Studien - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 30 Sep 2023 07:53:09 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Studien - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Die Bevölkerung hat dies schon längst verstanden https://condorcet.ch/2023/09/die-bevoelkerung-hat-dies-schon-laengst-verstanden/ https://condorcet.ch/2023/09/die-bevoelkerung-hat-dies-schon-laengst-verstanden/#comments Fri, 29 Sep 2023 10:29:15 +0000 https://condorcet.ch/?p=15037

Ein breit abgestütztes Komitee aus Mitte, FDP, GLP und Bildungsexperten möchte in den Zürcher Gemeinden bei Bedarf wieder Kleinklassen, also Förderklassen für Schüler mit besonderen Bedürfnissen, einführen. Yasmine Bourgeois, Schulleiterin, Condorcet-Autorin und FDP-Gemeinderätin in Zürich hat vergangene Woche mit zahlreichen Mitstreiterinnen und Mitstreitern die Initiative für die Wiedereinführung von Kleinklassen lanciert. Alain Pichard hat mit ihr gesprochen.

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Condorcet

Frau Bourgeois, die Initiative lässt es den Gemeinden offen, wieder Förderklassen einzuführen. Sie verpflichtet sie aber, diese bei Bedarf zur Verfügung zu stellen. Wer entscheidet über den Bedarf?

Yasmine Bourgeois, Zürich, Primarlehrerin, Schulleiterin, Gemeinderätin FDP und Mitinitiantin der Volksinitiative: Der Gegenwind stärkt die Flügel.

Yasmine Bourgeois

Das ist in der Regel die Schulpflege. Sie ist vor Ort und kennt die Verhältnisse, da sie mit Schulleitung und Lehrkräften laufend direkt in Verbindung steht.

Mit anderen Worten, die Gemeinden können auch auf die Einführung der Förderklassen verzichten?

Wenn kein Bedarf herrscht, ist das so. Die Initiative will den Entscheid den Leuten an Ort überlassen und respektiert die Gemeindeautonomie. Wenn aber ein Bedürfnis besteht, muss sie es tun.

Und was passiert, wenn die Förderklasse zwar eröffnet wird, die Eltern aber auf der integrierten Schulung bestehen?

Man kann die Eltern nicht zwingen. Ich bin aber überzeugt, dass sich viele Widerstände im direkten Gespräch lösen lassen werden. Die Förderklasse ist ja nicht nur als Entlastung für die Regelklassen und deren Lehrpersonal gedacht, sondern sie berücksichtigt vor allem auch die spezifischen Bedürfnisse der betroffenen Kinder.

Die Zuteilung in eine Förderklasse bringt den Kindern den dringend benötigten Schutzraum. Es geht hier keinesfalls um ein Abschieben.

Alain Pichard, Condorcet-Autor, führte das Gespräch.

Glauben Sie? Sie werden doch stigmatisiert, wenn sie in Förderklassen abgeschoben werden.

Die Zuteilung in eine Förderklasse bringt den Kindern den dringend benötigten Schutzraum. Es geht hier keinesfalls um ein Abschieben. Die Kinder erhalten eine angepasste Förderung, werden von Heilpädagogen unterrichtet und können verlässliche Beziehungen aufbauen. In vielen inkludierten Schulen erfahren die schwächeren und die verhaltensauffälligen Kinder eine alltägliche Stigmatisierung, was häufig auch der Grund für eine verstärkte Verhaltensauffälligkeit ist.

In der gegenwärtigen Debatte geht es ständig um die verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen. Sie verunmöglichen teilweise einen Unterricht und bringen die Lehrpersonen an den Rand der Belastbarkeit. Wenn ich Sie richtig verstehe, sollte es aber auch Kleinklassen für die schwächeren Schüler geben.

Ja, das ist meine Überzeugung. Denn grundsätzlich müssen die Kinder in der Schule optimal gefördert werden, also ihr Leistungsvermögen ausschöpfen können. Die Gefahr bei diesen Kindern, die sich oft sehr brav und unauffällig benehmen, ist, dass sie untergehen, weil die Lehrkraft viel zu wenig Zeit hat, sich ausgiebig um sie zu kümmern.

Verhaltensauffällige und schwache Kinder in eine einzige Kleinklasse zu versetzen, kann ja auch nicht die Lösung sein. Die schwächeren, aber willigen Kinder drohen unter die Räder zu kommen.

Diese Gefahr besteht immer, ist aber in der Regelklasse viel ausgeprägter. Die Initiative überlässt es den Behörden, hier die praktikablen Lösungen zu finden. Aber vergessen Sie nicht, diese zukünftigen Förderklassen werden von Heilpädagogen geführt, also von Profis, die genau für diese Situationen ausgebildet sind.

Im Prinzip haben wir im Kanton Bern dieses Modell, das Sie in Zürich einführen wollen, schon längstens. Die linke Stadt Biel zum Beispiel hat Kleinklassen und niemand in dieser Stadt will sie abschaffen. Warum tut man sich in Zürich so schwer mit diesem Anliegen?

Viele Lehrkräfte sowie ein Grossteil der Eltern – kurz ein grosser Teil der Bevölkerung – haben schon längstens eingesehen, dass die Verabsolutierung des Inklusionsgedanken ein Irrweg ist. Es ist diese Allianz von einem Teil der Wissenschaft, Politik und Verwaltung, die das noch nicht einsehen und handeln will.

Warum nicht?

Niemand gibt gerne zu, dass er sich geirrt hat…

Diese Studie bemängelt übrigens auch die Qualität vieler Studien. Viele sind Auftragsstudien. Die sind genauso mit Vorsicht zu geniessen, wie wenn der TCS eine Studie in Auftrag gibt, welche die Umweltwirkung von Tempo 30 widerlegen soll.

Immerhin zitieren die Leute dieser Allianz oft die Wissenschaft, nach der es klar sei, dass Inklusion nicht nur humanistisch eine gute Sache sei, sondern auch funktioniere.

Da muss ich Ihnen widersprechen. Erstens ist es nicht die Wissenschaft, sondern ein Teil der Studien, von mir aus auch eine Mehrheit, die zu diesen Befunden kommt. Ich empfehle Ihnen einmal die dänische Studie von Nina T. Dalgaard: «Die Auswirkungen der Inklusion auf

Nina Dalgaard, Bildungsforscherin Universität Kopenhagen.

schulische Leistung, sozioemotionale Entwicklung und Wohlbefinden der Kinder mit speziellen Bedürfnissen». Der Befund dieser Metastudie ist – ich zitiere: «Die Wirkung der Platzierung von Kindern mit speziellen Bedürfnissen der Stufen Kindergarten bis Schuljahr 12 in integrierte Klassen ist widersprüchlich [und uneinheitlich]. Erkenntnisse der Übersichtsstudie weisen darauf hin, dass Inklusion insgesamt das Lernen und die psychosoziale Anbindung der Kinder mit speziellen Bedürfnissen in den OECD-Ländern weder verstärkt noch abschwächt.»

Diese Studie bemängelt übrigens auch die Qualität vieler Studien. Viele sind Auftragsstudien. Die sind genauso mit Vorsicht zu geniessen, wie wenn der TCS eine Studie in Auftrag gibt, welche die Umweltwirkung von Tempo 30 widerlegen soll. Oft sind in den Studien auch Gelingensbedingungen formuliert, die nie diskutiert werden und die Forschungen sind meisten nicht „peer reviewed“, also von einer unabhängigen Fachinstanz eines Wissenschaftsmagazins überprüft. Und noch etwas: Die Studien beschränken sich auf die Effekte für Kinder mit speziellen Bedürfnissen. In integrierten Klassen gibt es jedoch eine heterogene Gruppe anderer, normal beschulbarer Kinder. Der eingeengte Blick auf die Benachteiligten schliesst den Aspekt der normal Beschulbaren und den Einbezug von deren Bedürfnissen oft aus, bzw. begnügt sich mit pauschalen Annahmen. Ich halte mich da an die Praxis, den Alltag, und den erlebe ich selbst als Schulleiterin.

Sie sind Mitglied der FDP und als Schulleiterin in der links-dominierten Zürcher-Schullandschaft fast noch seltener als der Apollo-Falter auf unseren Wiesen. Wie politisiert es sich aus dieser Minderheitsposition?

Man könnte mit einem ergänzenden Bild antworten. Der Gegenwind stärkt die Flügel. Man benötigt schon etwas dicke Haut Damit muss ich leben.

Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge und Buchautor:
Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge und Buchautor: Lernten uns durch den Condorcet-Blog kennen.

Schulleiterin, Mitglied des Gemeinderats, Initiantin einer Volksinitiative und Nationalratskandidatin der FDP… ist das nicht ein wenig viel?

Ja, das stimmt… Ab und zu ist die Belastung enorm. Ich habe ein gutes Umfeld und bin belastbar. Das hilft…

Sie sind Condorcet-Autorin, hilft Ihnen unser Bildungsblog auch?

Er liefert mir wertvolle Informationen und auch Kontakte. Den Heilpädagogen Bonfranchi, der bei unserer Initiative mitwirkt, oder den ehemaligen SP-Präsidenten in Basel, Roland Stark, der in Basel eine ähnliche Initiative lanciert und erfolgreich eingereicht hat, habe ich in Ihrem Blog kennengelernt. Und ja, das muss ich auch feststellen: Im Condorcet-Blog kommen beide Seiten zu Wort. Man erhält auch Gegeninformationen, was die Diskursfähigkeit stärkt.

Frau Bourgeois, wir danken Ihnen für das Gespräch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Die integrative Schule unter der Lupe https://condorcet.ch/2023/04/die-integrative-schule-unter-der-lupe/ https://condorcet.ch/2023/04/die-integrative-schule-unter-der-lupe/#comments Sun, 30 Apr 2023 12:50:03 +0000 https://condorcet.ch/?p=13778

Condorcet-Autor Felix Schmutz entblättert das ständig zitierte Narrativ der vielen Studien, die den Wert der Integration bestätigen sollen.

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Felix Schmutz, BL:
Den Studien haften grundsätzliche Mängel an.

Verfechter der schulischen Integration von Kindern mit speziellen Bedürfnissen (KSB) verweisen gerne auf Studien, die beweisen sollen, dass KSB

  1. in Regelklassen weniger stigmatisiert würden als in separativen Angeboten,
  2. bessere schulische Erfolge erzielten, da sie von den nicht beeinträchtigten Kindern profitieren könnten.

Ferner wird behauptet, dass die nicht beeinträchtigten Kinder in integrierten Klassen nicht schlechter abschnitten als in nicht-integrierten, dass sie ausserdem aus der Anwesenheit der KSB sozial lernen könnten.

Gleichzeitig wird landauf, landab das Scheitern von zehn Jahren Integration festgestellt. Klassen seien oft nicht mehr führbar wegen der störenden Auffälligen, die heilpädagogische Unterstützung sei ungenügend. In BS will eine Initiative mit einer zeitweiligen Aufhebung der Integration Abhilfe schaffen.

Journalistische Beiträge schildern die unbefriedigende Situation, wobei der Tenor lautet: Integration sei an und für sich eine gute Sache, allerdings seien die Gelingensbedingungen nicht erfüllt, als da wären: mehr heilpädagogische Unterstützung, bessere Ausbildung und Vorbereitung der Regellehrkräfte, spezielle Lösungen für nicht integrierbare KSB.

 

Was sagt die Forschung?

Welche Folgerungen ergeben sich nun aber aus der Forschung zum Thema Integration der KSB in Regelklassen im Vergleich zur Beschulung der KSB in separativen Klassen? Welche Faktoren im Zusammenhang mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen der Kinder und mit unterschiedlichen organisatorisch-pädagogischen Massnahmen beeinflussen die Wirkung der Integration?

Erhellend ist folgende ausführliche Übersichtsstudie: «Die Auswirkungen der Inklusion auf schulische Leistung, sozioemotionale Entwicklung und Wohlbefinden der Kinder mit speziellen Bedürfnissen» von Nina T. Dalgaard et al., 2022. 1

Die methodische Qualität der Studien ist allgemein unbefriedigend.

Es handelt sich um eine gründliche Analyse aller in Frage kommenden 20’183 Studien ab Jahr 2000, von denen 94 aus 19 verschiedenen Ländern in Betracht kamen. Lediglich 15 davon befriedigten qualitativ, 79 waren derart einseitig («biased»), dass die Resultate als irreführend angesehen wurden.

Das Autorenkollektiv stellt fest, dass den Studien grundsätzliche Mängel anhaften:

  1. Die Studien sind nicht randomisiert: d.h. KSB wurden nicht zufällig in separative oder inkludierende Klassen eingeteilt.
  2. Die methodische Qualität der Studien ist allgemein unbefriedigend.
  3. Die Studien unterscheiden nicht zwischen den Typen von Beeinträchtigungen und den Arten von schulischen Integrationsmassnahmen. Damit werden Faktoren, welche die Wirksamkeit der Integration beeinflussen können, vernachlässigt.
  4. Eine umfassende Theorie zur Art und Weise der pädagogischen Integration fehlt bisher. Es besteht lediglich ein moralisch-politischer Imperativ, der den diskriminierungsfreien Unterricht für alle Kinder fordert. (Salamanca, 1994)

Der eingeengte Blick auf die Benachteiligten schliesst den Aspekt der normal Beschulbaren und den Einbezug von deren Bedürfnissen oft aus, bzw. begnügt sich mit pauschalen Annahmen.

Effektstärken der Integration und der Separation

Zur Frage der Effektivität der Integration kommen die Autorinnen und Autoren zu folgendem Schluss:

«Die Wirkung der Platzierung von Kindern mit speziellen Bedürfnissen der Stufen Kindergarten bis Schuljahr 12 in integrierte Klassen ist widersprüchlich [und uneinheitlich]. Erkenntnisse der Übersichtsstudie weisen darauf hin, dass Inklusion insgesamt das Lernen und die psychosoziale Anbindung der Kinder mit speziellen Bedürfnissen in den OECD-Ländern weder verstärkt noch abschwächt.»

Die Studien zeigen allerdings starke Ausschläge in positiver und negativer Richtung für beide Organisationsformen: «Während einige Kinder mit speziellen Bedürfnissen von der Platzierung in integrierten Klassen profitieren, können andere von einem traditionellen Unterricht in einem segregierten Umfeld profitieren.»3

Deshalb betont die Studie “die Notwendigkeit, Kinder mit spezifischen pädagogischen und psychosozialen Bedürfnissen individuell abzuklären, anstatt sie in einem Einheitsverfahren in Spezialklassen zu platzieren.»4

Im Übrigen plädiert die Studie für eine qualitativ bessere Forschung, die vermehrt auf die unterschiedlichen Typen von Beeinträchtigungen fokussiert.

Eigenes Fazit:

  1. Die Behauptung, Stigmatisierung werde in separativer Beschulung verstärkt und Lernfortschritte seien geringer, lässt sich in dieser allgemeinen Form nicht aufrechterhalten. Es gibt keine signifikanten Unterschiede zwischen Integration und Separation, wenn Studien auch in beiden Settings positive und negative Ausschläge verzeichnen, wofür die Gründe in noch nicht genügend erforschten Faktoren zu suchen sind.
  2. Die oft zitierten Studien werden einem strengen wissenschaftlich-methodischen Massstab nicht gerecht. Dies bedeutet, dass die Erfahrungen der Praxis ernsthafter zu gewichten sind, als dies bisher von Erziehungsfachleuten geschehen ist. Ideologischer Eifer sollte einer nüchternen Einschätzung der Wirkung von separativer und integrierter Beschulung je nach individuellen Bedürfnissen und organisatorischen-pädagogischen Möglichkeiten weichen.
  3. Die Studien beschränken sich auf die Effekte für Kinder mit speziellen Bedürfnissen. In integrierten Klassen gibt es jedoch eine heterogene Gruppe anderer, normal beschulbarer Kinder. Die Wirkung der Integration auf diese Gruppe müsste ebenfalls seriös abgeklärt werden. Der eingeengte Blick auf die Benachteiligten schliesst den Aspekt der normal Beschulbaren und den Einbezug von deren Bedürfnissen oft aus, bzw. begnügt sich mit pauschalen Annahmen.

 

1 Nina T. Dalgaard | Anja Bondebjerg | Bjørn C. A. Viinholt | Trine Filges:

The effects of inclusion on academic achievement, socioemotional development and wellbeing of children with special educational needs, VIVE—The Danish Centre for Social Science Research, Copenhagen, Denmark. Campbell Systematic Reviews. 2022.)

2  The effects of placing children with special needs in grades K]12 into inclusive educational settings are inconsistent. Findings from this review suggest that, in general, inclusion neither increases nor decreases learning and psychosocial adjustment of children with special needs in the OECD countries. (p.3)

3  while some children with special needs may benefit from inclusive educational placement, other children may benefit from traditional special education in a segregated setting. (p.4)

4  the need for an individual assessment of the specific child’s educational and psychosocial needs rather than a one-size-fits-all approach to placement in special education. (p.4)

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Wenn die Kernproblematik ausgeblendet wird https://condorcet.ch/2023/04/wenn-die-kernproblematik-ausgeblendet-wird/ https://condorcet.ch/2023/04/wenn-die-kernproblematik-ausgeblendet-wird/#respond Fri, 07 Apr 2023 14:35:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=13595

Er hat schon viele Studien gelesen. Auch die neuste Untersuchung der Dienststelle für Volksschulbildung in Luzern (Büro Barbara Häring GmBH, 64 Seiten) hat er sich angetan: Sein Fazit: Immer die gleiche Rhetorik, immer die bekannten Resultate, immer am Kern vorbei. Unbeachtet bleiben die Grundwidersprüche im Bildungssystem. Ein Lehrstück bürokratischen Leerlaufs – findet Condorcet-Autor Carl Bossard.

Die Flucht aus dem Schulzimmer liegt im Systemischen.

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Im Kanton Bern unterrichtet jede zehnte Lehrperson ohne ausreichendes Diplom. Fast 750 Lehrstellen sind aktuell im Kanton Zürich offen, über 220 Stellen im Luzernischen neu zu besetzen. 226 Lehrerinnen und Lehrer verliessen 2022 die Schwyzer Volksschule, so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr. Der Mangel an qualifiziertem Fachpersonal ist akut. Allein von den Heilpädagoginnen und Heilpädagogen sind 60 Prozent nicht genügend qualifiziert. Die Problematik verschärft sich. Darum können auch Personen ohne pädagogisches Studium unterrichten. Ein Fakt mit Folgen für die Unterrichtsqualität.

Der Kernauftrag hat sich massiv erweitert

Ausgebildet werden genügend Lehrerinnen und Lehrer. Das weiss man. Doch viele fliehen in Teilpensen oder verlassen das Schulzimmer bald einmal. Die Gründe sind längst bekannt, die Belastungsfaktoren vielfach genannt: Der Beruf an sich bereitet Freude; die Arbeit mit den Kindern erfüllt mit Sinn. Doch verhaltensauffällige Schüler belasten den Alltag enorm. Der Wegfall der Kleinklassen als Folge der Integration ganz unterschiedlicher Kinder in die gleiche Lerngemeinschaft verstärkt die Unruhe im Klassenraum. Das erschwert den Unterricht und erhöht den Zeitbedarf fürs einzelne Kind. Die Koordinationsabsprachen mit all den Betreuungspersonen sind anspruchsvoll; der administrative Aufwand steigt. Die Arbeitszeit reicht vielfach nicht aus. Das geht auf Kosten des Kernauftrags Unterricht. Und diese Aufgabe hat sich über die Fächerfülle massiv erweitert.

Die Belastungsfaktoren liegen offen

Dazu kommt Äusseres: Die intensive Reformwelle der vergangenen Jahre erhöht die Ansprüche an die Schule und damit die Widersprüche im Unterrichtsalltag; gleichzeitig nimmt die Wertschätzung aus Politik und Elternhaus ab. Vielerorts stagniert der Lohn.

All das ist längst offengelegt. Man kennt die Kernursachen des Lehrermangels, man weiss um die Motive des Berufsausstiegs – und doch werden noch immer Befragungen durchgeführt. Jüngstes Beispiel ist der Kanton Luzern. Die Dienststelle Volksschulbildung liess über das Büro Barbara Häring GmbH, Zürich, einen detaillierten Bericht zum „Lehrpersonenmangel“ erarbeiten.[1] Verfasst hat ihn der Politologe Hans-Martin Binder. Er umfasst 64 Seiten und resümiert eine Umfrage bei rund 3‘000 Lehrerinnen und Lehrern.

Die Flucht aus dem Schulzimmer liegt im Systemischen

Die Studie zeitigt kaum Neues. Sie nimmt die Stimmen der Lehrer auf und bündelt sie in Tabellen und Grafiken. Der Tenor ist allseits bekannt. Vieles bleibt so an der Oberfläche: anspruchsvoller und aufreibender Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern sowie Zeitmangel für den Kernauftrag Unterrichten, kompliziertes Lohnsystem und abnehmendes Berufsprestige.

Die eigentliche Ursache für den Exodus aus dem Schulzimmer aber liegt im Systemischen. Davon ist nicht die Rede. Die Innovationskaskade der vergangenen Jahre hat die Schule radikal verändert. Die vielen Reformen erfolgten wenig koordiniert, meist additiv und kaum aus einer Gesamtsicht heraus. Sie muten an wie eine hektische Flucht in zusätzliche Fächer und Vorschriften, in Strukturen und Formalitäten. Nach dem Ziel der Schule wurde kaum gefragt.

Unterrichten ist ein Geschehen mit Widersprüchen

Der Unterricht ist ein anspruchsvoller dialektischer Prozess.

Das pädagogische Geschehen im Klassenzimmer ist ein anspruchsvoller dialektischer Prozess. Für Lehrerinnen und Lehrer bedeutet das: Widersprüche aushalten, beispielsweise gleichzeitig Empathie und Widerstand zeigen; die Kinder verstehen und doch nicht mit allem einverstanden sein. Achtsam sein und gleichzeitig Disziplin verlangen, das Kollektiv im Auge behalten und jeden Einzelnen im Blick haben.

Die Lehrerin arbeitet im widersprüchlichen Feld von Freiheit und Ordnung; das Wirken des Lehrers bewegt sich zwischen Individuation und Sozialisation, zwischen kultureller Integration und Vermitteln von Lerninhalten sowie Einüben von Können – und natürlich zwischen den Momenten des Gelingens und des Scheiterns.

 

Jeder Wert hat einen ‹gleich-gültigen› Gegenwert

Schule – ein widersprüchliches Feld mit manchen mehrdeutigen Zielen. Statt die Zielvorstellungen zu klären, haben Bildungspolitik und -verwaltung der Schule in den vergangenen Jahren stets Neues aufgeladen: zusätzliche Fächer und Aufgaben, vermehrte Vorgaben und Vorschriften, eine forcierte externe Kontrolle über die Output-Steuerung, vervielfachte Heterogenität über die Integration und Inklusion. Das verstärkt die eh schon immanenten Widersprüche im pädagogischen Parterre. Ein Beispiel: Wenn über Frühenglisch und Frühfranzösisch auf der Inhaltsachse x zusätzliche Fächer aufgebürdet werden, reduziert sich auf der Gegenachse y die Zeit fürs Festigen. Wissen und Können aufbauen aber braucht Zeit. Doch die zwei Fremdsprachen rauben Übungszeit; sie fehlt dann anderorts, vor allem im Fach Deutsch.

Im dialektischen Spannungsfeld hat eben jeder Wert einen ‹gleich-gültigen› Gegenwert. Das Eindeutige gibt es kaum.

Wichtig wäre ein gesundes Gleichgewicht. Im dialektischen Spannungsfeld hat eben jeder Wert einen ‹gleich-gültigen› Gegenwert. Das Eindeutige gibt es kaum. Der Empathie wird als ihr dialektischer Gegenpart das positive Konfrontieren zugeordnet, dem selbstorientierten Lernen das helfende Begleiten.

Jede Form von Eindeutigkeit negiert die Gegenseite. Irgendwann kippt’s; dem können wir uns nicht entziehen. Entscheidend ist die Balance. Das gilt ganz besonders für die Schule.

Konkret: So viel Selbständigkeit der Lernenden wie möglich, so viel Unterstützung durch die Lehrperson wie nötig. Gegensätzliche Werte wie Nähe und Distanz sind ineinander verwoben. Eine polare Spannung hält sie zusammen. Wird der eine Wert maximiert, so reduziert sich der andere, der Gegenwert. Beide lassen sich nicht gleichzeitig maximieren. Die verstärkte Heterogenität beispielsweise führt zur Reduktion von Effizienz und Verbindlichkeit. Das ist keine Ideologie, sondern schlichte Proportionenrechnung, oder anders gesagt: Jede Form von Eindeutigkeit negiert die Gegenseite. Irgendwann kippt’s; dem können wir uns nicht entziehen. Entscheidend ist die Balance. Das gilt ganz besonders für die Schule.

Teure Symptombekämpfung statt Ursachenanalyse

Die Reformen der vergangenen Jahre tragen zu viel Zielwidersprüchliches in sich; in vielem ist die Balance verloren gegangen. Das bringt Schule und Unterricht in Atemnot. Hier liegt eine der Kernursachen für die Flucht aus dem Schulzimmer. Und diese Widersprüche müsste eine verantwortungsvolle Bildungspolitik aufzeigen und angehen.

Stattdessen begnügen sich Bildungsstäbe meist mit Kosmetik. Sie bekämpfen die Symptome. In Luzern mit einem attraktiveren Stellenportal und einem neuen Lohnmodell, mit einem CAS-Lehrgang für den Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern und einer zusätzlichen Kommission. Wirksame Reformen aber sehen anders aus. Sie müssten dringend angegangen werden, wenn der Lehrermangel behoben werden will. Leidtragende sind sonst die Schulkinder.

[1] https://volksschulbildung.lu.ch/-/media/Volksschulbildung/Dokumente/index/Aktuelles/bericht_lp_mangel_kt_luzern.pdf [abgerufen: 31.03.2023]

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Attacke auf das Frühfranzösisch https://condorcet.ch/2022/10/attacke-auf-das-fruehfranzoesisch/ https://condorcet.ch/2022/10/attacke-auf-das-fruehfranzoesisch/#respond Fri, 21 Oct 2022 04:36:52 +0000 https://condorcet.ch/?p=12042

Der Tamedia-Journalist Quentin Schlapbach und die Journalistin Mirjam Comtesse haben in den Berner Tageszeitungen BUND und Berner Zeitung über die neusten Entwicklungen des Frühfranzösischunterrichts berichtet. Dabei stellen sie Aussagen von einzelnen Schülerinnen Untersuchungen der Universität Freiburg gegenüber. Die Haltung der Bildungsdirektion lässt tief blicken: Wir planen keine Anpassungen.

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Mirjam Comtesse, Journalistin in der Tamedia:
Studien scheinen den Kritikern recht zu geben.

Französischunterricht in einer dritten Klasse in der Stadt Bern: Die Kinder gestalten Plakate. Ins Zentrum kleben sie ein Foto von sich. In die Ecke oben links schreibt ein Mädchen «J’aime lire» und zeichnet ein Harry-Potter-Buch dazu. Ein Bub setzt über sein Bild «Je m’appelle Moritz». Die Kinder wirken konzentriert, die Arbeit macht ihnen sichtlich Spass. Die einen verweilen allerdings lieber beim Zeichnen als beim Schreiben. «Ich finde es toll, wenn wir im Französischunterricht Übungen machen, bei denen wir auch malen und basteln dürfen», sagt die 9-jährige Elina. «Auch Vorträge machen mir Spass. Einmal durften wir unsere Haustiere vorstellen. Dafür haben wir ein Plakat auf Französisch gestaltet. Vor der Klasse habe ich dann Deutsch sprechen dürfen, nur eine Passage habe ich auf Französisch von einem vorbereiteten Blatt abgelesen.»
Elina arbeitet in der Schule mit dem Französischbuch «Mille feuilles». Das Lehrmittel, welches 2011 im Kanton Bern flächendeckend für 3. bis 6. Klassen eingeführt wurde, soll einen spielerischen Einstieg in die Fremdsprache ermöglichen. «Mille feuilles» basiert auf der Grundidee des «Sprachbades», dass die Kinder Französisch also «en passant» aufnehmen und nicht durch das Pauken von Vokabular und Grammatik. Doch in der Praxis hat dieser Ansatz nie wirklich funktioniert, wie Auswertungen zeigen.

Doch in der Praxis hat dieser Ansatz nie wirklich funktioniert, wie Auswertungen zeigen.

Keine besseren Resultate
Eine 2019 erschienene Studie des Instituts für Mehrsprachigkeit in Freiburg kommt zum Schluss, dass es um die Französischkenntnisse der Berner Schülerinnen und Schüler insgesamt schlecht bestellt ist. Nur gerade beim Hörverstehen erreichte eine Mehrheit (57 Prozent) das angestrebte Niveau. Beim Leseverstehen (33 Prozent) und beim Sprechen (11 Prozent) schnitten die Jugendlichen am Ende ihrer Schulzeit deutlich schlechter ab. Die sechs Kantone, die Frühfranzösisch im Lehrplan verankert haben (Bern, Baselland, Basel-Stadt, Solothurn, Freiburg und Wallis), steckten sich vor Jahren bewusst höhere Ziele als jene in der restlichen Deutschschweiz. Die Studie zeigt nun aber, dass Frühfranzösisch kein Vorteil ist. Obwohl die Kinder im Kanton Bern bereits ab der 3. Klasse Französisch lernen und insgesamt mehr Lektionen haben, beherrschen sie die Sprache am Ende ihrer Schullaufbahn nicht besser als etwa Jugendliche in Zürich, die erst zwei Jahre später damit anfangen.

Alain Pichard, mit 67 Jahren immer noch im Schuldienst, Mitglied des Grossen Rats des Kantons Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission (GLP): Es wäre an der Zeit, die Fakten anzuerkennen.

Das sorgt für Kritik. In Bildungsblogs und Gastbeiträgen in den Medien mehren sich die Stimmen, die Frühfranzösisch generell infrage stellen. Der Bieler Lehrer und GLP-Grossrat Alain Pichard sagt, es gebe zurzeit «durchaus Bestrebungen», am frühen Französischunterricht zu rütteln. «Als Mitglied der kantonalen Bildungskommission bin ich in allen sechs betroffenen Kantonen in Kontakt mit Parlamentariern, welche die Sache ähnlich beurteilen.» Einen Hinweis darauf, dass das Thema brodelt, gibt die Situation in Basel: Die Starke Schule beider Basel – eine Gruppierung von Eltern und Lehrkräften – will den Französischunterricht aus der Primarschule verbannen. Sie plant, im Baselbieter Landrat einen entsprechenden Vorstoss einzubringen, wie Telebasel berichtet. Auch der SVP-Bildungspolitiker Samuel Krähenbühl übt scharfe Kritik an der heutigen Praxis. «Frühfranzösisch ist im Kanton Bern gescheitert», sagt der Grossrat. Krähenbühl nimmt eine wachsende Zahl von Politikerinnen und Politikern von links bis rechts wahr, die das mittlerweile offen so aussprechen. Es scheint vor allem eine Frage der Zeit zu sein, bis auch im bernischen Grossen Rat ein ähnlicher Vorstoss wie in Baselland lanciert wird.

«Frühfranzösisch ist im Kanton Bern gescheitert.» Samuel Krähenbühl SVP-Grossrat und Bildungspolitiker

Samuel Krähenbühl, Grossrat SVP: Fühfranzösisch ist gescheitert.

Der SVP-Grossrat sitzt selbst im Vorstand des Vereins Bern-Bilingue, welcher das Ziel verfolgt, die Mehrsprachigkeit im Kanton zu fördern. Dass Bern aufgrund seiner Zweisprachigkeit dem Französischunterricht mehr Gewichtverleiht als andere Deutschschweizer Kantone, unterstützt er ausdrücklich. «Aber wenn man sieht, dass ein Konzept in der Praxis nicht funktioniert, bringt es nichts, daran festzuhalten», so Krähenbühl.

Die drei Französischmodelle
Viele Kritikerinnen und Kritiker schoben die Schuld an den schlechten Ergebnissen auch dem Lehrmittel «Mille feuilles» in die Schuhe. Der Druck auf die Berner Bildungsdirektion (BKD) ist über die Jahre so gross geworden, dass sie seit diesem Schuljahr erstmals auch Alternativen zulässt. Die Schulen haben nun die Wahl zwischen drei Modellen:

1. Sie belassen alles beim Alten:
Von der 3. bis zur 6. Klasse kommt «Mille feuilles» zum Einsatz, von der 7. bis zur 9. Klasse «Clin d’CEil», das ebenfalls vom Schulverlag plus stammt.
2. Sie wählen eine Mischform:
Für Frühfranzösisch (3. und 4. Klasse) wird weiterhin «Milles feuilles» genutzt, von der 5. bis zur 9. Klasse dann «Dis donc!», ein Lehrwerk des  Schulmittelverlags Zürich.
3. Sie wagen den Totalumbruch:
Von der 3. bis zur 6. Klasse wird das neue Lehrmitte «roule» eingesetzt, von der 7. bis zur 9. Klasse «C’est p». Beide stammen vom Klett-und-Balmer-Verlag.

Wir sind der Überzeugung, dass die Französischkompetenzen der Schülerinnen und Schüler mit allen Lehrmitteln adäquat gefördert werden.

Wie viele Schulen bereits auf dieses Schuljahr hin von «Mille feuilles» abgewichen sind, kann die BKD auf Anfrage nicht sagen. Es gebe keine entsprechende Übersicht. Und auch eine systematische Auswertung, welches der drei Modelle sich in der Praxis am besten bewährt, sei nicht geplant. «Wir sind der Überzeugung, dass die Französischkompetenzen der Schülerinnen und Schüler mit allen Lehrmitteln adäquat gefördert werden», heisst es seitens der BKD.

Wie beurteilen Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten selber? Der 13-jährige Felix, der in der zweiten Oberstufe ist, erzählt: «Ich spiele Landhockey. Dabei trainieren wir jeweils mit französischsprachigen Jugendlichen, und da habe ich schon das Gefühl, dass mir der bisherige Französischunterricht hilft. Ich kann mich recht gut verständigen und verstehe meistens auch, was die anderen sagen. Über unser Lehrmittel habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, unser Lehrer bereitet aber manchmal zur Ergänzung eigene Arbeitsblätter vor. Das finde ich gut.»

Andere Lehrmittel im Test
In der Stadt Bern, wo Felix zur Schule geht, wird «Milles feuilles» nach wie vor in allen sechs Schulkreisen eingesetzt. Jedoch gibt es seit diesem Schuljahr einzelne Klassen, die im Rahmen eines Testversuchs auch mit den anderen Lehrmitteln arbeiten. Die überarbeitete Version von «Mille feuilles» werde bei den Lehrpersonen zwar als Verbesserung wahrgenommen, sagt Schulamtleiterin Luzia Annen. «Es gibt aber nach wie vor auch kritische Stimmen.» Ein Wechsel des Lehrmittels sei deshalb in den Stadtberner Schulen «ein Thema». Nach der laufenden Testphase werde evaluiert, wie die verschiedenen Lehrmittel sich in der Praxis bewährt haben. Ob und wann in der Folge ein Wechsel stattfindet, entscheiden letztlich die Schulkreise selbst.

Annen will den Sinn von Frühfranzösisch nicht generell infrage stellen. «Aus meiner Sicht bringt Frühfranzösisch auf jeden Fall auch Vorteile und Chancen mit sich, indem Möglichkeiten geschaffen werden, dass Kinder spielerisch und altersgerecht mit der Sprache in Kontakt kommen.» Jedoch höre sie von den Schulen, dass bei der Umsetzung von Frühfranzösisch noch «justiert» werden müsse.

Die 11-jährige Mayra spricht daheim teilweise Italienisch. War es für sie schwierig, schon in der dritten Klasse eine weitere Sprachezu lernen? «Nein, mir hat das Französische von Anfang an gefallen. Das Italienische hilft mir, weil mir manche Wörter bekannt vorkommen.» Es gibt auch Kinder, die das ganz anders sehen als Mayra, Enna und Felix. Doch mehrere angefragte Stadtberner Schülerinnen und Schüler, die Französisch «sinnlos» und «doof» finden, wollten sich lieber nicht öffentlich äussern. Sie werden sich mit dem Französischunterricht wohl in naher Zukunft weiterhin arrangieren müssen. Denn auch wenn der politische Druck zunimmt, wird eine Abkehr von Frühfranzösisch nicht so schnell möglich sein.

Christine Häsler, Bildungsdirektorin: Wir haben bei Mille Feuilles reagiert.

Im Ermessen der Regierung
Der Fremdsprachenunterricht sei gemeinsam mit 22 anderen Kantonen koordiniert, sagt die Berner Bildungsdirektion auf Anfrage. Während die Westschweizer Kantone ab der 3. Klasse Deutsch büffeln, lernen die Kinder in der Ost- und der Innerschweiz zuerst Englisch. Der Kanton Bern habe als Brückenkanton entschieden, mit Französisch im 3. Schuljahr und Englisch im 5. Schuljahr zu beginnen, so die BKD. «An diesen Beschlüssen sehen wir keinen Anpassungsbedarf.» Die Kritik am Lehrmittel habe man aber ernst genommen, weshalb nun auch Alternativen zugelassen seien.

Ob es noch weitere Reformen bei Frühfranzösisch geben wird, liegt letztlich im Ermessen des Regierungsrats. Zwar kann der Grosse Rat seine Meinung in Form einer Richtlinienmotion deponieren. Weil der Erlass beziehungsweise die Genehmigung von Lehrplänen aber im Zuständigkeitsbereich der Regierung liegt, muss ein parlamentarischer Beschluss nicht verbindlich umgesetzt werden.

 

 

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Die Fakten der Madame Le Pape Racine https://condorcet.ch/2022/10/die-fakten-der-madame-le-pape-racine/ https://condorcet.ch/2022/10/die-fakten-der-madame-le-pape-racine/#comments Wed, 19 Oct 2022 15:21:32 +0000 https://condorcet.ch/?p=12023

Frau Le Pape Racine, eine glühende Anhängerin des Frühfranzösisch und Promotorin der wunderbaren Passepartout-Lehrmittelreihe, ärgerte sich fürchterlich über einen Artikel unseres Condorcet-Autors Alain Pichard in der lokalen Zeitschrift Biel-Bienne. Auf seinen Artikel, der auch im Blog aufgeschaltet ist (https://condorcet.ch/2022/10/fruehfranzoesisch-ein-amoklauf-im-bildungspolitischen-zentralmassiv/) reagierte sie mit einem langen Leserbrief. Bei einigen Aussagen lohnt es sich, den Faktencheck zu machen. Unser Condorcet-Autor Urs Kalberer hat dies übernommen.

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Urs Kalberer, Sekundarlehrer Malans: Die Studienlage ist glasklar!

Frau Christine Le Pape Racine wirft Alain Pichard in ihrem Leserbrief “Besessenheit” vor und spricht von einigen “Ungenauigkeiten” in dessen Artikel. Unter anderem schrieb sie:

“Es gab wenige, keine zahlreichen Studien, die versuchten zu belegen, dass ein früher Fremdsprachenbeginn im fremdsprachlichen Können keinen nennenswerten Effekt haben würde. Es gibt hingegen national und interntional unzählige Studien, die den Nutzen aus verschiedenen Gesichtspunkten aufzeigen.”

Die Formulierung “die den Nutzen aus verschiedenen Gesichtspunkten aufzeigen” ist bewusst nebulös und soll verwedeln, was Fakt ist. Denn unabhängig, was Frau Le Pape Racine an “verschiedenen Gesichtspunkten” ins Feld führt, ist es eine Tatsache, dass es keine Studie gibt, die den Nutzen eines frühen Fremdsprachenbeginns belegt.

Wir helfen der Dame ein wenig auf die Sprünge. Hier sind alle bekannten Studien aufgeführt, die sich dieser Thematik angenommen haben.

Frühfranzösisch und Passepartout: ein kolossaler Flop

Vor 1998

Oller JW & Nagato N (1974) ‘The long-term effect of FLES: an experiment’ in: The Modern Language Journal 58 / 1: 15-19 „ … ältere Beginner können in fünf Jahren so viel lernen wie jüngere in elf Jahren.“

  • Burstall C, Jamieson M, Cohen S & Hargreaves, M (1974) Primary French in the balance Windsor: NFER. Die Leistungen der älteren Lerner waren durchgängig signifikant höher. Diese Langzeitstudie an 17’000 Schülern hatte zur Folge, dass das Programm zum frühen Fremdsprachenlernen an Schulen in England und Wales beendet wurde.
  • Singleton D (1989) Language acquisition: the age factor Clevedon: Multilingual Matters „Die Datenlage nach Vorteilen für jüngere Schüler in einem formalen Kontext ist extrem schwach.“
  • Spada N & Lightbown PM (1989) ‘Intensive ESL programs in Quebec primary schools’ in: TESL Candada Journal 7/1: 11-32

1998 – Gesamtsprachenkonzept. Der Einfluss der Neurologie wurde massiv überschätzt. Ausserdem wurde nicht differenziert, ob der Spracherwerb naturalistisch im fremden Sprachgebiet oder in der Schule geschieht.

  • Lightbown PM (2000) ‘Classroom second language acquisition research and second language teaching’ in: Applied Linguistics 21 / 4: 431-462 „ … das Alter, in dem der Unterricht beginnt, ist weniger wichtig als die Intensität des Unterrichts und der fortgesetzte Kontakt mit der Fremdsprache.“
  • Marinova-Todd SH, Bradford SH & Snow CE (2000) ‘Three misconceptions about age and L2 learning’ in TESOL Quarterly 34/1: 9-34 „ … die Qualität des Unterrichts, die Motivation der Schüler und die Sprachumgebung sind wichtigere Faktoren im L2-Erwerb als der Zeitpunkt des Beginns des L2-Unterrichts“
  • Singleton D (2001) Age and second language acquisition. „Die Vorstellung, die altersmässigen Unterschiede beim L2-Erwerb seien nur neurologisch bedingt und verliefen in zeitmässig genau abgesteckten Grenzen … wird je länger je unglaubhafter.
  • Cenoz J (2002) ‘Age differences in foreign language learning’ in: International Review of Applied Linguistics 135-136: 125-142 „ … Schüler, welche Englisch in der 6. Klasse begonnen haben, können nach sechs Jahren besser Englisch als Schüler, welche genau gleich viele Lektionen Englisch besuchten, aber in der 3. Klasse begonnen haben.“
  • Singleton D & Ryan L (2004) (2nd Ed) Language acquisition: the age factor Clevedon: Multilingual Matters „… bei gleicher Anzahl Lektionen übertreffen die Leistungen der älteren Beginner diejenigen der jüngeren Beginner signifikant.“

 

2004 – Beschluss Einführung Frühfremdsprachen

  • Kalberer U (2005) ‘Lernt man jünger wirklich besser?’ in: Neue Zürcher Zeitung 21. 6. 2005
  • Munoz C (ed) (2006) Age and the rate of foreign language learning Clevedon: Multilingual Matters.
  • Barcelona Age Factor Project. Lief während mehr als 20 Jahren und lieferte viele Einsichten zum optimalen Start des Fremdsprachenbeginns. Resultate:
    • Späteinsteiger übertreffen jüngere Einsteiger nach einer ähnlichen Anzahl von Unterrichtsstunden;
    • Unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten: jüngere Lernende langsamer, mit “beschleunigter Progression zwischen 11 und 13 Jahren, viel schneller als zwischen 14 und 16 Jahren″ (2006:31)
    • In schulischen Kontexten, in denen es kaum Möglichkeiten für implizites Lernen und Üben gibt, können ältere Lernende schneller eine weitere Sprache erwerben.
  • Kalberer U (2007) Rate of L2 Acquisition and the Influence of Instruction Time on Achievement. University of Manchester.

Aus Schweizer Sicht:

  • Amelia Lambelet, Raphael Berthele (2014) Alter und schulisches Fremdsprachenlernen : Stand der Forschung : Bericht des Wissenschaftlichen Kompetenzzentrums für Mehrsprachigkeit
  • Pfenninger, S. E. and D. Singleton. (2017). Beyond Age Effects in Instructional L2 Learning: Revisiting the Age Factor. Bristol: Multilingual Matters. ISBN: 9781783097616
  • Berthele, R. (2019). Policy recommendations for language learning: Linguists’ contributions between scholarly debates and pseudoscience. Journal of the European Second Language Association3(1), 1–11. DOI: http://doi.org/10.22599/jesla.50 

Fazit:

 24 Jahre nach Einführung des Gesamtsprachenkonzepts warten wir noch immer auf die erste Studie aus der Schweiz, die nachweist, dass sich der frühe Beginn ausgezahlt hat.

Frau Le Pape Racine flunkert.

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Wie die Zürcher Bildungsbehörden sich eine wissenschaftliche Begründung für den Frühsprachenbeginn erschummelten https://condorcet.ch/2022/10/wie-die-zuercher-bildungsbehoerden-sich-eine-wissenschaftliche-begruendung-fuer-den-fruehsprachenbeginn-erschummelten/ https://condorcet.ch/2022/10/wie-die-zuercher-bildungsbehoerden-sich-eine-wissenschaftliche-begruendung-fuer-den-fruehsprachenbeginn-erschummelten/#respond Tue, 04 Oct 2022 12:55:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=11802 Die geneigten Leserinnen und Leser unseres Blogs mögen uns verzeihen, dass wir in letzter Zeit eine regelrechte Salve zum Frühfremdsprachenunterricht vom Stapel gerissen haben. Das kann bei der einen oder dem anderen schon einen «Gähneffekt» auslösen. Es kommt aber immer wieder zu neuen Erkenntnissen, unter anderem herbeigerufen von Papieren, die uns Mitarbeitenden des Condorcet-Blogs zugeschickt werden. Beim vorliegenden Papier handelt es sich um ein Gutachten, das von Prof. Dr. RUDOLF WACHTER erstellt wurde und aus dem Jahr 2004 stammt. Es führt uns zurück in die Vorgeschichte der Frühfremdsprachen in unserem Land, bzw. um die Frage, wie es möglich war, dass eine ganze Bildungsnomenklatura mitsamt Presse-und Parteienlandschaft den hanebüchenen Irrweg des Frühfremdsprachenunterrichts propagierten und damit Erfolg hatten?

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Prof. Dr. Rudolf Wachter, Universität Basel: Von einem unabhängigen Gutachten kann keine Rede sein.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie haben mich, den vergleichenden Sprachwissenschafter, gebeten, die wissenschaftliche Grundlage der Entscheidung des Bildungsrats und der Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, von 2005 an Englisch ab der 2. und Französisch ab der 5. Primarklasse unterrichten zu lassen, zu beurteilen, und speziell die Frage, ob es sinnvoll ist, mit beiden Sprachen bereits in der Primarschule zu beginnen.

(1) Erste Vorbemerkung: Die Erziehungsdirektion hat in dieser Frage, ein «wissenschaftliches Gutachten» eingeholt, nämlich von Prof. Dr. Otto Stern, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich, datiert vom 3.10.2002.

Da Stern in Projekten rund um den Fremdsprachunterricht an der Primarschule des Kantons Zürich und in der Entwicklung von dafür vorgesehenen Lehrmitteln massgeblich beteiligt ist, kann freilich von einem unabhängigen Gutachten nicht die Rede sein (auf «unabhängig» legt die Erziehungsdirektion sonst grossen Wert, z.B. in ihrer Broschüre «Evaluationsergebnisse zu Projekten der Zürcher Volksschulreform» vom August 2002, wo der Begriff gleich dreimal verwendet wird), und Stern weist einleitend auf die tendenziöse Stossrichtung seines Dokuments in durchaus offenherziger Weise hin:

In der Darstellung der Forschungsergebnisse werde ich eine argumentative Linie verfolgen, die dem Zweck dieses Gutachtens gerecht wird, kritischen Einwänden zur geplanten Volksschulreform fundierte Argumente[n] gegenüber zu stellen.

Solche Insider-Gutachten durch die öffentliche Hand für die öffentliche Hand werden heutzutage leider sehr oft erstellt. Sie sind in ihrem wissenschaftlichen Wert grundsätzlich fragwürdig. Aussagekräftig können sie nur sein, wenn sie zu mehreren eingeholt werden, von ausserkantonalen oder gar internationalen Fachleuten verfasst sind und die Fragen kritisch abwägen.

Im vorliegenden Fall war O. Sterns Gutachten offenbar das einzige, das die Erziehungsdirektion in dieser Frage einholte, und zwar erst nach der «Evaluation» (die, wie gesagt, im August 2002 abgeschlossen war), offenbar weil man etwas spät bemerkte, dass diese zentrale Frage überhaupt nicht «wissenschaftlich» untermauert worden war, sondern einzig auf einer politischen Idee basierte.

Der ehem. Erziehungsdirektor Ernst Buschor: Organisierte sich genehme Gutachten.

Dies ist nicht Sterns Vergehen, sondern RR Buschors und zeigt die Art und Weise, wie Politiker wissenschaftliche Gutachter für ihre Zwecke einspannen können. Denn ein anderer Wissenschafter, ja vielleicht sogar Stern selbst, hätte, wie wir gleich sehen werden, ohne Mühe auch ein kritisches oder gar negatives Gutachten zum Vorhaben der Erziehungsdirektion produzieren können. Darauf will ich hier aufmerksam machen, indem ich die «fundierten Argumente» Sterns unter die Lupe nehme.

Bei aufmerksamem Lesen von Sterns Papier wird nämlich schnell klar, dass über «Richtig» und «Falsch» in dieser Frage auf wissenschaftlicher Grundlage gar nichts ausgesagt werden kann, weil keinerlei relevante Daten existieren, weder fremde noch von Stern selbst erhobene.

Bei aufmerksamem Lesen von Sterns Papier wird nämlich schnell klar, dass über «Richtig» und «Falsch» in dieser Frage auf wissenschaftlicher Grundlage gar nichts ausgesagt werden kann, weil keinerlei relevante Daten existieren, weder fremde noch von Stern selbst erhobene. Damit ist und bleibt die Frage eine rein politische und muss durch bildungs-, sprach- und staatspolitische, finanzielle, stundenplanerische, ausbildungstechnische und dergleichen Argumente entschieden werden. Das Vorschieben eines wissenschaftlichen Gutachtens durch Buschor für die Beschlussfassung im März 2003 war eine rein taktische Massnahme.

Die Angelegenheit scheint mir im übrigen von grösster Bedeutung zu sein, da sich einerseits das Schweizerische Bildungssystem zur Zeit keine weiteren Misserfolge leisten kann und andererseits Zürich in dieser Frage eine besonders hohe Verantwortung trägt angesichts der Tatsache, dass die anderen Kantone der Ost- und Zentralschweiz nach Zürich blicken wie die Kaninchen auf die Schlange. In diesem Sinne wäre die Zürcher Erziehungsdirektion m.E. gut beraten, besonders aufmerksam auf die kritischen Stimmen aus den Kreisen der im «Schulprojekt 21» (SP21) involvierten Lehrkräfte zu hören. Diese Stimmen sind, soviel ich sehe, die einzigen, die im Rahmen der sogenannten Evaluation auf einer soliden Wissensgrundlage stehen.

Im Folgenden zerzaust Dr. Wachter bereits die fehlerhaften Annahmen von Herrn Stern und widerlegt fast alle Narrative, die dem Erlernen von Fremdsprachen nach dem Motto «Je Früher, desto besser» angedichtet worden. Das ganze Gutachten können Sie hier studieren:

wachtergutachten(3)

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