogik fand ganz klar eine Psychiatrisierung der Erscheinungsbilder statt. Einschneidend war der Paradigmenwechsel im Menschenbild ab den 1980er-Jahren. Ein biologistisches Menschenbild löste das humanistische und sozialwissenschaftliche ab, und damit veränderten sich die Behandlungsweisen von Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten. Psychische Störungen wurden vermehrt als biochemische Störungen im Hirn verstanden und medikamentös behandelt. Nach psychosozialen Ursachen und Umweltbedingungen wurde immer weniger gefragt. Seither gelten die entsprechenden, international gültigen Diagnosemanuals, die auch immer den herrschenden Zeitgeist widerspiegeln. Und seither haben wir mehr Diagnosen bei den Kindern.

 

Dr. phil. Eliane Perret, 72, ist Primarlehrerin, Heilpädagogin und Psychologin und leitete von 1992 bis 2020 in Zürich eine Tagesschule für Kinder und Jugendliche mit Lernproblemen und Verhaltensauffälligkeiten. Sie ist Autorin zahlreicher Artikel über Psychologie, Erziehung und Schule sowie über Gewalt- und Mobbingprävention. Zuletzt veröffentlichte sie als Co-Autorin die Bücher «Heilpädagogik im Dialog – Praktische Erfahrungen, theoretische Grundlagen und aktuelle Diskurse» (2021) und «Wie spreche ich mit Kindern über Kriege und andere Katastrophen» (2022). Heute unterrichtet sie immer noch in einem kleinen Pensum an ihrer ehemaligen Schule. Perret ist verheiratet und lebt in Volketswil.

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Christian Gotthilf Salzmann – Philanthropische Pädagogik https://condorcet.ch/2022/08/christian-gotthilf-salzmann-philanthropische-paedagogik/ https://condorcet.ch/2022/08/christian-gotthilf-salzmann-philanthropische-paedagogik/#respond Wed, 31 Aug 2022 05:47:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=11397

1806 erschien in Deutschland eine pädagogische Schrift mit dem merkwürdigen Titel «Ameisenbüchlein», die dem schon 1780 erschienenen «Krebsbüchlein» folgte. Ihr Autor, Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811), gehört zu den grossen Aufklärungspädagogen des 18. Jahrhunderts: Basedow, Campe, Wolke, Resewitz, Rochow, Felbiger und Pestalozzi, denen die moderne Schule ihre entscheidenden Fundamente verdankt. Unser Haushistoriker Peter Aebersold stellt uns diesen weithin unbekannten Bildungspionier vor.

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Unwissenheit als gesellschaftlicher Missstand

Als junger Prediger hatte Salzmann ein offenes Auge für die Missstände seiner Zeit, die er auf die allgemeine Unwissenheit vor allem der Erzieher zurückführte. Die Ursachen sah er im mangelnden guten Vorbild, im Mangel an Aufsicht und in Fehlern der Erziehung. Er glaubte, dass hier die Schule allein Besserung schaffen könne und begann sich dem Erziehungswesen zuzuwenden. Im «Krebsbüchlein oder Anweisung zu einer unvernünftigen Erziehung der Kinder» beschrieb Salzmann, wie falsche Erziehungsmethoden zu verbreiteten Misshandlungen der Kinder und einem allgemeinen «Krebsgang» der Gesellschaft führen. Nach dessen Erscheinen wurde Salzmann von Basedow als Lehrer am Dessauer Philanthropin, einem reformpädagogischen Erziehungs- und Bildungsinstitut, eingeladen.

Als das Dessauer Philanthropin einging, gründete er ein eigenes Philanthropin auf einem Landgut in Schnepfenthal. Er wurde dabei vom Fürsten von Gotha unterstützt. Viele Fürsten hatten durch die pädagogischen Schriften der Aufklärung erfahren, dass die Förderung der Schule dem Staate zunutzen komme. In Schnepfenthal mit bis zu 50 Schülern konnten Salzmann und seine Mitarbeiter eine lautere und liebevolle Stimmung schaffen, bei der kaum je Streit und Zwistigkeiten ausbrachen. Der Geist der Erziehung mit der gegenseitigen Förderung durchdrang alle menschlichen Beziehungen. Trotz des umfangreichen Lehrprogramms herrschten Frohsinn und Ungezwungenheit.

Die vernünftige, naturgerechte Erziehung der Erzieher

Von Salzmanns zahlreichen Erziehungsschriften wie «Konrad Kiefer oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Kinder» (eine Nachbildung von Rousseaus «Emil») ragt das Ameisenbüchlein als Höhepunkt hervor. Im «Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher» ist Salzmanns erzieherische Gesinnung und seine Unterrichtsmethode ausführlich und klar dargestellt. Vieles, was darin nur Postulat war, wurde später verwirklicht. Aber es bleibt doch noch manches, wozu diese Aufklärungspädagogik als Wegweiser dienen könnte. Das Ameisenbüchlein beginnt mit folgendem Wahlspruch, der alle übrigen Gedanken zusammenfasst: «Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muss der Erzieher den Grund in sich selbst suchen». Mit dem «Geschäft der Erziehung» soll sich nur befassen, wer diesen Wahlspruch von ganzem Herzen glaubt annehmen zu können. Salzmann war jedoch bewusst, dass der Erzieher nicht für alle Mängel seines Zöglings verantwortlich ist, vor allem wenn er ihn nicht von früher Kindheit an um sich haben konnte.

Salzmanns «Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher»

 

Ein echter Pädagoge soll sich für die Fehler und Untugenden seiner Zöglinge verantwortlich fühlen, indem er zu erkennen versucht, worin er eventuell dem Kind zu schlechtem Betragen Anlass gibt: Reizt sein Verhalten die Opposition im Kinde? Erreicht sein Unterricht die Kinder nicht, weil sie ihm nicht zu folgen vermögen und deshalb zu schwatzen beginnen? Wendet er nicht die nötige Freundlichkeit auf, die das Gemüt der Kinder heiter und aufnahmefähig macht? Sich solche Fragen zu stellen, heisse, den Weg der Selbsterkenntnis zu beschreiten: «Der Anfang der Weisheit ist die Selbsterkenntnis.»

Man solle den Kindern die Freude an der Arbeit, die Lust, sich nützlich zu beschäftigen, und die Sehnsucht, einmal gemeinnützig wirken zu können, schon frühzeitig vermitteln.

Die Erziehung zum Menschen

Erziehung umschreibt er im «Ameisenbüchlein» als «Entwicklung und Übung der jugendlichen Kräfte.» Der Mensch solle alle seine Möglichkeiten auszuschöpfen suchen: «Erzieht man das Kind zum Menschen, so werden alle seine Kräfte entwickelt und geübt.» Hierbei folge man am besten der Ordnung der Natur, indem jedem Entwicklungszustand die ihm angepasste Betätigung möglich gemacht werde. Man solle den Kindern die Freude an der Arbeit, die Lust, sich nützlich zu beschäftigen, und die Sehnsucht, einmal gemeinnützig wirken zu können, schon frühzeitig vermitteln. Nur eine gute Erziehung könne das Fundament der Moral bilden, deshalb müsse die Tugend erlernt und geübt werden. Wer die Menschheit verbessern wolle, müsse die Erziehung verbessern. Zu Salzmanns Erziehungsmethoden gehörte die Kräftigung des Körpers als Vorbedingung zu einer gesunden Geistesbildung: «Mein Körper ist mir doch wahrlich das nächste, und diesen gesund zu halten, muss meine erste Wissenschaft sein.» In Schnepfenthal wurde täglich eine Gymnastikstunde durchgeführt. Dazu kamen gemäss Lehrplan im Sinne der «Arbeitsschule» kalte Bäder, Gartenarbeit und handwerkliche Betätigung.

Zur Erziehung einer echten Sittlichkeit muss der Erzieher jeglichem Zwang (auch der Prügelstrafe) entsagen.

Unterricht aus der Werkstatt “Natur”.

Schulung der Geisteskräfte an der Natur

Die Schulung der Geisteskräfte muss nicht im theoretisch-abstrakten, sondern im Bereich des Sinnlich-Anschaulichen beginnen. Indem die Kinder beobachten lernen, wird auch das Denken gefördert. Das Beobachtungsmaterial soll nicht aus Büchern, sondern aus dem «Buche der Natur» entnommen werden. Blumen und Bäume, Vögel und Fische, Wälder und Wiesen und ein Naturalienkabinett über Jahreszeiten, Wetter, Gestirne usw. sind ein Reservoir für einen anschaulichen Unterricht, bei dem die Aufmerksamkeit der Kinder kaum erlahmt. Zur Naturbetrachtung und Sprachschulung gehören auch die Werkzeuge, denen sich die Menschen bei ihrer Arbeit bedienen, darunter auch der Handarbeitsunterricht, der schon ab der ersten Schulstufe einsetzen kann. Mit dem spielerischen Unterricht (im Freien) kommt man der Lebhaftigkeit der Kinder entgegen.

Zur Erziehung einer echten Sittlichkeit muss der Erzieher jeglichem Zwang (auch der Prügelstrafe) entsagen, weil er das Kind nicht innerlich zu bilden und zu formen vermag: «Der Erzieher soll den Zögling dahin zu bringen versuchen, dass er selbst das Gute wolle und es tue, nicht deswegen, weil es ihm von anderen geboten und das Gegenteil verboten wird, weil er von der Befolgung des Gebots Belohnung, von der Übertretung Strafe zu erwarten hat, sondern weil er selbst es will.» Salzmann wollte durch das gute Vorbild erziehen und seine erste Forderung an den Erzieher lautete: «Erziehe dich selbst!» Solange der Mensch sich selbst erzieht, besitzt er jene seelische Elastizität und Aufgeschlossenheit, die ihm den Zugang zum Herzen des Kindes verschaffen kann.

Tafel zur «Erziehung der Erzieher»

Seine wichtigsten Imperative an den jungen Lehrer sind von einem hohen erzieherischen Ethos getragen. Sie lauten: 1. Suche gesund zu sein, 2. Sei heiter und suche die Heiterkeit zu bewahren, 3. Lerne mit Kindern sprechen und umgehen, 4. Lerne dich mit Kindern beschäftigen, 5. Bemühe dich, dir deutliche Kenntnisse der Natur zu erwerben, 6. Lerne die Erzeugnisse des menschlichen Fleisses kennen, 7. Lerne die Hände brauchen, 8. Suche dir eine Fertigkeit zu erwerben, um die Kinder zur innigen Überzeugung von ihren Pflichten zu bringen, 9. Handle immer so, wie du wünschest, dass deine Zöglinge handeln sollen.

Für Salzmann ist der Beruf des Lehrers eine Tätigkeit für das Menschenwohl in der Welt. Wer wie der Erzieher den Menschen veredelt, bewirkt das Wertvollste, weil daraus alles Wertvolle überhaupt hervorgeht. In der Geschichte der Pädagogik, als einer einzigen Kette von Bestrebungen der «Menschenveredelung», gehört Salzmann zu den Besten, die die Menschenliebe zur Grundlage der Erziehung gemacht haben.

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