Disziplin - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 21 Mar 2024 19:56:00 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Disziplin - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Erfolgreich und kontrovers: Die Michaela Community School in London setzt auf Disziplin und traditionelle Lehrmethoden https://condorcet.ch/2024/03/erfolgreich-und-kontrovers-die-michaela-community-school-in-london-setzt-auf-disziplin-und-traditionelle-lehrmethoden/ https://condorcet.ch/2024/03/erfolgreich-und-kontrovers-die-michaela-community-school-in-london-setzt-auf-disziplin-und-traditionelle-lehrmethoden/#respond Thu, 21 Mar 2024 19:56:00 +0000 https://condorcet.ch/?p=16222

Der Condorcet-Blog hat schon mehrmals über die Michaela Community School berichtet (https://condorcet.ch/2020/02/brennpunktschule-uebertrifft-alle/) Nun hat Condorcet-Autor Urs Kalberer diese Schule in London besucht und ging der Frage nach: Was macht diese Schule so erfolgreich?

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In einer Zeit, in der Bildungseinrichtungen vermehrt auf kooperative Schulformen setzen, bricht die Michaela Community School in London mit dem Trend und feiert beeindruckende Erfolge. Die Schule, eine sogenannte Free School, geniesst staatliche Finanzierung, aber erfreut sich weitgehender Freiheiten in Bezug auf die Anstellungsbedingungen der Lehrkräfte und der Schulorganisation. Ihr Erfolgsrezept: Disziplin, traditionelle Lehrmethoden und ein klares Bekenntnis zu grundlegendem Wissen. Inhaltlich hält sich die Schule an den nationalen Lehrplan.

Urs Kalberer, Sekundarlehrer: Beeindruckende Erfolge lassen Raum für Überlegungen, ob auch andere Schulen von diesem Modell lernen können.

Bereits vor dem Besuch erhalten Gäste eine detaillierte Liste mit erwünschtem und nicht erwünschtem Verhalten, was von angemessener Kleidung (keine zerrissenen Jeans, keine Turnschuhe) bis zum Flüsterton in den Gängen reicht. Bei unserem Besuch führten uns zwei engagierte Teenager durch das Schulhaus, sichtlich stolz auf ihre Schule. Free Schools kennen keine selektiven Aufnahmekriterien wie Prüfungen. Ihre Schüler, die per Los zugeteilt werden, stammen alle aus demselben unterprivilegierten Stadtbezirk im Nordwesten Londons.

Viermal besser als der Durchschnitt

Die britische Schulinspektionsbehörde Ofsted beurteilt die Qualität der erbrachten Bildungsleistungen in allen Bereichen als hervorragend («outstanding»). Besonders beeindruckend ist auch die Feststellung, dass Kinder mit besonderen Bedürfnissen im Lesen, Schreiben und in Mathematik dank bedürfnisgerechter Unterstützung schnell den Anschluss schaffen. In der Leistungsskala des für die Berufswelt entscheidenden Schlussexamens GCSE (General Certificate of Secondary Education) erreichten 18 Prozent der Michaela-Schüler die Höchstnote 9 (in Mathematik sind es sogar 25 Prozent). Das stellt im Vergleich zum nationalen Durchschnitt von 4,5 Prozent ein glänzendes Erfolgsresultat dar.

Im Fokus der Schule steht eine konsequente Neuausrichtung der Pädagogik, bei der traditionelle Lehrerführung im Mittelpunkt steht. Die Schüler sitzen in Reihen, schauen nach vorne und folgen mit aussergewöhnlicher Disziplin und Konzentration den Ausführungen der Lehrkräfte. Immer wieder stellen diese Fragen, welche die Klasse auf

Kommando beantwortet. So werden die Schüler in hohem Tempo durch die Lektionen geleitet. Moderne Formen des selbstorganisierten Lernens wie auch Gruppenarbeiten oder Projekte werden bewusst ignoriert.

Trotz dieser scheinbar harten Regeln betont die Schulleiterin Katharine Birbalsingh, dass eine tiefe Erwartungshaltung besonders die Schwächsten benachteiligen würde.

Still in Einerkolonne

In der Michaela-Schule zählt jede Minute Unterricht, entsprechend gross sind die Fortschritte der Kinder. Trotz des mehrstöckigen Gebäudes verlieren die Schüler beim Zimmerwechsel sehr wenig Zeit. In Einerkolonne begeben sie sich ohne zu sprechen zügig durch die Gänge. Die üblichen Pausen zwischen Lektionen fallen weg. Die Schule verzichtet bewusst auf den Einsatz von Computern im Unterricht, ermutigt die freiwillige Abgabe von Handys und verkauft günstige Handys ohne Internet an Eltern.

Katharine Birbalsingh, Schulleiterin: Wir müssen fordern, allesandre schadet den Kindern der Unterschicht.

Die Autorität der Lehrpersonen wird hochgehalten, Disziplin und Leistung prägen den Schulalltag. Während des Unterrichts werden die Schüler konstant mit Plus- und Minuspunkten bewertet. Gute Leistungen im schulischen oder sozialen Bereich werden mit verschiedenen Pins belohnt, die sich die Schüler ans Revers ihrer Uniformjacken stecken. Für Empörung bei den Kritikern sorgt die konsequente Haltung gegenüber Nachlässigkeiten wie Unpünktlichkeit oder fehlende Hausaufgaben: Wer nicht erfüllt, kriegt Nachsitzen. Trotz dieser scheinbar harten Regeln betont die Schulleiterin Katharine Birbalsingh, dass eine tiefe Erwartungshaltung besonders die Schwächsten benachteiligen würde. Auch Patriotismus ist hoch im Kurs, denn eine Schule mit einer solch gemischten Schülerschaft könne nur funktionieren, wenn alle England als ihr Land akzeptierten und lernten, stolz darauf zu sein, so Birbalsingh.

Auch die Mittagspause ist klar strukturiert und beginnt mit der gemeinsamen Rezitation eines Gedichts. Die Schüler übernehmen Aufgaben wie das Tischdecken und das Abräumen der Teller. Während des Essens diskutieren die Schüler zusammen mit ihren Lehrern am Tisch über ein festgelegtes Thema. Anschliessend würdigen einzelne Schüler gute Leistungen ihrer Kollegen oder der Lehrerschaft. Die traditionellen Methoden der Michaela-Schule mögen zwar kontrovers sein, aber ihre beeindruckenden Erfolge lassen Raum für Überlegungen, ob auch andere Schulen von diesem Modell lernen können.

 

Urs Kalberer ist Sekundarlehrer und Sprachdidaktiker an der Sekundarschule Landquart GR.

 

Kasten/Box

Alter der Kinder: 11-18

Klassengrösse: 25-30

Schülerzahl: ca. 700

Schulzeit: 8 – 16 Uhr

Hausaufgaben pro Tag: 60-90 Minuten

Pausenplatz, Bild: Urs Kalberer

 

Michaela Community School, Bild: Wikipedia

 

Katharine Birbalsingh, Bild: Wikipedia

 

 

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Teenager wünschen sich eine kompetente Führung im Klassenzimmer https://condorcet.ch/2024/02/teenager-wuenschen-sich-eine-kompetente-fuehrung-im-klassenzimmer/ https://condorcet.ch/2024/02/teenager-wuenschen-sich-eine-kompetente-fuehrung-im-klassenzimmer/#comments Mon, 12 Feb 2024 12:59:36 +0000 https://condorcet.ch/?p=15933

Autorität ist derzeit wieder gefragt, sei es in der Politik, in Betrieben oder in der Schule. Was aber ist Autorität und welche Autorität ist hier gefragt? Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz versucht diese Fragen zu beantworten und hat Verständnis, dass der Begriff "Autorität" auch negative Erinnerungen weckt.

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Im links dominierten Stadtzürcher Parlament wurde kürzlich ein Vorstoss überwiesen, der mehr Sicherheitspersonal an Schulen verlangt und grundsätzlich die Autorität der Lehrkräfte stärken will. Das Postulat war eine Reaktion auf diverse Gewaltvorfälle im Schulbereich, die für einige Unruhe sorgten. Offensichtlich hat man erkannt, dass vor allem die Klassenlehrkräfte mehr Unterstützung für ihren anspruchsvollen Bildungsauftrag benötigen.

 Trägt die Lehrerbildung zum Autoritätsverlust der Lehrkräfte bei?

Hanspeter Amstutz, Starke Schule Zürich:  Urvertrauen als riesiges Kapital

Die Rückbesinnung auf mehr Führung im Klassenzimmer erstaunt nicht, wenn man auf gewisse extreme pädagogische Strömungen sieht. Allen Ernstes wird von manchen Dozenten an Pädagogischen Hochschulen die Meinung vertreten, Lehrpersonen müssten die Lernprozesse nur begleiten und sich möglichst unauffällig im Hintergrund halten. Pädagogischer Gestaltungkraft in Form von anschaulicher Instruktion, packenden Erzählungen und kreativen Übungsphasen im Klassenverband wird mit viel Misstrauen begegnet. Im neusten Magazin des Tages-Anzeigers spricht sich die Bildungsexpertin Rahel Tschopp gar dafür aus, die Klassenlehrer abzuschaffen und für die Schüler eines ganzen Stockwerks ein gemeinsames Coaching einzuführen. Diese Einstellung sorgt dafür, dass im Eiltempo pädagogische Autorität verloren geht und ganze Klassen aus dem Ruder laufen. Viele Buben beginnen den Unterricht zu stören, wenn sie nicht wissen, wer der Chef im Klassenzimmer ist und was dieser Mensch fachlich zu bieten hat.

 

Erfolgreiche Pädagogik kommt nicht ohne ein gewisses Mass an begründeter Autorität aus. Gebildete Erwachsene haben gegenüber Kindern einen deutlichen Wissensvorsprung. Kinder erleben tagtäglich in verschiedenen Bereichen dieses Wissensgefälle und sind grundsätzlich bereit, von Erwachsenen zu lernen, wenn sich diese verständnisvoll zeigen. Ganz besonders gilt diese natürliche Abhängigkeit in der Schule, wo Kinder erwarten, dass ihre Lehrerin sie richtig führt. Die allermeisten Mittelstufenschüler bringen ihrer Klassenlehrerin einen grossen Vorrat an Vertrauen entgegen, wenn sie mit Freude ihren Beruf ausübt. Dieses Urvertrauen ist das riesige Kapital, auf welches pädagogische Autorität angewiesen ist. Umso wichtiger ist es, dass sich die Lehrpersonen ihrer grossen Verantwortung bewusst sind und natürliche Autorität nicht durch fragwürdige schulische Experimente untergraben wird.

15-Jährige schauen auf jeden Fall genau, was die Persönlichkeit eines Lehrers ausmacht.

Erfolgreiches Lernen ist mehr eine Bergtour als eine Seilbahnfahrt

 Auch auf der Oberstufe wünschen Teenager eine verständnisvolle Führung im Klassenzimmer. Das schliesst nicht aus, dass durch den entwicklungspsychologisch notwendigen Prozess der Abgrenzung von den Erwachsenen Phasen des Protests auftreten. 15-Jährige schauen auf jeden Fall genau, was die Persönlichkeit eines Lehrers ausmacht. Kann ein Lehrer jedoch für ein Fach begeistern und bietet er Gewähr für grundlegende Fairness im Umgang mit Jugendlichen, folgen die allermeisten seinen pädagogischen Intentionen. Dieses Vertrauen erlaubt es einem Lehrer, den Weg zu einem Bildungsziel als herausfordernde Bergtour zu deklarieren. Das ist zwar strenger als eine Fahrt mit der Seilbahn, aber als Lohn winken unbezahlbare Gemeinschaftserlebnisse. Die pädagogische Festigkeit des Lehrers hilft dabei, auch mühsame Passagen zu überwinden.

 

Böse Erfahrungen

Notwendige Auflehnung gegen falsche Autoritäten

 Zu Recht wird hinter dem Begriff der Autorität oft ein dickes Fragezeichen gesetzt. Die bösen Erfahrungen der Europäer mit politischen Massenbewegungen, bei denen autoritäre Führer ganze Völker in den Abgrund führten, haben den Autoritätsbegriff schwer beschädigt. Wenn Menschen auf kritisches Denken verzichten und wesentliche Freiheiten nicht verteidigen, wird es tatsächlich gefährlich. Das gilt auch für die Schule, wo das längerfristige Ziel eines guten Unterrichts nicht Abhängigkeit, sondern eine möglichst grosse Selbständigkeit der Heranwachsenden ist. Echte pädagogische Autorität will den Menschen befreien, damit er seinen eigenen Weg gehen kann und ihn auf keinen Fall am Gängelband führen. Diese Zielsetzung gilt es bei allen pädagogischen Bemühungen stets vor Augen zu haben.

Krisen beim pädagogischen Autoritätsbegriff sind in der Geschichte oft durch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen ausgelöst worden. Die Auflehnung der 68er gegenüber schikanierenden Lehrmethoden waren eine Reaktion der Jugend auf unnötig einengende Lebensformen ihrer Eltern aus der Weltkriegsgeneration. Erziehungsmethoden mit Körperstrafen waren in den frühen Sechzigerjahren an der Tagesordnung und mancher Lehrer verwechselte Autorität mit autoritärem Verhalten. Doch mit der von vielen 68ern geforderten radikalen Abwertung jeder Autorität wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und die pädagogische Kulturrevolution jener Jahre diskreditiert.

Kulturelle Errungenschaften müssen kompetent vermittelt werden

Die heutige Welle gegen schulische Autorität hat andere Wurzeln als bei den 68ern. Sie wird aus der Vorstellung abgeleitet, dass jedes Kind sich seine Welt weitgehend selbst erschaffen könne und individuell gefördert werden müsse. Dabei wird glatt unterschlagen, dass das Erlernen wesentlicher kultureller Errungenschaften eine hoch komplexe Aufgabe ist und ohne umsichtige Führung kaum gelingt. Oft wird man auch den Eindruck nicht los, dass gewisse Exponenten der neuen Didaktik grundsätzlich Mühe haben, Autorität mit Vertrauen in Verbindung zu bringen und im Schulbereich der unangenehmen Autoritätsfrage ausweichen. Verwirrende Vorstellungen über eine passive Lehrerrolle haben in der Volksschule bereits erheblichen Schaden angerichtet. Wenn zutiefst verunsicherte Lehrpersonen es nicht mehr wagen, aus der Rolle der grauen Maus herauszuschlüpfen und in ihren Klassen die Führung zu übernehmen, führt dies unweigerlich zu mehr disziplinarischen Problemen.

Lehrerinnen und Lehrer müssen die Kraft aufbringen und den Mut haben, eine Art pädagogische Gegenwelt zur schrillen Freizeitkultur zu schaffen.

Konzentriertes Lernen muss möglich sein.

Mut für eine pädagogische Gegenwelt zur digitalen Freizeitkultur

Konzentriertes Lernen ist die Basis für erfolgreichen Unterricht. Die Fokussierung auf ein angestrebtes Lernziel ist mit Schülern, die in der Freizeit einer Dauerberieselung durch Push-Nachrichten ausgesetzt sind, eine riesige Herausforderung. Lehrerinnen und Lehrer müssen die Kraft aufbringen und den Mut haben, eine Art pädagogische Gegenwelt zur schrillen Freizeitkultur zu schaffen. Diese Welt kann kein Konsumparadies der raschen Wunscherfüllung sein. Für die Schülerinnen und Schüler bedeutet dies, sich gründlich mit wesentlichen Themen auseinanderzusetzen und Freude an der eigenen Leistungsfähigkeit zu gewinnen.

Die pädagogische Gegenwelt ist kein Raum der Abschottung vom eigentlichen Leben, aber sie ermöglicht es, mit einer Art Filter die für Lernprozesse störenden Einflüsse zu reduzieren. Durch konzentrierte Präsenz in einem lebendigen und mit attraktiven Elementen gewürzten Unterricht wird die gewohnte Hektik der medialen Ablenkung ersetzt. Das Unmittelbare des Lernens in der Klassengemeinschaft, wo das einander Zuhören eine zentrale Rolle spielt, hilft dabei mit, die soziale Entwicklung zu fördern. Die Erfahrungen zeigen, dass dieser anspruchsvolle Bildungsauftrag am besten gelingt, wenn kompetente Lehrinnen und Lehrer mit innerer Überzeugung und der nötigen gesellschaftlichen Unterstützung ihre Führungsfunktion wahrnehmen.

 

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«Neue Autorität» an der Schule! – Wie bitte? https://condorcet.ch/2024/02/neue-autoritaet-an-der-schule-wie-bitte/ https://condorcet.ch/2024/02/neue-autoritaet-an-der-schule-wie-bitte/#respond Sun, 04 Feb 2024 08:14:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=15878

Zuerst verpönt man sie, die pädagogische Autorität, und dann kehrt sie ins Schulzimmer zurück, versehen mit dem Attribut des «Neuen». Durch die Hintertüre und über ein privates Institut. Gedanken von Condorcet-Autor Carl Bossard zur Slalomfahrt eines elementaren Begriffs.

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Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte: Das kontaminierte Wort «führen» hat einen schalen Beigeschmack.

«Neu» muss es sein. Fast alles, was etwas auf sich hält, wird als «neu» erklärt. Das bringt Beifall und Akzeptanz. Das «Neue» gilt vielen schon als das Bessere und dem «Alten» Überlegene. Das versteht sich; niemand will als altbacken gelten. Die Pädagogik ist dafür besonders anfällig und mit ihr die Bildungspolitik – aus Sorge, nicht mehr zeitgemäss zu sein. Vergessen gehen die anthropologischen Konstanten, ignoriert wird das, was immer gilt – weil wir Menschen sind. Die menschliche Evolution ist eben nicht mit der technischen Innovation gleichzusetzen. Doch das geschieht. Und wo nicht mehr nachgedacht wird, da wird vorgedacht – mit neuen Begriffen und Slogans: «Neues Lernen» beispielsweise oder «Neue Lernkultur». Nun ist die Autorität an der Reihe, die «Neue Autorität», wie sie aktuell heisst.

Wenn die Schulqualität erodiert

«Allahu Akbar», so riefen Jugendliche der Primarschule Bern Bethlehem und umzingelten dabei eine Lehrerin. Der Vorfall von Mitte Dezember 2023 erregte Aufsehen. Die Stadtberner Schule will ihn mit dem Ansatz der sogenannten «Neuen Autorität» aufarbeiten.  In der Schweiz bekannt gemacht hat ihn das ‘Systemische Institut für Neue Autorität’ (sina) in Zürich. Das Konzept boomt.  Die Schulen buchen Kurse.

Das Buch von Chaim Omer landete einen Riesenerfolg

Die Not ist gross, Burnout selbst bei Kindergärtnerinnen kein Einzelfall. Vielerorts ist das Schulsystem an der Grenze der Belastbarkeit angelangt, sagen Insider. Gar von «Erosion der Schulqualität» ist die Rede und vom «Tohuwabohu» in gewissen Klassenzimmern, wie «Der Beobachter» vor einiger Zeit gemahnt hat.  Die «Neue Autorität» soll nun Regeln und damit Ruhe in die Schule bringen und «entgegenkommende Verhältnisse» schaffen. So fordert es der deutsche Soziologe Jürgen Habermas fürs Gelingen eines guten Unterrichts. Die Idee der «Neuen Autorität» geht auf den israelischen Psychologen Heim Omer zurück.  Sie entstammt nicht dem Unterrichtsalltag; sie kommt aus der Familientherapie. Das Konzept beruht auf einer unmissverständlichen Sprache und hoher Präsenz von Eltern oder Lehrpersonen sowie dem Abstecken verbindlicher Regeln.

Abgrenzung gegenüber einer Autorität, die es nicht mehr gibt

Was ist nun so neu an der «Neuen Autorität»? Die empirische Unterrichtsforschung, die Hirnbiologie, die Resonanzpädagogik fordern das alles, und zwar unmissverständlich. Dazu finden sich die Prinzipien der «Neuen Autorität» längst in der aussagekräftigen Studie von Jacob S. Kounin zum Classroom-Management.[5] Neu ist an der «Neuen Autorität» wenig, mindestens für die Schule – trotz des verheissungsvollen neuen Namens. Interessanter ist vielmehr die Abgrenzung. An die Stelle einer Autorität durch Macht trete eine neue Autorität durch Beziehungsarbeit, sagt Sebastian Teuscher, Schulleiter der Primarschule Bern Bethlehem. Und dezidiert fügt er bei: «Die klassische Autorität hat ausgedient.»

Lehrer Lämpel ist out – nicht aber personale Autorität.

Damit grenzt er sich gegenüber einer Autorität und «autoritären Personen» ab, wie sie der Philosoph Theodor W. Adorno um 1950 analysiert hat und Siegfried Lenz sie in seiner «Deutschstunde» schildert. Das war Autorität als Position; sie setzte auf rigorose formale Hierarchie – und verletzte viele junge Menschen. «Der Schüler Gerber» von Friedrich Torberg hat sie erlebt und ist daran tragisch gescheitert. Frank Wedekind karikiert sie in seinem gesellschaftskritisch-satirischen Drama «Frühlings Erwachen» – mit dem Untertitel «Eine Kindertragödie». Warum also solche Zerrbilder konstruieren, wenn sie doch überwunden sind?[6]

Autorität ist ein schwieriger Begriff, ein «Anwärter auf die Rolle des Generalbösewichts», wie es der Philosoph Hans Blumenberg ausdrückt.

Auf die Manege des Klassenzimmers ungenügend vorbereitet

Autorität ist ein schwieriger Begriff, ein «Anwärter auf die Rolle des Generalbösewichts», wie es der Philosoph Hans Blumenberg ausdrückt. Autorität hat man nicht einfach, sie wird einem zugesprochen – oder eben nicht. Personale Autorität ist ein Beziehungsverhältnis, eine Art Vertrauen – und unerlässlich in der Manege des Klassenzimmers und im härter gewordenen pädagogischen Alltag. Gefordert ist Führungs- und Widerstandkraft. Darauf sind manche Junglehrer nur ungenügend vorbereitet und vor allem nicht eingeübt. Das zeigt der verzweifelte Ruf nach „neuer“ Autorität.

Die aktuelle Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen hin zur Individualisierung vernachlässigt das konsequente Führen einer Klasse.

Erklärbar ist das nur, weil die personale Autorität – sie galt lange und vielerorts als selbstverständlich – zur Seite geschoben wurde. Die aktuelle Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen hin zur Individualisierung vernachlässigt das konsequente Führen einer Klasse. Angehende Lehrer würden heute nicht mehr primär Klassen führen, heisst es; es werde individualisiert. Die Lehrperson sei Coach, und in der Funktion als «Partnerin» oder «Berater» begleite sie die Lernenden. Der gemeinsame Unterricht sei tendenziell out, die Klassenführung darum sekundär geworden. Ohnehin habe das historisch kontaminierte Wort «führen» einen schalen Beigeschmack.

Kinder suchen einen Häuptling

Solche Tendenzen verkennen die Realität. Die pädagogische Leadership-Aufgabe muss gezielt geschult werden. Der Neurobiologe Joachim Bauer drückt es so aus: «Kinder und Jugendliche wollen beides: Verständnis und Führung.» Das seien unerlässliche Tragpfeiler eines respektvollen und effizienten Unterrichts. Anders formuliert: Kinder wollen einen fairen Häuptling; sie wünschen sich eine empathische Dirigentin.

Das Bejahen der Leadership im Schulzimmer hängt zusammen mit einem positiven Bezug zur pädagogischen Autorität. Ein Schüler erlaubt sich eben mehr, wenn eine Lehrperson über wenig Autorität verfügt. Respekt, wie ihn die «Neue Autorität» einfordert, ist an personale Autorität gebunden. Er wird zugeschrieben und braucht ein vitales Vis-à-Vis: eine Lehrperson mit positiver Autorität, die schülerzentriert steuert und mit einem verbindlichen Commitment das Verhalten in der Klasse regelt.

Zentral sind die Lehrpersonen und ihr Unterricht – und ihre spürbare Beziehung zu den Kindern.

Teachers are leaders of learning and learners

Die empirische Bildungsforschung zeigt es: Zentral sind die Lehrpersonen und ihr Unterricht – und ihre spürbare Beziehung zu den Kindern. Da gibt es weder Anbiederung noch Laissez-faire oder fraternisierende Nähe. Das wissen begabte Pädagogen. Sie führen straff-locker und strahlen dabei eine charmante und natürliche Autorität aus. Sie kennen auch den Mut zum Nein. Solchen Autoritäten gegenüber empfindet man Respekt. Er bildet sich durch Zuschreibung personaler und sozial-humaner Werte. Eine Respektperson überzieht man nicht mit lärmigen Übergriffen à la Bern Bethlehem.

Wer mit achtsamer Autorität zu führen gelernt hat, wird in der Dynamik einer pulsierenden Klasse bestehen. Das ist im heutigen Gedränge des Unterrichtszimmers zwar keine Garantie gegen renitentes Schülerverhalten, aber eine wichtige Prävention – im Wissen: Kinder suchen einen «Leader». In der amerikanischen Pädagogischen Psychologie heisst es pragmatisch: «Teachers are leaders of learning and learners.» Lehrer führen das Lernen und die Lernenden. Wer dieses elementare Handwerkszeug in der Grundbildung gelernt hat, braucht keine «Neue Autorität».

[1] Nina Fargahi, An den Schulen boomt die «Neue Autorität», in: Tages-Anzeiger 16.01.2024, S. 4.

[2] Susanne Balli, «Neue Autorität»: Ein Konzept macht Schule, in: CH Media, 29.01.2024, S. 19.

[3] Julia Hofer, Tohuwabohu im Klassenzimmer, in: Beobachter 25/2021, S. 92.

[4] Haim Omer/Arist von Schlippe (2010), Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Dazu: Haim Omer/Philip Streit (2016), Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

[5] Jacob S. Kounin (2006), Techniken der Klassenführung. Standardwerke aus Psychologie und Pädagogik. Reprints von Jacob S. Kounin, hrsg. von D. H. Rost (2006). Waxmann: Münster/München/Berlin.

[6] Vgl. Roland Reichenbach (2011), Pädagogische Autorität. Macht und Vertrauen in der Erziehung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.

 

 

 

 

 

 

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Eine Erosion des Bildungswesens https://condorcet.ch/2023/05/eine-erosion-des-bildungswesens/ https://condorcet.ch/2023/05/eine-erosion-des-bildungswesens/#comments Sat, 27 May 2023 12:44:32 +0000 https://condorcet.ch/?p=14106

Als vor bald 20 Jahren in der Schweiz das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft trat, gab die Bildungspolitik unter dem Stichwort “Inklusion” ein grosses Versprechen ab: Alle Kinder, egal, wie verschieden sie sind, sollen einen Platz in den Regelklassen finden - unabhängig von Lernschwierigkeiten, schulischer Begabung, psychischen Problemen oder Verhaltensstörungen. Die “Inklusion” ist eines der grossen Dogmen der Bildungsreformer. Aber was gut gemeint ist, stösst in der Praxis an Grenzen. Die Sonntagszeitung veröffentlichte vor kurzem einen Bericht eines anonymen Lehrers, der bald eine 9. Klasse aus der obligatorischen Schulzeit entlassen wird. Fazit: Kaum notiert von der Öffentlichkeit, stellen wir eine eigentliche Erosion der Bildungsqualität fest. Opfer sind wie immer die unterprivilegierten Kinder und die Einwanderergeneration. Der Autor ist der Redaktion der Sonntagszeitung bekannt.

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Eigentlich bin ich Mathematik-, Naturkunde- und Physiklehrer. Der desolate Lehrkräftemangel machte es aber nötig, dass ich während meines Einsatzes an dieser Schule abwechslungsweise als Troubleshooter auch noch Französisch, Englisch, Deutsch und Geschichte unterrichten muss. Das ist nicht weiter tragisch. Erstens besitze ich aufgrund meiner seminaristischen Ausbildung ein Generalpatent, das heisst, ich bin befugt, alle Fächer zu unterrichten, und zweitens ist es von Vorteil, dass diese schwierige Klasse nicht zu viele Lehrkräfte hat.

Zunächst einmal ein kleines Soziogramm: Von den 24 Schülerinnen und Schülern dieser 9. Klasse, die ich vor zwei Jahren übernommen habe, sind 13 Knaben und 11 Mädchen. Sage und schreibe 8 Schülerinnen und Schüler dieser Klasse können wenige Wochen vor dem Schulabschluss kaum richtig lesen und schreiben. Das ist ein Drittel.

Knapp ein Drittel der Eltern benötigt trotz langjährigem Aufenthalt in der Schweiz bei Elterngesprächen einen Dolmetscher.

Rund 20 von ihnen sprechen zu Hause nicht Deutsch, obwohl 18 der 24 Schülerinnen und Schüler in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind. Knapp ein Drittel der Eltern benötigt trotz langjährigem Aufenthalt in der Schweiz bei Elterngesprächen einen Dolmetscher. Ich unterrichte eine sogenannte integrierte Klasse. In der Stammklasse sind alle Schulkategorien versammelt: wir haben 11 Sekundarschülerinnen und -schüler, 7 Realschüler (allesamt Knaben) und 6 Schülerinnen, die einen Realstatus haben, aber kaum auf Realniveau unterrichtet werden können. Sie sind überfordert.

Gravierend sind die ständigen Disziplinlosigkeiten. In meiner Klasse konnte ich sie durch meine langjährige Unterrichtserfahrung unter Kontrolle behalten, aber sie geben zu tun. In den anderen Klassen haben die Frechheiten, die Pöbeleien und Beleidigungen gegenüber dem Lehrkörper massiv zugenommen. «Bitch», “Fick dini Fotze” und die ostentative Weigerung, Anweisungen von Lehrkräften zu befolgen, geschehen wöchentlich. Die Hälfte der Knaben-WC’s an unserer Schule musste wegen Vandalismus geschlossen werden.

Ausserschulische Anlässe sind zwar gern gesehen, werden aber immer wieder durch lustloses, undiszipliniertes Auftreten gestört. Dazu ein Beispiel: Bei einer Velotour kam es zu drei Unfällen und in der Badi gingen von 20 Schülerinnen und Schülern nur 6 ins Wasser.

Verzweifelte Eltern verteidigen ihre Kinder

Viele Lehrpersonen sind am Ende ihrer Kräfte und versuchen dennoch, den Karren zu ziehen. Die Schulleitung spricht Schulverweise aus, was einen enormen administrativen und zeitlichen Aufwand bedeutet. Bis zu einer Woche liegt in ihrer Kompetenz. Verzweifelte Eltern, die mit ihrem Nachwuchs selbst nicht mehr zu Rande kommen, verteidigen ihre Kinder, verbünden sich mit ihnen gegen die Lehrkraft, in der Hoffnung damit etwas Goodwill in den eigenen vier Wänden “einzukaufen”, nach dem Motto: “Schau, wie ich mich für dich einsetze, und jetzt sei du doch etwas lieber mit mir.”

Viele Familien, deren Kinder in der Schule Schwierigkeiten verursachen, befinden sich in einem sozialen Sondersetting, haben z. B. eine Familienbegleiterin. Nach einem Unterrichtsrauswurf lief ein Achtklässler zu seiner Familienbegleiterin ins Büro und erzählte ihr seine Version der Dinge. Die junge Sozialarbeiterin nahm den Hörer und telefonierte der Schulleiterin, nicht etwa, um den genauen Sachverhalt zu eruieren, sondern um der Schulleiterin empört mitzuteilen: “Man hat K. angeschrien.”

15 bis 20 Prozent kommen einer Verdreifachung der problematischen Fälle gleich

Die Schulen haben hier schon manche Sturmphase überstanden und immer wieder gelang es den Lehrkräften einen einigermaßen geregelten Unterricht zu garantieren. Bis vor kurzem legten etwa 5 Prozent der Schülerinnen und Schüler die soeben geschilderten Verhaltensweisen an den Tag und zeigten sich in irgendeiner Weise lernresistent. Mit 95% der jungen Menschen konnte man jeweils arbeiten. Inzwischen ist dieser Anteil an den Schulen in meiner Gemeinde teilweise auf bis zu 20 Prozent gestiegen. Das bedeutet zwar immer noch, dass 80 bis 85 Prozent der Schülerinnen und Schüler gut arbeiten und sich anständig benehmen. Aber 15 bis 20 Prozent kommen einer Verdreifachung der problematischen Fälle gleich. Das heisst dreimal so viele Elterngespräche, dreimal so viele Anmeldungen bei den dafür vorgesehenen Institutionen, eine Verdreifachung der Wartezeiten.

Als Lehrkraft habe ich alle Hände voll zu tun, die Disziplin aufrecht zu erhalten.

Ein Problem ist auch der grosse Absentismus. Absenzen bis zu 60 Lektionen und mehr pro Jahr sind nicht mehr die Ausnahme sondern bilden die Mehrheit. Als Lehrkraft habe ich alle Hände voll zu tun, die Disziplin aufrecht zu erhalten. Das erreiche ich, indem ich eine  strenge Linie fahre, durch ständigen Kontakt mit den Eltern, der Entfernung aus dem Unterricht bei Unterrichtsstörungen und Verfrachtung in Sondersettings.

Ich habe schon sehr viele Neuntklässler in das Berufsleben entlassen und stelle fest: Das Lernverhalten in meiner jetzigen Klasse, in der ich seit etwa zwei Jahren unterrichte, ist bei einem Drittel der Schülerinnen und Schüler immer noch völlig unterentwickelt, das Können liegt weit unter einem Niveau, das ich als normal taxieren kann. Gerade im Fach Mathematik beherrscht die Realgruppe grundlegende Kompetenzen beim Bruchrechnen, bei den proportionalen Zuordnungen oder gar in der Algebra nicht. Einfache Volumen- und Quaderberechnungen gehen. Ist allerdings das Volumen gegeben und die Höhe gefragt, ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Berechnungen mit der Dichte? Keine Chance! Geschwindigkeitsberechnungen? Nie durchgenommen.

Oberstes Prinzip: Kein Chaos, die Schülerinnen und Schüler müssen lernen können.

Es ist in der Stammklasse unmöglich einigermassen komplexe geschichtliche Zusammenhänge spontan zu diskutieren. Für einen Drittel braucht es immer Spezialaufgaben, die aber kaum selbständig, sprich ohne Aufsicht  gelöst werden. Dozieren geht, konkrete Fragen, die einfache Antworten verlangen, gehen. Einzel- und Gruppenarbeiten funktionieren bei der Hälfte dieser Schülerinnen und Schüler kaum. Der Unterricht macht daher auch mir selbst sowie den Schülerinnen und Schülern wenig Spass. Ich musste die Sitzordnung dahingehend ändern, dass ich keine Lerninseln mehr zulasse. Hufeisen und Einzelpulte stärken einen lehrerzentrierten Unterricht. Oberstes Prinzip: Kein Chaos, die Schülerinnen und Schüler müssen lernen können.

Am Freitag ist in den 9. Klassen jeweils Projekttag. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in dieser Zeit an eigenen selbstgewählten Projekten. Wir müssten bereits einen Viertel der Schülerschaft vom Projekt ausschliessen und anderweitig beschäftigen. Grund: Sie können es einfach nicht! Die traditionelle Ausstellung der Arbeiten mit Präsentationen müssen wir ausfallen lassen. Erstens ist die Qualität zu schlecht und zweitens kommt die Mehrheit unserer Eltern nicht an solche Schulanlässe.

Ein Dank gilt hier den vielen Betrieben, die es trotz ungenügender Voraussetzungen versuchen wollen.

Die Erosion der Unterrichtsqualität ist nach Corona, dem ständigen Zustrom neuer Schüler sowie wegen den vielen Problemfällen und dem gravierenden Lehrkräftemangel nicht mehr zu kaschieren. So wird nichts mit dem jungen Nachwuchs, der den so dringend benötigten Fachkräftemangel beheben soll.

Mit einem riesigen Einsatz gelang es meinem Team und mir, dass wenige Wochen vor dem Schulabschluss anfangs Juli 18 Schülerinnen und Schüler  einen Lehrvertrag in der Tasche haben. Ein Dank gilt hier den vielen Betrieben, die es trotz ungenügender Voraussetzungen versuchen wollen. Drei Mädchen besuchen eine weiterführende Schule. Bei drei Jugendlichen konnte bislang keine Lösung für eine Integration in den Arbeitsmarkt gefunden werden – sie sind aufgrund ihres Könnens und ihres Verhaltens schlicht nicht vermittelbar.

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Die Schule war männlich https://condorcet.ch/2023/04/die-schule-war-maennlich/ https://condorcet.ch/2023/04/die-schule-war-maennlich/#comments Sun, 23 Apr 2023 13:57:41 +0000 https://condorcet.ch/?p=13704

Die gute „alte Schule“ von anno dazumal – an Klassentreffen oft nostalgisch überhöht. Der Autor weiss um diesen "Verklärungseffekt". Er wagt es trotzdem: eine essayistische Skizze aus der Primarzeit, subjektiv formuliert und aufgetragen mit grobem Pinsel von Condorcet-Autor Carl Bossard.*

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Ganze Generationen gingen einst zu den gleichen Lehrerinnen und Lehrern in den Unterricht: zu Fräulein Alfonsa Moos im Zuger Burgbachschulhaus beispielsweise oder zum legendären Lehrer Miran Meyer im Neustadt. Pädagogische Konstanten über Jahre und Jahrzehnte. Ausdruck von Stabilität. Jedermann wusste, welche Werte sie vertraten und wofür sie einstanden. Wandel war wenig, weder gesellschaftlich noch pädagogisch.

Aufwachsen in einer engen Welt

Aufwachsen in der katholisch-tridentinisch geprägten Welt der Kleinstadt Zug hiess gross werden im manichäischen Weltbild von gut und böse, fleissig und faul, korrekt und nonkonform, immer auch belastet mit dem bleischweren Gewicht der Sünde. Nur keine unkeuschen Gedanken!, lautete das priesterliche Verdikt – mit dem Strafgericht Gottes als finaler Drohung. Das Weltgericht über dem Chorbogen in der Stadtzuger St. Oswaldskirche – das imposante “Jüngste Gericht” des Malers Melchior Paul von Deschwanden – wies den Weg: hier die Gottesfürchtigen, dort die Sündigen.

Condorcet-Autor Carl Bossard

Die Hierarchie von Himmel, Fegefeuer und Hölle war gottgegeben. Wir wussten genau, warum wir auf der Welt waren. Der Katechismus deklarierte es, auswendig deklamierten wir es: “Wir sind auf der Erde, um Gott zu gefallen, ein anständiges Leben zu führen und einmal in den Himmel zu kommen.” Katechismuswahrheit als Leitwert für den Alltag.

Die Kirchenglocken gaben den Ton an

Die Zeit der 50er- und der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts war eine geschlossene, mental und soziokulturell homogene Welt. Ein Leben fast nach dem Rhythmus der Kirchenglocken. Sie läuteten nicht nur, sie gaben auch den Ton an – und setzten damit Werte und Normen. Religion und Tradition prägten den Alltag. Der sonntägliche Messbesuch war wie Militärdienst: obligatorisch. Und in dieser gefestigten, wohl geordneten Welt galt die Lehrerin, der Lehrer als Inkarnation fachlicher und pädagogischer Autorität. Ihr Sozialprestige war hoch und intakt – fast auf der Stufe des Stadtpfarrers, nur wenig unter dem Chefarzt des Bürgerspitals. Man glaubte und vertraute ihnen; kein Zweifel störte. Warum auch? Die Schule war unbestrittene Bastion von Zucht und Erziehung. Niemand klopfte an die Schultür, kaum jemand reklamierte und verlangte Neues. Inhalte und Lehrbücher veränderten sich nur wo wirklich nötig. Die Wiederkehr des Gleichen war das Grundmuster des damaligen Lebens. Rackern und Sich-Mühen waren Pflicht, die schulischen Prinzipien so klar wie die zehn Gebote Gottes.

Lernen in einer gefestigten, wohlgeordneten Welt.

Im Übrigen war es die Zeit des Kalten Krieges, der Feind kam aus dem Osten. Die Welt war zweigeteilt. Man wusste, was galt; hier wie dort. Kritische, offene Auseinandersetzung? – Fehlanzeige. Entsprechend waren die Schülerinnen und Schüler die braven, gefügigen Empfänger pädagogischer Intention. Gehorchen war Gebot.

Die Schulwelt war männlich

Die Fräuleins oder die Menzinger Lehrschwestern unterrichteten die erste und zweite Klasse. Weiter brachten sie es kaum. Für die weltlichen Lehrerinnen galt im Übrigen das pädagogische Zölibat. Wollten sie heiraten, mussten sie den Lehrberuf aufgeben. Ab dem dritten Schuljahr wurde die (Schul-)Welt männlich. Nur noch Lehrer. Mit ihnen kamen neue Werte. Hierarchischer und asymmetrischer wurde das Verhältnis. Von oben blickten sie uns an, und wir schauten zu ihnen hinauf. Irgendwie wussten wir: Da stand jemand vor uns, der eine Ahnung vom Leben hatte, vom wirklichen Leben. Unser 3./4.-Klasslehrer, der Wandervater Fridolin Stocker, erfand das gelb markierte Netz der Schweizer Wanderwege. Jeden Freitag erklang seine Stimme auf Radio Beromünster. Das tröstete über alle didaktischen Albträume hinweg. Und der 5./6.-Klasslehrer Miran Meyer: Theaterstücke schrieb er und führte Regie. Auch hier ganz Magister und fachliche Autorität – tatenorientiert und konfrontativ.

Irgendwie wussten wir: Da stand jemand vor uns, der eine Ahnung vom Leben hatte, vom wirklichen Leben.

So traten beide auf, so wirkten sie, so konfrontierten sie, und so rieben wir uns an ihnen. Sie setzten sich mit uns jungen Männern leibhaft auseinander. Unbewusst inkarnierten sie für uns eine Art positiver Aggressionsvorbilder. Ihre subkutane Botschaft: “Lasst uns Männer sein!” Eben: Die Schule war männlich.

Zur Bildung stiegen wir empor

Stramm und straff begann der Tag. In Zweierkolonne standen wir ein, Knaben und Mädchen auf sichere Distanz getrennt: die Knaben beim Vordereingang des grossen Gebäudes, die Mädchen hinten. Abmarsch die Treppe hoch zur Bildung, vorbei am Lehrer durch die mächtige Tür ins Schulhaus. Symbol und Auftrag zugleich. Unsere Klasse: alle katholisch und deutschsprachig, alle grau gekleidet und die Haare kurz geschoren.

Zur Bildung stieg man empor: das Neustadtschulhaus der Stadt Zug mit der mächtigen Eingangstüre. (Bilder: Stadt Zug/zVg)

Im Schulzimmer rangierten wir nach Notendurchschnitt. Eins war die beste Note, die Fünf figurierte am Ende der Skala. Der Schüler mit dem tiefsten und besten Schnitt sass ganz hinten, derjenige mit dem höchsten Wert vorn, direkt vor dem Katheder. Zwei Ausnahmen: der Türchef und der Tafelchef – Notenschnitt Nebensache.

Jeden Morgen wartete die vielköpfige Schar auf den Lehrer. Einer horchte. War er im Anmarsch, schnellten wir hoch. Er kam, trat ein, schritt würdig zum Katheder, stieg die Stufe hoch, legte den Kittel auf die Stuhllehne. Dann blickte er in die Schülerschar und sagte militärisch knapp: “Setzen!”

Eine Schule mit fast militärischer Disziplin

48 sassen im engen Schulzimmer; mucksmäuschenstill war es. Der Lehrer auf dem Thron, wir in den Holzbänken. Er kommandierte, und wir gehorchten; er fragte, und es wurde geantwortet; er sprach “ruhig!”, und es ward still. Kein Widerspruch, kein Aufmüpfen. Die Disziplin war fast preussisch, das Turnen militärisch, die Ordnung straff. Heftführung und Aussprache, Schreiben und Rechnen hatten hohe Priorität. Dazu kamen Kantonsgeografie und Schweizer Geschichte.

Wurden wir aufgerufen und abgefragt, standen wir auf. Wer die Antwort wusste, setzte sich wieder, sonst blieb er aufrecht. Manchmal stand fast die ganze Klasse. Angst war spürbar, gar greifbar, fahle Furcht, etwas nicht zu wissen. Sie lähmte und drückte auf das Gemüt, eine Art Appetitlosigkeit der Seele.

Die Angst frass sich in uns hinein und trieb kalte Schweissperlen auf die Stirn.

Standen wir alleine vor der schwarzen Tafel, war sie wieder da, die Furcht. Wie Schiffbrüchige kamen wir uns vor, kalkbleich und allein gelassen – unfähig, über etwas nachzudenken und den andern zu erklären, was wir gelernt hatten, vergeblich bemüht, unser Gehirn zu zermartern. Die Angst frass sich in uns hinein und trieb kalte Schweissperlen auf die Stirn. Wir ertrugen es stoisch; denn wir wussten: Der Lehrer war zu allen gleich und konnte auch ganz anders sein als nur streng.

Autoritär und achtsam zugleich

Unser Fünft- und Sechstklasslehrer kannte vermutlich nur zwei Schulreisen, und beide führten ins Urnerland, die eine aufs Rütli, die andere ins kahle Urserental. Keine spektakuläre Reise, keine Actions, keine Events. Noch heute schaue ich hinauf zum trutzigen Turm, wenn ich mit der Matterhorn-Gotthard-Bahn (MGB) an Hospental vorbeifahre. Warum? Der Schulreise wegen. Lange und langsam waren wir auf der Wanderung von Hospental nach Andermatt unterwegs. Zuerst verweilten wir beim imposanten Turm, diesem Zeugen aus alter Zeit. Dann tauchten wir in den dunklen Schutzwald ein. Der Lehrer zeigte uns, was der Bannwald für das Dorf bedeutete und darum gehütet war wie ein Schatz.

Ich erlebte den strengen, starken Mann, wie er sich liebevoll den Details zuwandte, spürte seine elegisch-lyrische Ader. Wir, eine wilde Bande von fast 50 Knaben, waren gefangen vom Augenblick und aufmerksam, achtsam. Darum war es einprägsam und wirksam, was er uns erzählte. Noch heute weiss ich, wie er uns die kleine Kapelle St. Karl Borromäus bei Hospental erklärte und die Inschrift deutete. Sie wurde zur Metapher des menschlichen Lebens und blieb unauslöschlich im Gedächtnis.

Hier trennt der Weg,
o Freund, wo gehst Du hin?
Willst du zum ew’gen Rom hinunterziehn.
Hinab zum heil’gen Köln.
Zum deutschen Rhein.
Nach Westen weit in’s
Frankenland hinein?

Die Kapelle St. Karl Borromäus in Hospental (Bild: Uri Tourismus)

Auf dieser Schulreise zählte nicht das Besondere, bedeutungsvoll war das Naheliegende. Unser Lehrer hatte ein Auge für das Bedeutsame im Kleinen, ein Gespür für das Grosse im begrenzten Mikrokosmos seines heimatlichen Urserentals. Ein Lehrer mit einem achtsamen Auge für das Grosse im Kleinen, leidenschaftlich verliebt in die Geheimnisse dieser Landschaft, vertraut mit den unscheinbaren Phänomenen dieses Gebirgstals.

Ein Ding richtig können

Die Schulreise ist paradigmatisch: Was wir “durchnahmen”, nahmen wir gründlich durch, mündlich und schriftlich, mit vielen Sinnen, präzis und diszipliniert. Ein Ding richtig können, ist mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Was Goethe sinngemäss sagte, lebte unser Lehrer und verlangte es. Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv und genau! – Non multa, sed multum!, heisst es beim römischen Denker Plinius. Jeden Aufsatz hat er sauber korrigiert und mit jedem einzelnen persönlich besprochen. In zwei Jahren schrieben wir über 20 Aufsätze. Das bedeutete für ihn die Korrektur von rund tausend Texten.

Intelligenzen für die Zukunft

Es war eine harte und patriarchalische Schule, fordernd und anspruchsvoll, bemüht um elementares Basiswissen – eine Bildung, die sich ganz unflexibel einer Sache und ursprünglicher Erfahrung hingab. Welcher Wandel der Modelle, der Themen und Stile im Vergleich zu heute. Und doch: Unser Fünft- und Sechstklasslehrer verkörperte und verlangte etwas von dem, was der amerikanische Erziehungswissenschaftler Howard Gardner als Intelligenzen für das 21. Jahrhundert formuliert: diszipliniertes und kreatives Arbeiten und Denken.

Es war eine männliche Schule – und dennoch vorwärtsorientiert, obwohl die Zukunft gemäss der deutschen Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich schon damals weiblich war.

 

*  Der Verfasser beschreibt, was er erlebt hat – ohne jeden Transfergedanken auf die heutige Zeit. Es ist keine Laudatio temporis acti.

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Alle reden von Jeremy*, niemand von Delia*, Fatima* oder Angelika* https://condorcet.ch/2023/02/alle-reden-von-jeremy-niemand-von-delia-fatima-oder-angelika/ https://condorcet.ch/2023/02/alle-reden-von-jeremy-niemand-von-delia-fatima-oder-angelika/#respond Tue, 28 Feb 2023 06:08:40 +0000 https://condorcet.ch/?p=13311

In der Integrationsdebatte wird häufig über Schüler gesprochen, die den Unterricht permanent stören. Dabei geraten andere Schülerinnen und Schüler aus dem Blickfeld, deren Bedüfnisse man oft negiert. Alain Pichard zeigt uns eindrückliche Beispiele aus seinem Schulalltag und plädiert für mehr Pragmatismus.

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Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Separiert wird auch in inkludierten Modellen.

Ich habe den Fall von Delia bereits in einem früheren Beitrag erwähnt. (https://condorcet.ch/2022/03/integration-und-heilpaedagogik-der-markt-gibt-das-gar-nicht-her/) Hier sei der Fall noch einmal zusammengefasst: Delia* wurde mir im Mathematikunterricht zugeteilt. Ich unterrichtete eine 7. Klasse im Realniveau und Delia war ein sogenanntes «Pool1-Kind». Weil die früheren «Kleinklassen» auch in unserer Gemeinde zugunsten eines inkludierten Systems abgeschafft worden waren, sass sie nun in einer 7. Klasse der Sekundarstufe 1 und war im Fach Mathematik dem Realniveau zugeteilt. Das hiess, dass man Delia nicht mit den in dieser Stufe üblichen Aufgaben unterweisen konnte, sondern für sie spezielle und angepasste Lerninhalte vorbereiten musste. Überdies hatte sie Anrecht auf eine individuelle Förderung durch eine Heilpädagogin. Die gab es aber in unserem Schulhaus nicht, trotz mehrfacher Ausschreibung. Deshalb übernahm eine sogenannte Stützlehrerin (sie hatte ein Primarlehrerpatent) die vier Lektionen Sonderbetreuung im Mathematikunterricht. Allerdings musste sich dieselbe Lehrkraft auch noch um zwei weitere Schüler kümmern, die eine rILZ-Verfügung hatten (reduzierte Lernziele).

Zu Beginn der 7. Klasse startete ich mit dem Thema «Grössen», darin beinhaltet waren auch Umrechnungen. Also Zentimeter in Meter umwandeln und umgekehrt. Delia war auch von den einfachsten Aufgabenstellungen überfordert.

In der ersten Lektion nahm ich sie während einer Stillarbeit nach vorne, zeigte ihr den Wandtafelmassstab – genau einen Meter lang – ging mit ihr zur Türe, stellte den Massstab in den Türrahmen und fragte sie: «Was meinst du, wie viele Male passt dieser Massstab in die Höhe dieser Türe?»

Sie antwortete: «Etwa zehn Mal!» Ich zeigte ihr, dass der Massstab zweimal und ein bisschen drüber in diesen Türrahmen hineinging.

Delia brauchte eine physische Erfahrung.

Delia brauchte eine physische Erfahrung.

Was tun? Ich besprach mich mit der Stützlehrerin. Der heilpädagogische Werkzeugkasten bietet in diesen Fällen ein grosses Sortiment an didaktischen Massnahmen, welche das Verständnis fördern. Für Delia bedurfte es einer physischen Zahlenraumerfahrung. Wir organisierten ein 10 Meter langes Packpapier, rollten es im Gang aus und liessen Delia darauf Meter und Zentimeter mit Filzstift markieren. Das dauerte fast zwei Lektionen. Danach marschierten die Stützlehrerin und Delia den ganzen Packpapierweg Hand in Hand mehrfach ab. Langsam realisierte das Mädchen, das übrigens zwei Jahre älter war als im Jahrgang üblich, die räumliche Dimension von 10 Metern.

Unsere Schule entschied sich für einen pragmatischen Weg. Obwohl die Kleinklassen abgeschafft waren, gründete man schulhausintern eine sogenannte spezielle Lerngruppe, die im Büro der Stützlehrerin an ihren Programmen arbeitete. So blieben die Schüler mit Sonderbedarf in einigen Fächern integriert, nahmen an allen Schulanlässen teil und waren ein unbestrittener Teil des Schulalltags.

Fatima arbeitete stundenlang am Compi, ohne etwas zu tun.

Fatima ist anpassungsfähig

Aktuell unterrichte ich Fatima*. Sie ist stark lernbehindert. Sie besucht die 9. Klasse, versteht kaum einen Text, auch wenn er einfach geschrieben ist. Auch sie geniesst mit dem Sonderstatut eine Lernförderung von 6 Lektionen. Sie ist von ihrer Persönlichkeit her sehr verletzlich und wirkt beim Reden unsicher. Sie kann deshalb auch einfachste Botschaften oder Anliegen kaum klar kommunizieren. Irgendwie hat sie in ihrer Schulkarriere aber gelernt, nicht aufzufallen, den Schein einer fokussierten Arbeitsweise zu wahren, Anforderungen zu unterlaufen. Das weisst sie als eine durchaus lebenstüchtige und anpassungsfähige Frau aus. Es ist ganz selten, dass sie einmal etwas fragt. In Kleingruppen und einer Eins-zu-Eins-Betreuung lernt sie. Kürzlich haben wir eine ganze Woche der Berufswahl gewidmet. Bewerbungen schreiben, Lebensläufe formulieren, ein digitales Dossier erstellen, Adressen suchen. Für Fatima war klar, dass sie im Pflegebereich arbeiten will. Sie wurde in den ersten zwei Tagen von einer Lehrerin betreut, welche das ganze Dossier mit ihr erstellte und mehrere Adressen heraussuchte und zusammen mit ihr eine Bewerbung abschickte.

Schliesslich kam heraus, dass Fatima nur eine Bewerbung (diejenige, die sie mit ihrer Stützlehrerin machte) abgeschickt hatte. Sie hatte praktisch anderthalb Tage lang gar nichts zustande gebracht.

Daraufhin liess man Fatima alleine ihre Arbeit weitermachen. Sie war immer am Compi, wenn man bei ihr durchlief, waren Texte und Webseiten von Firmen zu sehen, keine Spur von Unkonzentriertheit. Dankbar, dass sie offensichtlich wusste, was zu tun war, konnten wir Lehrkräfte uns in der 24er-Klasse um viele andere Schülerinnen und Schüler kümmern, die ebenfalls eine starke Betreuung brauchten. Irgendwie geschah es dann, sie ging uns verloren im hektischen Alltagsstrudel, geprägt durch viele Hilfegesuche. Nach einer Woche fragte ich sie, ob sie eine Antwort erhalten hätte. Sie antwortete: «Noch nicht!». Weitere vier Tage später stiess ich nochmals nach. Sie verneinte wieder. Ich wollte daraufhin die Adressen erhalten, bei denen sie sich beworben hatte. Schliesslich kam heraus, dass Fatima nur eine Bewerbung (diejenige, die mit ihrer Stützlehrerin erstellt war) abgeschickt hatte. Sie hatte praktisch anderthalb Tage lang gar nichts zustande gebracht. Und es kam noch schlimmer. Eine Klassenkameradin fragte sie, ob sie schnell ihren Stick ausleihen könne. Sie nahm den Stick, scannte im Kopierraum ihre Zeugnisse und speicherte diese auf den Stick, um sie anschliessend auf ihren Laptop herunterzuladen. Die Zeugniskopien blieben auf dem Stick und Fatima lud die Zeugniskopien ihrer Klassenkameradin ebenfalls in ihr Bewerbungsdossier herunter. Weder die Stützlehrerin noch ich hatten dieses PDF-Fake erkannt. Es kam, wie es kommen musste. Fatima schickte in der Bewerbung versehentlich das – wesentlich bessere – Zeugnis ihrer Kollegin an die Personalverantwortliche. Diese meldete sich bei mir, weil sie von einem Betrug ausging. Natürlich konnte die ganze Sache mit einigem Aufwand bereinigt werden, aber die Stelle bekam Fatima nicht. Fatima wird die Schule in knapp sechs Monaten verlassen. Sie kann weder richtig lesen noch schreiben. Sie hat sich durchgeschlängelt und niemand hat es so richtig bemerkt. Denn Fatima ist eine liebe Schülerin und keineswegs dumm. Sie hat auch herzensgute Eltern, die nie auf der Matte stehen, zu allem nicken und wenig Deutsch versehen. Zu meiner Entlastung muss ich sagen, dass ich diese Klasse erst Mitte 8. Schuljahr übernommen habe.

Jeremy, der Unruheherd

Daneben unterrichten wir Jeremy, der ein ständiger Unruheherd ist, einer Lehrerin mitunter einmal auch «Bitch» austeilt, anregende Diskussionen verunmöglicht und mit anderen – sofern man sie nicht bremst oder unter Kontrolle hat – einen aktivierenden und vertiefenden Unterricht verunmöglicht. Bei allzu heftigen Reaktionen seitens der Lehrkraft, wie zum Beispiel den Rauswurf, steht am nächsten Tag der Vater vor dem Lehrerzimmer und verlangt ein Gespräch mit der Schulleitung. Ich pflege, wenn Jeremy und seine anderen Kumpanen anwesend sind, knallhart und strikt zu unterrichten. Wenn sie in einem Setting einzelbetreut sind, wird der Unterricht lockerer, vielfältiger und interessanter. Vor allem aber ist die Stimmung animierender. Und Jeremy ist zurzeit nicht der Einzige, der uns im Unterricht grosse Probleme verursacht.

Und zum Trost wird dann in Bildungsdiskussionen der unerträgliche Satz hinterhergeschoben: «Weisst du, die Angelika wird ihren Weg ja eh machen. Die ist intelligent und von zu Hause aus so gut umsorgt.»

Angelika resigniert

Und da wäre ja noch eine Angelika, eine brillante Schülerin, die Zusammenhänge schnell erkennt, Freude am Lernen hätte, wenn dieser Lernprozess nicht immer gestört würde. Angelika liebt Diskussionen. Zurzeit behandeln wir den Holocaust. Eine Klassendiskussion über die Pfeiler des Faschismus wurde durch einen Wurf eines Papierknäuels unterbrochen. Eine scharfe Reaktion meineseits unterband zwar die Störung, aber die Miene von Angelika verriet es. Sie resignierte, die Stimmung, in der spannende Gespräche gedeihen, war dahin. Für einen Teil der Schülerinnen und Schüler sind diese Art Diskussionen wie verklausulierte Botschaften aus einer anderen Welt. Sie verstehen Gehalt und Komplexität nicht. Sie beginnen sich zu nerven, weil sie sich ausgeschlossen fühlen oder sich schlicht langweilen. Kurz darauf setzen die Unterrichtsstörungen ein, damit sich die Aufmerksamkeit wieder auf die «Richtigen» konzentriert. Und zum Trost wird dann in Bildungsdiskussionen der unerträgliche Satz hinterhergeschoben: «Weisst du, Angelika wird ihren Weg ja eh machen. Die ist intelligent und von zu Hause aus so gut umsorgt.»

Dabei verkennt man, wie sich der Unterricht in vielen Lernumgebungen langsam wieder in Richtung «autoritäre, lehrerzentrierte Methodik» entwickelt, etwas, was gerade in Kreisen der Befürworter einer weitgehenden Inklusion immer wieder abgelehnt wird.

 

Eine völlig ideologisierte Debatte mit viel Wunschprosa.

Was zeigen uns diese vier Beispiele?

Die Kinder sollten in der Schule etwas lernen. Und effizient lernen können sie nur im Unterricht. Wenn dieser ständig gestört und verunmöglicht wird, sinkt der Lerneffekt. Darin sind sich alle einig, die Praktiker, die Bildungsforscher, die PH-Integrationsexpertinnen, die Eltern. Wenn letztere, also die Eltern, realisieren, dass ihre Kinder in der Schule zu wenig oder kaum etwas lernen, werden sie nervös. Deshalb erfährt auch die Initiative der Basler Lehrkräfte zu einer Einführung von Förderklassen viel Zuspruch. Die Zustimmung zu diesem Volksbegehren ist deshalb – trotz energischen Widerstands der Bildungsnomenklatura – sehr wahrscheinlich.

Separierende Angebote gibt es auch für die Delias und Fatimas, und zwar mehr als man denkt. Auch in Schulgegenden, die sich gegen aussen als inklusiv erklären.

Aber in dieser notwendigen Debatte spricht man nur über die Jeremys und nicht über die Delias, Fatimas oder Angelikas. Und auf Seiten der Integrationsexpertinnen blendet man dabei gerne die Tatsache aus, dass es bereits Sondersettings für Schüler wie Jeremy gibt. Sie heissen «Aquarium», «Startup», «Neustart». Das sind extrem teure Schulorte, weit entfernt von der eigentlichen Schule, in die man diese «schwierigen» Schüler für eine gewisse Zeit absondert. Die Zahl dieser «Inseln» ist kaum bekannt. Vor allem die Integrationsbefürworterinnen sind wenig daran interessiert, diese zu ermitteln, da es sich um separierende Massnahmen handelt. Und die Kosten kennen vor allem die Finanzabteilungen der Gemeinden.

Integration ohne Bildungseffekt

Separierende Angebote gibt es auch für die Delias und Fatimas, und zwar mehr als man denkt. Auch in Schulgegenden, die sich gegen aussen als inklusiv erklären. Die Stützlektionen werden zusammengelegt, damit eine Beschulung in sogenannten Kleingruppen möglich ist. Diese Art pragmatischer Integration ergäbe vielleicht auch eine Basis für künftige Kompromissvorschläge in der völlig ideologisierten Debatte. Denn auch Fatima und Delia benötigen sehr oft eine enge Lernbegleitung, nicht nur in den sogenannten «Selektionsfächern». Es sei denn, man betreibt eine vermeintlich soziale Integration ohne Bildungseffekt, was letztendlich diesen Kindern einen Bärendienst erweist.

*Namen geändert

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Bericht aus dem Klassenzimmer: Manche Schüler sind regelrecht verwildert. https://condorcet.ch/2022/10/bericht-aus-dem-klassenzimmer-manche-schueler-sind-regelrecht-verwildert/ https://condorcet.ch/2022/10/bericht-aus-dem-klassenzimmer-manche-schueler-sind-regelrecht-verwildert/#comments Mon, 31 Oct 2022 17:27:52 +0000 https://condorcet.ch/?p=12207

Der Gymnasiallhrer Sandro Trunz wurde bereits im Condorcet-Blog von seinem Kollegen Alain Pichard interviewt. Nun hat er in der Sonntagszeitung nachgedoppelt. In einem Gespräch mit der Journalistin Nadja Pastega redet er Klartext.

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Nadja Pastega, studierte Germanistin und Historikerin, arbeitet für den Nachrichten- und Hintergrundbund «Fokus» der SonntagsZeitung.

 «Ich bin Gymnasiallehrer und unterrichte derzeit an einer Sekundarschule in Biel. Als ich hier anfing, bin ich auf die Welt gekommen. Es herrschten irgendwie chaotische Zustände. Meine Klasse hatte in den letzten zwei Jahren mehr als sechs Lehrerwechsel erlebt. Manche Schüler sind regelrecht verwildert. Von Kolleginnen und Kollegen höre ich, dass es derzeit unüblich viele Problemfälle gibt – eine Folge des Lehrermangels und des Corona-bedingten Ausfalls von Lektionen.

Auf offene Stellen gibt es viel zu wenige bis gar keine Bewerbungen, schulfremde Leute rutschen rein, die den Job als Lückenbüsser machen und denen zum Teil die nötigen Qualifikationen fehlen. Zum Teil werden im Französischunterricht nur Lieder abgespielt, weil die Lehrpersonen die Sprache nicht beherrschen.

Es geht vorerst darum, Ruhe in den Betrieb zu bringen.

Das Frappierendste ist für mich diese grundsätzliche schülerische Lethargie und absolute Unfähigkeit, zu lernen oder einfach mal ruhig dazusitzen. Etwa ein Viertel der Schüler stört, vor allem die Jungs. Zu Beginn musste ich einen nach dem anderen vor die Tür schicken. Als ich dann nach einigen Minuten mit ihnen reden ging, sassen diese Störenfriede weinend im Flur.

In meiner 3. Sekundarschulklasse gibt es 23 Schülerinnen und Schüler. Ich unterrichte sie seit Anfang Jahr. Etwa 80 Prozent haben Migrationshintergrund, viele kommen aus unterprivilegierten Schichten. Die Lehrer machen einen Superjob, und es gibt auch wunderbare Schüler. Aber als ich vor der Klasse stand, habe ich gemerkt: Hier herrscht kein Klima, in dem in irgendeiner Form gearbeitet werden kann. Es geht vorerst darum, Ruhe in den Betrieb zu bringen.

Viele Schülerinnen und Schüler sind unkonzentriert, unruhig, desorganisiert. In der kleinsten Pause – selbst auf einem Skiausflug auf der Piste, wenn man mal eine Minute warten muss – haben sie wieder das Handy in der Hand. Sie gamen und zocken und posten. Die Pandemie hat das sicher gefördert, weil sie viel allein waren.

Es ist krass, wenn in einem Klassenzimmer niemand etwas machen will und eine totale Anschisskultur herrscht. Ein Schüler startete mal in meinem Französischunterricht aus eigenem Antrieb eine Umfrage: Wen das hier eigentlich interessiere, solle aufstrecken. Niemand hob die Hand. Logisch, niemand wollte sich blamieren. Einen Moment lang, als ich da vor 23 Nasen stand, wusste ich nicht weiter und dachte: Das ist jetzt wirklich der Todesstoss. Ich habe dann die Schulleitung geholt – zum ersten Mal in meiner Karriere.

Jemand sagte mal, wir Lehrer seien gut bezahlte Bürolisten, weil wir inzwischen einen riesigen administrativen Aufwand betreiben müssen: Lern- und Kompetenzdossiers erstellen, Berichte schreiben, ständig in Kontakt mit Behörden sein. Hinzu kommen hohe Anforderungen, schwierige Situationen im Klassenzimmer und dann noch die Pandemie – das hat vielen den Rest gegeben.

Mich nerven diese schöngeistigen Unterrichtskonzepte und pädagogischen Wunder-Theorien, die an den pädagogischen Hochschulen gelehrt werden. Sie haben wenig mit der Realität zu tun. Diesen Leuten in den warmen Studierstuben sollte man mal ein Jahr Pflichtpensum an dieser Schule verschreiben.

«Selbstorganisiertes Lernen». Tönt super, funktioniert aber oft nicht.

Das beste Beispiel ist das «selbstorganisierte Lernen». Tönt super, funktioniert aber oft nicht. In jeder Klasse gibt es ein paar Selbstläufer, die man mit einem Buch in die Ecke schicken kann und, siehe da: Sie lernen Englisch. Aber bei allen anderen muss man sich mit jedem einzelnen Schüler hinsetzen, sonst läuft gar nichts.

Mir geht es nicht nur um fachliche Kompetenzen. Ich möchte meinen Schülern auch anderes beibringen, was im Berufs- und Alltagsleben zählt: Pünktlichkeit, Haltung, Ordnung. Ich habe mal für zwei Wochen das Tragen von Trainerhosen verboten, weil es mir schlicht zu viel wurde und ich festgestellt habe, dass für einzelne die Schule die Verlängerung der Couch zu Hause darstellt. Es gibt keinen Übergang vom Chillen. Das ist ja die Hauptbeschäftigung dieser Generation. Wer trotzdem im Trainer kam, musste joggen gehen – mit der App eines Sportartikelherstellers.

Kleidung fällt zwar in die Verantwortung der Eltern, aber wenn es von zu Hause aus nicht gesteuert wird, sollte man eingreifen. Sonst bekommen es gewisse Jugendliche hin und latschen im Trainer und in Adiletten zum Vorstellungsgespräch.

Was mich bedrückt: Das schulische Niveau ist bei manchen Schülerinnen und Schülern erschreckend tief.

Oder nehmen wir Pünktlichkeit. Es gibt Jungs, die zu spät in den Unterricht kommen und sich nicht mal beeilen – die Kopfhörer mit Musik in den Ohren – und die sich dann am Pult schräg in den Stuhl fläzen. Das ist zum Teil wirklich eine Parodie, wo du denkst: Willst du mich veralbern?

Ein anderes Mal kam ein Schüler, der nicht zu meiner Klasse gehört, mitten in meiner Lektion wortlos rein, ging zum Brünneli und trank Wasser vom Hahn. Was er denn da mache, wollte ich wissen. Das Wasser schmecke hier besser, erklärte er. Einige Kolleginnen und Kollegen sind dazu übergegangen, dem Geläuf nach Lektionsbeginn Einhalt zu gebieten, dann darf keiner mehr das Schulzimmer betreten. Der Unterricht verträgt keine ständigen Störungen.

Was mich bedrückt: Das schulische Niveau ist bei manchen Schülerinnen und Schülern erschreckend tief. Sie kommen nach vier Jahren Frühfranzösisch in die Sekundarschule und können in einem Französischtext praktisch nichts vorlesen. Nicht mal qu’est-ce que c’est. Das wird wie Deutsch vorgelesen.

Auch der Stand im Deutschunterricht ist bei vielen Kindern ungenügend. Der hohe Migrationsanteil mag eine Erklärung sein. Aber das allein kann es nicht sein. Ich selber lasse auch Diktate schreiben. In der heutigen Pädagogik ist das völlig verpönt.

Ich hatte eigentlich vor, bloss ein halbes Jahr auszuhelfen, also nach den Sommerferien  wieder zu gehen. Zumal ich zehn Prozent weniger verdiene als ein Sekundarlehrer, weil ich das  Gymnasiallehrdiplom und damit die «falschen» Papiere habe. In Zeiten des Lehrermangels finde ich das grotesk. Aber einen weiteren Lehrerwechsel wollte ich meinen Schülerinnen und Schülern nicht zumuten. Ich bleibe noch ein Jahr – bis sie ihre Schulzeit beendet haben.»

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Nachrichten aus Realistan – ein Unterrichtsprotokoll einer Französisch-Doppellektion https://condorcet.ch/2022/09/nachrichten-aus-realistan-ein-unterrichtsprotokoll-einer-franzoesisch-doppellektion/ https://condorcet.ch/2022/09/nachrichten-aus-realistan-ein-unterrichtsprotokoll-einer-franzoesisch-doppellektion/#comments Wed, 07 Sep 2022 12:01:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=11460

Ein Lehrer berichtet über eine Französisch-Doppellektion in einer Schule der Agglomeration. Er will aus guten Gründen anonym sein. Auch die Namen der Schülerinnen und Schüler sind mit nur mit Buchstaben gekennzeichnet und damit anonymisiert. Beide Daten sind aber der Redaktion bekannt.

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Lehrer, anonym: Die Hälfte der Zeit geht wegen Unterrichtsstörungen verloren.

Ich plante für diese Doppellektion an einer 8. Klasse, für die ich als Stellvertreter eingesprungen bin: Rückgabe des Tests, die Korrektur desselbigen, Arbeit an einem Arbeitsblatt Prendre/Faire, Üben eines Dialogs «Midi» (Rollenspiel in Gruppen), Répétition «ça bouge» l’histoire du BD Questions Gespräch mit Klasse, Austeilen von 10 Seiten des BD Jo, stille Lektüre, anstreichen der nicht bekannten Wörter, Aufschreiben der nicht bekannten Wörter ins Heft, gemeinsames Übersetzen, Diskussion über das Gelesene, Fertigstellen des Arbeitsblatts «faire» «prendre». Das war eine ganze Menge Stoff und ich machte mir keine Illusionen darüber, dass ich wirklich alles behandeln könnte. Aber da es in der Klasse auch zweisprachige Schülerinnen hatte, plante ich jeweils über die Kante.

Das Protokoll

Es herrscht von Anfang an eine Unruhe, die ich kaum herunterbringen konnte. Die Schüler quatschen ständig und ungeniert mit den Pultnachbarn. Ich erkläre, dass ich keine Teste mehr akzeptiere, auf denen nichts steht. Ich lege die korrekten Antworten über den Visualizer auf die Leinwand. Auf die Tafel habe ich geschrieben.

Auftrag: Schreibt unter den ausgeteilten Test:

Corrections du test du 28.2.22

Und mündlich füge ich hinzu : Réécrivez toutes les phrases dans lesquelles vous avez fait une faute et soulignez les fautes avec une couleur.

Nur sehr wenige verstehen diesen Satz, weshalb ich ihn noch einmal auf Deutsch wiederholte: Diejenigen, welche eine 6 haben, machen sich direkt an das Arbeitsblatt faire/prendre.

Es wird ständig geschwatzt.
Bild: Heini Stucki

Es bricht ein kleineres Chaos aus. N., F., R. geben mir kurz darauf Korrekturen ab, die allesamt lausig und unvollständig gemacht wurden. Ich weise sie an, es jetzt richtig zu machen. Ich muss zwei Schüler, die den Unterricht stören, isolieren, was in dem kleinen Klassenzimmer mit 21 Schülerinnen und Schülern nicht so einfach ist.

Ich auf Deutsch: «Für das Arbeitsblatt faire/prendre muss man das in der vorderen Lektion ausgeteilte Regelblatt verwenden».

14 der anwesenden SchülerInnen geben an, das Arbeitsblatt nicht bekommen zu haben. Ich weise sie an, in ihrem Heft nachzuschauen, ob sie es haben. 4 Schüler müssen das Heft draussen suchen. F., C., S.  und D. schlagen das Heft vor mir auf und sehen die Blätter … sie sind nicht eingeklebt. «Ich habe keinen Leimstift!» Diesen Satz höre ich sicher zehnmal.

Als ich wieder hochkomme, bemerke ich, dass ein Schüler das Lösungsblatt von meinem Pult genommen und es unter den Visualizer gelegt hat. Die Klasse kann so das Arbeitsblatt einfach abschreiben.

Am Schluss muss ich doch noch 4 Blätter kopieren. Als ich wieder hochkomme, bemerke ich, dass ein Schüler das Lösungsblatt von meinem Pult genommen und es unter den Visualizer gelegt hat. Die Klasse hat so das Arbeitsblatt einfach abschreiben können.

Ich nehme es wieder herunter und spreche von einem Vertrauensbruch. Und sie seien ja da, um etwas zu lernen. Ich frage die Klasse, wer es denn gewesen sei. Niemand meldet sich und die Klasse schweigt. Ich antwortete, dass die Klasse sich einfach überlegen solle, wofür sie da seien.

Grosse Unruhe. Leimstifte fliegen herum. Ich fordere die entsprechenden Schüler auf, keine Gegenstände herumzuwerfen und weise sie an, einfach an dem Arbeitsblatt weiterzuarbeiten, bis der Leimstift kommt. F., D., Ch. und K. machen nichts, bis der Leimstift kommt.

A. sitzt an einem «2er-Pult mit K. und V. Weil er ständig schwatzt, versetze ich ihn an ein Einzelpult. Protest, aber er macht es. A. versteht sehr gut Französisch. Ich ermahne ihn, die Lösungen nicht immer hineinzurufen, sondern aufzustrecken. Umsonst, er kann es nicht.

Ich versuche nun, die Theatergruppen einzeln hinauszunehmen, und weise die anderen an, am Arbeitsblatt weiterzumachen.

Ich lasse zwei Gruppen die Szene spielen. Obwohl ich den Auftrag gegeben habe, den ersten Teil auswendig zu lernen, kann es nur D. Ich erkläre, dass sie diesen Text in zwei Wochen auswendig können müssen. Grosser Protest. Nach zwei Gruppen ist der Lärm im Klassenzimmer so gross, dass ich den Gruppenunterricht abbreche.

Neue Anweisung: Nehmt «ça bouge» hervor, S. 53. Ich will die Schüler erzählen lassen, was sie noch über «l’histoire du BD» wissen.

Ein geordnetes Klassengespräch ist nicht möglich. Ich versetze D. nach vorne … D. wird wütend, warum ich? Ich sage ihm, er hat jetzt genau 5 Sek. Zeit, den Platz zu wechseln … sonst kann er sich das von der Schulleitung erklären lassen. Er packt seine Sachen … F. zählt laut: 1,2,3 ….

Ich versetze auch ihn direkt vor mich ans Lehrerpult.

Ein Handy läutet, die halbe Klasse lacht laut auf. N. kann sich fast nicht auf dem Stuhl halten vor lauter Lachen.

Ich unterbreche den Unterricht und frage: Mal unter uns, nervt euch das nicht, dass wir hier kaum etwas lernen können, wenn ich immer unterbrechen muss, weil eine so grosse Unruhe herrscht?

V. sagt: Herr L., Sie haben ein schönes Hemd an.

A. und V. meinen, das sei bei ihnen normal. Ich lache, und antworte: Das glaube ich nicht und ich finde das überhaupt nicht normal.

V. sagt: Herr L., Sie haben ein schönes Hemd an.

Ich sage: V., das tut jetzt nichts zur Sache, konzentriere dich auf die Aufträge. Wir sind hier nicht an einem Kindergeburtstag.

Ich entschliesse mich, das «ça bouge» und die «l`histoire du BD» abzubrechen. Ich teile den Schülerinnen 10 kopierten Seiten des BD «Jo» von Déribe aus.

Auftrag: Lisez ce texte et marquez tous les mots que vous ne comprenez pas.

Es war gedacht, dass sie still lesen und arbeiten. Das ist kaum möglich, ständig wird das Gespräch mit dem Nachbarn gesucht. Als dann zwei Nacktbilder der beiden Protagonisten in den Bildern auftauchen, gibt es fast kein Halten mehr. Es wird gekichert, gelacht, man hört anzügliche Bemerkungen, auch gepfiffen wird.

Leimstifte werden herumgeworfen.

Jetzt werde ich das erste Mal laut. Ich stelle die Klasse vor ein Ultimatum. Entweder arbeiten wir jetzt an dem Text oder wir machen an den Grammatikübungen weiter. Zwei Mädchen regen sich jetzt ebenfalls auf und mahnen die anderen, endlich ruhig zu sein.

Zum ersten Mal herrscht jetzt Ruhe. Die Schülerinnen und Schüler lesen den Text und markieren. Ich mache Kontrollen und merke, dass der Text viel zu schwierig ist für über die Hälfte der Klasse. S. weiss nicht, was «mais» heisst.

Ich lasse sie den Text laut vorlesen … sofort wieder Unruhe. Ich versuche, die erste Seite, die sehr einfach ist, mit ihnen zu übersetzen. Es geht um das «Schluss-Machen».

Die Freundin von J. sagt, es sei nicht einfach, einem Knaben zu sagen, dass Schluss sei. Als alle das verstanden haben, frage ich: Y-a-t-il quelqu’un qui a déjà dit à un garçon ou une fille que c’est fini?

Über die Hälfte der Klasse versteht diese Frage nicht oder will sie nicht verstehen. Als ich sie übersetze, meint V., das sei privat. Ich antworte: Niemand muss antworten.

D. meint, wie oft haben Sie schon Schluss gemacht. Ich lache und sage, dass weiss ich nicht mehr, aber ich habe es nie gerne gemacht …

Wieder grosse Unruhe und kaum ein Gespräch.

K. arbeitet nur auf Anweisung. Er kommt kaum voran; wenn ich nicht ermahne, macht er nichts. Er schlägt auch das Buch nicht auf, obwohl ich es ihm auftrage.

K. stört den Unterricht, redet ständig mit seinen Nachbarn und gefällt sich in tollen Sprüchen, die er aber leise unterdrückt sagt, damit seine Nachbarn es hören, die Lehrkraft vorne nur bedingt.

Mitten während meiner Ansage gibt mir K. ein Klebeband, das ihm zugeworfen worden ist.

K. zu mir: «Können Sie das brauchen!»

Ich negiere und fahre fort. Er hält mir wieder das Klebeband entgegen. K.: «Hier, das ist für Sie»

Ich nehme ihm das Klebeband aus der Hand und lege es auf das benachbarte Pult.

Ich: «Konzentriere dich jetzt auf deine Aufgabe»

K. nimmt das Klebeband wieder und wirft es C. zu, der auch damit spielt … Unruhe.

Ich komme und nehme das Klebband und sage: «Mein Gott, braucht ihr hier eigentlich einen Papi, der euch sagt, wie ihr euch konzentrieren müsst.»

Grosses Gelächter. V., K. und C. rufen «Papi!»

Ich lächle und sage: Okay, beruhigt euch wieder. Sie hören zuerst auf. Da schreit K. plötzlich ganz laut «Papi!»

Ich fordere ihn auf, den Raum mit dem Lernmaterial zu verlassen und draussen vor der Türe zu arbeiten. Das tut er auch.

Es wird ruhig. Nach ca. 3 Minuten kommt K. wieder ins Zimmer und sagt, er habe den Stift vergessen. Ich nicke, er holt den Stift, nicht ohne Mätzchen …

Als er wieder hinausgeht, sagt er noch «Ciao Papi!»

Daraufhin weise ich die Klasse an, an dem Arbeitsblatt weiterzuarbeiten und gehe mit K. zur Schulleiterin in den Unterricht, so wie es mir von dieser aufgetragen wurde.

Sie nimmt K. in ihre Obhut. Wir haben noch 8 Minuten. Über die Hälfte der Unterrichtszeit ist durch Unterrichtsstörungen verloren gegangen.

Die Lernsituation ist für viele Schülerinnen dieser Lerngruppe sehr unerfreulich.

Als sehr schwierig erweisen sich: A. (nicht böse, aber stark verhaltensauffällig), C. (völlig abgelöscht), F. (abgehängt und provozierend), N. (ständig lachend), D. (extrem zappelig und unruhig), V. (bemüht, aber komplett überfordert), L. (arbeitet kaum und führt die Aufträge nicht aus), N. (bemüht, aber lässt sich von den anderen sofort anstecken). K. (ist offen frech). Ein knappes Viertel erreicht einigermassen die Anforderungen einer Realgruppe in der 8. Klasse. Der Rest ist kaum in der Lage ,Anweisungen auf Französisch zu verstehen.

Fazit:

Ich werde für die Führung dieser Klasse ein Teamteaching beantragen. Die SL kennt die Probleme und hat mir Unterstützung zugesagt. Eine Person für Teamteaching wird gesucht. Und ich kann mir die Bemerkung nicht verkneifen, dass ich mir wünschen würde, dass all die PH-Dozentinnen und Dozenten, die Bildungsfunktionäre und Bildungsforscher mal eine Woche lang in dieser Klasse unterrichten.

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Die Problemkinder der Generation Z https://condorcet.ch/2022/08/die-problemkinder-der-generation-z/ https://condorcet.ch/2022/08/die-problemkinder-der-generation-z/#respond Tue, 30 Aug 2022 22:46:18 +0000 https://condorcet.ch/?p=11302

Sind Schulkinder unkontrollierbar geworden? Weil es an aktuellen OECD-Studien zur Lage der Lehrer mangelt, hat die Brüssler Tageszeitung „Le Soir“ zehn Experten befragt: Nicht nur die Schüler seien schwieriger geworden. Eine entscheidende Rolle spielten die Eltern. Ein Bericht von Charlotte Hutin.

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Charlotte Hutin, Le Soir

„Unerträglich“, „egoistisch“, „gewalttätig“: Sobald die Rede auf Kinder und Jugendliche der Gegenwart kommt, fallen die Urteile oft harsch aus. Sie seien schwieriger als ihre Vorgänger, und das schade auch dem schulischen Klima. Aber entsprechen solche Befunde auch den Tatsachen, oder handelt es sich bei ihnen um die Vorurteile von „alten Säcken“? Objektiv lässt sich das nicht beantworten, weil es für den französischen Teil Belgiens zu wenige Daten gibt. Zwar fand im Mai 2022 eine erste Erhebung zum Klima in den Schulen statt, doch deren Ergebnisse wurden noch nicht ausgewertet.

Unter den teilnehmenden Ländern der TALIS-Studie liegt das belgische Schulsystem auf dem vorletzten Platz vor Frankreich.

Für objektive Befunde muss man sich deswegen auf die TALIS-Studie von 2018 beziehen, eine Erhebung in OECD-Ländern, für die Lehrer und Schüler der ersten Sekundarstufe befragt wurden. Eines ihrer Resultate: In der Französischen Gemeinschaft Belgiens ist es um die Disziplin in den Schulklassen schlechter bestellt als in den beiden anderen Landesteilen. Unter den teilnehmenden Ländern der TALIS-Studie liegt das belgische Schulsystem auf dem vorletzten Platz vor Frankreich.

Während sich in den OECD-Ländern die schulische Disziplin zwischen 2009 und 2018 verbessert hat, lässt sich diese Entwicklung im französischen Teil Belgiens nicht konstatieren: Mehr als anderswo berichten Schüler von Lärm und Unruhe in den Klassen. Dabei liegt die Anzahl der Schüler je Klasse weit unter dem Durchschnitt der OECD-Länder.

Ein zweiter, positiverer Befund der TALIS-Studie: In Belgiens französischsprachigen Regionen erleben Schüler seltener Mobbing als Gleichaltrige in anderen OECD-Ländern. Zwischen 2015 und 2018 wurde sogar ein leichter – wenn auch statistisch nicht signifikanter – Rückgang verzeichnet. Allerdings gibt es solche Vergleichsstudien noch nicht so lange, als dass man über langfristige Entwicklungen Bescheid wüsste. Deswegen bleibt einem nichts anderes übrig, als bei Lehrern und Experten nachzufragen.

Widersprüchliche Meinungen

Deren Meinungen gehen weit auseinander. „Ganz sicher erlauben sich Kinder heute mehr als früher, weil sie kein Nein mehr zu hören bekommen“, meint etwa Christine Toumpsin, Leiterin einer Grundschule. Sie erzählt beispielsweise von einem Schüler, der ein Küchenmesser auf den Pausenhof mitnahm, trotz der Aufforderung seiner Lehrerin, das bleibenzulassen. „Als sie ihn bestrafte, standen sofort die Eltern auf der Matte und beschwerten sich, weil wir es gewagt hatten, das Kind zu maßregeln. Heute geben die Eltern automatisch ihren Kindern recht. Sie akzeptieren es nicht, wenn Lehrer sie bestrafen – als ob uns das Spaß machen würde. Aber auch Kinder müssen lernen, Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen“.

Joseph Thonon ist Vorsitzender der CGSP Enseignement. Er unterrichtete rund zwanzig Jahre lang Physik.

Joseph Thonon, Präsident der Lehrergewerkschaft CGSP und zwanzig Jahre lang Physiklehrer: „Im Lauf meiner Lehrerkarriere sind Schüler immer schwieriger geworden. Wenn man unseren Mitgliedern Glauben schenkt, scheint mittlerweile eine gewisse Grenze überschritten.“

„Wenn man sich beispielsweise mit dem Thema Gewalt in der Schule befasst, stellt man fest, dass körperliche Gewalt und Jugendkriminalität abnehmen.“

Benoît Galand, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Louvain

Véronique de Thier ist politische Referentin bei Fapeo, der Elternvereinigung des offiziellen Bildungswesens.

Vivian Collard, Lehrerin für Sprachen an einer Sekundarschule in Louvain-la-Neuve, ist entschieden anderer Meinung. „Die Kinder von heute sind nicht schwieriger als die von vor zehn Jahren. Ich habe letztes Jahr eine Klassenreise betreut und dabei die Schüler als gemeinschaftsbewusst und überhaupt nicht als Egozentriker erlebt. Natürlich sind sie anders als früher. Sie interessieren sich beispielsweise häufiger für ethische und gesellschaftliche Probleme. Mich persönlich fasziniert das, aber manche Kollegen tun sich schwer damit.“

Die „Früher war alles besser“-Fraktion stößt auf entschiedene Gegnerschaft. „Dieses Gerede ist unerträglich“, sagt etwa Véronique de Thier von der Elternvereinigung Fapeo. „Die Jugendlichen von heute sind kreativer und fordernder. Sie sollten für uns Erwachsene eine Inspiration sein“. Und Benoît Galand, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Louvain, meint: „Wenn man sich beispielsweise mit dem Thema Gewalt in der Schule befasst, stellt man fest, dass körperliche Gewalt und Jugendkriminalität abnehmen.“

Eine Debatte, so alt wie die Welt

Über Problemjugendliche wird nicht erst in der Gegenwart diskutiert. „In manchen Familien wird das Kind zum Idol gemacht. Es wird angebetet und seinen kleinsten Taten applaudiert, als wäre es König“, konstatierte etwa der Pariser Grundschulinspektor Charles Charrier 1921 in einem Pädagogikhandbuch: „Manche Eltern geben dem Schüler immer recht und dem Lehrer immer unrecht. Sie ahnen nicht, welche schwere seelische Schäden sie ihren Kindern zufügen, indem sie all ihre Launen dulden.“

Jeder hat das Recht, sich auszudrücken und seine Meinung kundzutun. Auch Schüler haben eine viel höhere Kompetenz als früher, Meinungen zu hinterfragen und zu bestreiten.

Im Zentrum solcher Aussagen steht die Rolle von Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder. „Die Schule klagt seit jeher, dass sie bei ihren Bemühungen nicht genügend von den Familien unterstützt wird“, meint Marc Romainville, Professor für Pädagogik an der Universität Namur. „Was die Schüler betrifft: Wir leben nun mal in einem Zeitalter des ausgeprägten Individualismus. Jeder hat das Recht, sich auszudrücken und seine Meinung kundzutun. Auch Schüler haben eine viel höhere Kompetenz als früher, Meinungen zu hinterfragen und zu bestreiten. Für Lehrer macht es das anstrengender. Damit sind aber alle Berufe konfrontiert, die mit Menschen zu tun haben. Der Grund dafür sind die Veränderungen bei der Erziehung“.

Mit dem Aufkommen eines Erziehungsstils, der körperliche Züchtigungen zum Tabu erklärt hat und die Erkenntnisse der Kinderpsychologie beherzigt, hat sich elterliches Verhalten verändert. Die Bedürfnisse des Kindes werden stärker berücksichtigt, es wird als gleichberechtigt und vollwertig angesehen. „Diese wertschätzende Erziehung trifft auf ein Schulsystem, das immer noch sehr oft weder wohlwollend noch positiv ist“, sagt die Elternvertreterin Véronique de Thier. „Selbstverständlich haben Eltern das Recht, das System infrage stellen, wenn sie eine Strafe für pädagogisch falsch halten. Wenn von einem Schüler verlangt wird, denselben Satz zehn Seiten lang rauf und runter zu konjugieren, ist es nachvollziehbar, dass Eltern sich dagegen wehren.“

Marine Houssa, Psychologin und Spezialistin für den Umgang mit Impulsivität in Kindergarten- und Grundschule, hält viel von einer sanften Erziehung – aber auch von manchen Einschränkungen. „Manche Eltern picken sich nur die Aspekte heraus, die ihnen passen. Aber seinem Kind Nein zu sagen und ihm Grenzen zu setzen, bedeutet, ihm ein Geschenk zu machen. Es bedeutet, ihm eine solide, klare Grundlage mitzugeben. Es bedeutet, ihm beizubringen, andere zu respektieren – auch die Lehrer. Kinder brauchen nun einmal einen Rahmen, um sich sicher fühlen zu können.“

Zum Wandel des Erziehungsstils kommt ein veränderter Umgang mit gesellschaftlichen Institutionen und Autoritäten. „Das gilt für Politiker und Chefs, aber auch für die Lehrerschaft“, meint der Erziehungswissenschaftler Benoît Galand: „Wir sind von strikt hierarchischen Beziehungen zu gleichberechtigten Verhältnissen übergegangen, in denen Verhandlungen eine wichtige Rolle spielen. Deswegen kann auch Schule nicht mehr so funktionieren wie früher“.

Muss sich die Schule anpassen?

Im Laufe der Generationen hat sich also die Einstellung der Jugendlichen gegenüber der Institution Schule verändert. Muss sich deswegen die Schule an diese „neuen“ Schüler anpassen? Laut Bestimmungen über die Aufgaben der Pflichtschulbildung in Belgien soll diese „die Persönlichkeitsbildung jedes einzelnen Schülers fördern“ und „alle Schüler darauf vorbereiten, mündige Bürger zu werden, die zur Entwicklung einer demokratischen, solidarischen, pluralistischen und für andere Kulturen offenen Gesellschaft beitragen können“ – das verlangt logischerweise, dass die Schule sich den gesellschaftlichen Entwicklungen anpasst.

„Ich persönlich habe überhaupt nichts dagegen, in meinem Unterricht auch über gesellschaftliche Fragen zu diskutieren. Wenn die Schülerinnen und Schüler das Bedürfnis haben, bestimmte Themen anzusprechen, weil es bei ihnen zu Hause kompliziert ist, bin ich dafür offen“, sagt die Sprachlehrerin Vivian Collard. Was den pädagogischen Aspekt angeht, ist Jean-François Guillaume, Professor für Bildungssoziologie an der Universität Liège, davon überzeugt, dass Schüler Sinn erwarten. „Musterschüler tun alles, was man von ihnen verlangt, selbst wenn es keinen Sinn ergibt. Sie tun es einfach. Andere – und keineswegs die Minderheit – haben große Schwierigkeiten mit sinnlosem Lernen. Und davon wird auch das Klima in den Schulen beeinträchtigt.“

Es sind die Kinder der Mittelschichtsfamilien, die ausrasten

Andere Akteure äußern sich nuancierter. „Sobald es ein gesellschaftliches Problem gibt, wird von der Schule verlangt, dass sie sich darum kümmert – das war beim Dschihadismus und der Pandemie der Fall“, sagt Lehrergewerkschafter Joseph Thonon. „Aber muss sich die Schule wirklich die ganze Zeit an die Bedürfnisse der Gesellschaft anpassen? Ich bin mir da nicht so sicher.“

In der Klasse kann es schwierig sein, die richtige Balance zwischen Strenge und Permissivität zu finden. „Das Beharren auf Autorität funktioniert heute nicht mehr“

Schule soll Kompetenzen vermitteln. Doch was bedeutet das für ihre Aufgabe bei der Erziehung mündiger Bürger? Marie Jaspers, Lehrerin für Förderunterricht an der Sekundarstufe: „Ein Kind muss von seinen Eltern erzogen werden. Die Schule ist dazu da, ihm Wissen zu vermitteln, aber nicht, es zu erziehen. Ich finde es schade, dass heute von den Lehrern auch verlangt wird, die Erziehungsdefizite von Eltern zu beheben.“ Die Grundschuldirektorin Christine Toumpsin konstatiert eine Überforderung von Lehrern. „Derzeit müssen die Schulen die Erziehungsdefizite ausgleichen. Aber das ist schwierig, weil es zu wenige Erzieher gibt. In meiner haben wir einen einzigen für 650 Schüler.“

In der Klasse kann es schwierig sein, die richtige Balance zwischen Strenge und Permissivität zu finden. „Das Beharren auf Autorität funktioniert heute nicht mehr“, sagt der Bildungssoziologe Jean-François Guillaume. „Das bedeutet aber nicht, die Dinge einfach laufen lassen zu können. Eine Lehrkraft muss in der Lage sein, die Einhaltung von Normen anzumahnen und Vorfälle der Schulleitung zu melden.“

Erziehung ist Sache der Eltern.

Der Erziehungswissenschaftler Benoît Galand sagt: „Es ist wichtig einzugreifen, sobald es zu den kleinsten Formen von Aggression kommt. Nicht nur körperliche Gewalt, auch Spott und andere Mikro-Aggressionen wirken sich negativ auf das schulische Klima aus. Man muss schnell reagieren, ohne gleich zu Strafen zu greifen. Klassen, in denen es ständig um Wettbewerb, Vergleiche und das Hervorheben einzelner Schülerinnen und Schüler geht, sind am stärksten für Mobbing anfällig. Abgesehen von sehr schweren Fällen plädiere ich dafür, es immer mit dem Dialog zu versuchen.“ Nicht nur mit den Kindern, sondern auch mit den Eltern. „In anderen Bildungssystemen werden Eltern als Partner betrachtet, die ins Schulleben eingebunden sind. Unsere Tradition ist eher auf dem französischen Modell der Trennung von Familie und Schule aufgebaut.“

Ließe sich das Schulklima also durch ein entspannteres Verhältnis zwischen Eltern und Lehrern verbessern? „Die Familien könnten ein Teil der Antwort sein“, meint Benoît Galand. „Man muss sich dabei bloß über die Rollen im Klaren sein. Es ist völlig normal, dass es zwischen Eltern und Schulen zu Reibungen kommt. Gegenseitiger Respekt entsteht durch offenen Dialog. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, dass es an Ressourcen mangelt, sondern diese Ressourcen zu koordinieren. Die Herausforderung ist es, eine Partnerschaft rund um die Jugendlichen aufzubauen.“

 

Unsere Gesprächspartner:

Christine Toumpsin ist Direktorin des Institut Notre-Dame in Anderlecht (Grundschulen), außerdem Vorsitzende des Collège des directeurs des écoles fondamentales du libre (Kollegium der Direktoren der freien Grundschulen).

Joseph Thonon ist Vorsitzender der CGSP Enseignement. Er unterrichtete rund zwanzig Jahre lang Physik.

Vivian Collard unterrichtet Sprachen für Schüler der 5. und 6. Sekundarstufe am Lycée Martin V in Louvain-la-Neuve.

Véronique de Thier ist politische Referentin bei Fapeo, der Elternvereinigung des offiziellen Bildungswesens.

Benoît Galand ist Professor für Erziehungswissenschaften an der UC Louvain und spezialisiert auf Mobbing in der Schule und Verhaltensschwierigkeiten im Bildungsbereich.

Marc Romainville ist ordentlicher Professor an der U Namur und Leiter der Abteilung für Hochschulpädagogik.

Marine Houssa ist Doktorin der Psychologie und Forschungsbeauftragte an der UC Louvain. Sie ist Gründerin der ASBL Inemo, die sich auf den Umgang mit Emotionen und Impulsivität in Kindergarten- und Grundschulklassen spezialisiert hat.

Etienne Michel leitet das Generalsekretariat für das katholische Bildungswesen (Segec), das die Aufsicht über die Schulen des freien konfessionellen Sektors innehat.

Marie Jaspers ist Doktorin der mathematischen Wissenschaften und ehrenamtliche Arbeitsleiterin an der U Liège. Sie führt ehrenamtlich Fördermaßnahmen für Schüler der Sekundarstufe II in der Region Lüttich durch.

Jean-François Guillaume ist Professor für Bildungssoziologie an der U Liège. Er unterrichtet angehende Lehrer der Sekundarstufe II.

Dieser Artikel ist der WELT entnommen.

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Zitat der Woche: Die 3-D-Regel https://condorcet.ch/2021/12/zitat-der-woche-die-3-d-regel/ https://condorcet.ch/2021/12/zitat-der-woche-die-3-d-regel/#respond Sun, 19 Dec 2021 15:28:12 +0000 https://condorcet.ch/?p=10144

Die Aussage, die wir als so wertvoll erachten, dass wir sie als Zitat der Woche aufschalten, stammt aus den eigenen Reihen. Georg Geiger äusserte diesen Gedanken in einem Schreiben an die Redaktion des Condorcet-Blogs.

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In dieser Zeit, in der viel von der 3G-  oder 2G-Regel die Rede ist, plädiere ich für die hilfreiche 3D-Regel, die sich vor allem an ältere Menschen richtet:

Dankbarkeit, Demut und Disziplin

Georg Geiger, pens. Gymnasiallehrer, Basel-Stadt.

Sie hilft, den eigenen Zustand zu entdramatisieren, dankbar zu sein fürs Leben, bescheidener zu werden und ob der narzisstischen Kränkungen, die uns der Alltag beschert, nicht in Wut oder Verzweiflung zu geraten.

Georg Geiger

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