Politik - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 12 Mar 2024 05:23:15 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Politik - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Missbrauch von Wissenschaft https://condorcet.ch/2024/03/missbrauch-von-wissenschaft/ https://condorcet.ch/2024/03/missbrauch-von-wissenschaft/#respond Tue, 12 Mar 2024 05:23:15 +0000 https://condorcet.ch/?p=16151

Im Wissenschaftsbetrieb wird vermehrt darauf geachtet, dass die angestrebten Resultate von Forschungsarbeiten nicht dem politischen Mainstream widersprechen. Umso wichtiger ist es daher, nach den Grundlagen des Wissens zu fragen. Wir bringen einen Beitrag von Dieter Köhler und Andreas F. Rothenberger, der im Cicero erschienen ist.

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Auch wenn das Wort “Wissenschaft” aus etymologischer Sicht nichts mit dem “Schaffen von Wissen” zu tun hat, sondern die Beschaffenheit bzw. Ordnung des Wissens zum Gegenstand hat, so ist es dennoch passend, wenn man das Schaffen von neuem Wissen als Ziel der Wissenschaft betrachtet. Doch was zeichnet “Wissen” aus? Und woher weiss man, dass man etwas weiss?

Co-Gastautor Dieter Köhler

Politische Beschlüsse, die immanente gesellschaftliche Auswirkungen haben, sollten so gut wie nur menschenmöglich auf Fakten basieren. Dafür sollte die Politik auf seriös gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifen. Denn dadurch lassen sich die besten Vorgehensweisen festlegen, um politische Ziele zu erreichen.

Fatalerweise ist es in letzter Zeit jedoch vermehrt dazu gekommen, dass Politikerinnen und Politiker reine Beobachtungsstudien oder noch zu überprüfende Hypothesen dazu missbraucht haben, die von ihnen vorgeschlagenen Vorgehensweisen oder gar die politischen Ziele an sich als wissenschaftliche Fakten darzustellen. So wurden beispielsweise die Impfstoffe gegen Covid-19 fälschlicherweise von vielen Politikerinnen und Politikern als geeignet dargestellt, um Ansteckungen zu verhindern, oder dass diese keine ernsthaften Nebenwirkungen haben würden.

Es kommt im Wissenschaftsbetrieb nun vermehrt dazu, dass bei Forschungsarbeiten darauf geachtet wird, dass deren angestrebte Resultate nicht dem politischen Mainstream widersprechen.

 

Die negativen Auswirkungen für die Gesellschaft im Allgemeinen und die wissenschaftliche Gemeinschaft im Besonderen wurden dann noch dadurch verschärft, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die nicht in das Horn dieser Politikerinnen und Politiker stiessen, öffentlich diskreditiert wurden und um ihr Ansehen sowie ihre Karriere in der akademischen Wissenschaft fürchten mussten. Es kommt im Wissenschaftsbetrieb nun vermehrt dazu, dass bei Forschungsarbeiten darauf geachtet wird, dass deren angestrebte Resultate nicht dem politischen Mainstream widersprechen. Oder dass dem Mainstream zuwiderlaufende Resultate lieber erst gar nicht publiziert werden, um die eigene Karriere nicht zu gefährden.

“Ich denke, also bin ich”

In dieser für die Gesellschaft wie für die freie Wissenschaft bedrohlichen Gemengelage ist es daher umso wichtiger, noch einmal nach den Grundlagen des Wissens zu fragen: Was also können Menschen über sich und die sie umgebende Welt wirklich wissen? Seit jeher treibt diese Fragestellung Philosophen um und führte zu der bekannten Aussage “cogito ergo sum” von René Descartes; ich denke, also bin ich.

René Descartes, Philosoph, Mathematiker, Naturwissenschaftler 1596-1670: Zog alles in Zweifel.

Descartes zog konsequent alles in Zweifel und kam dadurch zu dem Schluss, dass jede Wahrnehmung auch ein Trugbild sein könne, und man nicht einmal sicher wissen könne, ob man träume oder nicht. Das Einzige, was man jedoch nicht sinnvoll in Zweifel ziehen könne, und deswegen das einzig sichere Wissen über die sinnlich erfahrbare Welt darstelle, sei die Tatsache, dass man zweifle. Und weil das Zweifeln eine Verstandestätigkeit sei, bedarf es zwingend eines Tätigen bzw. Denkenden, und dieser Denkende sei man selbst. Daher sei es gewiss, dass man selber existiere: “Ich denke, also bin ich.”

Politik auf der Grundlage von Beobachtungsstudien oder noch zu überprüfenden Hypothesen, wie wir sie in den zurückliegenden Jahren immer wieder erlebt haben, ist fatal.

 

Ausser dieser Aussage über unsere empirischen Wahrnehmungen gibt es kein sicheres Wissen über empirische Sachverhalte, weswegen man in den empirischen Naturwissenschaften vor Irrtümern nie gefeit ist. Selbst lang existierende Paradigmen wie z.B. das geozentrische Weltbild oder die Newtonsche Mechanik können sich aufgrund neuer wissenschaftlicher Arbeiten plötzlich als falsch oder nicht allgemeingültig erweisen. Der Philosoph Karl Popper entwickelte aus dieser Erkenntnis den sogenannten “kritischen Rationalismus”, welcher die Existenz einer Welt annimmt, zu der Menschen nur einen durch ihren Wahrnehmungsapparat vermittelten Zugang haben.

Co-Gastautor Andreas F. Rothenberger

Die Kausalität dieser Welt wird von (Natur-)Gesetzen strukturiert, die uns Menschen zwar nicht direkt zugänglich, aber aus Erfahrungen bzw. Beobachtungen ableitbar sind. Da die Schlussfolgerungen aus Beobachtungen jedoch stets vernünftig anzweifelbar sind, hat er die Methodik der “Falsifikation” entwickelt, die Imre Lakatos zum raffinierten Falsifikationismus erweiterte: Eine auf Beobachtungen basierende Annahme eines kausalen Zusammenhangs wird als Hypothese aufgestellt, die durch Experimente widerlegbar sein muss, und nur solange die experimentelle Widerlegung nicht gelingt, gilt eine Hypothese als wahr bzw. darf man sie zur Bildung von Theorien über die Welt verwenden.

Seriöse wissenschaftliche Arbeit

Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Es wird die Hypothese aufgestellt, dass das Aufspannen von 100 Regenschirmen innerhalb von 10’000 Quadratmetern die Ursache dafür ist, dass es in diesem Gebiet regnet, weil die Beobachtung besteht, dass dem sehr häufig der Fall ist, oder anders ausgedrückt: Es besteht eine starke Korrelation zwischen aufgespannten Regenschirmen und Regenfall. Experimente bei Sonnenschein ergeben jedoch das Resultat, dass dem nicht so ist, also wird diese Hypothese ad acta gelegt und es wird nach einer neuen hypothetischen Ursache für die Wirkung Regenfall gesucht.

Seriöse wissenschaftliche Arbeit beginnt eigentlich erst nach einer Beobachtungsstudie!

 

Beobachtete Korrelationen sind also kein Beleg für Kausalität, sondern dienen ausschliesslich dem Aufstellen von Hypothesen, die dann experimentell bezüglich ihrer Gültigkeit überprüft werden müssen. Nur solange eine derart gewonnene Hypothese Bestand hat, darf man davon ausgehen, dass die ihr zugrunde liegende Korrelation einen Kausalzusammenhang darstellt. Es kann aber jederzeit zu einem neuen Experiment kommen, die ihre Gültigkeit widerlegt, weswegen man sich nie sicher sein kann, dass eine Hypothese tatsächlich einen naturgesetzlichen Kausalzusammenhang widerspiegelt. Das ist die Funktionsweise seriöser empirischer Wissenschaft. Oder anders ausgedrückt: Seriöse wissenschaftliche Arbeit beginnt eigentlich erst nach einer Beobachtungsstudie!

Der aktuelle Stand der Wissenschaft

Wie oben dargelegt, kann es in der Wissenschaft also stets passieren, dass bestehende Hypothesen widerlegt werden, weil seriös aufgestellte Hypothesen widerlegbar sein müssen. Ist eine Hypothese derartig formuliert, dass sie nicht in einem Experiment überprüft – also falsifiziert – werden kann, oder ist sie mit passenden Experimenten noch nicht überprüft worden, dann darf sie nicht als aktueller Stand der Wissenschaft dargestellt werden; erst recht nicht in der Öffentlichkeit!

Politik auf der Grundlage von Beobachtungsstudien oder noch zu überprüfenden Hypothesen, wie wir sie in den zurückliegenden Jahren immer wieder erlebt haben, ist somit fatal. So darf es nicht weitergehen, ansonsten wird seriöses wissenschaftliches Arbeiten immer seltener und die Wahrscheinlichkeit für bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse und auf ihnen fussende Paradigmenwechsel wird stetig kleiner. Und gerade diese übrigens werden in der Regel von den wissenschaftlichen Aussenseitern herbeigeführt!

 

Der Text ist ein Auszug aus dem erkenntnistheoretischen Papier “Das zunehmende Verschwinden der erkenntnistheoretischen Methoden aus der Wissenschaft – Ursache vieler politischer Probleme”, das das Forum Sokrates veröffentlicht hat.

 

Dieter Köhler ist Mediziner und Ingenieur. Von 1989 bis 2014 war er Präsident des Verbandes Pneumologischer Kliniken.

Co-Autor Andreas F. Rothenberger  ist Unternehmer und Mitglied des Sokrates-Forums.

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Viele Schweizer Lehrmittel zum Klimawandel sind tendenziös und wirtschaftsfeindlich https://condorcet.ch/2023/08/viele-schweizer-lehrmittel-zum-klimawandel-sind-tendenzioes-und-wirtschaftsfeindlich/ https://condorcet.ch/2023/08/viele-schweizer-lehrmittel-zum-klimawandel-sind-tendenzioes-und-wirtschaftsfeindlich/#comments Sun, 13 Aug 2023 09:24:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=14796

Die Stiftung "Éducation 21" soll Lehrer beim Unterricht über Nachhaltigkeit unterstützen. Viele der angebotenen Materialien haben eine politische Schlagseite. Gefördert werden die Projekte häufig von deutschen Organisationen oder Ministerien. Wir schalten hier einen Artikel von Pauline Voss auf, der in der NZZ erschienen ist.

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Der Klimawandel hat viele Familien politisiert. So auch die Fischers: Kurz vor den Sommerferien ist der SUV kaputtgegangen. Wie soll die Familie jetzt ihren Alltag organisieren? Herr Fischer plädiert für ein E-Lastenrad: “Fahrradfahren würde euch allen guttun – dem Klima übrigens auch.” Die zwölfjährige Hanna will lieber ein E-Auto kaufen: “Wir müssen den Klimaschutz echt endlich ernst nehmen, Leute!” Ihr Bruder Jonathan weist darauf hin, dass für die Produktion der Batterien in den Minen Menschenrechte verletzt würden.

Gastautorin Pauline Voss, Journalistin NZZ

So oder so ähnlich wird heute Familienrat gehalten – zumindest in der etwas hölzernen Phantasie der Umweltorganisation Greenpeace. Ihr Heft “Verkehr(t)! Mobilität, Klimawandel und Perspektiven für die Zukunft” bietet Unterrichtsmaterial für die 3. bis 9. Klasse. Das Editorial beginnt mit einem Zitat von Greta Thunberg, später wird den Schülern als Vorbild eine belgische Aktivistin angepriesen, die im Kampf für saubere Luft die Strassen vor Brüsseler Schulen sperrt: “Was könntet ihr euch für eure Aktion von Annekatrien abschauen?”

Das Heft von Greenpeace zählt zu den Unterrichtsmaterialien, die im Onlinekatalog der Schweizer Stiftung “Éducation 21” zum Thema Nachhaltigkeit empfohlen werden. Die Stiftung unterstützt Schulen im Auftrag von Bund und Kantonen dabei, die “Bildung für Nachhaltige Entwicklung”, kurz BNE, umzusetzen. Finanziert wird die Stiftung unter anderem durch Beiträge der Kantone und mehrere Bundesämter.

Das Editorial beginnt mit einem Zitat von Greta Thunberg, später wird den Schülern als Vorbild eine belgische Aktivistin angepriesen, die im Kampf für saubere Luft die Strassen vor Brüsseler Schulen sperrt.

BNE ist Teil der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, die 2015 von der Uno beschlossen wurden und von den Mitgliedstaaten bis 2030 erfüllt werden sollen. Ergänzend zu den obligatorischen oder von den Kantonen empfohlenen Lehrmitteln stellt “Éducation 21” an den Lehrplänen ausgerichtete Materialien zur Verfügung.

Angst vor dem Untergang

Die Schulen befinden sich bei der Umsetzung von BNE in einem Spannungsfeld: Einerseits besteht die Gefahr, Schüler zu überfordern und Ängste zu schüren. Immerhin gaben 2021 in einer grossangelegten internationalen Umfrage 56 Prozent der befragten Jugendlichen an, die Menschheit sei “dem Untergang geweiht”. Andererseits werden sich die Kinder von heute in einer vom Klimawandel veränderten Lebens- und Arbeitswelt zurechtfinden müssen. Wird der Klimawandel im Unterricht verharmlost, dann wird man dem Bildungsauftrag nicht gerecht. Wie aber sieht guter Unterricht über den Klimawandel aus?

Aus einem Unesco-Bericht vom Dezember 2021 geht hervor, dass in fast der Hälfte von 100 untersuchten Ländern der Klimawandel in den Lehrplänen keine Erwähnung fand. Für die Untersuchung wurden Lehrpläne aus unterschiedlichen Weltregionen nach Begriffen wie “Treibhausgase” oder “globale Erwärmung” durchforstet. Zudem hebt der Bericht hervor, dass in einer weltweiten Umfrage unter Lehrern 95 Prozent den Klimawandel für ein notwendiges Thema im Unterricht hielten, aber weniger als 40 Prozent sich ausreichend befähigt fühlten, darüber zu unterrichten.

Für Schweizer Lehrpersonen bietet “Éducation 21” eine schier unüberschaubare Fülle an Material an, eingeteilt in einzelne Themendossiers. Darunter ist durchaus solide recherchiertes Material, etwa Faktenblätter zum Klimawandel für Lehrer. Doch sobald es etwas komplexer wird, sind die Informationen veraltet: Für die Sekundarstufe 2 werden als Fachliteratur eine Übersichtsseite von 2007 (der Link führt ins Leere) sowie der Bericht des Weltklimarats von 2014 angegeben, obwohl dessen neuester Bericht Anfang 2023 veröffentlicht wurde.

Auffällig ist der tendenziöse Einschlag vieler Materialien. So wendet sich das Buch “In Zukunft hitzefrei?”, das ebenfalls bereits für Drittklässler empfohlen wird, an die “letzte Generation, die den Klimawandel noch aufhalten kann”, und warnt, bald gebe es “keinen Weg zurück” mehr – eine Tonalität, die an die Klimakleber der sogenannten Letzten Generation und ihr Schweizer Pendant Renovate Switzerland erinnert.

Der Klimawandel als Fortsetzung des Kolonialismus

Das Heft “Changemaker – Zeit, dass sich was dreht” der privaten Hilfsorganisation Care Deutschland behandelt laut “Éducation 21” die Klimakrise “positiv, kreativ und differenziert” und richtet sich an die Sekundarstufe 1. So regt etwa eine “66-Tage-Challenge” zu veganer Ernährung und dem Verzicht auf Online-Bestellungen und Plastik an. Zudem solle man die Heizung ein Grad kälter stellen. Im Kapitel zu Klimagerechtigkeit wird der Klimawandel als rassistisch geprägte, moderne Fortsetzung des Kolonialismus dargestellt. Ein Link führt zu einem Youtube-Video der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim aus dem Jahr 2019, in dem sie zur Teilnahme am globalen Klimastreik aufruft und auf eine Liste mit “Klimademos in eurer Nähe” verweist.

Einige der wissenschaftlichen Erklärungen im Heft sind grob falsch. Es wird etwa behauptet, mit “Kipppunkt” werde ein einzelner Punkt bezeichnet, ab dem die Erderwärmung unumkehrbar sei. Auch die Entstehung der Wärmestrahlung der Erde wird falsch erklärt.

Im Kapitel zu Klimagerechtigkeit wird der Klimawandel als rassistisch geprägte, moderne Fortsetzung des Kolonialismus dargestellt.

Zudem wird in dem Heft darüber sinniert, warum sich in der Klimabewegung vor allem “weisse und privilegierte Menschen” engagierten: Einen klimaneutralen Lebensstil zu leben, sei eine “Geld- und Privilegienfrage”, wird behauptet. Nicht jeder könne sich Bio-Produkte leisten. Dabei zeigen die Zahlen schon seit Jahren, dass die CO2-Bilanz von reicheren Menschen deutlich schlechter ausfällt als jene von ärmeren, selbst wenn sie klimabewusst konsumieren.

Kai Niebert, Professor für Didaktik der Naturwissenschaften an der Universität Zürich, kritisiert den Ansatz, auf das Konsumverhalten der Schüler abzuzielen: “Im Hinblick auf den Bildungsauftrag ist das eine Gratwanderung.” Denn der sogenannte Beutelsbacher Konsens, der als Reaktion auf den Nationalsozialismus in Deutschland beschlossen und später von der Schweiz übernommen wurde, legt fest, dass junge Menschen in Bildungseinrichtungen nicht zu Weltanschauungen gedrängt werden dürften.

Zudem zeigen empirische Untersuchungen laut Niebert, dass sich Verhaltensänderungen nicht in wenigen Stunden Unterricht erreichen lassen. Wichtiger sei es darum, die politische Partizipationsfähigkeit der Schüler zu stärken, indem sie Zusammenhänge verstehen lernten – “beispielsweise die Wirkungsweise klimaschädlicher Subventionen”.

Für eine Studie hat Niebert weltweit Programme zur Klimabildung evaluiert. Das Ergebnis: Die Schüler wurden meist gedrängt, Energie zu sparen, Fahrrad zu fahren oder nicht mehr zu fliegen. “Die nachweislich wirksamen – politischen – Lösungen wie Verbote, Emissionsgrenzen oder auch CO2-Preise wurden in nahezu keinem Programm vermittelt”, sagt Niebert.

Meditieren gegen den Konsum

In den Materialien von “Éducation 21” spielt das Thema Konsum ebenfalls eine zentrale Rolle. Besonders grenzüberschreitend klingen die Vorschläge in einem Anleitungsheft für Lehrer, das vom Forschungsprojekt “Binka – Bildung für nachhaltigen Konsum durch Achtsamkeitstraining” stammt und vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde.

Deutsche Klimaaktivisten protestieren 2023 nahe dem Reichstag gegen den Finanzminister Christian Lindner. Doch wie stark darf der Aktivismus Schulmaterialien beeinflussen?

Im Rahmen von gemeinsamen sogenannten Bedürfnismeditationen sollen die Schüler, angeleitet vom Lehrer, ihrem Körper und ihren Gefühlen nachspüren, etwa durch achtsames Essen einer Mandarine: “Schliesse langsam die Augen (. . .) Führe nun ein Stück der Frucht zum Mund und halte es einfach zwischen den Lippen . . . Spüre den Kontakt des Fruchtstücks auf deinen Lippen.” Dadurch sollen die Schüler die Mahlzeit noch mehr geniessen und schneller erkennen, wann sie genug zu essen hatten.

Für eine andere Übung sollen sie den Stoff ihrer Kleidung bewusst spüren und schliesslich ihre Emotionen untersuchen angesichts der “Anstrengungen und Mühen”, die andere für die Produktion der Kleidung aufgebracht haben: “Vielleicht ein Gefühl der Dankbarkeit, des Mitgefühls oder auch andere weniger positive Gefühle wie Zorn oder Scham über die Bedingungen, unter denen einige Bauern und Fabrikarbeiterinnen seit Jahrhunderten und sicherlich auch gerade jetzt arbeiten müssen?”

Endlich Wachstum?

Selbst dort, wo man mit einem wirtschaftsfreundlicheren Ansatz rechnen würde, werden die Erwartungen enttäuscht. Unter den neuesten Einträgen des Katalogs findet sich die Website “Endlich Wachstum”, die laut Beschreibung von “Éducation 21” Schüler dazu anregen soll, “Wirtschaft neu und nachhaltig zu denken”.

Die Website selbst vermittelt einen anderen Eindruck: Dort wird etwa ein Spiel vorgeschlagen, bei dem Schüler mit Streichhölzern einen Wald nachstellen und dabei lernen sollen, dass eine “nachhaltige Bewirtschaftung unter Konkurrenzbedingungen schwierig” sei. Nach dem Spiel könne an die “Thematik der Solidarischen Ökonomie angeknüpft werden”. Ein beigefügter Wikipedia-Link klärt darüber auf, dass es sich um ein Wirtschaftsmodell handelt, bei dem auf Geld als Zahlungsmittel verzichtet wird.

“Auf den ersten Blick mag das indoktrinierend erscheinen.”

Klára Sokol, Direktorin der Stiftung “Éducation 21”

 

Ein anderes Spiel von “Endlich Wachstum” soll die Schüler darüber aufklären, dass “durch Wirtschaftswachstum sowohl Ressourcenverbrauch als auch negative Folgen steigen müssen und damit die Probleme verschärft werden”. Angeboten wird auch ein Comic, der verdeutlichen soll, dass der Klimawandel nicht durch eine effizientere Nutzung von Ressourcen, sondern nur durch “veränderte Lebensstile” erreicht werden könne.

“Endlich Wachstum” wird nach eigenen Angaben vom deutschen Entwicklungshilfeministerium gefördert. Selbst dem Team von “Éducation 21” scheinen leise Zweifel gekommen zu sein: “Auf den ersten Blick mag das indoktrinierend erscheinen”, schreiben sie in ihrem Online-Katalog über “Endlich Wachstum”, doch werde auch das jetzige Wirtschaftssystem differenziert betrachtet “und die Lernenden erhalten so die Möglichkeit, selbst zu diesem Schluss zu kommen”.

Qualitätskriterien für externe Akteure an Schulen

Die Direktorin von “Éducation 21”, Klára Sokol, lässt gegenüber der NZZ keine Zweifel an der politischen Unabhängigkeit ihrer Materialien erkennen. Stattdessen weist sie auf die zentrale Rolle der Lehrer hin, die dafür sorgen müssten, Themen kontrovers zu behandeln. Angesprochen auf die Hefte von Greenpeace und Care, erklärt sie, diese würden den Schülern ermöglichen, sich mit den “Hintergründen und Motivationen” von Aktivisten auseinanderzusetzen. Lehrpersonen und Klassen würden angeregt, “aktiv zu werden”, entsprechend den Uno-Nachhaltigkeitszielen. Informationen zu den Download-Zahlen der Materialien stellt die Stiftung nicht zur Verfügung, diese werden nur zur internen Verwendung erhoben.

Klára Sokol, Direktorin der Stiftung “Éducation 21”

Dass man im Unterricht mit ausserschulischen Akteuren aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zusammenarbeite, auch mit Unternehmen und Museen, sei eine pädagogische Bereicherung, sagt Sokol. Etwaige politische Haltungen müssten dabei als solche deklariert werden.

Ausserschulische Akteure müssen darum eine Selbstverpflichtung unterzeichnen, in der sie sich im Sinne des Beutelsbacher Konsenses zur Ablehnung von Indoktrinierung bekennen. Zudem werden alle Lehrmittel nach festgelegten Qualitätskriterien evaluiert, bevor sie in den Katalog von “Éducation 21” aufgenommen werden. Politische Indoktrinierung und Werbung müssen dabei ausgeschlossen werden.

Die Unesco gibt den agitativen Ton vor

Die Wurzel der politischen Färbung könnte allerdings bereits in den BNE-Zielen an sich liegen. In einer Roadmap beschrieb die Unesco 2021, wie sie sich deren Umsetzung in den Schulen vorstellt.

Ausserschulische Akteure müssen darum eine Selbstverpflichtung unterzeichnen, in der sie sich im Sinne des Beutelsbacher Konsenses zur Ablehnung von Indoktrinierung bekennen.

Demnach sollen Jugendliche “Agenten des Wandels” werden, um sich für eine “grosse Transformation” einzusetzen. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, mehrere Punkte umzusetzen – neben einer “ganzheitlichen Transformation von Lern- und Lehrumgebungen” und der “Kompetenzentwicklung von Lehrenden” auch die “Mobilisierung der Jugend”.

Die Idee, Technologien könnten die meisten Nachhaltigkeitsprobleme lösen, wird als “Illusion” abgetan. Es sei ein “Balanceakt zwischen Wirtschaftswachstum und nachhaltiger Entwicklung erforderlich, wobei BNE Lernende ermutigen sollte, alternative Werte zur existierenden Konsumgesellschaft zu erforschen”.

Ob eine solch einseitige Sichtweise dem Beutelsbacher Konsens gerecht wird, kann zumindest hinterfragt werden.

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“Mit dauernden Alarmierungen lässt sich kein Bildungssystem steuern” – TEIL 1 https://condorcet.ch/2023/06/mit-dauernden-alarmierungen-laesst-sich-kein-bildungssystem-steuern-teil-1/ https://condorcet.ch/2023/06/mit-dauernden-alarmierungen-laesst-sich-kein-bildungssystem-steuern-teil-1/#respond Wed, 14 Jun 2023 04:42:11 +0000 https://condorcet.ch/?p=14296

Der emeritierte Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers sprach mit dem Nebelspalter-Journalisten Daniel Wahl über die massive Reformwelle der letzten 20 Jahre und deren Wirkung. Wir bringen das Interview in zwei Teilen. Hier Teil 1.

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Herr Oelkers, im Kanton Bern wurden innerhalb von 20 Jahren gut 20 Schulreformen eingeleitet. In anderen Kantonen dürften es nicht weniger sein. Haben die Reformer damit die Schule überfordert oder waren die Reformen zwingend?

Jürgen Oelkers: Wer definiert schon, was zwingend ist? Es sind alles Vorstösse in bester Absicht und den Nutzen erkennt man nicht, wenn man Reformen fordert und dann in Gang setzt. In gewisser Hinsicht sind Schulreformen auch unvermeidlich. Die Schulen stehen unter Beobachtung der Gesellschaft und die Bildungspolitik reagiert auf öffentliche Kritik. Lanciert werden die Reformen von unterschiedlicher Seite, manche kommen auch aus der Mitte der Schule, aber nicht jede Reform ist dort – je nach Belastungsfolgen – willkommen.

Aber die Menge erstaunt doch …

Juergen Oelkers, emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich

Ja, im Vergleich zu früheren Zuständen in der Schweiz ist das wirklich bemerkenswert. Sehr viele Akteure wollten in den letzten drei Jahrzehnten die Schule neu definieren oder sie für etwas verantwortlich machen, was die Gesellschaft selbst austragen müsste. Das geschah häufig unkoordiniert, aber alle Reformideen wollten es «besser» machen, was mehr oder weniger starke Defizitannahmen voraussetzt. Defizite kennen keine Grenzen, das erklärt die Zahl. Aber man muss auch homogenisierende oder sich selbst bestätigende Expertendiskussionen voraussetzen.

 

Reformitis an den Schulen am Beispiel des Kantons Bern

Eine kurze Chronik der 20 Berner Schulreformen: durchzogene Bilanz

 

Die Frage ist doch, was die Schule daraus macht?

Bei strukturellen Reformen, wie sie die Einführung der Schulharmonisierung (HarmoS) eine ist, kann die Schule nicht viel machen. Das wird von der Politik vorgegeben. Generell gilt aber: Die Lehrpersonen akzeptieren weitgehend nur das, was sich für den Unterricht verwerten lässt und was für den Betrieb unverzichtbar ist. Daher werden Reformen nach dem Masse der Überzeugung der Lehrerinnen und Lehrer praktisch vorangetrieben. Vieles wird auch gar nicht umgesetzt. Ideen versanden oder erscheinen Jahre später wieder unter neuem Gewand.

Welche Reform bringt die Qualität der Schule am besten voran?

Die Art und Weise, wie man Lehrmittel macht. Diese Antwort mutet vielleicht etwas fremd an. Aber: Der Unterricht hängt wesentlich von den Lehrmitteln ab. Sie wurden lange einfach benutzt und irgendwann ersetzt. Wenn man aber die Lehrmittel im Feld erprobt und vor der Einführung testet, hat man gute Chancen, die Qualität des Unterrichts zu verbessern.

Der Ertrag des Fremdsprachenunterrichts gemessen an den Erwartungen ist eher schmal.

Das sehen aber viele Eltern und Lehrer anders. Die neuzeitlichen teuren und kompetenzorientierten Lehrmittel für Französisch “Mille feuilles” und “Clin d’Oeil” und in Englisch “New World” standen derart in der Kritik, dass sie vielerorts entweder abgesetzt oder dass ihnen bewusst Alternativen zur Seite gestellt wurden.

Wenn sie schlecht sind, sollten sie schnell wieder abgeschafft werden. Doch ich bleibe grundsätzlich dabei: Schulreformen sollten heute bei den Lehrmitteln ansetzen, was durch die Digitalisierung nochmal dringlicher werden wird.

Halten Sie denn die Einführung von Frühenglisch und Frühfranzösisch für eine geglückte Reform?

Das waren Lehrplanreformen – Umschichtungen von Stunden. Man verlagerte Lektionen von der Oberstufe in die Mittelstufe und hatte die Erwartung, dass sich der Erwerb der Fremdsprache dadurch verbessern würde. Der Ertrag des Fremdsprachenunterrichts gemessen an den Erwartungen ist eher schmal, doch letztlich kommt es darauf an, welche Ziele im Unterricht verfolgt werden. Am Ende können die Schüler, wenn es hochkommt, Schulenglisch und Schulfranzösisch (oder Schuldeutsch in der Romandie).  Das Welsch-Jahr war lange der Ausweg. Vielleicht sollte man einen Sprachaufenthalt am Ende der Schulzeit zu einem curricularen Angebot machen.

“Schulreformen sollten heute bei den Lehrmitteln ansetzen.”

Würden Sie deswegen eine Sprachreform der Sprachreform ansteuern?

Das Frühfranzösisch und Frühenglisch in der Primarschule wollte man im Kanton Thurgau, wo ich wohne, wieder abschaffen. Das führte zu einem staatspolitischen Aufschrei. Aber die Frage ist, ob damit der Ertrag verbessert werden kann. Wenn man eine solch einschneidende Entscheidung fällen will, muss man ganz genau hinschauen: Mit welchen Lehrmitteln macht man das? Welche Kompetenzen bringen die Lehrer mit, welche müssen sie noch erwerben?

Was halten Sie von dieser Schulreform: Messung der Schulqualität mittels Pisa-Tests und weiteren Checks?

Der Pisa-Test scheint unvermeidlich und irgendwie muss man da mitmachen. Aber solche Tests nutzen sich über die Jahre ab. Wenn sich nach dem zehnten Pisa-Test zeigt, dass man zwar evaluiert wurde, aber das Ergebnis ungefähr immer dasselbe bleibt, kann man das Testen bleiben lassen. Man weiss ja, was kommt. Bei den Pisa-Tests ist die Schweiz in Mathematik ziemlich oben, bei den Sprachkompetenzen tiefer. Das wird sich auch in den nächsten zehn Jahren nicht ändern. So bleiben solche Tests häufig nur für die Datenanalysten in den Behörden oder in der Forschung spannend. Und: Mit dauernden Alarmierungen lässt sich kein Bildungssystem steuern.

Die Einführung der geleiteten Schulen, beziehungsweise die Einsetzung von Schulleitern – bezeichnen Sie das auch als unvermeidlich?

Die Schweizer Schulen haben damit das angelsächsische Modell übernommen. In Südkorea oder in Frankreich, wo die Schulen von Paris aus gesteuert werden, gibt es das nicht. Aber ich bin überzeugter Föderalist und ich glaube, es ist richtig, wenn man den Schulen eine hohe Autonomie und eigene Leitung zugesteht.

“Ich bin überzeugter Föderalist und ich glaube, es ist richtig, wenn man den Schulen eine hohe Autonomie und eigene Leitung zugesteht.”

Sind geleitete Schulen erfolgreicher als zentralistisch organisierte?

Was heisst erfolgreich? In Bezug auf die gemessenen Leistungen sind die asiatischen Schulen erfolgreicher als unsere. Auch Finnland ist spitze. Aber das ist kaum zu erklären, weil Finnland eine komplett andere Leitungskultur hat als die Südkoreaner. In Finnland gibt es beispielsweise keine Nachhilfestunden. Schweden wiederum steuert sehr schülerbezogen …

… mit anderen Worten sagen Sie: Es spielt keine Rolle, wie sich Schulen organisieren.

Nein. Wir haben Studien zur Schulleitung gemacht. Es gibt für die Schweiz keine flächendeckende Lösung. Doch bei Konflikten brauchten sie eine gute Schulleitung und eine erfahrene Moderation nach innen wie nach aussen. Die Schule wird mit Problemen konfrontiert, die Leitung verlangen, etwa im Blick auf die Folgen des Medienkonsums oder falsche Erwartungen der Öffentlichkeit. Zudem: Ohne ausgebildete Schulleitungen gäbe es kaum die Schulentwicklung, die wir heute haben. Und schliesslich braucht jede Schule eine gute Aussendarstellung.

Halten Sie die Einführung der «integrativen Schule» für geglückt?

Die Inklusion ist zunächst einmal die Gegenbewegung zur Separation, also die Auslagerung der ‘schwierigen’ Fälle. Früher hat man gedacht, dass man spezielle Angebote für Behinderte machen muss, aber das ist dann massiv ausgeweitet worden und hat zur Separation geführt. Inklusion ist die Gegenbewegung. Die Idee klingt gut und auch viele betroffene Eltern stehen dahinter. Bei den Lehrpersonen kommt die integrative Schule jedoch zunehmend schlechter an. Man befürchtet, im Unterricht bestimmte Standards nicht mehr halten zu können. Die integrative Schule braucht ausreichend Ressourcen. Schwerstbehinderte etwa benötigen eine Eins-zu-eins-Betreuung. Auch über «Schulinseln» oder kleine Klassen für bestimmte Lernzeiten in der Schule muss man reden, wenn die Massnahmen im Unterricht nicht greifen. Falsch ist es, Inklusion so zu verstehen, dass unter allen Umständen und unabhängig von den praktischen Erfahrungen einfach nur ein Prinzip verwirklicht werden soll. Man muss einfach lernen, was geht und was nicht.

Der Medienkonsum der Kinder ist unkontrollierbar geworden.

Damit kommen wir zu den Killerkriterien von Schulreformen. Sind die fehlenden Finanzen deren erster Todesstoss?

Nicht zwingend, denn die Ausstattung der Schulen und die Lehrergehälter sind in der Schweiz generell top. Aber für die Umsetzung sehr ehrgeiziger Reformen braucht es zusätzliche Mittel und nicht nur Umschichtungen. Anders lässt sich die Idee der Inklusion kaum umsetzen, aber das ist in den Kantonen eine sehr unterschiedliche Praxis. Zudem: Der Wandel der Schulkulturen in den letzten dreissig Jahren hatte auch Erfolg, niemand will zurück in die autoritäre Schule der Vergangenheit.

Was ist denn Ihr Killerkriterium?

Akzeptanz. Fehlt sie, wird das, was politisch gewollt ist, an der Schule nicht umgesetzt oder zum Dauerproblem. Die wesentlichen Probleme der Schule ergeben sich heute aufgrund des Wandels ihrer Umwelt und der Gesellschaft. Die Kinder werden beispielsweise von medialen Angeboten angezogen und sie vernachlässigen die Schreibfähigkeit, die Rechenfähigkeit. Der Medienkonsum der Kinder ist unkontrollierbar geworden. Das stellt die Schule auf eine harte Probe.

Haben Sie darauf eine Antwort.

Ja. Kontrolle, Einschränkung der Freiheit. Kinder zwischen 6 und 12 Jahren sehen heute Dinge, die sie nicht sehen sollten.

“Fehlt Akzeptanz, wird das, was politisch gewollt ist, an der Schule nicht umgesetzt oder zum Dauerproblem.”

Das müsste aber in erster Linie Aufgabe der Eltern und nicht der Schule sein.

Ja, und da sprechen Sie gleich ein weiteres Problemfeld von reellen Schulreformen an: Schulen betrachten Eltern oft als Ressourcen, die sie nur bei Bedarf miteinbeziehen können. Die Eltern berufen sich heute auf erweiterte Mitspracherechte, weshalb Schulen auf die Eltern zugehen und eingehen müssen – nicht in dem Sinne, dass Eltern den Unterricht oder die Notengebung mitbestimmen können. Aber die Schule muss mit ihnen ein Einverständnis erzielen. In Bezug auf den Medienkonsum heisst das: Schule und Eltern sollten eine gemeinsame Einstellung vertreten, welche Medien zulässig sind und wie der Medienkonsum der Kinder stattfinden kann. Es gilt zu klären, was die Eltern tun können und was die Schule dazu beitragen kann. Das ist allerdings leicht gesagt und schwer getan.

Ende Teil 1 des Interviews. 

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Ging es früher wirklich respektvoller zu und her? https://condorcet.ch/2023/05/ging-es-frueher-wirklich-respektvoller-zu-und-her/ https://condorcet.ch/2023/05/ging-es-frueher-wirklich-respektvoller-zu-und-her/#respond Sat, 27 May 2023 19:19:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=14132

Condorcet-Autor Roland Stark, ehemaliger Präsident der SP-Basel und des Katonsrats, hat nicht das Gefühl, dass die Berichterstatttung früher viel respektvoller und pfleglicher war als heute. Dazu liefert er einige persönliche Beispiele aus seinem reich gefüllten Erfahrungsschatz.

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«Kaum blickten wir in die Vergangenheit, sahen wir nichts als Fortschritt. Kaum blickten wir in die Zukunft, nichts als Niedergang.» Roger Willemsen

 

Zeitungen – auf Papier. Damit bin ich aufgewachsen. Zu Hause im damals sehr konservativen St. Gallen hatten wir den Appenzeller Volksfreund abonniert, das Hoforgan des Innerrhoder Dorfkönigs Raymond Broger, die Ostschweiz, devote Schleppenträgerin des aufstrebenden katholisch-konservativen (später CVP, heute Mitte) Politikers Kurt Furgler, die sozialdemokratische AZ und, besonders wichtig, die Frankfurter Rundschau mit dem sozialistischen Emigranten Karl Gerold als Herausgeber und Chefredaktor.

Karl Gerold war 1933 nach einigen Tagen Haft und dem Entzug der Grenz- und Passpapiere nach Basel geflüchtet. 1943 heiratete er die Basler Pianistin Elsy Lang. Auch in der Schweiz wurde die Lage für Gerold bald brenzlig. Nach mehreren vergeblichen Versuchen verhaftete ihn die Fremdenpolizei, 1943/44 sass er monatelang im Gefängnis respektive im Internierungslager. Und, für die heutige Neutralitätsdebatte interessant, 1945 wurde der Widerstandskämpfer Karl Gerold von einem Schweizer Militärgericht wegen geheimdienstlicher Tätigkeit für die Allierten (!) zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt.

Heute wird gerne die Mär verbreitet, in der Politik und in den Medien, die politischen Auseinandersetzungen seien, im Gegensatz zu früher, unversöhnlich, konfrontativ, kompromisslos.

Vor gut fünfzig Jahren begann ich auch regelmässig zu schreiben. Artikel für die Ostschweizer, später die Basler AZ. Kolumnen für den Baslerstab, den Doppelstab, die bz und zuletzt die Basler Zeitung. Unzählige Gastkommentare und Leserbriefe kamen hinzu.

Auf der anderen Seite nahm mich die Politik gefangen. 1968 Eintritt in die SP, angeworben vom nachmaligen St. Galler Polizeidirektor Florian Schlegel. In Basel dann Grossrat, Partei- und Fraktionspräsident, Verfassungs- und Grossratspräsident.

Karl Gerold, deutscher Journalist und ab 1954 alleiniger Herausgeber und Chefredakteur der Frankfurter Rundschau

Keine Zeit für politische Leichtmatrosen. Parteispaltung, Jugendunruhen, Häuserbesetzungen, die Auseinandersetzungen um die Stadtgärtnerei.

Diese Konflike waren schon im beschaulichen St. Gallen aufgetreten. Aus Empörung über den angeblich zu jugendfreundlichen Kurs der SP hatte der Gewerkschaftssekretär Toni Falk während der Sitzungen im Volkshaus sogar den WC- Schlüssel weggesperrt. Und als wir endlich einen jüngeren Redner für die 1.-Mai-Kundgebung nominieren durften, Ende der 1960er Jahre, hatte unser Sprecher Willi Gerster nichts Besseres tun, als über sein Steckenpferd, die freie Liebe zu referieren. Damit war dann das Tischtuch endgültig zerschnitten.

Nicht die Intensität der Diskussionen hat zugenommen, sondern die Empfindlichkeit der Akteure.

Heute wird gerne die Mär verbreitet, in der Politik und in den Medien, die politischen Auseinandersetzungen seien, im Gegensatz zu früher, unversöhnlich, konfrontativ, kompromisslos. Wer damals, in diesen guten, alten Zeiten dabei war, kann sich über derart nostalgische Beschreibungen nur wundern. Helmut Hubachers Wahlschlacht 1976, die mit harten Bandagen und persönlichen Angriffen geführten Debatten anfangs der 1980er Jahre, der Streit um die Polizeieinsätze (keine Erfindung von 2023), die Fichenaffäre, die Debatte um die Nordtangente, um die Atomenergie. Die sich häufenden Abwahlen von Regierungsräten: Schmid, Stutz, Gysin, Schaller.

Nicht die Intensität der Diskussionen hat zugenommen, sondern die Empfindlichkeit der Akteure. In den Parteien und auf den Redaktionen. Es gehört unterdessen zum guten Ton, ein Opfer zu sein. Von irgendwas und irgendwem sind sie immer gekränkt. Die Folge: Denkverbote, Maulkörbe. «Ohne Streit», diagnostizierte einst Heiner Geissler, «wird man zuerst uninteressant, dann langweilig, schliesslich einschläfernd und am Schluss ein Fall für das Betäubungsmittelgesetz. Konform, uniform, chloroform.»

Als Politiker im Ruhestand und emiritierter Kolumnist kenne ich beide Seiten der Medaille. Jahrzehntelang, quasi von Amtes wegen, konnte ich mich über Journalistinnen und Journalisten aufregen, die meine Partei und ihre Exponenten ungerecht beurteilt hatten. Eine zweistellige Zahl von Redaktorinnen und Redaktoren in den verschiedenen Lokalressorts kann davon ein Lied singen. Und eine gute Handvoll Chefredakteure dazu.

In den letzten Jahren ist noch die Unsitte aufgekommen, Politikerinnen und Politker zu benoten; nach teilweise fragwürdigen, dubiosen Kriterien. Angelehnt an die Noten, die am Tage nach einem Fussballspiel an die Kicker vergeben werden. Klassisches Beispiel: Der Torhüter war während des gesamten Spiels unbeschäftigt. Note 4.5.

Hier wäre aber Vorsicht geboten, vielleicht sogar Demut. Politikerinnen und Politiker und Journalistinnen und Journalisten liegen beide in den Reputations-Rankings der Berufe regelmässig auf den hintersten Plätzen. Ihr Ansehen übertrifft nur knapp die Werte von Versicherungsvertretern und Mitarbeitern von Call-Centern.

Roland Stark, Kolumnist und Condorcet-Autor sowie ehemaliger Partei- und Fraktionspräsident der SP Basel-Stadt: Ich wundere mich über diese nostalgischen Beschreibungen. (Foto: Frantisek Matous)

Mit der – notwendigen – Pflicht und Fähigkeit der Journalisten, die Volksvertreter kritisch zu begleiten und Missstände gründlich aufzuklären, hat leider ihr Wille zur Selbstkritik nicht Schritt gehalten. Auf der Notenskala: austeilen 6, einstecken 3.

Das ist kein Aufruf zum Bürgerkrieg. Aber geraten wird doch zu etwas mehr Gelassenheit in der vielleicht rauer gewordenen Debattenlandschaft.

«Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Journalismus, dass Selbstkritik nicht seine stärkste Seite ist. Obwohl wir Journalisten gerne alle andern kritisieren», schreibt Markus Wiegand, «bewegt sich die Fähigkeit, den Medienzirkus selbst zu reflektieren, auf dem intellektuellen Niveau eines Faultiers.» (Jornalist:in, 01/2023)

Auf dem übersichtlichen Platz Basel kommt noch die Scheu der Medien hinzu, sich gegenseitig zu kritisieren. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Oder eben: konform, uniform, chloroform. Es wäre aber wichtig, dass Medien auch Medien kritisieren, über ihre Fehler und Versäumnisse berichten. Dieser Grundsatz ist alt. Mitten im 2. Weltkrieg, entnehme ich der Süddeutschen Zeitung (28.4.2023), gaben Time und die Encyclopedia Britannica 200’000 Dollar aus, um den Zustand der Presse zu untersuchen. 1946 hiess es dann im Bericht:

«Wir empfehlen, dass die Angehörigen der Presse, sich in intensiver gegenseitiger Kritik üben. Ein hoher professioneller Standard wird kaum erreicht werden, solange die Fehler und Irrtümer, die Betrügereien und Verbrechen einzelner Pressevertreter von anderen Mitgliedern des Berufsstandes schweigend übergangen werden. Wenn die Presse rechenschaftspflichtig sein soll – und das muss sie sein, wenn sie weiterhin frei bleiben soll – müssen sich ihre Mitglieder gegenseitig mit dem einzigen Mittel disziplinieren, welches ihnen zur Verfügung steht, nämlich der öffentlichen Kritik.»

Es ist offensichtlich. Politiker und Journalisten pflegen dieselbe Lieblingspflanze: die Mimosa pudica, auch Schamhafte Sinnpflanze genannt. Diese reagiert auf mechanische Reize mit dem Einklappen ihrer Blätter. Analog den beleidigten Leberwürsten, die sich in Redaktionsstuben, Parlamenten und Regierungen breit gemacht haben.

Das ist kein Aufruf zum Bürgerkrieg. Aber gelangen wird doch zu etwas mehr Gelassenheit in der vielleicht rauer gewordenen Debattenlandschaft. Auf unbequeme Inhalte, auch wenn sie dem Zeitgeist der eigenen Blase widersprechen – ironisch, polemisch, zugespitzt, pointiert, schwarzhumorig oder provokant geäussert –, nicht immer reflexartig reagieren mit heftigster Empörung, drastischen Diskriminierungsvorwürfen oder pauschalen Anschuldigungen.

Wer aber die Hitze nicht erträgt, muss dann halt die Küche meiden.

Dieser Artikel erschien zuerst im bajour.ch

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Geschichte: ein Schulfach unter Druck https://condorcet.ch/2023/05/geschichte-ein-schulfach-unter-druck/ https://condorcet.ch/2023/05/geschichte-ein-schulfach-unter-druck/#respond Thu, 18 May 2023 10:35:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=14006

Der aktuell betriebene Geschichtsunterricht steht in der Kritik. Mehrere Autoren wiesen in unserem Condorcet-Blog auf die schwindende Bedeutung dieses Faches hin und skizzierten mögliche Folgen. Im Kanton Zürich wurden in dieser Sache sogar zwei verschiedene parlamentarische Initiativen eingereicht. Nun meldet sich auch unser Doyen und Germanist Professor Mario Andreotti zu Wort. Er betont die staatspolitische Bedeutung dieses Faches.

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Französische Revolution, Entstehung des modernen Bundesstaates, Erster und Zweiter Weltkrieg: Immer mehr Schülerinnen und Schüler wissen darüber – nichts. Das gilt selbst für die Zeit des Kalten Krieges, dessen Krisen mehr und mehr im Nebel des Vergessens in eine diffuse Vergangenheit verschwinden. Es droht weitverbreitete Geschichtsvergessenheit.

Gastautor Mario Andreotti, Germanist

Daran ist unser Bildungssystem nicht unschuldig, kommt doch das Fach Geschichte, wenn es denn überhaupt noch unterrichtet wird, an den meisten Schulen zu kurz. In einigen Kantonen wird gerade noch eine Wochenlektion für Geschichte gewährt. Der fatale Niedergang dieses Fachs dürfte vor allem vier Gründe haben: Zum einen ist die Vermittlung von Fakten im Unterricht, wie sie im Fach Geschichte nun einmal essenziell ist, bedingt durch die neuen, auf Kompetenzen basierenden Lehrpläne, immer weniger gefragt. Und zum andern haben die zunehmende Ausrichtung unserer Bildungspolitik auf die MINT-Fächer, auf Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, und die Schaffung neuer Fächer, wie die Frühfremdsprachen und “Medien und Informatik”, das Fach Geschichte an den Rand gedrängt.

Und nicht zuletzt ist es der Lehrplan 21, in dem Geschichte als eigenständiges Fach verschwunden ist und durch das schwammige Sammelfach “Räume, Zeiten, Gesellschaften” ersetzt wurde, das alles Mögliche an Realien umfasst. Schliesslich wird Geschichte in vielen Schulen nicht mehr chronologisch, sondern in Längsschnitten zu Themen, wie etwa “Armut und Reichtum”, “Kolonialismus” oder “Krisenherde”, unterrichtet. Die Vorstellung vom zeitlichen Nacheinander weicht damit einem Durcheinander, in dem es keine Epochen mehr gibt. Dringend benötigtes Überblicks- und Orientierungswissen geht so verloren.

Die Vorstellung vom zeitlichen Nacheinander weicht damit einem Durcheinander, in dem es keine Epochen mehr gibt.

Die Abwertung des Geschichtsunterrichts an unseren Schulen bleibt nicht ohne Folgen. Wie sollen junge Leute um den hohen Wert der Demokratie wissen, den es um jeden Preis zu erhalten gilt, wenn sie im Schulunterricht nie erfahren haben, mit welchen Mühen und Opfern die Entstehung der modernen westlichen Demokratien mit ihrer Sicherung der Freiheitsrechte verbunden war. Gerade heute, wo Staaten wie Russland und China eine neue, autokratische Weltordnung anstreben, in der Freiheitsrechte keinen Platz mehr haben, ist ein solches Wissen unumgänglich. Und wie lässt sich das Stimmrechtsalter 16, über das wir in der Schweiz bald abstimmen können, staatspolitisch rechtfertigen, wenn Jugendliche, vor allem solche ohne Mittelschulbildung, kaum wissen, auf welchen geschichtlichen Pfeilern unser Staatswesen ruht und wie es funktioniert.

Auch eine Aufgabe der Politik

Keine Frage: Geschichte, dessen staatspolitische Bedeutung in einer Demokratie erheblich ist, muss im Kanon der Schulfächer als eigenständiges Fach einen festen Platz einnehmen und von fachlich dazu ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet werden. Es ist Aufgabe der Politik und nicht nur der Bildungsräte, dafür zu sorgen, dass das Fach Geschichte bessere Rahmenbedingungen, vor allem genügend Wochenlektionen und verbindliche Bildungsinhalte, erhält. Gerade im Hinblick auf die bevorstehenden Feiern zum 175-jährigen Bestehen unserer Bundesverfassung sei einmal mehr daran erinnert.

Prof. Dr. Mario Andreotti, ehem. Gymnasiallehrer und heute Dozent für Neuere deutsche Literatur, ist ein profunder Kenner der schweizerischen Bildungslandschaft. 2019 veröffentlichte er im Verlag FormatOst dazu das vielbeachtete Buch «Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache».

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Das Gegenteil von gut ist nicht schlecht, sondern gut gemeint (Karl Kraus) https://condorcet.ch/2023/04/das-gegenteil-von-gut-ist-nicht-schlecht-sondern-gut-gemeint-karl-kraus/ https://condorcet.ch/2023/04/das-gegenteil-von-gut-ist-nicht-schlecht-sondern-gut-gemeint-karl-kraus/#respond Mon, 24 Apr 2023 12:19:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=13695

Vor etwa 10 Jahren wurde eine Parlamentarierin der Stadt Bern durch Medienberichte über einen schrecklichen sexuellen Missbrauch in einer Familie aufgerüttelt. Ihre Emotionen flossen in einen Vorstoss, der verlangte, dass an allen Schulen ein Sensibilisierungsprogramm durchgeführt werde. Die Kinder sollten daran erinnert werden, dass der Körper ihnen gehöre und dass sie sich nicht durch erwachsene Personen – und seien dies die Eltern – unsittlich berühren lassen müssten. Condorcet-Autor Alain Pichard über hyperaktive Parlamentarierinnen, ihre Motionen und die Umsetzung.

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In dem rot-grünen Parlament pflegen diese Art Vorstösse schlank durchzugehen, winken doch immer wieder lukrative Beschäftigungsangebote für Institutionen, die ständig ihre Bedeutung unterstreichen müssen. Das Drehbuch solcher Rettungsprogramme ist immer das gleiche: Eine Arbeitsgruppe entwirft ein Strategiepapier, eine Institution wird beauftragt, ein flächendeckendes Unterrichtsprogramm zu entwerfen. Schliesslich erfolgt die Schulung der Expertinnen und schon ist der Morgen geritzt. Die Lehrkräfte sitzen hinten und eine Moderatorin leitet das Sensibilisierungsprogramm.

Condorcet-Autor Alain Pichard

Es gibt natürlich immer wieder renitente Lehrpersonen, welche an dieser Art staatlicher Beglückung herumnörgeln. Drei Schulen fanden, sie wollten das nicht. Sie wurden aber umgehend darauf aufmerksam gemacht, dass dies kein Wahlprogramm, sondern ein parlamentarischer Auftrag sei. Es gehe schliesslich um das Wohl der Kinder und die Vermeidung sexueller Übergriffe.

Eingriff in profunde Lebensweisen

Nun darf man feststellen, dass so ein Morgen ja nicht gerade der Untergang der Welt ist und in der Schule auch manch anderer Unsinn passiert. Schwieriger wird es, wenn gut gemeinte Ideen von Parlamentarierinnen – sorry, aber es sind meistens Parlamentarierinnen, denen so etwas in den Sinn kommt – in profunde Lebensweisen eingreifen.

Rettungsprogramme gegen allerhand Schädliches an den Schulen haben Hochkonjunktur

Vor einigen Jahren verlangte das Bieler Stadtparlament, dass die Ernährung an den Mittagstischen biologisch, nachhaltig und gesund sein müsse. Dagegen ist wirklich nichts einzuwenden und die Motion wurde mit grossem Mehr überwiesen. Nun gibt es auch in der Verwaltung von Biel diese Bettelmönche der Dystopie, die die Welt und die Kinder vor sich selber schützen wollen. Ernährung, so die Idee, sei viel zu wichtig, als dass man sie den Köchen überlassen dürfe. Für die Ernährung der Kinder ist neu ein Ernährungsberater zuständig.

Dieser Ernährungsexperte berechnet die Menüs nach neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft, gibt minutiös den Kalorien-, Zucker-, Eiweiss- und Mineralienanteil-Tagesbefehl heraus und entwirft daraufhin die Speisepläne, nach denen die Mahlzeiten zentral in einer Grossküche eines Altersheims zubereitet und dann in der ganzen Stadt – Schulen und Pflegeheimen – verteilt werden. Natürlich wird auch dem Kampf gegen die Klimaerwärmung Rechnung getragen: ein Tag Fleisch, ein Tag Fisch und zwei Tage vegetarisch. Nun weiss ich aus eigener Erfahrung zahlreicher Skilager, dass man wirklich feine vegetarische Gericht kochen kann.

Kosten viel und schmecken den Kids nicht

Der Bieler Beglückungsspeiseplan mit Bulgur, Quinoa-Porridge, Vollkorn-Spaghetti, Buddha-Bowl mit Granatapfelkernen oder Vollkornpfannkuchen hatte allerdings zwei Probleme: Sie kosten viel und sie schmecken den Kids nicht. Die Ernährungsgewohnheiten unserer unterprivilegierten Kinder – und von denen gibt es in Biel eine ganze Menge – sind etwas anders als die der Lastenfahrradfahrenden-Upper-Middle-Class. Es ist die Sehnsucht einer bequemen, da ökonomisch bestens abgesicherten Mittelschicht, Menschen zu erziehen, von deren Lebensweisen sie keine Ahnung hat. Die Selbstverkennung dieses Milieus zementiert den Klassenstandpunkt.

Eine Mittagsbetreuerin kaufte auf eigene Rechnung schnell in der Stadt noch ‘Schoggistengeli’, um den Kids wenigstens noch einen Zuckerschuss für den Nachmittag zu liefern.

Die Folge dieses Minimums an Komplexität sind ein atemberaubender Foodwaste, hungrige Kinder und wieder einmal überzogene Budgetvorgaben, denn biologische Lebensmittel gehören nicht zu den billigsten. Eine Mittagsbetreuerin kaufte auf eigene Rechnung schnell in der Stadt noch ‘Schoggistengeli’, um den Kids wenigstens noch einen Zuckerschuss für den Nachmittag zu liefern. Die wenigen älteren Schüler, die meistens auch etwas Geld in der Tasche haben, kürzen den Mittagstisch ab, lassen sich eine Pizza ins Schulhaus liefern und verzehren diese genussvoll in meinem Klassenzimmer.

Die Vermessung aller Arten von staatlicher Beglückung treibt immer wieder seltsame Blüten.

Man darf aber der Verwaltung nicht vorwerfen, dass sie nicht kreativ oder lernfähig wäre. So wurden die zahlreichen Reklamationen aufgenommen und eine Arbeitsgruppe gebildet. Gewisse Pläne sind bereits durchgesickert. Die Unmengen an Essensresten sollen in den Lehrerzimmern verteilt werden, die Lehrpersonen werden diese bezahlen und mit dem Geld kann man dann die Schoggistengeli finanzieren.

Das Gegenteil von gut ist nicht schlecht, sondern gut gemeint.

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«Schon 10 Meter ein Problem»: Haben Berns Kinder das Schwimmen verlernt? https://condorcet.ch/2023/02/schon-10-meter-ein-problem-haben-berns-kinder-das-schwimmen-verlernt/ https://condorcet.ch/2023/02/schon-10-meter-ein-problem-haben-berns-kinder-das-schwimmen-verlernt/#respond Tue, 21 Feb 2023 18:54:31 +0000 https://condorcet.ch/?p=13209

In manchen Berner Schulen ist der Schwimm­unterricht rar. Corona hat das Niveau weiter gesenkt – und auch die kühleren Wasserbecken sind ein Problem, stellt Gastautor Christoph Albrecht in einem Artikel für die Zeitung "Der Bund" fest.

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Würden die Schülerinnen und Schüler aus Muri und Niederbipp im Wasser gegeneinander antreten – der Schwimmwettkampf ginge mit grosser Wahrscheinlichkeit zugunsten von Muri aus. Aus einem einfachen Grund: Im Berner Vorort findet von der 1. bis 4. Klasse jede zweite Woche eine Sportlektion im Wasser statt. In der Oberaargauer Gemeinde hingegen haben nur die Dritt- und Viertklässler Schwimmunterricht – und besuchen während der zwei Schuljahre insgesamt bloss 18 Lektionen.

Geht es um den Schwimmunterricht, ist der Kanton Bern ein Flickenteppich. Jede Gemeinde und jede Schule handhabt es anders. Manche haben den Schwimmunterricht fix im Stundenplan eingeplant, bei anderen ist er eher eine lästige Alibiübung.

Kanton schreibt keine Lektionen vor

Ein Grund für die uneinheitliche Handhabe ist der Lehrplan, der im Kanton Bern nicht eine bestimmte Anzahl an Schwimmlektionen vorschreibt. Die einzige Vorgabe: Ende der 4. Klasse muss jedes Kind den sogenannten Wassersicherheits­check absolviert haben. Der Test verlangt, dass sich jemand eine Minute lang an Ort über Wasser halten, 50 Meter schwimmen sowie vom Beckenrand einen Purzelbaum ins Wasser schlagen und danach selbstständig aussteigen kann. Wie sich die Kinder diese Kompetenzen aneignen, ist jeder Schule selber überlassen.

    «Das Schwimmen wird in der Volksschule leider nicht mehr so konsequent unterrichtet wie früher.»

Stephan Sailer, Präsident des Bernischen Verbands für Sport in der Schule

Immer weniger Kinder können schwimmen

«Uns ist es ein Anliegen, dass jedes Kind schwimmen kann», sagt Rolf Rickenbach, Schulleiter der Schule Muri. Deshalb beginne man damit bereits ab der 1. Klasse und verteile die Schwimmlektionen regelmässig über das ganze Schuljahr. «Der Lerneffekt ist so grösser.» Dass Muri grossen Wert auf gute Schwimmfähigkeiten legt, hat laut Rickenbach zudem mit der Nähe zur Aare zu tun.

Gemeinden wie Muri haben allerdings auch das Privileg, über ein eigenes Lehrschwimmbecken zu verfügen – im Gegensatz zu vielen anderen, die keine Infrastruktur haben und auf Bäder in der Umgebung ausweichen müssen. Für diese Schulen wird der Schwimmunterricht zuweilen zum Kraftakt.

Schulen drücken sich

«Der Aufwand ist zeitlich wie auch finanziell gross», sagt Gisela Schären, Schwimmfachperson an der Schule Niederbipp. Die Schülerinnen und Schüler müssen für die Schwimmeinheiten jeweils mit einem von der Gemeinde gemieteten Car ins solothurnische Balsthal fahren. Laut Schären ist der personelle Aufwand nicht zu unterschätzen. «Neben mir als Schwimmlehrerin und der jeweiligen Klassenlehrkraft unterstützen uns auch noch ein bis zwei Elternteile vor Ort.»

Für Stephan Sailer sind die teilweise schwierigen Voraussetzungen für den Schwimmunterricht ein Problem. «Das Schwimmen wird in der Volksschule leider nicht mehr so konsequent unterrichtet wie früher», sagt der Präsident des Bernischen Verbands für Sport in der Schule. Weil keine klaren Unterrichtseinheiten verlangt würden, könnten sich manche Schulen für seinen Geschmack zu einfach drücken.

Ausgebuchte Schwimmbecken

Die immer knapper werdenden Schwimmflächen im Kanton Bern liessen ihnen zum Teil aber auch fast keine andere Wahl. «Die Bäder sind oft so ausgebucht, dass sich als Schule kaum noch ein freies Zeitfenster finden lässt», so Sailer.

    «Das Niveau hat abgenommen.»

Stephan Sailer, Präsident des Bernischen Verbands für Sport in der Schule

 

Unter der Pandemie hat der Schwimmunterricht zusätzlich gelitten. Im Kanton waren einige Bäder wegen der Ansteckungsgefahr über längere Zeit zu, die ohnehin schon spärlichen Schwimmlektionen fielen deshalb mancherorts ganz ins Wasser. «Es gibt Kinder, welchen mehr als ein Jahr Schwimmunterricht fehlt», so Sailer.

Corona hat die Schwimmdefizite bei den Schulkindern verstärkt

Das schlägt sich in den Schwimmfähigkeiten nieder. «Das Niveau hat abgenommen», sagt Sailer. Offizielle Zahlen dazu gebe es zwar nicht. Die Rückmeldungen vieler Sportlehrpersonen gingen aber klar in diese Richtung. «Schon 10 Meter zu schwimmen, bedeutet für manche ein Problem.»

Hohe Durchfallquote bei Schwimmtest

Eine Umfrage dieser Zeitung bei über einem Dutzend Berner Gemeinden bestätigt, dass Corona die Situation mancherorts verschärft hat. «Seit der Pandemie sind definitiv Defizite festzustellen», heisst es etwa in Schwarzenburg. Auch Thun oder Lyss berichten von schlechteren Schwimmfähigkeiten. Als Kompensation wird in Lyss der Schwimmunterricht dieses Jahr deshalb zusätzlich auch in den 5. und 6. Klassen angeboten.

Vereinzelt ist die Durchfallquote beim Wassersicherheits­check zudem drastisch gestiegen. So berichtet etwa Köniz, das als einige der wenigen Gemeinden überhaupt Statistik führt, von 12 Prozent, welche beim Test in den Vor-Pandemie-Jahren jeweils durchfielen. 2020 betrug die Durchfallquote bereits 15 Prozent, ein Jahr später 20 Prozent und 2022 schliesslich 28 Prozent.

Frierende Kinder

Und nun erschwert die Energiekrise den Schwimmunterricht zusätzlich. Um Energie zu sparen, hatten im Herbst viele Berner Gemeinden in ihren Bädern die Wassertemperatur gesenkt. Die Folge: «Die Kinder haben kalt, während sie die Instruktionen der Schwimmlehrperson abwarten müssen», so die Rückmeldung aus Schwarzenburg. Die Konzentration und die Schwimmtechnik würden leiden, zudem gehe die Freude am Schwimmen verloren.

Schwimmen macht Kindern nur Spass, wenn sie dabei nicht frieren

Auch Muri hatte damals die Wassertemperatur von 28 auf 26 Grad gesenkt. Bereits nach zwei Wochen musste die Gemeinde dies aber wieder rückgängig machen, weil die Kinder froren und Eltern und Lehrkräfte reklamierten.

    «Es wächst hier eine Generation heran, die kaum Wasserkontakt hat.»

Andrea Zryd, SP-Grossrätin

 

Andrea Zryd machen die Widrigkeiten, welchen der Schwimmunterricht ausgesetzt ist, Sorgen. «Es wächst hier eine Generation heran, die kaum Wasserkontakt hat», sagt die SP-Grossrätin und Präsidentin von Bernsport, der Vereinigung der bernischen Sportverbände. Zryd arbeitet in Biel selber als Sportlehrerin. Für sie geht es aber nicht nur um den Sicherheitsaspekt. «Kann jemand nicht richtig schwimmen, löst dies Scham aus und kann zu Ausgrenzung führen», sagt sie.

SP-Grossrätin Andrea Zryd will das Problem auf politischem Weg angehen

Von der Situation besonders benachteiligt seien Kinder mit Migrationshintergrund. «Sicheres Schwimmen hat in ihrer Kultur oftmals nur einen geringen Stellenwert», so Zryd. Im Gegensatz zu Schweizer Kindern könnten sie ihre Defizite aufgrund der bescheideneren finanziellen Möglichkeiten der Eltern zudem oftmals nicht mit privaten Schwimmkursen ausgleichen.

Sind mobile Schwimmtrucks nötig?

Zryd hat im Kantonsparlament deshalb einen Vorstoss eingereicht. Dieser fordert die Einführung von Schwimmgutscheinen. Solche sollen vom Kanton an Schulen ausgerichtet werden, die den Schwimmunterricht selber nur ungenügend umsetzen können. Das Ziel ist, dass betroffene Schülerinnen und Schüler die Gutscheine bei privaten Schwimmkursanbietern einlösen können.

Das grösste Problem bleiben laut Zryd aber die knappen Wasserflächen im Kanton, die durch Bäderschliessungen wie aktuell im Seeland sogar weiter abnehmen würden. Dass in der Stadt Bern mit der neuen Schwimmhalle im Neufeld ab kommendem Herbst dringend benötigte Fläche dazukomme, ist laut Zryd zwar eine Entlastung. «Es wird aber nicht reichen.» Der Bau solcher Hallen sei teuer und werde daher kaum zur Regel.

Wichtiger sei, dass Gemeinden sich künftig vermehrt zusammentäten und die Kosten für Bäder gemeinsam trügen. Eine Notlösung für die Wasserangewöhnung sähe sie zudem in mobilen Schwimmtrucks mit integriertem Minibecken, wie es sie in Deutschland oder Dänemark bereits gebe, die von Gemeinde zu Gemeinde führen.

Visualisierung der Schwimmhalle Neufeld in Bern

Stephan Sailer, der Präsident des Bernischen Verbands für Sport in der Schule, begrüsst solche Ideen grundsätzlich. Auch Traglufthallen, wie sie etwa die Gemeinde Zuchwil im Winter jeweils über dem örtlichen Freibad installiere, fände er schon hilfreich.

“Schwimmen ist nicht nur Sport, es geht auch ums Überleben.”

Stephan Sailer, Präsident des Bernischen Verbands für Sport in der Schule

 

Elementar ist für Sailer aber, dass sich die Vorgaben des Kantons ändern – und künftig überall eine verbindliche Minimalanzahl an Schwimmlektionen gilt. «Das würde den Druck auf die Schulen erhöhen.» Auch fände er es zumindest diskutabel, den Schwimmunterricht vom Sportunterricht abzukoppeln. Denn es gehe nicht – wie etwa bei einem Handstand – um einen Lerninhalt, den man könne oder halt nicht. «Schwimmen ist nicht nur Sport, es geht auch ums Überleben.»

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