Digitalisierung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 23 Apr 2024 07:08:27 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Digitalisierung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Tue Gutes, rede laut darüber und profitiere davon https://condorcet.ch/2024/04/16542/ https://condorcet.ch/2024/04/16542/#respond Sun, 21 Apr 2024 09:43:51 +0000 https://condorcet.ch/?p=16542

In seinem traditionellen Sonntagseinspruch - wie immer hintersinnig und garstig - setzt sich Mathematikprofessor Wolfgang Kühnel aus Stuttgart mit den Versprechungen der Digitalisierungsprotagonisten auseinander und erkennt - was für eine Überraschung sehr viele Eigeninteressen und wenig Konkretes.

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Überall wird heute die Digitalisierung von allem und jedem gepriesen, auch im Bildungsbereich. Alle sollen daran glauben, dass das ein großer Fortschritt ist und dass allein die “Digitalität” uns im 21. Jahrhundert ankommen lässt, es ist vollmundig von “digitaler Transformation” die Rede usw. Wohlgemerkt, nicht im Hinblick auf industrielle Herstellungsverfahren oder die Raumfahrt, sondern in Bezug auf Kinder schon im Kindergarten,  in der Grundschule und später erst recht. Angeblich ist das die neue pädagogische Wunderwaffe und fördert spürbar die Chancengerechtigkeit und die optimale Schulentwicklung. Einerseits sollen die Kinder selbst mit digitalen Geräten hantieren, andererseits sollen mehr Daten digital verwaltet und ggfs. von den Schulen direkt an die höhere Schulverwaltung weitergeleitet werden. Die beurteilt damit dann die Qualität der Arbeit an dieser Schule.

Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Leere  Versprechungen

Wenn man allerdings wissen möchte, was nachweislich über den Nutzen der Digitalisierung in der Bildung bekannt ist, dann findet man kaum etwas. Unabhängige wissenschaftliche Studien, die die ganze Euphorie rechtfertigen, scheint es nicht zu geben. Mancher spricht schon von einem “digitalen Rausch”. Vor 5 Jahren bereits zitierte die Süddeutsche Zeitung

https://www.sueddeutsche.de/bildung/digitalisierung-schule-table-1.4275720

den Augsburger Pädagogik-Professor Klaus Zierer mit den Worten:

“Den Glauben, die digitale Technik werde das Lernen revolutionieren, müssen wir zurückweisen.”

Auch die Thesen von Hattie vermögen das nicht zu entkräften. Auch sonst entsteht nicht der Eindruck, diese Art von Digitalisierung sei ein Anliegen der Pädagogen, der Didaktiker oder anderer Wissenschaftler, die mit dem schulischen Lernen zu tun haben.

Gelegentlich wird auch von Schulpädagogen behauptet, mit mehr Digitalisierung (auch der Schulverwaltung) könne man mehr Chancengerechtigkeit und Bildungsgerechtigkeit herstellen, wer kann da widersprechen? Aber nachgewiesen ist das nicht.

Um so energischer aber ertönt der Ruf nach mehr Digitalisierung von denjenigen, die finanziell davon profitieren, der IT-Industrie, der Bildungsindustrie, der Medienindustrie und einer neu entstandenen EdTech-Industrie und auch jener Professoren, die sich hauptamtlich mit dieser Digitalisierung beschäftigen. Diese treten nun nicht etwa durch Presseerklärungen vom Typ “eine profitable IT-Industrie ist im Interesse des ganzen Volkes” hervor, sondern sie verstecken sich hinter angeblich “gemeinnützigen” Vereinen mit klangvollen Namen wie “Bündnis für Bildung”, “Forum Bildung Digitalisierung”, “Didacta Verband” und ähnlichem. Halbwegs ehrlich scheint nur noch die Bezeichnung “Daniel Jung Media GmbH” zu sein, die sich der neue Star der mathematischen Kurz-Videos (und Studien-Abbrecher) zugelegt hat.

Bertelmann-Stiftung Standort Berlin: Digitalisierung absolut alternativlos

Hier wollen wir mal etwas genauer verfolgen, mit welchen Methoden die Leute mit den wirtschaftlichen Interessen so vorgehen. Zum einen gibt es seit längerem angeblich wissenschaftliche Studien im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, die die Versorgung von Kitas und Schulen mit mehr digitalen Geräten als absolut alternativlos nachweisen. Sogar die wissenschaftliche Beratungskommission SWK der Deutschen Kultusministerkonferenz hat das vollkommen distanzlos in ihre Empfehlungen vom 19.9.2022 übernommen. Da wird gleich noch gefordert, das Kita-Personal müsse künftig mehr mit Elementarinformatik und den digitalen Geräten vertraut gemacht werden. Vielleicht bekommen wir noch den Kita-Bachelor mit 60 Leistungspunkten aus diesem Computer-nahen Bereich. Zum anderen fördern die Stiftungen, die den IT-Unternehmen nahestehen, die Weiterbildung der Lehrer genau in diesem Punkt. Bei der Bertelsmann-Stiftung sieht das dann so aus:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/in-vielfalt-besser-lernen/projektnachrichten/fortbildungen-fuer-lehrpersonen-wirksam-gestalten

Die digitale Transformation wird in einem Atemzug mit der Inklusion sowie den Ganztagsschulen genannt. Die Weiterbildung hat natürlich nur das Ziel, “positive Wirkungen auf unterrichtsbezogene Kompetenzen der Lehrkräfte und den Unterricht” zu erzielen. Die Unternehmen präsentieren sich dabei fast so wie eine Art von “Mutter Teresa mit anderen Mitteln”, nur auf das Wohl von Schule und Bildung ausgerichtet.

Die Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Dieter Schwarz Stiftung, die Dieter von Holtzbrinck Stiftung, die Heraeus-Stiftung, die Joachim Herz Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung, die Vodafone Stiftung und die Wübben Stiftung. Alles Stiftungen von Grossunternehmen, die direkt vom Verkauf digitaler Geräte oder dazu passender Software profitieren. Man kann ohne Übertreibung sagen: das Ziel dieser Tagung ist die Ankurbelung des Geschäfts.

Und dann gibt es noch Tagungen im großen Stil mit prominenten Gästen. Das “Forum Bildung Digitalisierung” veranstaltet jährlich solche, die nächste ist in der kommenden Woche. Nach außen möchte man ganz harmlos wirken als karitativer Verein der Zivilgesellschaft, der sich um die Chancengerechtigkeit in der Schule sorgt:

https://www.forumbd.de/blog/konferenz-bildung-digitalisierung-2024-setzt-impulse-zur-sicherstellung-von-chancengerechtigkeit/

Es geht um “IMPULSE zur SICHERSTELLUNG von CHANCENGERECHTIGKEIT”, so der

Titel.

Weiter unten auf dieser Seite steht dann, wer sich hinter dem Forum

verbirgt:

Die Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Dieter Schwarz Stiftung, die Dieter von Holtzbrinck Stiftung, die Heraeus-Stiftung, die Joachim Herz Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung, die Vodafone Stiftung und die Wübben Stiftung.

Alles Stiftungen bekannter Großunternehmen, großenteils von jener Industrie, die direkt vom Verkauf digitaler Geräte oder dazu passender Software profitiert. Man kann ohne Übertreibung sagen: das Ziel dieser Tagung ist die Ankurbelung des Geschäfts für die genannten Unternehmen.

Hier

https://www.forumbd.de/verein/

wird dann klar gesagt, dass der ganze Verein nur aus diesen Stiftungen besteht. Und es wird klar gesagt, was der Zweck ist, nämlich nicht Chancengerechtigkeit, sondern nur noch digitaler Wandel:

“Das Forum Bildung Digitalisierung setzt sich für systemische Veränderungen  und eine nachhaltige digitale Transformation im Bildungsbereich ein. Im Zentrum unserer Arbeit stehen die Potenziale digitaler Medien für die Schul- und Unterrichtsentwicklung. In Projekten, Publikationen und  Veranstaltungen identifizieren wir Gelingensbedingungen für den digitalen  Wandel an Schulen und navigieren durch die notwendigen Veränderungsprozesse.”

Und weiter unten:

“Der digitale Kulturwandel erfordert von allen Beteiligten im System Offenheit und ein anderes Mindset.”

So wird heute Lobbyistenarbeit formuliert, dieses “Forum” schreibt allen das richtige “Mindset” vor, das “Change Management” gegen Leute mit dem falschen “Mindset” ist gewiss auch nicht weit.

Andreas Schleicher, OECD, immer dabei

Speziell bei dieser Tagung schmückt man sich mit prominenten Rednern, die mehrheitlich von digitaler Bildung im einzelnen wohl kaum etwas wissen, aber ganz gewiss die Sache unterstützen, allein schon dadurch, dass sie mitmachen. Da finden sich dann prominente Politikerinnen (je eine von CDU, SPD, FDP), ein österreichischer Minister, die Soziologin Frau Allmendinger (Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung; sie diskutiert zum Auftakt mit Frau Esken über “Chancengerechtigkeit im Zeichen des Digital Divide”), Herr Maaz (Direktor des DIPF) und natürlich Herr Schleicher, der offenbar jedes Jahr dabei ist. Er betätigt sich mittlerweile als Top-Lobbyist für die Interessen der Digitalisierungs-Industrie und diskutiert kurz vor Schluss der Veranstaltung mit anderen über die “Vision eines zeitgemäßen Bildung”.

Was sagte doch Helmut Schmidt über Leute, die Visionen haben? Alle prominenten Redner bekommen bestimmt fürstliche Honorare, an Geld mangelt es in der Branche ja nicht.

Da kultiviert man also den alten Traum von der Nivellierung aller Ungleichheiten, aber das soll selbstverständlich gleichzeitig Gewinne in die Kassen der genannten Unternehmen spülen. Motto: “Tue Gutes, rede laut darüber und profitiere davon”.

Auch Herr Pant (Abteilungsleiter am IPN in Kiel) hält übrigens einen Vortrag mit “Bildungsgerechtigkeit” im Titel. Direkt nach dem Auftakt gibt es gleich zwei Veranstaltungen mit “Chancengerechtigkeit” im Titel und eine zu “KI in der Schule: Vom  Verstärker sozialer Ungleichheit zum Nivellierer”. Für die letztere sind gleich sechs Redner aufgeboten, darunter ein Professor Thomas Süße von der FH Bielefeld, Standort Gütersloh:

Studie der Vodafone Stiftung: Prof. Dr. Thomas Süße im Interview zur Integration von KI ins Bildungssystem und Lehrerkompetenzen

Er versteht was von KI-Systemen in Unternehmen, insbesondere Mensch-KI-Kollaboration, seine Expertise für schulische Fragen dürfte wohl eher gering sein. Aber das ist ja auch zweitrangig. Neckischerweise wird in diesem Interview auch die Frage nach der Vermeidung von Technostress (!!) gestellt und beantwortet. Dieses Wort sollte man sich vielleicht merken. Lehrer haben leicht den Technostress, wenn das digitale Whiteboard einfach nicht funktionieren will. Auf etlichen Tagungen habe ich schon Technostress für Vortragende und Verzögerungen erlebt, nur weil der Beamer nicht so wollte wie er sollte.

Da kultiviert man also den alten Traum von der Nivellierung aller Ungleichheiten, aber das soll selbstverständlich gleichzeitig Gewinne in die Kassen der genannten Unternehmen spülen. Motto: “Tue Gutes, rede laut darüber und profitiere davon”. Bei Wikipedia steht, dass der

Bertelsmann-Konzern während des 2. Weltkriegs erheblich davon profitierte, dass er im Auftrag der Regierung ein bestimmtes Buch herstellte, das allen deutschen Soldaten mitgegeben wurde.

Übrigens hatte man schon vor fast 20 Jahren angefangen, eine digitale Schulevaluation einzuführen. Im Land NRW war damals ein System “SEIS” zumindest ernsthaft im Gespräch, und das stammt von Bertelsmann:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GP_SEIS_macht_Schule.pdf

https://www.bildung.koeln.de/imperia/md/content/selbst_schule/seis/seis_info_workshop_12052006.pdf

Das gleich am Anfang des zweiten Links postulierte “gemeinsame Qualitätsverständnis” wird in dem ersten Link unter der Überschrift “Qualitätszyklus” so beschrieben:

“Grundlage für den Qualitätsentwicklungsprozess einer Schule ist ein gemeinsames Verständnis aller Beteiligten von guter Schule. Sechs zentrale Qualitätsbereiche, die ihnen zugeordneten Kriterien und ein vereinbarter Fragenkatalog sind das Ergebnis eines internationalen und nationalen Konsensbildungsprozesses. Mit diesen wichtigsten Bereichen schulischer Qualität lässt sich das Bild einer Schule darstellen, das ihrer Vielfalt und Komplexität gerecht wird.”

Da haben wir doch gleich den Haken bei der Sache:

Natürlich gibt es kein “gemeinsames Verständnis”, was “gute Schule” sein soll. Genau darin liegt ja das Hauptproblem. Der eine sieht das so, der andere anders, auch Lehrerverbände und Elternverbände diskutieren das kontrovers, politische Parteien auch. Man denke nur an den Streit über das G8- oder G9-Gymnasium mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen oder die Diskussion um die Leistungsorientierung bzw. deren allmähliche Abschaffung. Die einzige Möglichkeit wäre dann, dass Parteipolitiker gemeinsam mit Bertelsmann auch noch die Richtlinien vorgeben, was gute Schule sein soll, und das über die Schulleitungen durchsetzen. Der “internationale Konsensbildungsprozess” kann sich eigentlich nur auf die OECD beziehen, etwa den OECD Lernkompass 2030. Ein internationaler Konsens soll damit herbeigeredet werden.

Schulleiter Rudolph empfängt die Schülerinnen: An dieser Schule herrschen klare Regeln.

Ganz ähnliche Evaluationsverfahren sind jedenfalls in Berlin im Gebrauch, das führte zu dem Skandal um den Schulleiter Michael Rudolph, dessen Schule (eine im “Brennpunkt”) gute Leistungen zeigte, aber ohne die “richtige” Ideologie bei den Methoden. Vermutlich hätte da auch Bertelsmann abgewinkt, so wie der Herr Rudolph das machte, war das nicht der richtige digital gesteuerte “Qualitätsentwicklungsprozess”.

Mit dem Stichwort “Schulportrait” kann man übrigens Inspektionsberichte für jede Berliner Schule auf deren Homepage einsehen, das ist durchaus interessant. Bei einer Ganztagsschule (Heinrich-Böll-Schule) stand in einem Bericht z.B., dass viele Schüler den Ganztag nicht mögen und sich deshalb lieber absetzen. Und man erhebt unzählige Daten in farbigen Tabellen, deren Nutzen alles andere als klar ist. Eine Pflichtübung.

Da steht dann z.B.:

“Das Qualitätsprofil beinhaltet verpflichtende Qualitätsmerkmale (blau hinterlegt) und Wahlmodule. Hinter diesem Qualitätsprofil verbergen sich ca. 200 Indikatoren.” Diese “Datensammelwut” wird zu einer Wissenschaft, an der FU Berlin gibt es schon eine Professur für Schulevaluation. Wer sich das antun möchte, kann der eingangs genannten Tagung am 24.4.

und 25.4.2024 elektronisch folgen (mit “Live-Chat”), jedenfalls auf der sog. “Hauptbühne”, wo auch Herr Schleicher auftreten wird.

Dass all die Qualitätsentwicklungsprozesse bislang noch nicht zu einer Verbesserung schulischer Leistungen geführt haben (weder nach dem Kriterium der standardisierten Tests noch nach dem der “kleinen Empirie” der glaubwürdigen Berichte zuverlässiger Leute), bleibt ein unauflösbarer Widerspruch. Kulturpessimisten sehen uns schon auf einem Weg immer tiefer hinein in die Sackgasse. Die Optimisten müssten uns einen Ausweg aufzeigen. aber ob es den noch gibt?

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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Nein zu Digitalisierung: Schule macht Schnitt https://condorcet.ch/2024/04/nein-zu-digitalisierung-schule-macht-schnitt/ https://condorcet.ch/2024/04/nein-zu-digitalisierung-schule-macht-schnitt/#respond Fri, 05 Apr 2024 04:13:21 +0000 https://condorcet.ch/?p=16388

Skandinavien gilt als Vorbild für digitalisierten Unterricht. Eine Schule in Dänemark verzichtet nun weitgehend auf Computer und Smartphones. "Es war zu viel", sagen sie. Wir bringen einen Beitrag von Winnie Heescher, der im ZDF Heute erschienen ist.

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Gastautorin Winnie Heescher

Vor dem Zimmer der beiden Schuldirektorinnen stapeln sich in den Regalen neben Puzzeln und Spielen Plastikkisten – bis an den Rand gefüllt mit Smartphones. Auf jeder Kiste ist die jeweilige Klasse vermerkt. Morgens vor Schulbeginn geben die Kinder und Jugendlichen die Geräte ab, nach dem Unterricht dürfen sie sie wieder abholen. Was im vergangenen Jahr zwei Wochen als Experiment begann, ist an der Marienschule im dänischen Tondern mittlerweile Alltag.

Mein Sohn dachte, er würde sterben, als ihm gesagt wurde, er solle das Telefon abgeben. Er lebt noch, kann ich sagen.

          Ulrik Krogsnaes, Vater und Schulstandsvorsitzender

 

Krogsnaes hat die Entscheidung mitgetragen, als die beiden Schulleiterinnen der Volksschule den Eltern im vergangenen Jahr den Vorschlag machten, auf Smartphones zu verzichten.

Bildschirme dominierten den Unterricht

Und nicht nur das: Sie wollten zwei Wochen ein Experiment machen: Unterricht ohne Tablet und Computer. Ausgerechnet in Dänemark, dem Land, das früh und flächendeckend begonnen hat, seine Schulen zu digitalisieren. 

Vor etwa zwei Jahren haben wir begonnen, uns dafür zu interessieren, was die Digitalisierung eigentlich mit den Schülern macht, wenn sie hauptsächlich an Bildschirmen unterrichtet werden.

         Sarah Røll, Schulleiterin

 

Die Leistungen waren laut PISA-Studien in den vergangenen Jahren schlechter geworden. Nur in einer Disziplin sind dänische Kinder und Jugendliche Spitzenreiter: In keinem anderen Land der Welt sitzen sie so viele Stunden vor dem Computer wie in Dänemark. Mit konkreten Auswirkungen: Lehrerinnen und Lehrer berichteten, dass der Computer im Klassenraum dominiere, alle würden nur runter auf die Bildschirme gucken, niemand würde mehr den anderen anschauen. Auch nahmen sie Konzentrationsmängel wahr. “Es war zu viel”, sagt Sarah Røll.

Weniger digitale Medien, mehr Konzentration

Also probierten sie es dort, wo es ging, ohne Computer. Beispiel Sozialkunde: Lehrerin Nicki Christensen nimmt ihre siebte Klasse mit in einen Nebenraum, und lässt sie einander gegenüberstehend Fragen beantworten. Für jede ist eine Minute Zeit: Was ist eine Aktie? Was bringen Steuererhöhungen? Was muss man beim Hauskauf beachten? Früher hätten alle dazu den Computer rausgeholt und die Antworten eingetippt. Jetzt gucken sich alle an.

Die Lehrerin sieht schon nach wenigen Monaten Veränderungen: “Sie reden besser miteinander, bilden eine bessere Gemeinschaft.” Die Schüler würden vielseitiger, konzentrierter. Auch durch das Schreiben von Hand lernten sie besser.

Es ist so, als ginge das Schreiben von Hand durch einen anderen Teil des Gehirns.

Niki Christensen, Lehrerin

 

Sie beobachtet: “Wenn sie am Computer schreiben, neigen sie eher dazu, das gerade Aufgeschriebene zu vergessen, weil alles so schnell geht.”

Einsatz von Computern dort, wo es Sinn macht

Digitalisierung ist wichtig, auch an Schulen. Aber die Erfahrungen in Tondern zeigen, wie entscheidend der passende Einsatz von digitalen Angeboten ist. “Es ist ja klar, dass man einige Dinge am Computer lernen muss, Excel zum Beispiel oder Word”, sagt die Schulleiterin, “wenn man es nicht auf andere Weise lernen kann, darf man gerne den Computer benutzen.” Wenn man auf dem Schulhof und in den Klassen fragt, wie die Kinder und Jugendlichen Schule ohne Smartphone und Computer finden, hört man meistens: “Das ist ok”.

Doof sei es nur, dass man manche Augenblicke nicht mehr per Handy festhalten könne. “Die Erinnerungen müssen wir nun im Kopf behalten”, sagt die 15-jährige Isabella Stenfeldt. Von der Marienschule im dänischen Tondern ist es ein Katzensprung bis nach Schleswig-Holstein. Die Schule sendet eine Botschaft über die Grenze: Lernt aus unseren Fehlern, wir haben es mit der Digitalisierung übertrieben.

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Reformen gewollt – Bildung verschlechtert – wie prognostiziert https://condorcet.ch/2024/03/reformen-gewollt-bildung-verschlechtert-wie-prognostiziert/ https://condorcet.ch/2024/03/reformen-gewollt-bildung-verschlechtert-wie-prognostiziert/#comments Sat, 09 Mar 2024 08:33:45 +0000 https://condorcet.ch/?p=16098

Die ehemalige Berner SVP- Grossrätin Sabina Geissbühler war schon immer eine Gegnerin der neuzeitlichen Reformagenda und bekämpfte u. a. den Lehrplan 21, das Frühfranzösisch und die Umsetzung des Integrationsartikels. In diesem Beitrag sieht die Praktikerin sich noch einmal bestätigt, was ihre Prognosen betrifft.

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Seit dem 1. Januar 2008 erfolgte die Umsetzung von Art. 17 des Volksschulgesetzes, das heisst, die Anzahl besonderer Klassen wurden stark reduziert. Dafür wurde der Spezialunterricht wie Integrative Förderung, Logopädie, Legasthenie, Dyskalkulie, Deutsch für Fremdsprachige und Psychomotorik massiv ausgebaut. Von diesem Förderunterricht sind in einigen Klassen bis die Hälfte aller Schüler/-innen betroffen.

Gastautorin Sabina Geissbühler

Dieser Spezialunterricht findet oft innerhalb der Klasse statt.  Heilpädagoginnen, Klassenhilfen, usw. betreuen während dem Regelklassenunterricht Kinder mit Defiziten, indem sie Erklärungen und Anweisungen geben, was sehr störend sein kann. Diese Unruhe führt ab und zu sogar dazu, dass Schüler/-innen mit Gehörschutz ausgerüstet werden müssen. Der Förderunterricht in Kleingruppen findet während der ordentlichen Unterrichtszeit ausserhalb des Klassenzimmers statt. Auch diese Massnahme führt zu Hektik und Unruhe, denn daraus resultiert ein stetiges Kommen und Gehen.

Die Konzentrationsfähigkeit der Kinder wird durch die Unruhe überstrapaziert, und gute Schulleistungen sind in einem solchen Umfeld schwierig zu erbringen. Da der Spezialunterricht ausserhalb des Klassenzimmers stattfindet, verpassen Kinder den Unterrichtsstoff der Regelklasse.

Auch darf es nicht sein, dass bald bei der Hälfte der Schulkinder ein Defizit diagnostiziert wird. Jedes Kind, das einen Spezialunterricht besuchen muss, ist stigmatisiert. Nicht nur die Kinder sind in einem solchen Schulklima überfordert, sondern auch manche Lehrperson. Ihre Lehrtätigkeit wird durch Koordination und Absprachen belastet. Die individuellen Arbeitspläne der Kinder und die heterogenen Klassen verlangen nach individueller Förderung, welche die Lehrperson nur ungenügend erfüllen können.

Ebenfalls belastend für die Lehrpersonen und die Kinder sind Mehrjahrgangsklassen. Insbesondere überfordert sind die Erstklässler beim selbständigen Arbeiten währenddem die Zweit- und Drittklässler am mündlichen Unterricht teilnehmen.

Zum Frühsprachenlernen

Bedenken von Sprachforschern und Lehrpersonen wurden ignoriert, und das Frühsprachenlernen wurde ohne Versuchsphase eingeführt. Dies obschon fremdsprachigen Drittklässler/innen die Standardsprache bereits grosse Probleme bereitet.

Von den Lehrpersonen wird fürs Frühfranzösisch eine anspruchsvolle Weiterbildung verlangt, und für die neue Dotation an Lektionen muss (im Kanton Bern) mit jährlich wiederkehrenden Kosten von 14 Millionen CHF gerechnet werden. Auch diese Reform wurde durchgesetzt, obschon unzählige Studien zum frühkindlichen Lernen immer zum gleichen Schluss kommen, nämlich: dass es möglich ist, Fertigkeiten in verschiedensten Bereichen früh zu erwerben, dass aber bei späterem Beginn dieser “Vorsprung” wieder eingeholt wird. Dass das Lernen einer Sprache über das Ohr, wie es bei einem Aufenthalt in einem anders sprachigen Land stattfindet, mit zwei/drei Lektionen pro Woche nicht möglich, und das teure Lehrmittel “Milles feuilles” unbrauchbar ist, war von Anfang an klar. Von einem “Sprachbad” zu reden, ist absurd, muss doch ein Kind ungefähr 40% seiner Wachzeit mit einer Fremdsprache konfrontiert sein, damit sein Gehirn diese speichern kann.

Die Sprachforscherin Simone Pfenninger, welche die Sprachkompetenzen der Frühenglisch- mit Spätenglischlernenden verglichen hat, kam zu folgendem Fazit:

  • Spätlernende sind motivierter und holen den Vorsprung der Frühlernenden in kurzer Zeit auf.
  • Wegen den Defiziten der Frühlernenden in der deutschen Sprache fällt den Kindern das Fremdsprachenlernen schwerer
  • Eine gefestigte Sprachbasis ist positiv für den Fremdsprachenerwerb,

Unsere Mittelstufenschulkinder sind mit einem übervollen Stundenplan belastet. Insbesondere Kindern mit Migrationshintergrund (ca. 30%) sind oft überfordert, denn sie müssen neben ihrer Heimatsprache, die Mundart, dann die Standartsprache und im dritten Schuljahr bereits die französische oder englische Sprache erlernen.

Einschulung von Vierjährigen

Dem Bildungsziel der linken Politik: Jedem das Gleiche, anstatt jedem das Seine konnte mit der Früheinschulung näher gerückt werden. Die Behauptung, eine obligatorische Früheinschulung führe zu besseren Leistungen, konnte jedoch widerlegt werden: Die Kinder, die bei der Pisa-Studie am besten abgeschnitten haben, stammen aus dem Kanton Freiburg, wo nur gerade 19% einen zweijährigen Kindergarten besuchten. Die Kinder des Kantons Tessin hingegen gehen alle zwei bis drei Jahre lang in den Kindergarten und schlossen die Pisa-Tests mit den schlechtesten Ergebnissen ab.

Mit der obligatorischen Einschulung von Vierjährigen wurde die in diesem Alter eminent wichtige Aufgabe einer individuellen motorischen und sprachlichen Förderung den Familien weggenommen. Auch die beste Kindergärtnerin kann nicht auf die vielen Fragen, die jedes Kind in diesem Alter stellen möchte, eingehen. Sie wird zudem kaum den Bewegungsdrang dieser Kinder stillen können, sie auf Mäuerchen klettern und in ihre Arme springen lassen. Mit diesen zwei Beispielen soll gezeigt werden, wie die Kinder in einer Gruppe in ihrer persönlichen Entwicklung behindert werden.

Defizite in Sprache und Motorik verlangen vermehrt Förderunterricht, also auch Kostenfolgen. Dass bei einer Verlängerung der Schulzeit von neun auf elf Jahre auch mehrere hundert Lehrpersonen mehr nötig sind, wurde im Bernischen Grossen Rat zwar vorgerechnet, aber von der Bildungsdirektion kaum zur Kenntnis genommen. Die finanzielle Belastung von Gemeinden durch zusätzliche Schulräume, Schulmaterial und Anstellungen ist enorm.

Gezwungenermassen müssen nun diese kleinen Kinder einen umfangreichen Blockzeitenstundenplan von vier Lektionen pro Morgen absolvieren, anstatt, wie für sie angepasst, einmal in der Woche eine Spielgruppe besuchen zu können.

Eltern beklagen, dass ihre Vierjährigen unter Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Aggressionen leiden, ein Zeichen ihrer psychischen Überforderung.

Ein weiteres Problem ist für viele Vierjährige der Schulweg, entweder ist er zu lang oder zu gefährlich. Mit dem Schulbeginn bereits nach acht Uhr, ist die Dunkelheit im Winter ebenfalls eine Zumutung. Trotzdem wagen es viele Eltern und Kindergärtnerinnen nicht, ihre Erfahrungen mit den vierjährigen Kindern offenzulegen, da sie sonst als Versager/-innen abgeurteilt werden.

“Unselbständigkeit, Trennungsängste hinsichtlich der Bezugsperson, sowie wenig Interesse und Bereitschaft in einer Gruppe gemeinsam etwas zu machen sind Thematiken, die unsere Arbeit erschweren bis verunmöglichen.”

Ursina Zindel, Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich (VKZ)

 

Mutig weist hingegen die Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich (VKZ) auf die Probleme von und mit Vierjährigen hin: “Unselbständigkeit, Trennungsängste hinsichtlich der Bezugsperson, sowie wenig Interesse und Bereitschaft in einer Gruppe gemeinsam etwas zu machen sind Thematiken, die unsere Arbeit erschweren bis verunmöglichen.” Auch Erziehungswissenschafterin Prof. Stamm meint: “Der vorverlegte Schulbeginn hat entwicklungspsychologisch durchaus seine Nachteile.” Zwar würden früh instruierte Kinder einen Vorsprung gegenüber anderen bekommen, aber dieser wachse sich relativ schnell aus. Eine ausgewogene physische und mentale Gesundheit, emotionale Stabilität und ein gutes Selbstwertgefühl seien ebenso wichtige Grundlagen für eine erfolgreiche Schullaufbahn.

Zwei Kantone, nämlich Schwyz und Nidwalden, haben bereits auf die Klagen von Eltern und Lehrpersonen reagiert. Und in den Kantonen Graubünden, den beiden Appenzell und Zug gibt es keinen obligatorischen zweijährigen Kindergarten.

Es ist erwiesen, dass Vorschulkinder in den Bereichen motorische, kognitive, emotionale und soziale Kompetenz noch grosse Unterschiede aufweisen, die sich bis zum 6./7. Lebensjahr – dem aus diesem Grund gewählten Einschulungstermin – immer mehr angleichen. Meist sind erst ca. sechsjährige Kinder fähig, während längerer Zeit zuzuhören oder selbstständig für sich zu spielen oder zu arbeiten.

Auch die Erziehungsdirektion hat im Rahmen eines Controllings die Anzahl Kinder mit einem reduzierten Pensum (was im Kanton Bern z.T. möglich ist) erhoben. Von 9633 Kindern wurde für 5956 Kinder, also für 62%, ein reduziertes Pensum verlangt und 9,6% zurückgestellt.

Selbstgesteuertes, digitales Lernen

Das im Lehrplan propagierte selbst gesteuerte Lernen überfordert viele Kinder und verlangt zusätzlichen Förderunterricht. Dies führt zu Chancenungleichheit, indem Kinder von wohlhabenden Eltern Privatunterricht oder eine Privatschule besuchen können.

Mit der Einführung des Lehrplans 21 wurden die Lehrpersonen beauftragt, nicht primär Wissen zu vermitteln, sondern nur noch als Coaches das selbstgesteuerte Lernen der Kinder organisatorisch zu begleiten.

Das selbstgesteuerte, digitale Lernen gelingt nicht allen Kindern gleich gut. Gemäss einer in der Fachzeitschrift «The Lancet» veröffentlichten kanadischen Studie mit 4520 Kindern zwischen acht und elf Jahren sind die kognitiven Fähigkeiten wie wahrnehmen, denken und verstehen schon ab zwei Stunden vor dem Bildschirm beeinträchtigt. Digitales Lernen ist asozial und kann bei Kindern zu psychischen Problemen führen.

Als Folge des individualisierten Unterrichts mit dem mühsamen Zusammentragen von Unterrichtsstoff durch die Kinder selbst, brauchen die Kinder mehr Zeit. Diese Mehrlektionen haben im Kanton Bern mehrere hundert neue Vollzeitstellen erfordert. Die Aufstockung der Lektionen belastet nicht nur die Schulkinder und Lehrpersonen, sondern auch die Finanzen (im Kanton Bern von jährlich 30 Mio. CHF). Neu entwickelte Lehrmittel sollten nicht zwingend die Arbeit mit Tablets oder Hanys voraussetzen. Diese digitalen Lernhilfen müssen jedoch im Zyklus 3 – vom Kanton finanziert – jedem Kind zur Verfügung gestellt werden, um die Chancengerechtigkeit zu garantieren.

Sind Jugendliche und Kinder häufig und lange digital unterwegs, geraten viele wegen der Reizüberflutung in eine Lust- und Interessenlosigkeit.

 

Entwicklungspsychologisch steht im Zyklus 1 und 2 das analoge Lernen über den direkten Austausch, die Nachahmung, das Ansprechen aller Sinne und Erlebnisse in der Natur im Vordergrund. Das Prinzip des Lernens über Kopf, Herz und Hand, aber auch die verschiedenen Lerntypen müssen berücksichtigt werden. Dies als Ausgleich zum zunehmenden Gebrauch von digitalen Medien in der Freizeit.

Sind Jugendliche und Kinder häufig und lange digital unterwegs, geraten viele wegen der Reizüberflutung in eine Lust- und Interessenlosigkeit. Dies zeigte sich in der Schweiz bei den digitalen Unterrichtshilfen zu den Lehrmitteln “Mille Feuilles” und “Clin d’Oeil”. Was nicht sofort per Klick geht, wird verworfen.

Immer mehr Jugendlichen fehlt die Ausdauer

Das Phänomen “lazy brain” tritt auf und zeigt sich längst bei den Ausbildungsplätzen. 798 Personalverantwortliche von Schweizer Ausbildungsbetrieben gaben bei einer Umfrage an, dass immer öfter die Ausbildungen abgebrochen würden und vielen Jugendlichen die Ausdauer fehle. Aufgaben und Probleme im Berufsalltag liessen sich eben nicht mit einem Wisch auf dem Touchscreen lösen.

Die Digitalisierung wirkt sich auch gesundheitlich aus. Professor Dr. Norbert Pfeiffer, Direktor der Augenklinik des Universitätsspitals Mainz, weist auf die Zusammenhänge zwischen Bildschirmarbeit und zunehmender Kurzsichtigkeit von Kindern und Jugendlichen hin. Weitere gesundheitliche Folgen des immer exzessiveren Computer-, Tablet- und Handygebrauchs sind Fehlbelastungen, insbesondere der Halsmuskulatur, was zu degenerativen Veränderungen an Wirbelkörpern oder Bandscheiben führen kann.

An (Berner) Schulen muss die heute vorhandenen Erfahrungswerte und neusten Erkenntnisse zum Einsatz von digitalen Hilfsmitteln berücksichtigt werden. Das Ziel muss ein Mehrwert beim Lernen der Kinder sein, aber nicht auf Kosten ihrer Gesundheit.  Die Meinung, dass in unserer digitalen Welt kein eigentliches Wissen mehr gefragt sei, weil sich alles im Internet finden lässt, muss revidiert werden.

Spezielles Curriculum für zukünftige Lehrpersonen (Kindergärtnerinnen) für 4- und 5- Jährige, sowie Einführung einer 4-jährigen Berufslehre für Lehrpersonen mit einem Berufsmaturabschluss

Mit der Forderung, dass alle zukünftigen Kindergärtnerinnen das Gymnasium und die Matura machen müssen, war absehbar, dass damit geeignete, sozialkompetente, musisch begabte und auf die besondere Pädagogik für Kleinkinder Ausgebildete fehlen würden.

Mit der Lehrpersonenausbildung an Seminaren, mit allgemeinbildenden Fächern und einer vierjährigen Einführung ins Berufsleben konnten die Absolventen bereits als 20-Jährige eine Schulklasse übernehmen.

Heute stehen den Absolventinnen und Absolventen eines Gymnasiums mit der Matura alle Studienrichtungen offen. Somit hat sich der Einstieg ins Berufsleben und die Eigenständigkeit für Lehrpersonen drei bis vier Jahre hinausgeschoben. Oft sind der Umgang und die Arbeit mit Kindern den Absolventinnen und Absolventen des Gymnasiums fremd.

Deshalb müsste insbesondere für die Lehrpersonen für 4- und 5-Jährige eine spezielle Ausbildung analog der Kindergärtnerinnenausbildung geschaffen werden. Beginn nach der obligatorischen Schulzeit mit einem mindestens einjährigen Sozialpraktikum/ Praktikum mit Kindern, dann einer 2- bis 3-jährigen Ausbildung an der PH.

Für zukünftige Lehrpersonen der Zyklen (1), 2 bis 3 ist ein Curriculum für eine Berufslehre nach der obligatorischen Schulzeit mit einem Berufsmaturaabschluss auszuarbeiten.

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Bildung ist antizyklisch https://condorcet.ch/2024/02/bildung-ist-antizyklisch/ https://condorcet.ch/2024/02/bildung-ist-antizyklisch/#respond Sat, 03 Feb 2024 11:41:27 +0000 https://condorcet.ch/?p=15873

Bildungsaufgabe besteht nicht in der Heranführung junger Menschen an Online-Praktiken - also nicht in dem, was man heute als Medienkompetenz bezeichnet - sie formuliert vielmehr ein Korrektiv dazu. Der Physiker, Philosoph und Jazzmusiker Eduard Kaeser mahnt eindringlich, den Unterschied zwischen Wissen und Information zu erkennen und betont die antizyklische Funktion von Bildung.

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Der Widerspruch ist so alltäglich geworden, dass man ihn schon zu den nicht wahrgenommenen Lebensbedingungen – zur Conditio techno-humana – zählen kann: Während stets potentere Computer uns elementare Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen abnehmen, verlernen wir Lesen, Schreiben, Rechnen. Während Softwaredesigner und Neurotechniker von smarten Schulzimmern respektive Lernimplantaten im Gehirn träumen, verlieren sie aus den Augen, was sich eigentlich in diesen Schulzimmern tummelt: nämlich individuelle Schülerinnen und Schüler aus Fleisch und Blut und Eigenwillen.

Eduard Kaeser ist Physiker, Philosoph, Jazzmusiker und freier Publizist: Ein fundamentales erkenntnistheoretisches Missverständnis: die Gleichsetzung von Wissen und Information.

Die allgegenwärtige Tendenz, die wir hier beobachten, heisst Delegieren: Delegieren von menschlichen Kompetenzen an künstliche Systeme. Dieser Tendenz wohnt nicht nur ein gewaltiger technologischer, sondern auch ein soziokultureller Impetus inne, dessen Folgen für die Bildung noch kaum abzusehen sind. Vor einiger Zeit plädierte der französische Philosoph Michel Serres dafür, unsere Köpfe ans Netz abzugeben – was eine ungeahnt befreiende Wirkung haben soll. Man mag das als beschwipste Metaphorik betrachten, nicht zu überhören sind jedenfalls die Verheissungen einer neuen Wunderpädagogik, die uns mit Zukunftsvisionen der kognitiven Aufrüstung versieht, dass einem Lernen und Wissen vergehen.

Nehmen wir das Beispiel Erinnern. Das Internet ist heute ein gigantisches Wissensreservoir, und Google ermöglicht uns, es anzuzapfen, wann immer und wo immer wir wollen. Das verleitet zum Fehlschluss, Lernen könne auf Gedächtnisleistung verzichten. Wir haben es mit einer Save-and-Retrieve-Mentalität zu tun: Abspeichern und Abrufen genügen. Sie ist heute unter Netzbewohnern gang und gäbe. Und wie ich glaube, birgt sie ein fundamentales erkenntnistheoretisches Missverständnis: die Gleichsetzung von Wissen und Information.

Information kann objektiviert, ausgelagert, gespeichert, verwaltet und insofern auch von einer Maschine verarbeitet werden. Wissen dagegen ist im Kopf. Das Netz «weiss» überhaupt nicht. Wissen braucht ein Subjekt, eine Person, in der sich Information anlagert, sedimentiert. Deshalb ist unser Gedächtnis kein Speicher, in den man einfach Informationen hineinlegt und wieder herausnimmt. Unser Gedächtnis ist ein hochadaptiver neurosensorischer Teil unseres Organismus, der sich und die verwahrte Information ständig verändert, sich permanent im Wechselspiel persönlicher Vorlieben, Abneigungen, Erwartungen reorganisiert. Dazu gehört übrigens ganz wesentlich auch das Vergessenkönnen. Bewusstes, aktives Vergessen ist Voraussetzung dafür, dass wir Information interpretieren, beurteilen und gewichten und uns nicht einfach passiv mit Daten mästen. Wir müssen also auch lernen, nicht zu wissen.

Sie bedeutet, dass wir uns unserer eigenen naturwüchsigen Fähigkeiten innewerden; dass wir sie nicht auslagern, sondern anlagern. Nicht, um sie gegen die Fähigkeiten der Technik auszuspielen, sondern, um beide in ein je individuelles Gleichgewicht zu bringen.

Der deutsche Philosoph Gernot Böhme sprach schon 1999 vom antizyklischen Charakter der Bildung. Man kann dies vor dem eingangs skizzierten Hintergrund als eine Gegentendenz zum Delegieren interpretieren. Sie bedeutet, dass wir uns unserer eigenen naturwüchsigen Fähigkeiten innewerden; dass wir sie nicht auslagern, sondern anlagern. Nicht, um sie gegen die Fähigkeiten der Technik auszuspielen, sondern, um beide in ein je individuelles Gleichgewicht zu bringen.

Eine solche Bildungsaufgabe besteht nun gerade nicht in der Heranführung junger Menschen an Online-Praktiken – also nicht in dem, was man heute als Medienkompetenz bezeichnet. Sie formuliert vielmehr ein Korrektiv dazu.

Gernot Böhme, Philosoph, 1937 – 2022: Bildung ist antizyklisch.

Eine solche Bildungsaufgabe besteht nun gerade nicht in der Heranführung junger Menschen an Online-Praktiken – also nicht in dem, was man heute als Medienkompetenz bezeichnet. Sie formuliert vielmehr ein Korrektiv dazu. Sie nimmt – so stelle ich mir das vor – die neuen Online-Praktiken auf, hebt sie gewissermassen aus dem technischen Unbewussten und tariert sie mit traditionellen Offline-Routinen aus: zum Beispiel Informationsbeschaffung im Netz und ausserhalb des Netzes; Mashup und herkömmliches Zitieren/Referieren; Diskussion in Bloggerforen und Diskussion von Angesicht zu Angesicht; fokussiertes Lesen und Herumbrowsen; selber Schreiben und Eingaben von Prompts in den Chatbot.

Generell: Das Internet stellt uns neue und möglicherweise nützliche Tools zur Verfügung, unseren Geist zu bilden und zu verfeinern. Aber wir erreichen dieses Ziel nur in einer Symbiose von Altem und Neuem. Das Neue wird als Kulturtechnik ernst genommen und das Alte nicht einfach auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen.

Man spricht viel vom «Rohstoff» Wissen. Äusserungen wie die folgende gehören zur Phraseologie des eidgenössischen Bildungsselbstverständnisses: «Die Tatsache, dass sich die kleine Schweiz in Wissenschaft, Technologie und Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten immer auf Augenhöhe mit den grossen Mitspielern bewegen konnte, hat sie nicht zuletzt ihrem Bildungssystem zu verdanken. Es gilt daher, diesen Vorsprung nicht zu verspielen.»

Allerdings gilt es, den «Vorsprung» nicht nur nicht zu verspielen, sondern ihn auch nicht der Definitionshoheit von Bildungstechnokraten, Wissensmanagern und Vertretern der IT-Branchen zu überlassen.

Fürwahr. Allerdings gilt es, den «Vorsprung» nicht nur nicht zu verspielen, sondern ihn auch nicht der Definitionshoheit von Bildungstechnokraten, Wissensmanagern und Vertretern der IT-Branchen zu überlassen, die Bildung zum Mittel der Standort-Positio­nierung halbieren wollen. Antizyklisch verstanden, ist Bildung Widerstand gegen diese Reduktion. Letztlich erweist sie sich immer als Persönlichkeitsbildung. Und als solche erfordert sie eine rar werdende Ressource: Zeit.

Was mich an eine Äusserung Roger Schanks erinnert, eines bekannten Kognitionswissenschaftlers und frühen Verfechters der KI in der Schule. Er schrieb vor fast dreissig Jahren: «Wenn man eine Maschine intelligent machen will, muss man dafür sorgen, dass sie langsam Informationen ansammelt, wobei jedes neue Stück Information liebevoll (sic!) zu den bereits vorhandenen in Beziehung gesetzt werden muss. Jeder Schritt muss sich aus einem anderen ergeben; alles muss, entsprechend den Vorkenntnissen, seinen richtigen Platz finden.»

Wohlgemerkt: Schank sprach von Maschinen. Vergessen wir, dass das Gesagte eigentlich auf den Menschen zutreffen sollte?

 

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Wer schlau sein will, schreibt mit der Hand https://condorcet.ch/2024/02/wer-schlau-sein-will-schreibt-mit-der-hand/ https://condorcet.ch/2024/02/wer-schlau-sein-will-schreibt-mit-der-hand/#comments Sat, 03 Feb 2024 10:53:51 +0000 https://condorcet.ch/?p=15860

Das Notieren mit der Hand ist oft mühsamer als das Tippen auf einer Tastatur. Aber die Handschrift hat viele Vorteile, besonders Kinder profitieren davon. Forscher zeigen jetzt, wie das Gehirn beim Schreiben positiv stimuliert wird. Der Welt-Reporter Holger Kreitling berichtet.

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Früher haben nur Ärzte unleserlich gekritzelt, heute schreiben alle so. Wer einen handgeschriebenen Zettel oder gar Brief in die Hände bekommt und nicht “Hä?” denkt, darf die Schreiberin oder den Schreiber beglückwünschen. Dass die Fähigkeit, akkurat mit der Hand zu schreiben, verlernt oder gleich gar nicht mehr von Kindern gelernt wird, ist Thema vielstrophiger Klagegesänge.

Holger Kreitling, Journalist der Welt

Die Forschung hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt und kann die Verluste belegen. Nicht nur die Rechtschreibung erleidet Schiffbruch– wie leidgeprüfte Eltern im Chat-Austausch mit Kindern bemerken –, auch das Erinnerungsvermögen ist schwächer ausgeprägt.

Was wiederum ein helles Licht auf Kinder wirft, die in der Schule nicht mehr oder nur für kurze Zeit mit der Hand schreiben, bevor sie zu Tablets und Computern wechseln. Das mag jetzt unsexy klingen, ist aber so: Das Erlernen und Schreiben mit der Hand befördert positiv die Entwicklung des Gehirns.

Die Verluste sind belegbar

In Norwegen haben Wissenschaftler nun nachgewiesen, dass die Muster der Gehirnverbindungen beim Schreiben mit Hand auch bei Erwachsenen deutlich ausgefeilter sind als beim Tippen auf einer Tastatur. “Eine solch umfassende Gehirnkonnektivität ist für die Gedächtnisbildung und das Verarbeiten neuer Informationen von entscheidender Bedeutung und unterstützt daher das Lernen”, sagte Audrey van der Meer, Hirnforscherin an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Norwegens und Mitautorin der Studie in “Frontiers in Psychology”.

All die Stunden mit Schönschrift, über die Kinder stöhnen, sind nicht vergebens.

 

36 Studenten sollten mehrfach Wörter aufschreiben, entweder mit einem digitalen Stift per Hand oder mit jeweils einem Finger per Tastatur. Dabei trugen sie Hauben mit Sensoren. Für fünf Sekunden wurde so die elektrische Aktivität des Gehirns mit einem Elektroenzephalographen (EEG) gemessen.

Die Verbindungen verschiedener Gehirnregionen nahmen zu, wenn die Teilnehmer mit der Hand schrieben, nicht jedoch, wenn sie tippten. Die Bewegungen und das sorgfältige Formen der Buchstaben machen den Unterschied, so die Forscher – und zwar egal, ob in Druckbuchstaben oder in Schreibschrift.

Die einfache Bewegung, mit demselben Finger wiederholt eine Taste zu drücken, wirkt dagegen weniger stimulierend auf das Gehirn. Das erkläre auch, warum Kinder, die das Schreiben und Lesen auf Tablets lernen, Schwierigkeiten haben können, spiegelbildliche Buchstaben wie “b” und “d” voneinander zu unterscheiden.

“Sie haben mit ihrem Körper buchstäblich nicht gespürt, wie es sich anfühlt, diese Buchstaben zu produzieren”, sagte van der Meer. All die Stunden mit Schönschrift, über die Kinder stöhnen, sind nicht vergebens (wo es sie noch gibt).

Forscher empfehlen Handschriftunterricht

Die meisten Erwachsenen kennen die Kraft des Handschriftlichen. Wer Vorträge, Vorlesungen, Telefonate oder Themenkonferenzen mit der Hand mitschreibt, erinnert sich besser und länger an die Inhalte. Frühere Studien konnten zeigen, dass sich schon bei Kindergartenkindern Handgeschriebenes tiefer ins Gedächtnis eingräbt.

Vor einigen Jahren ergaben Versuche mit Studenten, dass sie beim Protokollieren mit Stift und Papier eher Sinnbezüge herstellten; tippende Kommilitonen notierten mehr wörtliche Transkripte – und vergassen die Inhalte schneller.

Schulexperimente, die auf digitales Lernen setzen, bringen also Nachteile. Auch wenn das Schreiben per Tastatur leichter von der Hand geht. Schüler sollten deshalb ein Minimum an Handschriftunterricht erhalten, legen die Wissenschaftler aus Norwegen nahe. Zum Jahresbeginn wurde etwa in vielen US-Bundesstaaten das Kursiv-Schreibtraining wieder eingeführt.

“Es ist offensichtlich, dass Bildschirme grosse Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung.”

Lotta Edholm, Schwedische Bildungsministerin

 

Ähnlich in Schweden, dem einstigen Vorzeigeland in Sachen Schuldigitalisierung: Das Karolinska-Institut setzt sich inzwischen für eine “Analogisierung” des Unterrichts ein. Erst vor wenigen Monaten liess die Universität verlauten: Digitale Geräte würden “das Lernen der Schüler eher einschränken statt fördern”, es sprach von “klarer wissenschaftlicher Evidenz.” Die Bildungsministerin erklärte dazu: “Es ist offensichtlich, dass Bildschirme grosse Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung.”

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Traf der Loretz (auf) den Wampfler • Nachwehen eines Editorials https://condorcet.ch/2023/12/traf-der-loretz-auf-den-wampfler-nachwehen-eines-editorials/ https://condorcet.ch/2023/12/traf-der-loretz-auf-den-wampfler-nachwehen-eines-editorials/#comments Thu, 28 Dec 2023 16:07:43 +0000 https://condorcet.ch/?p=15551

Vor einigen Wochen gingen in diesem Blog die Wogen hoch, als sich der Präsident des lvb, Philipp Loretz, und der Fachdidaktiker Philippe Wampfler einen Diskurs über den Sinn der Digitalisierung unseres Unterrichts lieferten. Roger von Wartburg fasst ihn zusammen und ordnet ihn ein.

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Das Editorial des «lvb inform» aus der Feder von LVB-Präsident Philipp Loretz trug den Namen «Schulische Digitalisierung bedarf der Reflexion» [1] und rief dazu auf, die stetig anwachsende digitale Vereinnahmung von Schülerinnen und Schülern – mittlerweile bis auf die Unterstufe hinab – kritisch zu hinterfragen und einem pädagogischen Konzept unterzuordnen. In der Folge löste besagtes Editorial kontroverse Debatten im Internet aus. Dieser Artikel liefert hierzu einen kurzen Überblick und bietet Interessierten die Möglichkeit, via QR-Codes die aufschlussreichen Kommentare nachzulesen.

Roger Von Wartburg, Sekundarlehrer, ehemaliger Präsident des lvb: Das lvb-Inform hat Wirkung.

Facebook und Wampfler

Ihren Anfang nahm die Kontroverse in der Facebook-Gruppe «Lehrerinnen und Lehrer Schweiz», die von der früheren LCH-Vizepräsidentin Marion Heidelberger administriert wird und über 6000 Mitglieder zählt. Dort repostete die Administratorin einen Post von Gymnasiallehrer und Fachdidaktiker Philippe Wampfler, in dem dieser verkündete, Schulen müssten einen Unterricht anbieten, der in eine Kultur der Digitalität passe.

Philippe Wampfler ist seit einigen Jahren medial sehr präsent und wird von verschiedenen Zeitungen und anderen Medien gerne als Experte für Bildungsfragen hinzugezogen, nicht zuletzt im Themenkomplex Digitalität. Aber auch zu anderen Fragen äussert sich Wampfler pointiert; so hat er etwa im Jahr 2021 zusammen mit Björn Nölte das Buch «Eine Schule ohne Noten» publiziert, dessen Titel Programm ist.

Loretz wirft ein

Philipp Loretz nahm Philippe Wampflers Äusserung zum Anlass, um einige Kernelemente seines Editorials ins virtuelle Rund zu werfen. Er verwies u.a. auf Befunde, wonach der permanente Einsatz digitaler Werkzeuge zu starker Ablenkung, einer Schwächung der Konzentrationsfähigkeit, einer Behinderung des Arbeitsgedächtnisses und damit zu einer markanten Verschlechterung der Lernleistung führe. Aus diesem Grund votiere er für klare IT-Nutzungsregeln, die sich an der geistigen und körperlichen Unversehrtheit der Schülerinnen und Schülern orientierten. Den Einsatz von iPads bereits in der Basis- und Unterstufe sieht er sehr kritisch.

Philippe Wampfler reagierte umgehend und warf Loretz eine «eigenwillige Auswertung der Studien» vor. Eine Reflexion müsse «mehr sein als eine Ablehnung». Loretz seinerseits antwortete ebenfalls und das Ganze ging munter hin und her – und weckte das Interesse des Bildungs-Blogs www.condorcet.ch, zu dessen Autorenteam Philipp Loretz zählt. Condorcet übernahm die Debatte aus der Facebook-Gruppe auf die eigene Website, was weitere Kommentare hervorrief. [2]

Condorcet und Hoffmann

Das langjährige LVB-Mitglied Felix Hoffmann, seines Zeichens ebenfalls Teil des Condorcet-Autorenteams, sah sich veranlasst, eine Replik auf den Austausch zwischen Wampfler und Loretz [3] zu verfassen, die auf www.condorcet.ch veröffentlicht wurde. Hoffmann ging darin mit Wampfler ins Gericht und warf ihm vor, seine Unterstellungen an Philipp Loretz’ Adresse nicht zu begründen, sondern mit Allgemeinplätzen um sich zu werfen.

«Schreiben, was ist», lautete das Motto von SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein. Diesem Credo fühlt sich auch der LVB seit jeher verpflichtet.

Diese Replik wiederum zog diverse neue Kommentare nach sich – nicht zuletzt von Philippe Wampfler selbst, aber auch von anderer Seite. Frei nach Mani Matter: Da mischte der (virtuelle) Saal sich ein. Wer sich ein Bild davon machen will, ist dazu herzlich eingeladen; die QR-Codes führen Sie an die entsprechenden Stellen.

Dem Diskurs verpflichtet

Das Gelbe Heft lebt!

Eines jedoch wurde einmal mehr eindrücklich unter Beweis gestellt: Artikel aus dem «lvb inform» zeitigen immer wieder Wirkung. Manchmal werden sie in Zeitungen aufgenommen, von Landratsmitgliedern in den politischen Debatten zitiert oder – wie im vorliegenden Fall – im Internet heiss diskutiert.

Wir werden alles dafür tun, dass das auch in Zukunft so bleibt. Indem wir ganz bewusst auch heisse Eisen aufgreifen und die redensartlichen Elefanten im Raum, welche an vielen Orten gerne dauerhaft ausgespart werden, thematisieren. «Schreiben, was ist», lautete das Motto von SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein. Diesem Credo fühlt sich auch der LVB seit jeher verpflichtet.

 

[1] Schulische Digitalisierung bedarf der Reflexion, lvb inform 2023/24-01
https://lvb.ch/2022/wp-content/uploads/2023/10/02_Editorial-Schulische-Digitalisierung-bedarf-der-Reflexion_lvb-inform_23-24-01-1.pdf

[2] Digitalisierung: Wie weit soll sie gehen?
https://condorcet.ch/2023/10/digitalisierung-wie-weit-soll-sie-gehen/

[3] Eine Replik auf den Austausch zwischen Wampfler und Loretz, https://condorcet.ch/2023/10/eine-replik-auf-den-austausch-zwischen-wampfler-und-loretz/

 

 

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https://condorcet.ch/2023/12/traf-der-loretz-auf-den-wampfler-nachwehen-eines-editorials/feed/ 1
Beziehung statt Bildschirm https://condorcet.ch/2023/12/beziehung-statt-bildschirm/ https://condorcet.ch/2023/12/beziehung-statt-bildschirm/#respond Sun, 17 Dec 2023 20:22:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=15515

Carl Bossard ist Condorcet-Autor der ersten Stunde und einer der profundesten Kenner der Schweizer Bildungslandschaft. Nun wurde er im Magazin Zeitpunkt von Samia Guemei, die ebenfalls schon im Condorcet-Blog publizierte, interviewt. In diesem Gespräch warnt der Doyen der Bildung vor Reformen und Tools, die vor allem Kinder aus bildungsfernen Milieus schwächen.

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Zeitpunkt: Herr Bossard, Sie gehören zu den Erstunterzeichnern von Wissenschaftlern, die in Deutschland ein Moratorium für elektronische Geräte (Tablets, Handys) in Schulen und Kitas fordern. In der Schweiz finden sich kaum Politiker oder Organisationen, die Ihr Anliegen unterstützen. Woran liegt das? Und warum haben Sie unterzeichnet?

Carl Bossard: Das Moratorium ist ja erst vor Kurzem publiziert worden – und darum nur wenigen bekannt. Das Anliegen aufgenommen hat die SonntagsZeitung. In einem Interview fordert der Neuropsychologe und Hirnforscher Lutz Jäncke, Universität Zürich: “Delete die Digitalisierung an Schulen!” Er argumentiert aus hirnbiologischer Sicht.

Gastautorin Samia Guemei

Warum ich unterzeichnet habe? Bildungspolitik und Wirtschaft kennen zwei primäre Stossrichtungen: Ökonomisierung und Digitalisierung. Gleichzeitig drängen EdTech-Konzerne (EdTech ist Lernsoftware) und IT-Unternehmen in die Schule. Sie nehmen Einfluss auf Bildungsgehalte. Es ist der Ruf nach dem Digital Turn – mit der forcierten Digitalisierung der (Primar-)Schulen und dem Imperativ des «Bring your own device» (BYOD): jeder und jede mit dem eigenen Gerät im Schulzimmer, seien es Laptops, Tablets oder -Smartphones. Ich erlebe ein einseitiges Denken. Pädagogik aber ist kein Entweder-oder. Sie ist ein pädagogisches “Sowohl-als-auch”. Anders gesagt: Es braucht das Analoge wie das Digitale. Vernünftig digitalisieren, ohne die humane Kraft des Analogen zu vergessen.

 

Was muss geschehen, damit Ihr Anliegen von einer breiten Masse von Entscheidungsträgern vertreten wird?

Ich bin kein Prophet. Der Weg in die Zukunft ist bekanntlich umsäumt von den Skeletten nicht eingetroffener Prognosen.

    Ich hoffe einfach, dass das aktuelle PISA-Resultat mit der fatalen Leseschwäche so vieler Jugendlicher als Warn- und Weckruf wirkt.

Wir kennen die Tendenz ja längst. Seit Jahren wird unsere Schule reformiert und umgebaut – Reform an Reform, und gleichzeitig sinken die Lernleistungen im internationalen Vergleich kontinuierlich.

Da stimmt doch etwas im Kern der Schule nicht, bei den Mikroprozessen des Lernens, beim Aufbau der Basiskompetenzen Lesen, Rechnen, Schreiben. Allein das sollte doch die Verantwortlichen in der Bildungspolitik und den Bildungsstäben hellhörig machen.

 

Ist ein Verbot, wie die Deutsche Gesellschaft für Bildung und Wissen es fordert, mit einer liberalen Geisteshaltung überhaupt vereinbar?

Ich votiere aus einer aufklärerisch-liberalen Haltung heraus. Das Gravitationszentrum pädagogischen Geschehens ist für mich ein aufklärerischer Gedanke: Es ist Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern, ihre Kinder und Jugendlichen zu selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln zu erziehen und zu bilden. Das ist ein dialektischer Prozess. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, mit den neuen Medien vernünftig umzugehen. So etwas geht nur über Anleitung, nicht über Verbote.

 

Selbst Organisationen, die ihren Forschungs- bzw. ihr Tätigkeitsfeld in der frühen Kindheit haben, reden die Gefahren der Bildschirme klein. Sie sagen, die digitalen Geräte gehören nun einmal zu unserer Gesellschaft. Und die Kinder müssten einen angemessenen Umgang mit ihnen lernen. Können Kinder das überhaupt: angemessen mit den elektronischen Geräten umgehen?

Das ist das Kernanliegen: der vernünftige Umgang mit diesen Medien. Doch die Frage in der Primarschule ist wohl die: Wie lernen wir in diesem Alter am besten? Selbständig mit elektronischen Geräten oder im intensiven Austausch mit einem vitalen Gegenüber?

Wir wissen es aus der Unterrichtsforschung: Bildung braucht Bindung und Beziehung, braucht darum ein Gegenüber, von dem Zuversicht und Hoffnung ausgehen. Es ist ein Gegenüber, das mich inspiriert, mich zum Selber-Denken anregt, das mich, wie das der Dichterlehrer Peter Bichsel einmal so schön gesagt hat, “von mir selbst überzeugt”. Es ist ein Gegenüber, das mir klares und konsequentes Feedback gibt. Denken kann ich nur selber, ebenso wie lernen. Dazu brauche ich aber ein Gegenüber, das mich ermutigt und mir etwas zutraut und an mich glaubt. Dieses Zwischenmenschliche lässt sich nicht digitalisieren; das Persönliche bleibt – und ist für die Schule konstitutiv.

Es braucht das Echte, nicht die Konserve.

Zusammengefasst: Lernen ist nach wie vor ein Prozess zwischen Menschen, eine Interaktion zwischen Lehrerin und Schüler, zwischen Schülerin und einem verantwortungsbewussten Gegenüber, ein “Meeting of Minds”. Salopp signalisiert: Es braucht das Echte, nicht die Konserve.

 

Sie haben in vielen Artikeln die sogenannte Kompetenzorientierung des Lehrplans 21 beklagt. Der Lehrer verkommt zum Coach. Statt zu lernen und zu üben, müssen sich die Schüler ihr verzerrtes Wissen am Bildschirm selber beibringen. Mit Ihrer Haltung stossen Sie bei den PHs dieses Landes auf taube Ohren. Was gibt Ihnen Hoffnung, weiterzumachen?

Die Kompetenzorientierung und die Lehrperson als Coach sind zwei verschiedene Dinge. Das Erste, die Kompetenzorientierung: Gegen Kompetenzen kann man gar nichts haben: Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll uns besser denken und handeln lassen. Ich habe mich aber dagegen gewehrt, alles und jedes in der Sprache der Kompetenzen auszudrücken. Meine Überzeugung: Kein Kind interessiert sich für Kompetenzen. Es interessiert sich für Inhalte, für Dinosaurier, für Sterne, für Meerschiffe und Entdeckungsfahrten. Es will etwas wissen, es will etwas können, es will etwas verstehen, zum Beispiel das Werden der EU. Das ist ein Inhalt. Im Lehrplan 21 tönt das dann so: “[Schülerinnen und Schüler] können unterschiedliche Positionen zum Verhältnis Schweiz – Europa skizzieren und selber dazu Stellung nehmen.”

    Daran beisst sich ja selbst der Bundesrat die Zähne aus!

Es gibt in der Pädagogik eben viele Bereich, die sich kompetenztheoretisch gar nicht fassen lassen, dazu zählt beispielsweise die menschliche Grundhaltung. Darum meine Skepsis.

Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte

Das Zweite: Der Lehrer ist nicht nur Coach, die Lehrerin nicht nur Lernbegleiterin. Beide sind auch Pädagogen. Das schöne Wort kommt aus dem Griechischen: paid-agogein. Das heisst: Kinder, Jugendliche führen, sie anleiten und hinleiten. Der Neurobiologe Joachim Bauer spricht von ‘verstehender Zuwendung’ – bei gleichzeitiger Klarheit und Führung. Das ist das Dialektische des pädagogischen Berufs. Diese Ambiguitäten müssen Lehrerinnen und Lehrer annehmen und aushalten.

 

Was könnten die Pädagogischen Hochschulen (PHs) dazu bewegen, den eingeschlagenen Weg zu verlassen?

Meine Meinung ist klar: Wir brauchen eine Volksschule, die nicht in der Definitionsmacht der PHs liegt. Ein Diskurs ist heute leider fast nicht mehr möglich. Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel aus den Pädagogischen Hochschulen hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie – die Definitionsmacht über die Schulen übernommen. Sie bestimmen, was gelehrt und wie unterrichtet werden muss – oft auch gegen die Praktiker. Das bedeutetet eine Marginalisierung der Praxisempirie. Kurz: Die Stimmen der Basis müssten wieder gehört werden. Sie weiss, was in den Schulen nottut. Die Bildungspolitik muss diese Praxiserfahrung aufnehmen.

Ebenso prägend wie die Leidenschaft für die Pädagogik war für mich stets die Freiheit, die ich als Lehrer hatte.

Wenn ich die gesetzlich vorgeschriebenen Lehrmittel in Deutsch und Mathematik betrachte, dann ist es eindeutig: Sie sind wohl für die hochbegabten Akademikerkinder der Autoren geschrieben worden. Statt den Kindern stetes Üben zu vermitteln, lassen sie sie von Fallstrick zu Fallstrick stolpern. Verlierer in diesem System sind eindeutig die Migrantenkinder, die weder auf ein akademisches Zuhause noch auf bezahlte Nachhilfe zurückgreifen können. Noch auf Lehrer, die die Lehrmittel explizit gegen den Strich bürsten und eigenes Material bereitstellen. Das haben auch die neuesten PISA-Ergebnisse gezeigt: 25 Prozent können mit 15 Jahren nicht einmal die einfachsten Texte verstehen. Ist da eine Art versteckter Rassismus am Werk?

Das glaube ich nicht. So etwas kann doch keinem verantwortungsbewussten Menschen einfallen.

Die PISA-Studie 2022 bringt nichts Neues. Wir wissen es schon lange. Was mich bedrückt und was für mich eines der grössten Probleme darstellt: Die unzähligen Schulreformen haben die Chancengleichheit kaum verbessert. Die eher schwächeren Schülerinnen und Schüler leiden am stärksten unter den überfüllten Lehrplänen – und darunter, wenn der Lehrperson Zeit und Möglichkeit fürs Üben und Anwenden fehlen. Ausserdem setzt der Lehrplan stark auf selbständiges Lernen. Das überfordert viele und bevorteilt die eh schon lernstarken Kinder.

Ich formuliere damit ein Plädoyer für einen geführten und strukturierten Unterricht – schülerzentriert, sachorientiert, aber lehrergesteuert. Gerade sozial benachteiligte Kinder sind darauf angewiesen. Oder wie es der kürzlich verstorbene, linksliberale Pädagoge Hermann Giesecke formuliert hat:

 «Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.»

Hermann Giesecke, Pädagoge

 

Sie beschreiben immer wieder sehr treffend, wie dem Lehrerberuf durch den Zwang zu Reporting und Einschränkung auf Methoden des offenen Unterrichts die Freiheit abhandengekommen ist. Mir kommt es so vor, als gehörte diese Ausrottung des Individuums zum Projekt Transhumanismus, in dem sich alle aalglatt durch Algorithmen steuern lassen. Übertreibe ich da?

Ob hinter Ihren Beobachtungen eine Agenda steckt, kann ich nicht beurteilen. Das weiss ich nicht. Ich weiss einfach, wie wichtig die Freiheit im Lehrberuf ist. Ich argumentiere für einmal aus persönlicher Warte: Ich war leidenschaftlich gerne Lehrer. Mich fasziniert es, mit Schülerinnen und Schülern unterwegs zu sein, ihren Gedankenkreis zu erweitern und sie so zu verstehenden Menschen auszubilden.

Mit Freiheit ist Verantwortung verbunden – in diesem Fall die Verantwortung für die Kinder und ihre Lernfortschritte. Verantwortung wahrnehmen braucht Freiheit. Die Leidenschaft fürs Pädagogische und damit die humane Energie kommen aus Freiheit, nicht aus lehrmethodischen Direktiven und engen operativen Vorgaben. Heute gibt es so viele Vorschriften. Die Freiheit wird eingeengt, gar erstickt. Das müsste sich dringend ändern.

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Falscher und echter Alarm in der KI https://condorcet.ch/2023/12/falscher-und-echter-alarm-in-der-ki/ https://condorcet.ch/2023/12/falscher-und-echter-alarm-in-der-ki/#comments Tue, 12 Dec 2023 07:30:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=15482

Utopia und Dystopia liegen in der KI-Branche nah beieinander. Einerseits nimmt die dem Menschen ebenbürtige bis überlegene Maschinenintelligenz Gestalt an, andererseits sieht man in ihr die mögliche Auslöschung der Menschheit. Das Problem, meint Eduard Käser im Journal 21, ist allerdings nicht die KI selbst.

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Das “Center for AI Safety” – eine amerikanische Nonprofit-Organisation – veröffentlichte vor kurzem ein Statement, das viele namhafte Fachleute unterzeichneten: “Das Risiko einer Auslöschung der Menschheit durch die KI sollte in der sozialen Dimension gleich eingeschätzt werden wie das Risiko der Auslöschung durch Pandemien oder durch Nuklearkriege”.[1]

Gastautor Eduard Kaeser

Wenn die KI wirklich eine solche Gefahr darstellt, fragt man sich, warum warnen dann ausgerechnet jene Leute vor ihr, die ihre Entwicklung rasend vorantreiben? Sind sie aus ihren Zauberlehrlingsträumen aufgewacht? Hat die “prometheische Scham” sie gepackt, das Gefühl der Unzulänglichkeit angesichts ihrer eigenen Produkte?

Natürlich sind die Warnungen nicht einfach in den Wind zu schlagen. Aber nüchtern betrachtet, eröffnen die KI-Systeme ein unerforschtes Feld der sozialen Interaktion von Mensch und Maschine, nunmehr auf “intelligentem” Niveau. Und es ist eigentlich nicht das KI-System selbst, sondern unsere vorauseilende dystopische Fantasie, die uns das Fürchten lehrt.

Wir machen uns a priori einen unzutreffenden Begriff von ihr. Und das führt zu Falschalarm.

Karl Marx sprach vom “falschen Bewusstsein”, also einem Begriffs- und Wahrnehmungsrahmen, der alles schon im Voraus präformiert, ja, verzerrt. Falsches Bewusstsein erscheint mir wie zugeschnitten auf die heutige KI-Technologie: Wir machen uns a priori einen unzutreffenden Begriff von ihr. Und das führt zu Falschalarm. Ich erläutere ihn kurz anhand dreier Punkte.

Anthropomorphe Analogien

Erstens attestieren wir den smarten Maschinen kognitive Fähigkeiten, deren Resultate wir oft nicht von menschlichen unterscheiden können. Wir sagen dann, der Chatbot “schreibe” einen Text, LaMDA (Language Model for Dialogue Application) “konversiere” mit uns, DALL-E 2 “male” ein Bild. Das sind aber nichts anderes als anthropomorphe Analogien, mit denen wir versuchen, die heute kaum noch vollständig durchschaubaren Maschinenabläufe in einem uns begreiflichen Idiom zu beschreiben. Insbesondere übertragen wir KI-Systemen bereits “moralische” Handlungsverantwortung, schieben ihnen etwa die Schuld zu, Jobs “abzuschaffen”. Oder wir warnen vor “sexistischen” oder “rassistischen” Algorithmen. Als ob die Maschinen sich wie Menschen verhalten würden. Bisherige Klimax dieser KI-Beschwipstheit ist ein Softwaredesigner von Google – Blake Lemoine –, der behauptete, LaMDA sei in eine persönliche Beziehung zu ihm getreten.

Das Netz – eine Skinnerbox ohne Skinner

Hier zeigt sich – Punkt zwei – eine wirklich alarmierende Dialektik der ganzen Entwicklung. Im gleichen Zug, in dem wir Maschinen personenhafte Züge zuschreiben, vergessen wir die menschlichen Personen hinter den Maschinen. Nicht Maschinen schaffen die Jobs ab, sondern Unternehmen und Regierungen –  Institutionen, die von Personen geführt werden. Und nicht die Algorithmen sind sexistisch oder rassistisch, vielmehr verwenden deren Designer und Benutzer sexistische respektive rassistische Daten.

Alarmierend an dieser Idiotie ist die naive Bereitschaft, unsere kognitiven, aber auch moralischen Kompetenzen an das smarte Gerät abzutreten.

Der vermeintliche Machtwille des Robo sapiens kaschiert den Machtwillen des Homo sapiens. Man muss dabei nicht immer gleich China als abschreckendes Beispiel zitieren, wo das Regime die Technologie schamlos zur totalen Verhaltensdressur ausnutzt. Auch im Westen lassen wir uns von Algorithmen kontrollieren und manipulieren. Sie “entscheiden”, was wir sehen, lesen, hören, kaufen, mit wem wir kommunizieren, wen wir mögen und wen wir hassen wollen. Das Netz ist eine gigantische Skinnerbox ohne Skinner. Wir selbst konditionieren uns zu Konsumratten.

Maschinen sozialisieren – Menschen maschinisieren

Das ist der dritte Punkt: Wir suchen die “intelligenten” Artefakte zu sozialisieren. Um Maschinen zu sozialisieren, muss man Menschen an sie adaptieren, “maschinisieren”. Man achte einmal darauf, wie wir uns heute mit Apps armieren, die uns bei jeder Gelegenheit «beraten», was zu tun oder zu lassen sei. Eben lese ich die Werbung für die App “Blinklist” von Apple. Sie bringe “die Kernaussagen tausender Sachbücher auf das Smartphone. In nur 15 Minuten kann man sich so das Wissen eines dicken Sachbuchs aneignen”.

Alarmierend an dieser Idiotie ist die naive Bereitschaft, unsere kognitiven, aber auch moralischen Kompetenzen an das smarte Gerät abzutreten. Das befördert eine Art von Techno-Fatalismus: Der Vormarsch der Algorithmen ist unaufhaltsam. Zurzeit warnen die Alarmglocken besonders schrill vor einer sogenannten künstlichen “Intelligenzexplosion”. Die neuen Generationen von KI-Systemen könnten uns puncto Intelligenz überflügeln. Wobei sich der Verdacht hartnäckig hält, dass die Warner unter Intelligenz kaum mehr verstehen als ihre eigene nerdige Beschränktheit.

Das grösste Risiko: menschliche Unintelligenz

Künstliche Intelligenz ist eines der kühnsten, vielleicht das kühnste intellektuelle Abenteuer der letzten 60 Jahre. Nüchtern betrachtet, erweist sie sich als eine spezifische Form von Intelligenz, die ausschliesslich auf Rechenleistung – letztlich auf Energieverschleiss (Alarm auch hier!) – beruht. Sie kann uns viel darüber lehren, was ausser Rechenleistung sonst noch zur Intelligenz beiträgt.

Die seriöse Forschung zeigt uns zum Beispiel, dass KI ihre “intrinsischen” Grenzen hat. Und genau das ist spannend, Ansporn für weitere Forschung in der Entwicklung von KI-Systemen, etwa von biologienäheren neuronalen Netzen oder von Quantencomputern. Zugleich aber auch dafür, die Alarmstufe herunterzufahren. Denn das grösste Risiko im Umgang mit der künstlichen Intelligenz bleibt die nicht durchschaute Unintelligenz des Menschen, vulgo: Selbstüberschätzung, selbst gratulierende Borniertheit, Inkompetenz-Erkennungs-Inkompetenz, Missions- und Machtwillen. Sie grassiert besonders ausgeprägt in KI-Kreisen.

 

[1] https://www.safe.ai/statement-on-ai-risk , Übersetzung E. K.

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Die Stunde der “Experten” https://condorcet.ch/2023/12/die-stunde-der-experten/ https://condorcet.ch/2023/12/die-stunde-der-experten/#comments Fri, 08 Dec 2023 07:10:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=15432

Es ist die Stunde der Expertinnen und Experten, die derzeit die Medienwelt mit ihren Ratschlägen überfluten. Condorcet-Autor Felix Schmutz kommentiert einige Aussagen und bringt seine eigene Sicht in seinem Beitrg ein.

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Felix Schmutz: Was sollen wir denn noch tun, um die Lesefähigkeit der 25% funktionalen Analphabeten zu verbessern?

Pünktlich zum Nikolaus-Tag schneien uns die PISA-Resultate ins Haus. Beim Nikolaus kommt allerdings zuerst das Sündenregister mit der Rute, zur Versöhnung anschliessend schüttet er den Sack mit den Nüssen, Mandarinen und Süssigkeiten aus.

Besser als der Durchschnitt

Bei PISA ist es umgekehrt: Zuerst die Beruhigungspille («Besser als der Durchschnitt», «Sehr gut in Mathematik und Naturwissenschaften, gut im Lesen»), dann das Lamento («Ein Viertel der 15-Jährigen versteht nicht, was es liest», «insgesamt nehmen die Leistungen ab», «die Mädchen schlecht in Mathe»).

Expertenkommentare

Reflexartig folgen die Kommentare der medial befragten Weisen, die sich etwa so zusammenfassen lassen:

  1. Die soziale Herkunft bestimmt über die Leistung. Vermutung: Die Privilegierten sind besser digitalisiert, wodurch sie Vorteile bei digitalisierten Unterrichtsformen haben. (Andrea Erzinger, BaZ)
  2. Andrea Erzinger, Universität Bern: Mädchen haben Angst vor der Mathematik.

    Mädchen haben Angst vor Mathematik. Warum ihre «Selbstwirksamkeit» schwächelt, ist unklar, da doch so vieles unternommen worden sei, um ihr Interesse an MINT zu wecken. (Andrea Erzinger, BaZ)

  3. Mit der frühen Niveau-Selektion in der Sekundarstufe würden die Aufstiegschancen für Benachteiligte erschwert. Das sei «wissenschaftlich untermauert». (Andrea Erzinger, BaZ)
  4. Der hohe Anteil an Migranten drücke auf den Leistungserfolg.
  5. Die Einstellung von Quereinsteiger-Lehrpersonen ohne genügende Ausbildung wirke sich aus. (Dagmar Rösler, BaZ)
  6. Die Eltern müssten mehr zum Lesen motivieren, die Schule könne nicht alleine für den ausbleibenden Erfolg verantwortlich gemacht werden. (Dagmar Rösler, BaZ)
  7. Lesen spiele keine so grosse Rolle mehr in der modernen Welt, das Audiovisuelle der Medien sei heute wichtiger. (Philipp Wampfler, Radio SRF)

Was Experten verschweigen

Auffällig abwesend im Reigen dieser angebotenen Erklärungen sind drei sehr naheliegende, aber ideologisch inopportune Tatsachen:

  1. Die integrative Schule bringt Unruhe in den Klassenverband, die Unruhe geht auf Kosten der Konzentration und der Lernzeit.
  2. Die Frühfremdsprachen stehlen Übungszeit in der wichtigen Aufbauphase der Lese- und der Rechenfähigkeit und beim Aufbau des Orientierungswissens.
  3. Mit dem Lehrplan 21 wurde Wissen abgewertet, bzw. als Sachkenntnis den Kompetenzen geopfert und der Beliebigkeit überantwortet. Fürs Leseverständnis sind jedoch je nach Text medizinisches, biologisches, historisches, literarisches Grund- und Orientierungswissen unabdingbar. Jugendliche versagen dann nicht wegen des Lesens, sondern wegen der im Text angesprochenen Sachverhalte, mit denen sie nicht vertraut sind.
Philippe Wampfler Lehrer in der Kantonsschule Enge und Experte für Lernen mit Neuen Medien. Mai 2020: Lesen spielt keine grosse Rolle mehr.

Folgen früherer PISA-Tests

Frage: Haben wir die Punkte 1 – 7 nicht schon bei früheren PISA-Verlautbarungen von den Experten gehört? Haben schwache PISA-Resultate nicht schon vor über 20 Jahren zu Reformbemühungen geführt?

Beispielsweise haben wir wegen PISA den Kompetenzlehrplan 21 eingeführt. Lesekompetenzen wurden in zig Einzelfertigkeiten aufgeschlüsselt und in «Mindsteps» abgearbeitet. Wegen PISA wurden Lesenächte, Lesestunden, Autorenbesuche, Schulbibliotheken, Klassenlektüre gefördert. Medienwirksam wurden solche Aktivitäten jeweils präsentiert.

Investiert wird schon lange in die Frühförderung. Wurde ernsthaft evaluiert, z.B. in Vergleichsstudien, ob diese Frühförderung fürs Lesen in den letzten 15 Jahren irgendetwas gebracht hat? Offenbar ist der Erfolg ausgeblieben, wenn der Anteil der Lese-Unfähigen wieder um 5% gestiegen ist.

Eines ist klar: Auch unter denjenigen, die als Fachexpertinnen und -experten befragt wurden, herrscht letztlich totale Ratlosigkeit. Sie sagen das, was sie schon immer sagten, denn die PISA-Ergebnisse ergeben keine Kausalitäten, sondern nur Korrelationen zwischen Leistungsdaten und Befragungen. Interpretieren kann jeder nach seinen ideologischen Vorlieben. Medienschaffende sollten hier kritischer nachhaken, wenn sie die immer gleichen Weisheiten (siehe oben) zur Antwort erhalten.

Hektisch ergriffene behördliche Massnahmen oder gross angelegte Verbesserungsprojekte zielen deshalb immer ins Unbestimmte, gründen auf der Vermutung, dass man den Grund für die Mängel gefunden habe und die Reformübung Abhilfe schaffen werde. Allerdings sind die Möglichkeiten für Reformen allmählich ausgeschöpft. Was sollen wir denn noch tun, um die Lesefähigkeit der 25% funktionalen Analphabeten zu verbessern?

Verstehendes Lesen ist grundsätzlich nicht an ein Medium geknüpft. Die Kompetenzen werden bei jedem Medium, das Text vermittelt, gebraucht.

Lesen ein Auslaufmodell?

Interessant in diesem Zusammenhang ist Philipp Wampflers Äusserung, dass die konservative Lesefähigkeit heute nicht mehr gebraucht werde, da die Menschen sich mit audiovisuellen Medien behelfen könnten. Dies kontrastiert mit der Feststellung der OECD, dass die von ihr definierte Lesefähigkeit als Minimum für die Bewältigung der Lebensaufgaben gebraucht werde. Wer hat Recht?

Zur Beantwortung dieser Frage genügt schon der gesunde Menschenverstand:

Verstehendes Lesen ist grundsätzlich nicht an ein Medium geknüpft. Die Kompetenzen werden bei jedem Medium, das Text vermittelt, gebraucht.

Text, Bild und Ton verstehend zu verknüpfen, ist jedoch eine zusätzliche Kompetenz, die vom reinen Lesen zu trennen ist. Didaktisch sinnvoll wäre es, mit dem einen zu beginnen und dann erst zum nächsten überzugehen. Wampfler hingegen will – bildlich gesprochen – den Stemmbogen überspringen und gleich zum Wedeln übergehen.

Die Digitalisierungseuphorie sollte uns deshalb nicht dazu verleiten, grundlegende Fähigkeiten nicht mehr zu vermitteln und zu üben.

Texte entziffern und verstehen sollte vom didaktischen Standpunkt aus gesehen am ehesten zunächst an einem Medium geübt werden, das materiell greifbar und drehbar ist wie ein Blatt Papier oder Buchstaben zum Legen und Verschieben. Einmal am Blatt oder Buch gemeistert, lassen sich die Kompetenzen auf den Bildschirm übertragen.

Die Digitalisierungseuphorie sollte uns deshalb nicht dazu verleiten, grundlegende Fähigkeiten nicht mehr zu vermitteln und zu üben. Sie sind nach wie vor die Basis, selbst wenn das Medium des Buches, der Zeitung, des Lexikons inzwischen vorwiegend in digitaler Form konsumiert wird. Gelernt werden muss analog, so ist nun einmal unser Gehirn eingerichtet.

Was tun?

  1. Dem PISA-Test gegenüber sollte man mit kritischer Distanz gegenübertreten: Wer legitimiert die Prüfungsinstanz festzulegen, welche Punktzahlen Mindestanforderungen bedeuten? Sind die Prüfungsaufgaben sachlich korrekt, valide? Wer kontrolliert die Kontrollierer? Eine unabhängige Überprüfung müsste erfolgen.
  2. In den Schulen sollte mehr Zeit für die basalen Fähigkeiten Lesen, Rechnen, Schreiben, Sachwissen zur Verfügung gestellt werden. Die digitalen Mittel sollten erst in der zweiten Hälfte der Volksschule Einzug halten. Die basalen Fähigkeiten bilden die Grundlage für ein erfolgreiches Hantieren mit Digitalität, nicht umgekehrt.
  3. Schulischer Unterricht bedeutet, dass ausgebildete Lehrpersonen den Lernstoff in geeigneter Weise vermitteln. Diese zivilisatorische Errungenschaft wird heute krass unterschätzt. Zweieinhalb Tausend Jahre Wissen können sich Kinder und Jugendliche nicht selbst beibringen. Sie müssen angeleitet und geführt werden und dürfen beim Lernen nicht nur sich selbst überlassen werden. «Teaching and Learning statt Coaching and Drowning» muss die Devise sein. Die Ausbildungsinstitutionen sind darauf zu verpflichten, die künftigen Lehrkräfte in diesem Sinne vorzubereiten.
  4. Der Kompetenzlehrplan 21 sollte abgelöst werden durch einen Lehrplan, der verbindliche Wissensbestände und ihre Anwendungen enthält. Kompetenzen ergeben sich aus der Beschäftigung mit und dem Lernen an sachlichen Themen.
  5. Die Fremdsprachen sollten frühestens im vierten, spätestens im fünften Schuljahr beginnen, die zweite Fremdsprache frühestens im sechsten, spätestens im siebten Schuljahr. Bei Überforderung ist auf eine zweite Fremdsprache zu verzichten.
  6. In den Klassen der Volksschule soll eine ruhige Arbeitsatmosphäre oberstes Gebot sein. Für Kinder und Jugendliche, die sich nicht einordnen können, müssen sinnvolle Angebote zeitweise oder langfristig zur Verfügung stehen.

Eine Utopie? Es wäre einmal eine Alternative, nachdem wir alles andere erfolglos versucht haben.

 

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Plädoyer für eine Renaissance der Schullektüre https://condorcet.ch/2023/11/plaedoyer-fuer-eine-renaissance-der-schullektuere/ https://condorcet.ch/2023/11/plaedoyer-fuer-eine-renaissance-der-schullektuere/#comments Sun, 26 Nov 2023 15:25:55 +0000 https://condorcet.ch/?p=15376

Condorcet-Autor Carl Bossard mahnt zur Rückkehr zu einem konzentrierten Lesen und fordert eine Renaissance der Lektüre.

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Wir wissen es schon lange, doch wir verdrängen es. Die NZZ am Sonntag machte es vor Kurzem wieder publik: Die Lesefreude nimmt bei den Jugendlichen ab – ebenso wie die Lesefähigkeit generell. Seit Jahren sinkt sie. Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelt damit unter dem Durchschnitt und klar hinter Nachbar Deutschland!

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Die Gruppe derer, die einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Textteilen nicht herstellen können, wuchs auf 24 Prozent. Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verständig lesen, diagnostiziert die PISA-Studie. Er ist nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Er vermag das Geschriebene zwar zu entziffern, versteht aber das Gelesene im Gesamtkontext nicht. Das ist besorgniserregend. Auch demokratiepolitisch. Lesen bleibt der Schlüssel fürs Lernen und die Teilhabe an der Welt – und unserer Demokratie.

Das Kernproblem der mangelnden Lesekompetenz nicht weniger junger Menschen liegt beim Verstehen. Konzentrierte Lektüre wird seltener, das intensive Lesen nimmt ab. Usanz ist heute das Lesen von WhatsApp-Nachtrichten und von flüchtig gescannten Kurztexten. Das gehört zum Leben junger Leute, ebenso Social-Media-Kanäle wie Tiktok. Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones. Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen.

Steigendes Unbehagen am Lesen

Dass vieles so leicht zu haben ist, zeitigt Folgen. Wer kurze Wege gewohnt ist, reagiert unwirsch auf längere, oder anders gesagt: Die Welt der nicht alltäglichen Sprache, des differenzierenden Diskurses ist für manche Schülerinnen und Schüler eine unvertraute Gegend. Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird für sie zur Schwerstarbeit, die Aufgabe einer nuancierten Versprachlichung zur subjektiven Zumutung. So öffnen sich neue Sprachbarrieren. Das Unbehagen am Lesen steigt. Umso mehr müsste die Schule hier Gegensteuer geben und die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten herausholen und ihnen als Brückenbauerin andere (Lese-)Welten einsichtig machen – und sie darin trainieren. Die Freude am Lesen kommt mit dem Können. Es ist eine Überbrückungsarbeit zwischen den Schülerhorizonten und dem elementaren Bildungsauftrag der Schule. Dies nicht zuletzt im Interesse von Kindern, die aus sozial eher schwächeren Familien kommen und es schwerer haben. Hier liegt eine der ganz wichtigen Aufgaben der Schule. Auch in demokratiepolitischer Hinsicht. Lesekompetenzen und Formen des Lesens sind keine Relikte eines analogen Zeitalters.

Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird für so manche Schülerinnen und Schüler heute zur Schwerstarbeit.

Nicht “mehr und Zusätzliches” wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität. Das bedeutet für Lehrpersonen einen spürbaren Zuwachs an Anstrengung, bleibt aber als Aufgabe und didaktische Pflicht. Dieser Auftrag braucht Zeit. Doch sie fehlt. An der Schule muss zu vieles gleichzeitig erarbeitet werden: Deutsch, Frühenglisch, Frühfranzösisch, die ganze Integration und anderes mehr. Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Lehrerinnen und Lehrer kommen deutlich weniger zum Üben. Aus der Gedächtnispsychologie wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt auch für die grundlegende Kulturtechnik des Lesens.

Wachsende Aufgabenfülle reduziert die Übungszeit

Vertieftes und konzentriertes Lesen oder “deep reading”, wie es die Leseforschung nennt, muss geduldig gelehrt, intensiv und auch gemeinsam geübt und reflektiert werden. Aus Sicht der Wissenschaft zuerst mit analogen und erst dann mit digitalen Medien. Dazu schreibt Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler und Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: “Wir brauchen eine Renaissance der Lektüre, eine Renaissance des Leseunterrichts, und zwar im Kern des Curriculums, mit Lektürestunden in jeder Schulart und in jedem Schulfach.” Es ist das alte Postulat: “Get the fundamentals right, the rest will follow.” Auf die guten Grundlagen kommt es an!

 

Carl Bossard

Ehemaliger Direktor Kantonsschule Luzern und Gründungsrektor Pädagogische Hochschule PH Zug

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