Philosophie - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 24 Jun 2023 18:45:05 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Philosophie - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Matthias Burchardt: Ich hatte die Illusion, dass die Kraft des besseren Arguments gilt. https://condorcet.ch/2023/06/matthias-burchardt-ich-hatte-die-illusion-dass-die-kraft-des-besseren-arguments-gilt/ https://condorcet.ch/2023/06/matthias-burchardt-ich-hatte-die-illusion-dass-die-kraft-des-besseren-arguments-gilt/#comments Wed, 21 Jun 2023 15:32:29 +0000 https://condorcet.ch/?p=14164

Matthias Burchardt, Jg. 1966, hat in an der Universität zu Köln Germanistik, Philosophie, Pädagogik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften studiert und mit dem Ersten Staatsexamen abgeschlossen. Promoviert hat er über die Anthropologie Eugen Finks. Als gefragter Referent und streitbarer Publizist vertritt er in Presse, Rundfunk und Fernsehen humorvoll und kontrovers Positionen zu PISA, Bologna und nicht zuletzt zum Digitalisierungshype. Befragt wird er von Michael Meyen, seit 2002 Professor für Allgemeine und Systematische Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Matthias Burchardt ist in unserem Blog kein Unbekannter. Er ist Mitbegründer und Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen, die mit unserem Blog verbunden ist und in Österreich, Deutschland und der Schweiz kritisch Stellung zu bildungspolitischen Fragen bezieht. Burchardt formuliert messerscharf und rhetorisch brillant den bildungspraktischen Nutzen einer quantifizierenden empirischen Bildungsforschung und den Verlust an Augenmaß in der Bldungspolitik.

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«Schau, dies ist unsere Welt!» – Hannah Arendt für die Schule https://condorcet.ch/2022/09/schau-dies-ist-unsere-welt-hannah-arendt-fuer-die-schule/ https://condorcet.ch/2022/09/schau-dies-ist-unsere-welt-hannah-arendt-fuer-die-schule/#comments Fri, 02 Sep 2022 15:27:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=11362

Aus der Leidenschaft für die Welt entstünde die Leidenschaft fürs Pädagogische, meinte die Politphilosophin Hannah Arendt. Diese humane Energie kann schulisch viel bewirken. Sie generiert eine Haltung jenseits der Erledigungsmentalität. Eine et-was verspätete, aber veralterungsresistente Referenz zu Beginn des neuen Schuljah-res, formuliert von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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 Condorcet-Autor Carl Bossard.

Ein vergilbter Artikel hat all meinen Aufräumaktionen getrotzt. Er erzählt die Geschichte des Tessiner Briefträgers Guerino Saglini. Sein Leben lang arbeitet er für die Post. Was denn einen guten Pöstler ausmache, fragt ihn die NZZ beim Übertritt in die Pension. «Passione! Leidenschaft!», antwortet Saglini kurz und bündig. Keinen Tag sei er ohne Freude zur Arbeit gegangen; egal, ob es geregnet oder geschneit habe, fügt er bescheiden bei. [1] Während 46 Jahren.

Im Handeln ist das Wie stärker als jedes Was
Die Leute von Biasca schätzten den Postboten Saglini. Für alle hatte er ein freundliches Wort, ja er zog vor ihnen sogar seinen Pöstlerhut, verbunden mit einem vergnügten «Buona giornata». «Ich habe diese Arbeit geliebt», bekannte er. In diesem schlichten Satz liegt vielleicht das Geheimnis seines Handelns. Saglini, der Briefträger aus Leidenschaft, wirkte mit seinem Tätig-Sein, mit seiner Denkweise und seiner Sprache. Kurz: mit seiner Haltung.

 «Im Handeln prägt das Wie jedes Was.» Das Wort geht auf die politische Denkerin Hannah Arendt zurück. [2] Es beinhaltet etwas ganz Grundlegendes: Das Wie des Tuns drückt den Inhalten und Zwecken ihren Stempel auf, bringt sie häufig erst hervor. Wir sehen es bei Saglini. Der passionierte Pöstler verteilt im Städtchen Briefe und Zeitungen; das ist seine Arbeit, das ist sein tägliches Was. Resonanz bei den Menschen von Biasca aber erzielt er mit seinem Wie. Seine Person gibt der Funktion als Briefträger ihren Wert. Zwischen dem Postboten und seinen Kunden baut sich darum eine gemeinsame Welt auf. Diese Welt entsteht mit der Art und Weise, wie Saglini seine tägliche Pöstlerpflicht erfüllt.

Kinder erziehen heisst, Verantwortung für die Welt übernehmen
«Die Welt liegt zwischen den Menschen», unterstreicht Hannah Arendt 1959, als sie den renommierten «Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg» verdankt. [3] Wie aber entsteht diese Welt?, fragt sie sich. Entscheidend sei das «Zwischen», betont Arendt. Hier bilde sich die gemeinsame Welt vieler Menschen – in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit.

«Wer die Verantwortung für die Welt nicht mitübernehmen will, […] darf nicht mithelfen, Kinder zu erziehen.»

Hannah Arendt (1994)

 Diese Welt aber sei zerbrechlich und dieses «Zwischen» stets gefährdet und gar «Gegenstand höchster Sorge», fügt sie bei. [4] Sie verlangt darum von den Erwachsenen, dass sie den Kindern gegenüber für die Welt, wie sie eben ist, einstehen. Auch und sogar dann, wenn sie mit ihr nicht einverstanden seien. Im Rückzug von dieser Welt und von der Verpflichtung für diese Welt sieht die Politphilosophin eine grosse Gefahr. [5] Auch im Pädagogischen. Erzieherinnen und Erzieher stünden den jungen Menschen als Vertreterinnen und Repräsentanten unserer Welt gegenüber. Mit ihrem Beruf, mit ihrer Funktion und in ihrer Position. Darum müssten sie für diese Welt Verantwortung übernehmen. «Wer die Verantwortung für die Welt nicht mitübernehmen will, […] darf nicht mithelfen, Kinder zu erziehen.» [6] Das tönt hart. Doch für Arendt ist es nicht anders möglich.
Hannah Arendt auf dem 1. Kulturkritikerkongress 1958

Die Verantwortung für die Welt zeigt sind in der personalen Autorität
Verantwortung – ein grosses Wort, gar ein schweres. Der ehemalige Bundesrat Moritz Leuenbeger meinte einmal: «Der Verantwortung bin ich zum ersten Mal als Primarschüler auf Bergwanderungen begegnet. Mein etwas älterer Cousin befahl jeweils: ‹Du trägst den Rucksack – und ich die Verantwortung; so sind wir quitt.›» Damals schon hätte er also gewusst, was Verantwortung sei: nämlich ein schwerer Rucksack.

Auch für Arendt ist Verantwortung eine anspruchsvolle Aufgabe. Bei der Erziehung, sagt die politische Philosophin, zeige sich diese Verantwortung für die Welt in der personalen Autorität, der Lehrerpersönlichkeit, wie es früher hiess. Die Autorität der Erzieherin und die Qualifikation des Lehrers seien nicht dasselbe. Die Qualifikation einer Lehrperson bestünde darin, dass sie die Welt kenne und darüber unterrichten könne, aber ihre personale Autorität beruhe darauf, dass sie für diese Welt die Verantwortung übernähme. Gegenüber dem Kind, so Arendt, nimmt die Lehrerin es gleichsam auf sich, die Erwachsenen zu repräsentieren, die alle sagen und im Einzelnen zeigen: «Sieh, dies ist unsere Welt!» [7]

Die Form konstituiert den Inhalt.

Wirksam ist das Wie des Denkens und Handelns      
Im Unterricht bildet sich darum eine gemeinsame Welt, eine Welt verschiedener Generationen – ein Mikrokosmos des Miteinander, eine Lerngemeinschaft zwischen der Lehrerin, dem Lehrer und ihren Schülerinnen und Schülern. Dieses Zusammenspiel ist immer wieder gefährdet. Auch heute. Doch es braucht dieses «(Da-)Zwischen»; es ist wichtig, wie Hannah Arendt mehrfach unterstreicht. Hier spielen das Emotionale, das Beziehungshafte, das Dialogische. Das Dazwischen entsteht und besteht aus der Art des Handelns, des Denkens und Sprechens, mit der Erwachsene tätig sind und dabei auf die jungen Menschen eingehen.

Das Was ist wichtig; bei allem Gewicht der Lerninhalte, hier zeigt sich die Bedeutung des Wie: Wie ich als Lehrerin antworte und etwas formuliere, wie ich als Lehrer handle und den Kindern gegenübertrete. Die Form konstituiert den Inhalt. Dieser Primat wäre das Prinzip allen pädagogischen Handelns. Eine solche Grundhaltung führt zu einer Kultur jenseits der Erledigungsmentalität.

Keiner kann sich hinter seine Art zu handeln, hinter sein Wie, zurückziehen.

Im Wie offenbart sich die Person
Hinter den Sachen und Stoffen, hinter den Inhalten, Methoden und Lehrmitteln kann sich ein Lehrer förmlich verstecken: das Was als Schutzwand. Doch keiner kann sich hinter seine Art zu handeln, hinter sein Wie, zurückziehen. Im Wie zeigt sich die Person. Und es ist die Person, die im Unterricht wirkt: mit ihrem Engagement, mit ihrer Leidenschaft für die Welt, mit ihrem Feu sacré für die Sache – und damit für das Lernen der Schülerinnen und Schüler.

Wie dieser Elan im Unterricht wirkt und was er bewirken kann, wissen wir alle. Ein kleines Beispiel: «Wenn sie von Formen und Zahlen sprach, glühten ihr die Wangen und funkelten ihr die Augen, wie wenn Kinder von Schokolade-Glace reden.» [8] So erinnert sich eine Berufsfrau an ihre vitale Primarlehrerin. Jahre später noch sieht sie deren Augen und Backen, fühlt die Atmosphäre und spürt die Freude am Lernen, wie sie offen bekennt. Da war eine Lehrerin mit einer Leidenschaft für die Unterrichtswelt und damit einem unbedingten Engagement fürs Pädagogische am Werk. Diese Leidenschaft entspringt der «Amor Mundi», der Liebe zur Welt, sagt Hannah Arendt. Wie ein Wasserzeichen zieht sich dieses Motiv durch ihr Werk.

Hannah Arendt 1975

Zum Denken als innerem Dialog führen – und zum Verstehen
Das Gleiche gilt für Platons Satz, dass Denken «das Gespräch zwischen mir und mir selbst» sei. [9] Für Hannah Arendt ein Kernanliegen: junge Menschen zum Denken führen, zu sich selbst. Und zum Verstehen. Das ist ihr wichtig und wesentlich. Und das hat beispielsweise Peter Bichsel, der Lehrer und Schriftsteller, erlebt. Er erinnert sich: «Ich hatte in der 5. und 6. Klasse in Olten einen wunderbaren Primarlehrer: Er hat mich von mir selber überzeugt, mich zum Schriftsteller gemacht. Weil er unter dem ganzen Schlamassel von Rechtschreibefehlern entdeckt hat, dass ich gute Aufsätze schreibe. […] Ich habe ihn geliebt.» [10]

Eben: Die jungen Menschen zu sich selbst führen und aus sich heraus zu ihren Möglichkeiten, zu ihren Potentialen – zum Beispiel zum literarischen Schreiben, wie das Bichsels Lehrer bewirkt hat: Denken als innerer Dialog. Denken kann der Mensch nur selber, aber er braucht Impulse. Darum ist der sokratische Dialog so wichtig: die sokratische Hebammenkunst, das Angeleitet-Werden über das Gespräch, über ein wirksames Feedback. Auch davon spricht Hannah Arendt. Es ist ihr Schlüsselthema: «Ich muss verstehen. » Und auch hier braucht es das «Zwischen»; denn «Die [pädagogische] Welt liegt zwischen den Menschen».

Das Wie wirkt im „Dazwischen“ und ist vielfach unsichtbar. Ihm müssen wir Sorge tragen. Es ist immer gefährdet.

Hannah Arendt 1933

Das Wie ist durch keine Messbarkeit einzuholen
Guerino Saglini, Briefträger aus Passion, ging früher in Pension. Warum? Im Zuge einer Postreform rüffelte ihn ein Inspektor aus Bern. Mit der Stoppuhr erfasste er Saglinis Arbeitsschritte und mass seine Zustelleffizienz. «Vor allen Menschen den Hut ziehen? Das ist [für die Post] zu teuer!», beschied ihm der Kontrolleur aus der Berner Zentrale. Saglini zog die Konsequenzen und quittierte seinen Dienst.

Gemessen hat der Funktionär einzig das Was, den Output. Das Wie dagegen ist nicht quantifizierbar. Wie wichtig dieses Wie ist, weiss jede gute Lehrerin, das hat jeder engagierte Lehrer verinnerlicht. Dieses Wie ist durch keine Messbarkeit einzuholen. Es wirkt im „Dazwischen“ und ist vielfach unsichtbar. Ihm müssen wir Sorge tragen. Es ist immer gefährdet. Darum bleibt Hannah Arendts Botschaft zeitlos.


Hannah Arendt (1906-1975)
Vielen bekannt und populär geworden ist Hannah Arendt durch den Kinofilm von Margarethe von Trotta. Sie nennt ihn schlicht: Hannah Arendt. Entscheidend ist der Untertitel: «Ihr Denken veränderte die Welt.» Ein hoher Anspruch. Doch es stimmt: Das Wagnis zu denken, verändere die Welt, schreibt der Publizist und Erziehungswissenschaftler Reinhard Kahl. Zur Bildung und zum Unterricht allerdings hat Hannah Arendt nur wenig publiziert; doch dieses Wenige ist für die Schule bedeutsam. Dazu zählen ihr Vortrag «Die Krise in der Erziehung» und die Lessing-Rede von 1959 mit ihren Grundideen.

Hannah Arendt wächst in Königsberg auf. 1928 promoviert sie in Heidelberg; sie setzt ihre wissenschaftliche Arbeit in Berlin fort. Als Kritikerin des Nationalsozialismus und Jüdin ist sie gefährdet. 1933 flieht sie darum nach Paris. 1941 gelingt ihr die Ausreise nach New York. Hier publiziert sie ihr Hauptwerk «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft».

Ihr unbequemes „Denken ohne Geländer“ bringt ihr Ruhm und Renommee ein. So konnte sie als erste Frau eine Professorenstelle in Princeton übernehmen. 1961 nimmt sie als Berichterstatterin am Eichmann-Prozess in Jerusalem teil. Sie erkennt im Nazi-Schergen Adolf Eichmann nicht jenen bösen Dämon, den sie erwartet hatte, sondern sie erlebt und identifiziert ihn als Spiessbürger. Er verübt unfassbare Gräuel, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Eichmann ist für Arendt nicht mehr nur der Schatten aus der Vergangenheit. Er wird, je genauer sie ihn beobachtet, eine Drohung, die aus der Zukunft kommt: ein seelenloser Funktionär, so Reinhard Kahl. Diese Sicht bringt sie ins Kreuzfeuer der Kritik. Ihr Buch löst heftige Kontroversen aus. Denn die „Banalität des Bösen“, wie Arendt ihren Bericht «Eichmann in Jerusalem» nennt, bedeutet: Man muss anerkennen, dass der Nationalsozialismus kein einmaliges Unglück war, das schicksalhaft über die Menschheit hereinbrach, sondern er ist etwas, das sich jederzeit wiederholen kann, wenn man es zulässt.

Hannah Arendt stirbt 1975 in New York.

Quellen

  1. Ins Licht gerückt: 16 862 Tage für die Post, in: NZZ, 23.08.2007, S. 9.
  2. Hannah Arendt (1992), Vita activa oder Vom tätigen Leben. 7. Aufl. München: Piper Verlag; vgl. Reinhard Kahl, Hannah Arendt zum 100. Geburtstag: Ihre Aktualität ist ungebrochen, in: DIE WELT, 10.10.2006.
  3. Hannah Arendt (2019), Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, in: Dies. (2019), Menschen in finsteren Zeiten. 5. Aufl. Hrsg. von Ursula Ludz. München: Piper Verlag, S. 12.
  4. Ebda.
  5. Ebda, S. 13.
  6. Hannah Arendt (1994), Die Krise der Erziehung, in: Dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München: Piper, S. 270.
  7. Ebda.
  8. Stephan Ellinger, Johannes Brunner (2015), Alp-​Traumlehrer. Von flüchtigen Fledermäusen und multikulturellen Frohnaturen. Studierende erinnern sich. Teilheim: Gemma-​Verlag, S. 75.
  9. Sequenz im Film Hannah Arendt von Margarethe von Trotta: Gespräch zwischen der Politphilosophin und ihren Studierenden.
  10. Matthias Daum/Sarah Jäggi (2021), «Ich wähle nur noch Frauen». Gespräch mit Peter Bichsel. In: DIE ZEIT, 24.06.2021, S. 17.

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Immanuel Kant über Pädagogik https://condorcet.ch/2022/04/immanuel-kant-ueber-paedagogik/ https://condorcet.ch/2022/04/immanuel-kant-ueber-paedagogik/#comments Tue, 05 Apr 2022 11:09:24 +0000 https://condorcet.ch/?p=10758

Die Pädagogik verdankt dem «Kopernikus der Philosophie» viele Anregungen, die auf Theorie und Praxis der Erziehung fruchtbringend gewirkt haben. Trotzdem konnte die menschliche Natur noch nicht in der optimistischen Form entwickelt werden, wie sie Kant für die Menschheit als angemessen vorschwebte. Unser Haushistoriker Peter Aebersold berichtet, wie sich Kant in seinen pädagogischen Lehren von Rousseau und Montaigne beeinflussen liess. «Rousseaus Buch dient die Alten zu bessern», sagte er bewundernd zu seiner Lieblingslektüre «Emile».

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Der Erziehungsroman von Rousseau: Kants Lieblingslektüre.

Philosophische Pädagogik

Während seiner akademischen Vorbereitungsjahre war Kant als Hauslehrer tätig, was auch seine späteren pädagogischen Gedankengänge beeinflusste. Aus der Verpflichtung der Universität Königsberg, dass jeder Professor der Philosophie auch Vorlesungen über Pädagogik zu halten hatte, entstand die Schrift «Über Pädagogik». Sein Schüler Friedrich Theodor Rink hatte Kants Vorlesungen nachgeschrieben und 1803 unter dem Titel «Immanuel Kant über Pädagogik» veröffentlicht.  In seiner Pädagogik ging Kant von Rousseau und den Philanthropen aus und entwickelte daraus eine philosophische Pädagogik: 1764 schrieb er, «dass das noch unentdeckte Geheimnis der Erziehung dem alten Wahn entrissen werde, um das sittliche Gefühl frühzeitig in dem Busen eines jeden jungen Weltbürgers zu einer tätigen Empfindung zu erhöhen».

Erzieherisches Credo

Die Erziehung war für ihn der Motor des kulturellen Aufstiegs der Menschheit, als dominierende Kraft für die Sittlichkeit des Einzelnen und der Gesamtheit. Daraus folgt Kants erzieherisches Credo: «Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss … der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht … Vielleicht, dass die Erziehung immer besser werden, und dass jede folgende Generation einen Schritt näher tun wird zur Vervollkommnung der Menschheit … Von jetzt an kann dieses geschehen. Denn nun fängt man an, richtig zu urteilen und deutlich einzusehen, was eigentlich zu einer guten Erziehung gehöre. Es ist entzückend, sich vorzustellen, dass die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und dass man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist. Dies eröffnet uns den Prospekt zu einem künftigen glücklicheren Menschengeschlechte.»

Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss… der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung.

Erziehung durch den Mitmenschen

Ein Tier braucht dank seines vererbten Instinkts keine Unterweisung. Der Mensch jedoch muss die «Tierheit» in sich in die «Menschheit» umwandeln, er muss anstelle des triebhaften Verhaltens die Vernunft setzen und er ist nur «menschlich», wenn er den Gesetzen der Vernunft folgt. Dazu brauche es in der Kindheit, in der Körper und Geist des Menschen noch hilflos sind, einer Erziehung durch Mitmenschen, die sich aus Pflege, Disziplin und Unterweisung nebst der Bildung zusammensetzt. Der beste Erzieher werde immer der sein, der selbst gut erzogen ist. Mit grosser Umsicht und Liebe könne der Zögling soweit gebracht werden, dass er seinen Erzieher übertrifft. So könne der Mensch von einer Generation zur anderen einen Schritt zur Vollkommenheit tun. Eine ideale Erziehung müsse alle Möglichkeiten des Menschen zutage fördern, nur eine weitgehend uneingeschränkte Selbstentfaltung scheine dem Zweck des menschlichen Daseins angemessen.

Bei seiner Geburt ist der Mensch noch kein moralisches Wesen, das Gute muss zuerst entwickelt werden.

Moralische Erziehung zur Verbesserung der Menschheit

Bei seiner Geburt ist der Mensch noch kein moralisches Wesen, das Gute muss zuerst entwickelt werden. Weil das so schwer ist, sieht Kant die Erziehung als das grösste Problem und das schwerste, das dem Menschen aufgegeben werden könne.

Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, dass sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand hervorgebracht werde.

Sie (die Eltern) sollten sie besser erziehen.

Die Menschheit komme hier nur langsam voran und falle oft in die Rohheit zurück, woraus sie sich nur mit Mühe wieder erhebe: «Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, dass sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand hervorgebracht werde.» «Man darf nicht hoffen, dass die Regierungen, gleichsam von oben her, eine gerechte Weltordnung zustande bringen werden; wir sind vielmehr auf die «Privatbemühungen» verwiesen, und jeder, der die Erziehung im Elternhaus und Schule fördert, trägt zu allgemeinen Verbesserung bei». Es genüge nicht, für die Schule zu erziehen, der wahre Erzieher erziehe für das Leben, dazu gehöre die «Erziehung zur Persönlichkeit».

Einfügen in die Gemeinschaft

Der beste Erzieher werde immer der sein, der selbst gut erzogen ist.

Wenn der Zögling sich in die Gemeinschaft der Menschen einfügen soll, muss er lernen, mit dem Guten und Bösen in der Welt fertig zu werden. Um das Gute tun zu können, bedürfen wir der Einsicht und deshalb ist die Ausbildung unserer Vernunft auch die Schulung der Moralität. Die sittlichen Grundsätze muss der Mensch in sich selber finden, durch Strafe oder Diktat wird keine Humanität verankert. In der Erziehung geht es vor allem darum, einen «Charakter zu bilden». Charakter besitzt nur der aufrechte Mensch, der nicht von den Eltern bestraft oder gezwungen wurde. Je mehr die Persönlichkeit im Kinde geachtet werde, umso wahrhaftiger, offenherziger, geselliger und heiterer werde es sein.

Würde des Menschen nicht verleugnen

Der Mensch müsse den Kampf gegen seine Leidenschaft aufnehmen und sein Leben im Sinne einer weisen Mässigkeit einrichten, nach dem stoischen Grundsatz: «Dulde und entbehre!». Es sei unsere Pflicht, die «Würde des Menschen in unserer eigenen Person nicht zu verleugnen.» Masslosigkeit, Laster, sklavische Gesinnung und unwürdiges Benehmen würden in uns selbst die Menschheit beleidigen. Hier mündet Kants Pädagogik in die Ethik, aus der sie hervorgegangen ist. Die Pädagogik als «ethische Praxis» führt die Erziehung zum «Kategorischen Imperativ», der in der «Kritik der praktischen Vernunft», Kants ethischen und moralphilosophischen Hauptwerk, der Schlüssel zum sittlichen Verhalten darstellt. Nur wer im anderen Menschen und in sich selbst die Person achtet, ist wahrhaft frei. Freiheit ist nur möglich bei gegenseitiger Achtung vernünftiger Wesen: «Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eine jeden anderen jederzeit als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest.»

Quellen:

https://de.wikisource.org/wiki/%C3%9Cber_P%C3%A4dagogik «Immanuel Kant über Pädagogik» (online Buch)

https://catalog.hathitrust.org/Record/101816726 «Immanuel Kant über Pädagogik» (online Buch, Original in Fraktur)

https://de.wikipedia.org/wiki/Immanuel_Kant Leben und Werk

 

 

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Ein guter Einstieg in die Causa Hannah Arendt – die Graphic Novel von Krimstein https://condorcet.ch/2021/12/ein-guter-einstieg-in-die-causa-hannah-arendt-die-graphic-novel-von-krimstein/ https://condorcet.ch/2021/12/ein-guter-einstieg-in-die-causa-hannah-arendt-die-graphic-novel-von-krimstein/#respond Sat, 04 Dec 2021 12:27:12 +0000 https://condorcet.ch/?p=10049

Und noch eine Buchrezension von Condorcet-Autor Alain Pichard. Regelmässige Condorcet-Leserinnen und -Leser werden es mittlerweile bemerkt haben: Hanna Arendt geniesst in diesem Bildungsblog einen hohen Stellenwert. Das hat nicht nur damit zu tun, dass Hannah Arendt unseren Namensgeber Jean-Marie de Condorcet gut kennt und sich des Öfteren auf ihn bezieht, sondern liegt auch in der Tatsache begründet, dass für Hannah Arendt die Wahrheit aus dem Diskurs entsteht.

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Die drei Leben der Hannah Arendt, eine Graphic Novel von Ken Krimstein, übersetzt von Hans Zischler.
Ken Krimstein ist ein amerikanischer Autor und Dozent. Er arbeitet als Cartoonist in The New Yorker.

Für Hannah Arendt-Interessierte ist Ken Krimsteins Graphic Novel “Die drei Leben der Hannah Arendt” ein wahrer Glücksgriff. Krimsteins Graphic Novel gelingt es, das Leben der Hannah Arendt informativ und unterhaltsam im wahrsten Sinn des Wortes nachzuzeichnen. Er gewichtet zwar etwas stark die Biographie der streitbaren Philosophin, was zulasten ihres philosophischen Werks geht, aber als Einstieg ist dieser Comic hervorragend geeignet und macht Lust auf mehr. Krimstein zeichnet sinnlich, erotisch, humorvoll und trotzdem nicht oberflächlich. Mich hat  diese Bilderbiographie sofort in den Bann gezogen. Das scheinbar lockere Gekritzel ist stilistisch aufregend  und immer verständlich. Es wäre auch eine Lektüre, die man mit Gymnasiastinnen oder Gymnasiaten lesen könnte, vielleicht sogar an der Sekundarstufe 1.

Scheinbar lockeres Gekritzel, das einen sofort in den Bann zieht.

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Comenius – die Kunst, alle alles zu lehren https://condorcet.ch/2021/11/comenius-die-kunst-alle-alles-zu-lehren/ https://condorcet.ch/2021/11/comenius-die-kunst-alle-alles-zu-lehren/#comments Mon, 01 Nov 2021 07:26:55 +0000 https://condorcet.ch/?p=9677

Es ist schon erstaunlich, welch weitsichtige und humanistisch denkenden Menschen es im vorrevolutionären Zeitalter gab. Dank unserem Haushistoriker Peter Aebersold lernen unsere Leserinnen und Leser den Philosophen und Theologen Comenius und dessen Pionierwerke der didaktischen Bildung kennen.

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Johann Amos Comenius (1592-1670) war ein Philosoph, Pädagoge und evangelischer Theologe.

«Aus vielen Tausenden bin ich selbst einer, ein armes Menschenkind, dem der überaus schöne Frühling seines ganzen Lebens, die Blütenjahre der Jugend, mit Schulfuchsereien elendiglich verloren gegangen sind. Ach, wie oft hat mir, nachdem ich zu einer besseren Einsicht gekommen, die Erinnerung an die verlorene Zeit Seufzer aus der Brust, Tränen aus den Augen, Kummer aus dem Herzen gepresst!» Johann Amos Comenius in seiner «Grossen Unterrichtslehre».

Die Macht der Erziehung

Die Erlebnisse seiner Schulzeit und die durch schwerste Schicksalsschläge gewonnene Erfahrung ermöglichten dem souveränen Geist von Comenius, Welt und Menschen zu verstehen und daraus segensreich auf Theorie und Praxis der Erziehung einzuwirken, überzeugt von der menschlichen Bildungsfähigkeit und der grenzenlosen Fassungskraft des Geistes. In der Erziehung sah er den einzigen Ausweg aus dem verkehrten Zustand der Menschheit. Während des dreissigjährigen Krieges, einer Zeit, die von Kriegen, Unterdrückung und Unrecht geprägt war, verlor er nie den Glauben an die Macht der Erziehung und die Selbstbildungsfähigkeit des Menschen.

Während des dreissigjährigen Krieges, einer Zeit, die von Kriegen, Unterdrückung und Unrecht geprägt war, verlor er nie den Glauben an die Macht der Erziehung und die Selbstbildungsfähigkeit des Menschen.

Als einer der bedeutendsten Pädagogen der Neuzeit lebte er in einer Zeit, die durch wissenschaftliche Erkenntnisse, demokratisches Freiheitsstreben und einem beschleunigten Wandel wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse geprägt war, der sich auch im Bildungswesen niederschlug. Nach dem Studium an den Universitäten von Herborn und Heidelberg schrieb er 1616 aufgrund seiner negativen Erfahrungen im Lateinunterricht das Büchlein «Regeln einer leichteren Grammatik».

Die Inhalte der «Didactica magna» gelten bis heute als wichtige Grundlage des Realienunterrichts, der muttersprachlichen Bildung, der allgemeinen Schulpflicht und der Unterrichtsmethodik.

Um der Zeitvertrödelung im bisherigen Unterricht zu begegnen, vertiefte er sich zwischen 1627 und 1638 in die didaktischen Probleme und veröffentlichte (1657 zuerst auf böhmisch, dann auf lateinisch) seine «Grosse Unterrichtslehre», die «Didactica magna» oder «die Kunst, alle alles zu lehren».  Sie sollte als Leitfaden dienen, um in angenehmer Lernatmosphäre einen hohen Lernertrag bei den Schülern zu erzielen. So entstand in der Neuzeit das erste grosse, systematisch aufgebaute Werk der Pädagogik auf der Basis der Muttersprache. Comenius hoffte der Bevölkerung in seiner böhmischen Heimat mit einer fundamentalen Reform des Unterrichtswesens, durch Verbesserung der Erziehung in der schweren Zeit neuen Auftrieb geben zu können. Die Inhalte der «Didactica magna» gelten bis heute als wichtige Grundlage des Realienunterrichts, der muttersprachlichen Bildung, der allgemeinen Schulpflicht und der Unterrichtsmethodik.

Informatorium der Mutterschule

In seinem ersten deutschsprachigen Büchlein «Informatorium der Mutterschule» (1630) behandelte er den Aufgabenkreis der Mutter bis zum sechsten Lebensjahr ihres Kindes. Comenius war der Erste, der die Pädagogik vom Kind her entwarf. Neben der physischen Pflege hob er die Wichtigkeit des elterlichen Vorbildes für die kindliche Entwicklung hervor, wandte sich unter anderem gegen die Verzärtelung der Kinder und schlug vor, wie die Kinder in Tun und Mithilfe geübt werden sollen: «Die Kinder tun allezeit gerne etwas: denn das junge Blut kann nicht lange stille stehen, und solches ist sehr gut. Darum man es ihnen nicht wehren, sondern vielmehr Anlass geben soll, dass sie immer etwas zu tun haben. Lass sie Ameislein werden, die immer herumkriechen, tragen, schleppen, einlegen, umlegen; nur damit sie etlichermassen mit Verstand tun, was sie tun sollen, muss man ihnen dazu helfen, und alles Tuns, wenn es auch kindische Dinge wären, ihnen ein Muster zeigen, und sich also mit ihnen zu spielen, nicht schämen.»

«Sprachenpforte» (Janua linguarum, 1631).
Erste systematische Sprachenlehre.

Volksschule und effiziente Sprachenpforte

An die Erziehung im Elternhaus wollte Comenius nicht, wie damals üblich, die Lateinschule sondern zuerst eine muttersprachliche Schule (schola vernacula) anschliessen. Damit vertrat er zum ersten Male in der Geschichte der Pädagogik die Idee der «Volksschule», für die er auch Lehrbücher ausarbeitete. Die Erneuerung des Schulwesens sah er vor allem in einer Verbesserung des Sprachunterrichts, weil damals schon beim Erlernen der Sprache viele Jahre verloren gingen: «Die meisten, die sich den Wissenschaften hingeben, werden alt bei den Vokabeln, bloss auf die lateinische Sprache werden zehn und mehrere Jahre, ja die ganze Lebenszeit verwendet; mit einem äusserst langsamen und noch dazu dürftigen und die aufgewendete Mühe keineswegs lohnenden Erfolge.» In seinem Buch «Sprachenpforte» (Janua linguarum, 1631), das ihn weltberühmt machte, setzte er anstelle der Methodenlosigkeit die Methode der «Janua», bei der der ganze Sprachschatz der lateinischen Sprache in zwölfhundert Sätze eingebaut wurde, in denen jede Vokabel nur einmal vorkam. Neuartig war, dass Comenius die Worte mit den Sachen in Verbindung brachte, damit mit allen Worten zugleich auch alle Dinge dem Verstand zugänglich gemacht werden konnten. Indem Sprach- und Sachunterricht parallel liefen, konnte mit der Sprachschulung das gesamte menschliche Wissen vermittelt werden.

Anschauungsunterricht

Dem damals im rein Sprachlichen verharrende Schulbetrieb setzte die Comenische «Janua» die Idee des «Anschauungsunterrichtes» entgegen.  Die Sprache muss an den Sachen selber oder deren Bilder gelernt werden. Der Aufbau des Sprachunterrichts im Sinne eines kontinuierlichen Lernweges beinhaltete zugleich einen Sachunterricht: Von den Eigenschaften zu den Dingen, vom Tun und Leiden der Dinge, von den Umständen der Dinge, von den Dingen in der Schule, im Hause, in der Stadt und deren Umgebung, von den Tugenden.  Wenn Sachkenntnis und Sprachschulung Hand in Hand gehen, kann der Unterricht wesentlich effizienter gestaltet werden. Für Comenius bestand die Weisheit in den Dingen, nicht in den Worten. Nach der «Sprachenpforte» befasste sich Comenius mit dem Verfassen von Lehrbüchern für den «realen Unterricht», einer «Weisheitspforte». Dazu gehörten für ihn die «Pansophie» (Allweisheit, 1651) mit den Prinzipien Gott, Welt und menschlicher Einsicht, die «Panhistoria» (Weltgeschichte) sowie die «Allgemeine Dogmatik» mit allen Meinungen der Menschen. Nachdem die Jugend mit der Sprachenpforte die Dinge äusserlich beschreiben konnte, sollte sie nun das Innere der Dinge anschauen können.

Schulpraxis und pädagogische Gesinnung

1638 wurde Comenius nach Schweden eingeladen, um die dortigen Schulen zu reformieren. Eine weitere Einladung kam aus England, wo er ein internationales Gelehrtenkollegium errichten sollte, welches sich um die Förderung der Wissenschaften kümmern sollte. Er folgte der Einladung des Fürsten Sigismund Rákóczi nach Sárospatak in Ungarn, wo er die «Pansophische Schule» (Allgemeine Werkstätte der Weisheit) als siebenklassiges Gymnasium aufbaute. Jünglinge aus allen Gesellschaftsschichten sollten hier lernen, «was die menschliche Natur zu vervollkommnen und den Zustand der Volkswirtschaft, des Staates, der Kirche und des Schulwesens zu bessern imstande ist». Der Unterricht wurde durch von Comenius für alle Stufen verfassten Lehrbüchern geleitet. Die Schulorganisation sollte dem öffentlichen Leben gleichen, damit die Schüler im kleinsten Bereich auf das künftige Leben im Staate vorbereitet würden.

«Nicht nur die Kinder der Reichen oder der Vornehmen, sondern alle in gleicher Weise, Adelige und Bürgerliche, Reiche und Arme, Knaben und Mädchen in grossen und kleinen Städten, in Flecken und Dörfern zur Schule heranziehen»

Wichtiger war jedoch der Geist, von dem die Comenische Schule getragen war, seine pädagogische Gesinnung, die er schon in der «Grossen Unterrichtslehre» dargestellt hatte: «Nicht nur die Kinder der Reichen oder der Vornehmen, sondern alle in gleicher Weise, Adelige und Bürgerliche, Reiche und Arme, Knaben und Mädchen in grossen und kleinen Städten, in Flecken und Dörfern zur Schule heranziehen» oder kürzer «In der Schule sind alle in allem zu unterrichten».

«Man soll des Lernens wegen keine Schläge geben; denn wenn nicht gelernt wird, so ist das doch nur die Schuld des Lehrers, der entweder es nicht versteht oder sich nicht darum kümmert, den Schüler gelehrig zu machen.»

Damit die Kinder keinen Ekel am Lernen bekommen, erstellte er naturgemässe Grundsätze, die im Schulplan vom Lehrer befolgt werden sollten: «Man soll des Lernens wegen keine Schläge geben; denn wenn nicht gelernt wird, so ist das doch nur die Schuld des Lehrers, der entweder es nicht versteht oder sich nicht darum kümmert, den Schüler gelehrig zu machen.» Es geht darum, die geistige Selbständigkeit des Schülers zu wecken; ohne jeglichen Zwang soll man die Kinder lehren in dem grossen Buche der Natur zu lesen, sie dazu anleiten, die Dinge selbst kennenzulernen und zu untersuchen und sich nicht auf fremdes Zeugnis und überlieferte Autorität zu verlassen. Comenius grosser Plan scheiterte hauptsächlich daran, dass er keine geeigneten Mitarbeiter finden konnte sowie an Neid und Missgunst.

«Orbis pictus» oder «Die Welt in Bildern». Mit der ersten illustrierten Lesefibel und der ersten Enzyklopädie für Kinder der Welt, wurde mit Hilfe einfachster Abbildungen unterrichtet.

Die Welt in Bildern

Vor seinem Abschied von Ungarn 1654 konnte er sein populärstes Werk vollenden, den «Orbis pictus» oder «Die Welt in Bildern». Mit der ersten illustrierten Lesefibel und der ersten Enzyklopädie für Kinder der Welt, wurde mit Hilfe einfachster Abbildungen unterrichtet. Dieses neue Anschauungsprinzip wurde als «pädagogisches Kolumbus-Ei» bezeichnet. «Orbis pictus» wurde in wenigen Jahren in elf Sprachen übersetzt und war ein in Europa vom 17. bis zum 19. Jahrhundert weit verbreitetes Jugend- und Schulbuch. 1657 gab er in seinem letzten Asyl in Amsterdam seine gesammelten didaktischen Werke unter dem Motto «Alles wird gehen von selbst; fern bleibe jede Gewalttat!» heraus. Als Comenius siebenundsiebzigjährig starb, war sein Leben ein einziger und unablässiger Dienst an der Menschheit gewesen, der auf Jahrhunderte seine kulturbestimmende Kraft nicht verlor.

Zeitgemässe Zeitvertrödelung

Wenn wir das Comenische Leitmotiv mit unserer heutigen Situation in der Volksschule vergleichen, müssen wir uns fragen, warum es unserer Volksschule im 21. Jahrhundert nicht mehr gelingt, das demokratische Ziel «alle alles zu lehren» zu erreichen und warum 24 % unserer Schüler die Schule nach 11 Schuljahren als funktionelle Analphabeten verlassen (Pisa 2018)?  Wo wird in der Schule so viel Zeit vertrödelt, dass so etwas möglich ist? Die Effizienz des Schweizer Schulsystems im 20. Jahrhundert basierte auf der Homogenität der Schulklassen, die einen gemeinsamen Klassenunterricht ermöglichte, bei dem praktisch alle Schüler am Ende des Schuljahres das Stoffziel erreichen konnten. Als die Schweiz 1991 erstmals am International Assessment of Educational Progress (IAEP) teilnahm, erreichte sie in Mathematik und Naturwissenschaften die höchsten Durchschnittsresultate aller 20 Teilnehmerstaaten. International besonders beachtet wurden die Resultate der schwächsten 10 Prozent der Schweizer Schüler, die weit über denjenigen aller anderen Länder lagen.

Diese Homogenität und der Klassenunterricht wurden dem Paradigmenwechsel mit der Einführung des Lehrplans 21 und der sogenannten «Integration» geopfert.  Der Lehrplan 21 mit seiner umstrittenen «Kompetenzorientierung», verlangt von den Schülern «selbstorganisiertes Lernen», das eine Vorstellung von Autonomie voraussetzt, die es gemäss dem Psychologen Allan Guggenbühl bei Kindern noch gar nicht gibt. Beim «selbstorganisierten Lernen» wird sehr viel Zeit vertrödelt, weil die Kinder, meist sich selbst überlassen, «das Rad neu erfinden» sollen, womit gleichzeitig die schwachen Schüler von Anfang an abgehängt werden. Die sogenannte «Integration» stellt den Lehrer vor das Dilemma, entweder das Mittelfeld der Schüler zu fördern (die starken schaffen das so oder so) oder das Tempo den schwachen anzupassen. Damit sie das Stoffziel erreichen können, werden sich die meisten Lehrer oft schweren Herzens für die erste Möglichkeit entscheiden. Damit sind wir mit unserem «zeitgemässen» Bildungswesen hinter Comenius zurückgefallen.

Quellen:

https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/lernen/deutschunterricht/pwiejohanamoscomenius100.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Orbis_sensualium_pictus

https://de.wikipedia.org/wiki/Didactica_magna

Helvia Bierhoff: Laying the Foundations of Numeracy: a comparison of primary school textbooks in Britain, Germany and Switzerland. Discussion Paper no. 90, National Institute of Economic and Social Research, London January 1996

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