Ökonomisierung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 02 Apr 2024 18:56:26 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Ökonomisierung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Der Erfahrungsschatz der Praxis wird negiert https://condorcet.ch/2024/04/16375/ https://condorcet.ch/2024/04/16375/#comments Tue, 02 Apr 2024 18:10:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=16375

Der Kommentar des BAZ-Chefredakteurs Marcel Rohr stiess in unserer Leserschaft auf grosses Interesse. Auch die Condorcet-Autorin Christine Staehelin reagierte auf die scharfe Analyse, empfand sie allerdings als zu oberflächlich. Für Condorcet-Autor Felix Hoffmann ist das Versagen des Basler Schulsystems allerdings ein Absturz mit Ansage.: Zu viel Ideologie, zu wenig Sachverstand und das Beiseiteschieben der Lehrkräfteexpertise.

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Die gemiedene Expertise der Profis

Dass die Lehrkräfte mittlerweile verstummt sind, ist absolut richtig, es geht allerdings darüber hinaus. Lehrpersonen wurden eben auch aktiv mundtot gemacht. Insbesondere im linken Basel wurde ihnen unter dem ehemaligen Leiter für Volksschulen, Dieter Baur, untersagt, sich öffentlich reformkritisch verlautbaren zu lassen. Erboste man sich als Lehrkraft dennoch, die eigene Meinung zu publizieren, wurde man zitiert und abgemahnt. – Der Kommunismus mit seiner autoritären Gleichschaltung lässt grüssen. Wer aber soll denn besser geeignet sein, den Schulbetrieb zu beurteilen, als erfahrene und bewährte Lehrkräfte, die täglich ihre Arbeit darin verrichten und die negativen Auswirkungen von Reformen unmittelbar erleben? Doch ausgerechnet die Expertise solcher Lehrpersonen scheut die Bildungspolitik wie der Teufel das Weihwasser. Sie will den Lead, die Deutungshoheit. In der Bildungspolitik agiert oft nicht, wer dafür qualifiziert ist, sondern wer bestimmen will.

So stützte man sich bei Passepartout nicht auf die für alle Lernenden, ob gross oder klein, wichtigen Prinzipien beim Fremdsprachenerwerb[2], sondern auf eine Ideologie.

Felix Hoffmann, BL, Sekundarlehrer, Condorcet-Autor: Keine Expertise der Lehrpersonen erwünscht.

Die Entmenschlichung des Schulbetriebs

Wie Stähelin sehr richtig bemerkt, ist «das pädagogische Tun in seinem Kern eine personale Angelegenheit…» Dies zeigt sich auch im sogenannten pädagogischen Dreieck zwischen  Thema, Lehrenden und Lernenden. Mit andern Worten steht neben der Wissens- und Kompetenzvermittlung letztlich der Mensch im Mittelpunkt des Schulbetriebs. Dieser geriet allerdings vor rund dreissig Jahren[1] aus dem Fokus der Bildungspolitik, und zwar nicht nur die Lehrenden, sondern auch die Lernenden.

So stützte man sich bei Passepartout nicht auf die für alle Lernenden, ob gross oder klein, wichtigen Prinzipien beim Fremdsprachenerwerb[2], sondern auf eine Ideologie, die letzten Endes auf einem unsäglich dümmlichen Irrtum beruhte.[3] Bei der Kompetenzorientierung orientierte man sich an den Bedürfnissen der Wirtschaft. Bei der Digitalisierung liegt die Rentabilität von Firmen wie Apple, Microsoft und Google im Vordergrund. Und beim Frühfranzösisch berief man sich u.a. auf behauptete Erkenntnisse aus der Gehirnforschung, statt sich an der die Lernenden umgebenden Realität zu orientieren: Zu viele fremdländische SchülerInnen sind mit drei Fremdsprachen heillos überfordert. Zu viele Lehrkräfte auf der Primarstufe sind nicht ausreichend für den Französischunterricht qualifiziert, zumal sie ferner auch noch mit den schlechten Passepartout-Lehrmitteln unterrichten. Die Klassen sind wegen der Integration bzw. Inklusion über die Massen heterogen, sodass stets mehr SchülerInnen immer weniger lernen.

Also auch bei dieser Reform standen die Belange der Lernenden nicht im Zentrum.

Selbst bei der so menschlich anmutenden Integration/Inklusion geht es nur vordergründig um das Wohl der Kinder und Jugendlichen. In Tat und Wahrheit dreht es sich auch hier um eine Ideologie, sprich der weltfremden ideologisch behaupteten Gleichheit der Menschen, was nichts anderes bedeutet als Gleichmacherei. Diese ist getarnt durch euphemistische Begrifflichkeiten wie Chancengleichheit, die sich klangheimlich zur nicht minder realitätsfernen Chancengerechtigkeit wandelte. Wie bei Passepartout liegt auch hier letzten Endes ein Irrtum zugrunde: Wenn man die Lernenden nur alle in den gleichen Topf wirft, haben sie alle die gleichen Chancen. Dies unter völliger Ausblendung der real existierenden Individualität der SchülerInnen.

Man darf gespannt sein, ob der neue Basler Erziehungsdirektor in spe, der Linke Mustafa Atici, bereit sein wird, über seinen ideologischen Schatten zu springen, um Förderklassen einzuführen. Dies wäre ausnahmsweise keine Reform, sondern eine längst fällige Korrektur.

Die durch die Ideologie der Integration/Inklusion verursachten Probleme treten insbesondere in Basel überdeutlich zutage, ein gewichtiger Grund für den Lehrkräftemangel und den dortigen schulischen Leistungsabfall. Man darf gespannt sein, ob der neue Basler Erziehungsdirektor in spe, der Linke Mustafa Atici, bereit sein wird, über seinen ideologischen Schatten zu springen, um Förderklassen einzuführen. Dies wäre ausnahmsweise keine Reform, sondern eine längst fällige Korrektur.

Das unsägliche Reformprojekt des  VSLCH

Christine Staehelin bringt es äusserst treffend auf den Punkt: «Es braucht nun keine weiteren Reformen und Massnahmen, um die Schule zu verbessern, sondern die Abkehr von der Idee, dass diese etwas dazu beitragen könnten.» Die vom Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz, (VSLCH) propagierte Abschaffung der Noten und der Selektion – einer weiteren Reform also, die alles auf den Kopf stellen will – könnte in der Folge zu keinem dümmeren Moment kommen. Abgesehen davon, würden die Interessen der Lernenden auch hier einmal mehr unberücksichtigt bleiben. Denn diese wollen Noten, da sie ihnen eine unkomplizierte, leicht verständliche und verlässliche Orientierung zum eigenen Leistungsstand  bieten. Und was die Abschaffung der Selektion betrifft, wurde uns anhand der selektionsbefreiten Basler Orientierungsschule (OS) ein Lehrstück geboten: Schon kurz nach deren Gründung wurde die Selektion durchs Hintertürchen wieder eingeführt über die sogenannten Emos-Klassen[4]. Dies, da die extreme Heterogenität der Regelklassen seitens der Lehrerschaft nicht mehr zu händeln war. Jener Schritt stellte sich jedoch als unzureichende Kosmetik heraus. Denn die OS war grundsätzlich ein integratives Fehlkonstrukt, insbesondere wegen der fehlenden Selektion und der fehlenden Noten. Abgesehen von deren PromotorInnen wollte sie niemand in Basel, weder die Schüler-, Eltern- und Lehrerschaft- noch die Wirtschaft. Nach einer Gesichtswahrungsfrist von etwa 12 Jahren, war sie folglich Geschichte.

Es stellt sich die Frage, in wessen Namen der VSLCH hier eigentlich agiert, im Namen des gesamten Verbands? Oder ist es vielleicht ein eigenmächtiges Projekt der Verbandsspitze um das der Mercator Stiftung nahestehende Geschäftsleitungsmitglied, Jörg Berger? «Das Wort “Mercator” stammt aus dem Lateinischen und bedeutet “Kaufmann” oder “Händler”…Insgesamt bezeichnet “Mercator” also eine Person, die sich mit Handel und Kommerz beschäftigt.»[5] Nomen est Omen! Der Schulbetrieb als Handelsplatz neoliberaler Geschäftsmodelle getarnt im Tarnkappenbegriff der «Reform».

Anstelle von weiteren unsäglichen Reformen brauchen wir einerseits eine Rechenschaftsplicht für ReformerInnen und andererseits die Abschaffung der Gesichtswahrungsfrist. Wären diese beiden Forderungen bereits erfüllt, gäbe es heute u.a. keine Kompetenzorientierung, kein Frühfranzösisch, keine gesundheitsschädigende schulische Digitalisierung in der heutigen Form und keine aus dem Ruder gelaufene Integration/Inklusion.

“Selbst das Wort Schule, das von griechisch scholé (Rast, Ruhe, Muße) herkommt, kann als Widerspruch angesehen werden.” Unbekannt[6]

[1] Als der damalige Zürcher Bildungsdirektor, Ernst Buschor, anfing, die Volksschule nach marktwirtschaftlichen Prinzipien umzugestalten.

[2] Vom Einfachen zum Schwierigen, klar strukturierter Aufbau, systematisches Üben und Repetieren, Lernziele auf Grundlage klar definierter Stoffinhalte, altersgerechte/r Wortschatz bzw. Themen und Texte usw.

[3] Das von den Passepartout-PromotorInnen proklamierte Sprachbad als Grundlage ihrer Ideologie gibt es nicht mit drei Fremdsprachenlektionen pro Woche. Folglich stürzte die ganze Reform wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

[4] Diese waren nichts anderes als “progymnasiale Klassen” für leistungsstarke deutschsprachige SchülerInnen.

[5] https://www.perplexity.ai/search/Was-bedeutet-das-0_qyP6XqSFi7FdzIaAuCiQ

[6] https://www.gutzitiert.de/zitate_sprueche-schule.html

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Nicht nur einflussreich, sondern auch sterbenslangweilig https://condorcet.ch/2024/01/nicht-nur-einflussreich-sondern-auch-sterbenslangweilig/ https://condorcet.ch/2024/01/nicht-nur-einflussreich-sondern-auch-sterbenslangweilig/#respond Wed, 03 Jan 2024 12:47:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=15611

Condorcet-Autor Bernhard Krötz, Mathematik-Professor in Paderborn, eröffnet das Jahr 2024 in unserem Bildungsblog mit einem Beitrag über den Bertelsmann-Konzern und erklärt uns den Einfluss der Bertelsmann-Stiftung auf die Bildungsreformen der vergangenen Jahre.

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Matthias Burchardt: Ich hatte die Illusion, dass die Kraft des besseren Arguments gilt. https://condorcet.ch/2023/06/matthias-burchardt-ich-hatte-die-illusion-dass-die-kraft-des-besseren-arguments-gilt/ https://condorcet.ch/2023/06/matthias-burchardt-ich-hatte-die-illusion-dass-die-kraft-des-besseren-arguments-gilt/#comments Wed, 21 Jun 2023 15:32:29 +0000 https://condorcet.ch/?p=14164

Matthias Burchardt, Jg. 1966, hat in an der Universität zu Köln Germanistik, Philosophie, Pädagogik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften studiert und mit dem Ersten Staatsexamen abgeschlossen. Promoviert hat er über die Anthropologie Eugen Finks. Als gefragter Referent und streitbarer Publizist vertritt er in Presse, Rundfunk und Fernsehen humorvoll und kontrovers Positionen zu PISA, Bologna und nicht zuletzt zum Digitalisierungshype. Befragt wird er von Michael Meyen, seit 2002 Professor für Allgemeine und Systematische Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Matthias Burchardt ist in unserem Blog kein Unbekannter. Er ist Mitbegründer und Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen, die mit unserem Blog verbunden ist und in Österreich, Deutschland und der Schweiz kritisch Stellung zu bildungspolitischen Fragen bezieht. Burchardt formuliert messerscharf und rhetorisch brillant den bildungspraktischen Nutzen einer quantifizierenden empirischen Bildungsforschung und den Verlust an Augenmaß in der Bldungspolitik.

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Ökonomisierte Bildung – Überlegungen zu neoliberalen Bildungsreformen und ihren Folgen https://condorcet.ch/2022/10/oekonomisierte-bildung-ueberlegungen-zu-neoliberalen-bildungsreformen-und-ihren-folgen/ https://condorcet.ch/2022/10/oekonomisierte-bildung-ueberlegungen-zu-neoliberalen-bildungsreformen-und-ihren-folgen/#comments Mon, 10 Oct 2022 13:40:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=11911

Der Condorcet-Blog ist ein Diskursblog, der von linken, liberalen und konservativen Persönlichkeiten gemeinsam betrieben wird. Es freut uns daher sehr, dass wir mit Dominic Iten einen pointiert linken Bildungsfachmann als Autor aufschalten dürfen. Seine Analysen des Ist-Zustands werden wohl auf viel Zustimmung stossen. Bei der Ursachenforschung dürfte es auch Widerspruch geben. Der WOZ-Journalist und Widerspruch-Herausgeber sieht die Anfänge der Ökonomisierung unserer Bildungslandschaft in den USA.

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Dominic Iten, Lehrer in Bern, Redaktor des Widerspruch: Ein Teil der Linken hat hier mitgemacht.

Die neoliberale Wende: Das Paradebeispiel USA

Die Umsetzung der neoliberalen Agenda hat ein Eindringen von ökonomischen Prinzipien in sämtliche Lebensbereiche zur Folge: Alles wird zur Ware – auch die Bildung und jene, die sie vermitteln oder sich aneignen. Entgegen geläufigen Vorstellungen bedeutete die neoliberale Wende aber nicht das Zurückstutzen des Staates bis zu seiner Bedeutungslosigkeit. Vielmehr soll er die optimalen Rahmenbedingungen für einen Wettbewerb schaffen, der das Kapital begünstigt, und nur dort eingreifen, wo Korrekturen vonnöten sind. Staatsausgaben werden reduziert und die ehemals verstaatlichten Bereiche so weit privatisiert, als sich damit profitable Geschäfte machen lassen.

Das Individuum wird ins Zentrum gerückt, die individuelle Leistung wird zur massgeblichen Bestimmungsgrösse für den Wert des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft.

Demokraten und Republikaner haben in den USA die Bildungsreformen zu verantworten.

Die USA gelten als Paradebeispiel für einen neoliberalen Umbau des Bildungswesens. Mit dem Amtsantritt von Ronald Reagan, der präsidialen Speerspitze des Neoliberalismus, lässt sich dieser Wandel eindrücklich nachvollziehen: War die öffentliche Volksschule in den USA bis in die frühen 80er Jahre eine weitgehend anerkannte Institution, wurde die Bildung nun zunehmend dem Markt überlassen. Typischerweise geht damit eine verstärkte Evaluationstätigkeit einher: Schulische Leistungen werden mittels standardisierten Tests gemessen und überprüft, Schulen und Lehrpersonen haften für die Qualität des Unterrichts. Sollten die erbrachten Leistungen den eingeführten Standards nicht genügen, hat dies Schulschliessungen und Entlassungen der Bildungsverantwortlichen zur Folge. Sowohl Erfolg als auch Misserfolg hat jede:r selbst zu verantworten: Das Individuum wird ins Zentrum gerückt, die individuelle Leistung wird zur massgeblichen Bestimmungsgrösse für den Wert des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft. Der Staat soll genau dafür die nötigen Anreize setzen. In der Konkurrenz mit privaten Anbietern sollen die öffentlichen Schulen zu mehr Effektivität und Effizienz gezwungen werden. Marktkräfte mussten entfesselt, öffentliche Dienstleister wie die Schule durch private Konkurrenten herausgefordert werden.

Die Durchsetzung der Bildungs- und anderer neoliberaler Reformen konnte nur unter tatkräftiger Mithilfe sozialdemokratischer und gesellschaftlicher Kräfte gelingen.

Fitzgerald Crain, ehemaliger Dozent für pädagogische Psychologie an der Universität Basel und Professor an der Pädagogischen Hochschule FHNW

Der Fluss öffentlicher Gelder wurde also nicht eingestellt, sondern umgeleitet: Fitzgerald Crain, ehemaliger Dozent für pädagogische Psychologie an der Universität Basel und Professor an der Pädagogischen Hochschule FHNW, stellt fest: «Die Privatisierung wurde schliesslich dadurch gefördert, dass öffentliche Gelder in private beziehungsweise halbprivate Bildungseinrichtungen – die sogenannten ‘Charter Schools’ – umgeleitet wurden. Eine Parallelwelt von Unternehmen, die sich mit Testentwicklung, Testdurchführung, Schulentwicklung und Beratung befasst, etablierte sich.» Diese in den 80er Jahren angestossene Entwicklung wurde bis heute weitergefördert, unabhängig davon, ob sich das Land gerade unter demokratischer oder republikanischer Führung befand. Es spricht für die Wirkmächtigkeit des neoliberalen Paradigmas, dass seine Forderungen zu wesentlichen Teilen in die Programmatik seiner ‘Gegner’ eingeflossen sind. Dass sich die Sozialdemokratien im Laufe der vergangenen Jahrzehnte von ihrem ursprünglichen Ziel, der Überwindung der Marktwirtschaft, abgewandt und inzwischen ihr reibungsloses Funktionieren zu ihrem Ziel erklärt haben, ist für den Erfolg neoliberaler Politik entscheidend gewesen. Die Durchsetzung der Bildungs- und anderer neoliberaler Reformen konnte nur unter tatkräftiger Mithilfe sozialdemokratischer und gesellschaftlicher Kräfte gelingen.

Die öffentliche Schule wird im Vergleich mit den privaten und halb privaten Schulen tendenziell schlechter, was unter Umständen zu Schulschliessungen oder Umwandlungen in halbprivate Charter Schools führt.

Vordergründig wurde mit diesem Wandel eine Verbesserung des Schulsystems und die Förderung von Chancengleichheit angestrebt. In Wahrheit ging es natürlich um die Bereinigung der ökonomischen Krise der 70er Jahre im Rahmen einer umfassenderen Reduktion der Sozialausgaben und einer insgesamt restriktiven, prozyklischen Haushaltspolitik. Entsprechend die Folgen: Crain weist darauf hin, dass die standardisierten Tests für die Schulen und die Schüler:innen in einem Masse entscheidend werden, dass Bildung zu einem ‘Teaching to the test’ verkommt. Das mag zwar bessere Testresultate hervorbringen, hat aber ein Abfallen des allgemeinen Bildungsniveaus zur Folge, auch weil Fächer wie Geschichte an Bedeutung verlieren, da sie nicht getestet werden. «Die Idee einer Bildung im umfassenden Sinn geht verloren. Die öffentliche Schule wird immer mehr zur Restschule, da sämtliche Kinder aufgenommen werden müssen, während die halbprivaten Charter Schools wie natürlich auch die privaten Schulen Kinder mit einer Behinderung, leistungsschwache oder verhaltensauffällige SchülerInnen nicht aufnehmen müssen und sie vom Unterricht ausschliessen können.» Die öffentliche Schule wird im Vergleich mit den privaten und halb privaten Schulen tendenziell schlechter, was unter Umständen zu Schulschliessungen oder Umwandlungen in halbprivate Charter Schools führt.

Auf Seiten der Linken stand zwar Bildungsgerechtigkeit im Zentrum der angestrebten Bildungspolitik. Damit war aber in erster Linie die Überwindung des Bildungsföderalismus und die Etablierung nationaler Bildungsstandards gemeint, an denen sich der künftige Schulunterricht orientieren sollte.

Die Idee einer Bildung im umfassenden Sinn geht verloren.

Die Entwicklung in den USA ist ein etwas zugespitzter Vorläufer dessen, was sich in der Schweiz nach 1989 beobachten lässt: Auch hier passte sich die politische Linke dieser Grundströmung zu wesentlichen Teilen an. Die Schweizer Sozialdemokratie einigte sich mit den Bürgerlichen darauf, dass die Schweiz als Wirtschaftsstandort und im Hinblick auf die moderne Wissensgesellschaft auch eine leistungsstarke Bildung brauche. Auf Seiten der Linken stand zwar Bildungsgerechtigkeit im Zentrum der angestrebten Bildungspolitik. Damit war aber in erster Linie die Überwindung des Bildungsföderalismus und die Etablierung nationaler Bildungsstandards gemeint, an denen sich der künftige Schulunterricht orientieren sollte. Auch hier sind also Evaluationen und Testverfahren gefragt, um die einzelnen Schulen und Lehrkräfte auf eine Linie zu bringen. Dieses Begehren wurde mittels parteiübergreifender Annahme des Bildungsartikels von 2006 ermöglicht, in dessen Gefolge der Lehrplan 21, entsprechende Lehrmittel und flächendeckende Vergleichstests eingeführt wurden. Auch wenn der neue Lehrplan die Sicherung der Qualität im Bildungswesen mithilfe der neu eingeführten Bildungsstandards verspricht und die Tests angeblich der individuellen Förderung der Schüler:innen dienen sollen – in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft ist die Folge von Standardisierung und Testverfahren erhöhter Druck, verstärkte Konkurrenz, Orientierung an Ranglisten, Vereinzelung und Verringerung kooperativen Verhaltens.

Ökonomisierung des Bildungswesens I: Gestärkte Schulautonomie

Bis heute sind die Ausgaben der öffentlichen Hand für die Finanzierung privater Dienstleistungen der Bildungs- und Testindustrie weiter gestiegen. Im Zuge der Ausrichtung der Bildungsprozesse auf die Bedürfnisse der Wirtschaft hat die Evaluation von Schüler:innen, Lehrkräften und Schulen und damit der Wettbewerb zwischen ihnen weiter zugenommen. Das drängt humanistische Bildungsziele in den Hintergrund, während instrumentelles, beruflich verwertbares Wissen einen Bedeutungszuwachs erfährt. Die öffentliche Bildungspolitik wird über Engagements bei Bildungsinitiativen, Sponsoring von Veranstaltungen, Schulmaterial und Lehrmitteln oder auch über den Auf- und Ausbau privater Fort- und Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte und Schüler:innen zunehmend durch nicht demokratisch legitimierte Akteure wie Stiftungen, NGOs oder Unternehmen bestimmt. Richard Münch hat diese Prozesse in seinen Arbeiten zur Schule im Wettbewerbsstaat überzeugend beleuchtet und anhand zahlreicher Beispiele belegt. Er weist darauf hin, dass sich die Schule weit davon entfernt hat, die in der Gesellschaft beobachtbaren Verwerfungen, Ungleichheiten und Konflikte aufzulösen. Wenn sich internationale Organisationen, Denkfabriken, missionarische Milliardärsstiftungen und Bildungsreformer mit der Bildungs- und Testindustrie zusammenschliessen, um die Bildung einer minutiösen externen Kontrolle zu unterwerfen, hat dies eben keine Einebnung gesellschaftlicher Unterschiede, sondern eine Restaurierung der Klassenverhältnisse zur Folge.

Die Stärkung der Schulautonomie geht mit einer Vernachlässigung der lokalen Verhältnisse und der Anliegen der schulischen Akteure einher.

Bildungsmärkte sind als eine legalisierte Form von Diskriminierung und als wesentliche Treiber der Segregation zu verstehen.

Ein anschauliches Beispiel für die Kluft zwischen Versprechen und realen Folgen der durchgesetzten Reformen ist die freie Schulwahl beziehungsweise die Stärkung der Schulautonomie. Seit den 1970er Jahren wird diese mit einer Demokratisierung der Schule in Verbindung gebracht. Autonome Schulen sollen eigenständige pädagogische Konzepte erarbeiten, die sich an den Bedürfnissen ihrer Schüler:innen, deren Eltern, den Lehrkräften und den lokalen Eigenheiten ausrichten. Tönt gut, eingetreten ist aber das Gegenteil: Die Stärkung der Schulautonomie geht mit einer Vernachlässigung der lokalen Verhältnisse und den Anliegen der schulischen Akteure einher. Von dem Wettbewerb profitieren nur die ohnehin besser gestellten Schulen, während die Probleme in den schlechter gestellten Schulen zunehmen. Die Schulen treten durch die Reform in einen Wettbewerb untereinander und sind zu verstärkter Rechenschaft verpflichtet, was zu Konkurrenzdruck führt. Unter dem gesteigerten Druck bilden Schulen immer häufiger spezifische Profile heraus, um sich von der Konkurrenz zu unterscheiden und ein spezifisches Schülerklientel anzuziehen. Herbert Altrichter und Matthias Rürup haben 2010 darauf aufmerksam gemacht, dass dies, gepaart mit der Freigabe der Schulwahl, Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien «insofern diskriminiert, als ihre Mobilität aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, ihrer religiösen Zugehörigkeit und/oder ihrer familiären Bildungsarmut eingeschränkt ist.» Sally Tomlinson hat in Grossbritannien untersucht, wie sich die Entwicklung von Bildungsmärkten auf ethnische Minderheiten auswirkt und entdeckt Parallelen zu den USA. Erfolgsorientierte Schulen sehen sich gedrängt, Schüler:innen mit erhöhtem Förderbedarf abzulehnen, während die zwangsweise als Auffangbecken funktionierenden Schulen in benachteiligten Stadtvierteln für ihr vermeintlich selbstverschuldetes Bildungsversagen noch mit Budgetkürzungen oder Schliessungen bestraft werden. Insofern sind Bildungsmärkte als eine legalisierte Form von Diskriminierung und als wesentliche Treiber der Segregation zu verstehen. Typischerweise fehlt es dann auch ausgerechnet dort an angemessener pädagogischer Betreuung, wo pädagogische Kompetenz in besonderer Weise gefragt wäre: An Schulen in sogenannten sozialen Brennpunkten ist die Fluktuation an Lehrkräften und die Quote an Quereinsteiger:innen überdurchschnittlich hoch.

Weitreichende Schulautonomie, freie Schulwahl und die Einrichtung von Schulleitungen mit weitreichenden Kompetenzen sollten gute Schulleistungen erbringen.

Die Stärkung der Schulautonomie hat ihr Versprechen nicht einlösen können, weil es nicht ernst gemeint war. Die Revision der Volksschulgesetze gegen Ende der 1990er Jahre sowie die neoliberalen Reformen insgesamt spielten sich einerseits vor dem Hintergrund einer Wirtschaftslage ab, welche die öffentliche Hand zu Sparmassnahmen gezwungen hatte. Andererseits hatte sich die Bildungspolitik mit neuen Methoden der Verwaltungsführung auseinandergesetzt und war zum Schluss gekommen, dass weitreichende Schulautonomie, freie Schulwahl und die Einrichtung von Schulleitungen mit weitreichenden Kompetenzen gute Schulleistungen erbringen würden. Inspiriert von New-Public-Management-Konzepten sollte Schluss sein mit Übersteuerung, festgefahrenen Entscheidungswegen und Mangel an betriebswirtschaftlichem Führungsverständnis. Die geplanten Reformen zielten auf Steuerung von den Resultaten her, Trennung von operativer und strategischer Führung, Controlling, Evaluation, Führung der Lehrpersonen durch Schulleitungen. Vor diesem Hintergrund dürften die erzielten Resultate eigentlich kaum mehr überraschen.

Ökonomisierung des Bildungswesens II: Der Zugriff der Privatwirtschaft

Die seit der neoliberalen Wende drastisch gekürzten beziehungsweise umgeleiteten Mittel haben eine chronische Unterfinanzierung des Schulsystems zur Folge gehabt. Dies manifestiert sich nicht nur in baufälligen Schulgebäuden, tiefen Löhnen, Lehrkräftemangel, Abbau der Schulsozialarbeit, integrativem Unterricht und so weiter – sie leistet auch privaten Anbietern von Bildungsinhalten Vorschub. Das schulische Engagement von Unternehmen erstreckt sich von Sponsoring von Schulfesten über die Produktion und Verteilung von Lehr- und Lernmaterialien, bis hin zu Angeboten von Lehrkräfteweiterbildungen. Weil es den Schulen an der nötigen finanziellen Ausstattung fehlt, werden diese Angebote gerne angenommen. Das ist insofern problematisch, als die Lehr- und Lerninhalte davon nicht unberührt bleiben. Auch diese stehen unter dem Druck der Ökonomisierung und werden auf die praktisch verwertbaren Erfordernisse des Arbeitsmarktes zugeschnitten. Weil private Akteure vermehrt in die Schule eindringen, treten aufklärerische oder humanistische Bildungsinhalte zugunsten funktionaler in den Hintergrund. Verhalten und Einstellungen der Schüler:innen werden dadurch entscheidend mitgeprägt.

87.5% der Schulleitungen gab an, dass Wirtschaft und Industrie Einfluss auf ihre Lerninhalte ausüben würden.

Insbesondere im Kontext der Berufswahlvorbereitung werden Kooperationen mit Vertreter:innen der Privatwirtschaft bedeutsamer. Da können die Unternehmen dann nicht nur gezielte Nachwuchsgewinnung und -förderung betreiben, sondern auch gleich ihr Image bei der Jugend aufpolieren. Insgesamt lässt sich ein Bedeutungsverlust der ‘neutralen’ Instanzen zur Berufsorientierung (wie etwa Berufsberatung oder schulinterne Angebote) gegenüber den von Unternehmen dominierten Instanzen (wie Jobmessen oder Social Media) feststellen. Ein im Rahmen der PISA-Studie 2006 durchgeführte Befragung der Schulleitungen in Deutschland beweist das bedenkliche Ausmass, welche die Einflussnahme auf den Unterricht angenommen hat: 87.5% der Schulleitungen gab an, dass Wirtschaft und Industrie Einfluss auf ihre Lerninhalte ausüben würde.

Seit 40 Jahren unterstützt Apple Lehrerinnen und Lehrer dabei, das kreative Potenzial jedes einzelnen Schülers freizusetzen.

Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Digitalisierung und wie die Digitalkonzerne diese für sich nutzen. Apple wirbt etwa aktiv für die intensive Einbindung ihrer Produkte in den Unterricht: «Seit 40 Jahren unterstützt Apple Lehrerinnen und Lehrer dabei, das kreative Potenzial jedes einzelnen Schülers freizusetzen. Heute tun wir das auf mehr Arten als je zuvor. Und das nicht nur mit leistungsstarken Produkten. Sondern auch mit Werkzeugen, Inspirationen und Programmen, die Lehrkräften dabei helfen, geradezu magische Lernerlebnisse zu schaffen.» Dass die neuen Werkzeuge den Unterricht tatsächlich erleichtern können und neue Möglichkeiten der Unterrichtsgestaltung eröffnen, ist nicht zu bestreiten. Aber freilich steckt hinter diesem Angebot die Strategie, die Schüler:innen an die Produkte zu gewöhnen und ihre späteren Kaufentscheidungen vorwegzunehmen. Apple bietet auch zahlreiche auf den Unterricht ausgerichtete Apps und Weiterbildungsprogramme für Lehrkräfte an. Dort können sie ihre Kompetenzen im Umgang mit den angebotenen Apps stärken und diese gezielter im Unterricht einsetzen: iMovie, iBooks, Baiboard, Schoolwork, Classroom – diese Apps erleichtern nicht nur den Unterricht, sondern liefern dem Anbieter auch eine Fülle von verwertbaren Daten.

Kein Zurück

Die gestärkte Schulautonomie und der wachsende Zugriff privater Akteure auf die Schulen sind nur zwei Beispiele dafür, wie sich die Versprechen der neoliberalen Bildungsreformen in ihr Gegenteil verkehrt haben beziehungsweise sich als das erweisen, was sie von Anfang an gewesen sind: Eine Unterwerfung der Bildung unter die Gesetze des Marktes mithilfe eines neoliberal gewendeten Staates. Wenn mit mehr Schulautonomie nur gesteigerte Konkurrenz zwischen Schulen gemeint ist; wenn Förderung der Individualität bedeutet, dass jeder für sich selbst schauen muss und dadurch bestehende Unterschiede verschärft werden; wenn verstärkte Zusammenarbeit mit privaten Akteuren nur die Nutzbarmachung der Schüler:innen verbessern soll  – dann erweist sich die Einlösung neoliberaler Versprechen als Grauen.

Wir brauchen kein ‘Zurück’, sondern eine Befreiung der Bildung aus den kapitalistischen Zwängen.

Diese Ausführungen sollten nicht als Plädoyer für die Schule vor den Bildungsreformen verstanden werden. Als Reaktion auf die ökonomische Krise und die unübersichtlich gewordene Bildungslandschaft waren sie gewissermassen die logische Antwort eines kapitalistisch organisierten Bildungswesens. Insofern brauchen wir kein ‘Zurück’, sondern eine Befreiung der Bildung aus den kapitalistischen Zwängen.

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Misstrauen statt Dialog: Was Lehrevaluationen heute leisten https://condorcet.ch/2021/08/misstrauen-statt-dialog-was-lehrevaluationen-heute-leisten/ https://condorcet.ch/2021/08/misstrauen-statt-dialog-was-lehrevaluationen-heute-leisten/#respond Thu, 12 Aug 2021 10:06:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=9179

Die Deutschen haben bekanntlich den Drang, Bürokratie immer perfekt und umfassend zu gestalten. Die Evaluation und Rückmeldungskultur ist in Deutschland einer sinnfreien Generierung von Daten zum Opfer gefallen, Misstrauen regiert, die Qualität bleibt auf der Strecke. Condorcet-Autor Ralf Lankau berichtet.

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Prof. Dr. phil. Ralf Lankau, Fakultät Medien, Hochschule Offenburg
Bild: Lankau

Ein Instrument der Fremdsteuerung von Bildungseinrichtungen, die Ausrichtung von Lehr- und Lernprozessen an fachfremden Parametern der Ökonomie und unsinnigen Kennzahlen: Das sind die derzeit praktizierten Lehrevaluationen an Hochschulen. Sie sind ein Musterbeispiel der Dekonstruktion einer ihrem Wesen nach sozialen und dialogischen Einrichtung. Das Ziel ist die Standardisierung, Steuerung und Hierarchisierung von Lehre und Unterricht.

Die Nachbesprechung

Zur pädagogischen Arbeit des Unterrichtens, nicht nur an Hochschulen, gehört der Dialog über Inhalte, Methoden und Ziele von Lehrveranstaltungen. Zu Beginn des Semesters werden die Themen und deren Einbindung in den fachlichen bzw. historischen Kontext, besonders relevante Einzelaspekte, begleitende Literatur und Leistungsnachweise besprochen. Am Ende des Semester steht die Nachbesprechung, oft verbunden mit einer Rückmeldung von Seiten der Studierenden per Fragebogen.

Die Basis waren das Seminar, wechselseitiges Vertrauen durch direkte Beziehung und gemeinsame Ziele: der erfolgreiche Abschluss der Veranstaltung, auch Diskussionen über mögliche thematische Ergänzungen oder Verbesserungsvorschläge für die Lehrveranstaltung selbst.

Üblich war, dass die Lehrenden diese Fragebögen im Seminar ausgeben, am Ende der Stunde einsammeln und die Rückmeldungen in der Folgewoche mit den Studierenden besprechen. Die Basis waren das Seminar, wechselseitiges Vertrauen durch direkte Beziehung und gemeinsame Ziele: der erfolgreiche Abschluss der Veranstaltung, auch Diskussionen über mögliche thematische Ergänzungen oder Verbesserungsvorschläge für die Lehrveranstaltung selbst.

Geradezu widersinnig wird die Praxis einiger Einrichtungen: Lehrende dürfen Evaluationsbögen nur austeilen. Studierende sammeln die Bögen ein und übergeben sie in einem verschlossenen Umschlag der oder dem Evaluationsbeauftragten der Fakultät.

Misstrauenskultur als das „neue Normal“

Das ist mit den Evaluationsverordnungen im Rahmen des Bologna-Prozesses ins Gegenteil gekippt. Statt einer Dialogkultur existiert ein generelles Misstrauen gegenüber allen Beteiligten. Unterstellt wird beiden Seiten Unaufrichtigkeit. Lehrende etwa dürfen die Evaluationsbögen nicht mehr einsammeln und auswerten. Sie könnten ja handschriftlich ausgefüllte Evaluationsbögen mit ebenfalls handschriftlich geschriebenen Klausuren vergleichen. Für Kritiker des Seminars könne das – so die Logik – zu schlechten Noten in Klausuren führen. Das unterstellt die Verletzung einer zentralen Amtspflicht – die (soweit möglich) objektive und personenunabhängige Beurteilung von Leistungsnachweisen – und wäre sowohl beamten- wie verwaltungsrechtlich zu ahnden.

 

Statt einer Dialogkultur existiert ein generelles Misstrauen gegenüber allen Beteiligten.

Studierende dagegen könnten aus Angst vor schlechten Noten vor Kritik zurückschrecken, selbst wenn der Semestersprecher oder die Semestersprecherin die Evaluationsbögen einsammelt und die ausgewerteten Ergebnisse ohne Namensnennung im Seminar vorträgt. Letzteres wäre allerdings rechtlich mehr als fragwürdig, da die Evaluationsbögen personenbezogene Daten erheben. Sind Bologna-Hochschulen (als Sammelbegriff für tertiäre Bildungseinrichtungen) mittlerweile Orte der Angst, Anpassung und Unterordnung, in denen ein Diskurs nicht mehr möglich ist? Wo sonst sollen Studierende lernen, Kritik zu äußern oder vorgegebene Strukturen in Frage stellen?

Geradezu widersinnig wird die Praxis einiger Einrichtungen: Lehrende dürfen – wie oben angemerkt – Evaluationsbögen nur austeilen. Studierende sammeln die Bögen ein und übergeben sie in einem verschlossenen Umschlag der oder dem Evaluationsbeauftragten der Fakultät. Die Bögen werden anschließend gescannt, Ankreuz-Antworten automatisiert statistisch ausgewertet, die Ergebnisse den Lehrenden zugemailt  – mitsamt der handschriftlichen Anmerkungen der Freitextfelder. Lehrende, die Schriftproben vergleichen und Klausurnoten danach vergeben wollten, könnte das auch in der digitalisierten Variante.

Wechselseitiger Anpassungsdruck

Wer auf rein digital realisierte Evaluationen setzt (mit aufwendigen Anonymisierungsmethoden zumindest für die Studierenden), unterschlägt die Folgen einer technisierten Feedback-Kultur. Fehlende soziale Einbindung und Kontrolle bei kommunikativen Prozessen, auch und gerade von berechtigter, konstruktiver, auch notwendiger Kritik, führt ohne (oder nur imaginiertes) soziales Gegenüber schnell zum Entgleisen der Sprache. Wer allein an Bildschirm und Tastatur sitzt, neigt schneller zu Polemik, wie man es aus den sozialen Medien kennt. Konstruktives Feedback bleibt dann aus.

Immerhin sind die Daten (samt Zuordnung zu Person und Veranstaltung) jetzt im Hochschul-IT-System hinterlegt und für die weitere „Personalführung“ (die an Hochschulen für die Professorenschaft (noch) nicht vorgesehen ist) nützlich. Wer z.B. nach der W-Besoldung alimentiert wird, muss bei seinen regelmäßigen Selbstberichten u.a. die Evaluationsergebnisse beilegen. Sie gelten als ein Kriterium für mögliche Zulagen.

Die Hochschulbürokratie hat auf dialogische Prozesse keinen Zugriff.

Sinnfreie Generierung von Daten

Das Missfallen an der internen Evaluation in Seminaren krankt aus Sicht der Hochschulbürokratie an zwei Parametern. Zum Ersten hat sie auf solche dialogische Prozesse keinen Zugriff bzw. kann nur Ergebnisprotokolle auswerten. Das gilt für Lehrevaluationen innerhalb der Fakultäten genauso wie für die besprochenen Themen in Studienkommissionen oder Fakultätsrats-Sitzungen. Es entspricht den Grundprinzipen einer demokratisch verfassten Hochschule und Studentenschaft, dass man im Positiven wie auch bei Problemen miteinander spricht. Das pädagogische Versprechen „Was wir hier im Raum besprechen, verlässt den Raum nicht.“ ist ja überhaupt erst die Basis für ein offenes Gespräch. Das aber bleibt für die Datensammler unbefriedigend, da intransparent.

Sie bevorzugen es, die Qualität der Lehre und Forschung an normierten Prozessen und messbaren, validierten, vor allem reproduzierbaren Ergebnissen festzumachen.

Der zweite Kritikpunkt der Hochschul-Manager ist der fehlende Druck zur Standardisierung von Veranstaltungen mit dem Ziel der Mess- und Vergleichbarkeit. Sie bevorzugen es, die Qualität der Lehre und Forschung an normierten Prozessen und messbaren, validierten, vor allem reproduzierbaren Ergebnissen festzumachen. Doch Hochschullehre lebt von den beteiligten Charakteren und Persönlichkeiten. Anders als in Unternehmen sind alle Professorinnen und Professoren einer Hochschulen gleichberechtige Kolleginnen und Kollegen. Es gibt weder von Dekanaten noch Rektoraten oder selbst Ministerien Weisungsbefugnisse, außer der Festlegung des zu erbringenden Lehrdeputats. Die grundgesetzlich geregelte Lehr- und Forschungsfreiheit verbietet die Einflussnahme auf Inhalte und Methoden von Lehrveranstaltungen. Das heißt, die Entscheidungen über Inhalte, Methoden und Ziele von Lehrveranstaltungen verantwortet der oder die Einzelne.

Wer nun – wie in anderen Ländern – die Weiterbeschäftigung der Lehrenden an positive Lehrevaluationen knüpft, generiert nach und nach inhaltsentleerte Fächer.

Wer nun – wie in anderen Ländern – die Weiterbeschäftigung der Lehrenden an positive Lehrevaluationen knüpft, generiert nach und nach inhaltsentleerte Fächer. Der Unterricht wird unterhaltsam, die Aufgaben sind leicht, die Noten durchgängig freundlich. Fachinhalte werden nicht nach Fachlogik mit zunehmender Komplexität strukturiert, sondern nach Parametern der „Kundenzufriedenheit“ und erwünschtem „Output“. Die Anzahl der BA- und MA-Abschlüsse steigt ähnlich rasant wie die Abiturquote und Durchschnittsnote – und der Markt für qualifizierte Bildungsabschlüsse wird den privaten Anbietern gegen entsprechendes Schul- und Studiengeld überlassen.

Sie bevorzugen es, die Qualität der Lehre und Forschung an normierten Prozessen und messbaren, validierten, vor allem reproduzierbaren Ergebnissen festzumachen.

Die Lösung

Gefochten wird um Grundprinzipen: akademische Autonomie und freie Lehre vs. Unterordnung unter Marktmechanismen. Während Lehrende konstruktive Rückmeldungen aus der Nachbesprechung einer freiwilligen und dialogischen Lehrevaluationen offen aufnehmen – so meine über 30-jährige Erfahrung in tertiären Bildungseinrichtungen –, sind anonymisierte Auswertungsbögen, die als PDF zugemailt und als Steuerungsinstrument missbraucht werden, wertlos. (Zumal die Trivialität der Fragen die akademische Lehre beleidigt: Die Lehrveranstaltung ist gut strukturiert. Der Dozent ist engagiert. Die LV fördert das Interesse am Fach. Der Workload ist zu hoch/genau richtig/zu wenig.) Die Ergebnisse der auf einer Skala von 1 bis 5 anzukreuzenden Antworten nivelliert sich statistisch zuverlässig im Mittelfeld. Freitextantworten sind i.d.R. wenig aussagekräftig. Das Ausfüllen der Formulare verkommt zu einem anonymisierten Ritual.

Statt der sich zunehmend verselbständigenden Rituale zur Generierung von sinnfreien Kennzahlen und Statistiken zu frönen und immer größere Evaluationsabteilungen aufzubauen, sollten Hochschulen die Evaluationen wieder ihrem ursprünglichen Ziel zuführen: Verbesserung der Lehre durch direkten Dialog.

Individualtität der Lehrerpersönlichkeit geht verloren

Das heißt: Statt der sich zunehmend verselbständigenden Rituale zur Generierung von sinnfreien Kennzahlen und Statistiken zu frönen und immer größere Evaluationsabteilungen aufzubauen, sollten Hochschulen die Evaluationen wieder ihrem ursprünglichen Ziel zuführen: Verbesserung der Lehre durch direkten Dialog. Das geht nur vor Ort und im direkten Miteinander. Dazu sollte man die Lehrevaluationen erfahrenen und im Unterrichten (!) qualifizierten Pädagoginnen und Pädagogen überantworten, statt Betriebswirte, Empiriker und Informatiker zu überfordern. Verloren gehen sonst die Individualität der Lehrpersönlichkeiten, die Vielfalt der individuellen Lehr- und Unterrichtsmethoden und nicht zuletzt die Eigengesetzlichkeit der Fächer.

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Was wurde eigentlich aus Ernst Buschor oder der Ökonomisierungsversuch des schweizerischen Bildungswesens https://condorcet.ch/2021/04/was-wurde-eigentlich-aus-ernst-buschor-oder-der-oekonomisierungsversuch-des-schweizerishen-bildungswesens/ https://condorcet.ch/2021/04/was-wurde-eigentlich-aus-ernst-buschor-oder-der-oekonomisierungsversuch-des-schweizerishen-bildungswesens/#comments Fri, 02 Apr 2021 14:42:49 +0000 https://condorcet.ch/?p=8154

Wie kam es, dass der amerikanische NPM-Kapitalismus die Hand an unsere Volksschule legen konnte? Wie konnten die demokratischen Institutionen mit «Soft Governance» ausgehebelt werden und warum gab es wenig Widerstand, obwohl das «New Public Management» als Werkzeug der Globalisierung mit dem Ziel, aus dem gemeinwohlorientierten «Service Public» gewinnorientierte Unternehmen zu machen, bekannt war? Der ehemalige Erziehungsdirektor des Kantons Zürich ist eng mit dieser Entwicklung verbunden. Seine Wirkung war trotz seines letztendlichen Scheiterns immens. Unser "Haushistoriker" Peter Aebersold blickt in die jüngste Vergangenheit und zeichnet ein kritisches Bild des Wirkens von Ernst Buschor.

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Die Ökonomisierung des «Service Public»

Die Ökonomisierung des Bildungswesens in der Schweiz erfolgte im Rahmen des neoliberalen New Public Managements (NPM). Das Bildungswesen sollte aus dem demokratischen Rahmen herausgelöst und marktwirtschaftlich organisiert werden. Aus neoliberaler Sicht stört die Demokratie den Markt, weil sie umverteilt. Ihre Geringschätzung demokratischer Prinzipien kleiden Neoliberale vornehmlich in das Konzept der «Soft Governance» («neue Steuerung»).

Ernst Buschor, ehem. Bildungsdirektor im Kanton Zürich: Grosser Befürworter von NPM

Bei der Einführung von NPM in der Schweiz hat sich der ehemalige Erziehungsdirektor des Kantons Zürich, Ernst Buschor, besonders hervorgetan. Der 1943 geborene Buschor erhielt nach Studium und Promotion an der Hochschule St. Gallen (HSG) 1971 ein Expertenmandat für Finanzfragen im Europarat.

Erste Weichenstellung

Die erste Weichenstellung für das NPM erfolgte mit der Umwandlung der gemeinwohlorientierten Staatsbuchhaltung (Kameralistik) in eine profitorientierte Betriebsbuchhaltung, wie sie damals bei der Industrie üblich war. Das ermöglichte u.a. die Errichtung von «Profit Centern» und die Einführung von «Fallpauschalen». Die Kameralistik hatte als Schuldenbremse gewirkt, weil man nur das ausgeben konnte, was man zuvor eingenommen hatte. Mit dem neuen Buchhaltungsmodell verliess man das Vorsichtsprinzip und konnte auch unveräusserliches Gemeineigentum wie Schulhäuser, Sportplätze, Strassen, Wälder und Friedhöfe als Vermögen ausweisen und damit stolze Bilanzen präsentieren.

1975 führte Buschor, als Chef der Finanzverwaltung des Kantons Zürich, die Betriebsbuchhaltung als «neues Rechnungsmodell» ein. Das «Zürcher Modell» machte bald Schule in anderen Kantonen. Für ausgabenfreudige Politiker war die wundersame Vermehrung von Vermögen und Eigenkapital wie Manna vom Himmel.

Das Schweizer NPM-Modell

1985 wurde Buschor als Professor an die HSG berufen, wo er den Import von Theorien aus dem angelsächsischen Raum förderte, eine umfangreiche Beratertätigkeit ausübte und zur Bildung eines schweizerischen Modells des amerikanischen New Public Managements massgeblich beitrug. WiF!, «die wirkungsorientierte Führung und Verwaltung», ist die deutsche Umschreibung für jenes Spezialgebiet, in dem sich der ehemalige St. Galler Professor weltweit einen Ruf geschaffen hatte: New Public Management oder kurz NPM.

Erster Akt Buschors als Gesundheitdirektor: Einführung der Fallkostenpauschale

NPM beim Gesundheitswesen

1993 wurde Ernst Buschor in den Regierungrat des Kantons Zürich gewählt, wo er als Chef der Direktion Gesundheitswesen und Fürsorge seine Ideen in die Tat umzusetzen begann. Kernpunkt der von ihm initiierten Bewegung für mehr Markt und leistungsorientierte Führung im Zürcher Spitalwesen wurde die sogenannte «Fallkostenpauschale», die heute Ärzte und Spitalpersonal ans Limit treibt und sie über einen Berufswechsel nachdenken lässt.

Zur Umsetzung der Reformen liess Buschor die gesetzlichen Grundlagen entsprechend anpassen (Verwaltungsreformrahmengesetz, Universitätsgesetz, Fachhochschulgesetz, Mittelschulgesetz, Personalgesetz der Volksschule und Lehrerbildungsgesetz, neues Volksschulgesetz usw.)

Nach Pelizzari gelang es Buschor mit der Politik «der leeren Kassen» und dem Versprechen an die Politiker aller Parteien, dass man Geld sparen könne, ohne Leistungen zu kürzen und ohne Sozialabbau betreiben zu müssen, unter Ausschaltung weiter Teile des demokratischen Prozesses bei der Haushaltsplanung und einer rigorosen Kommunikationsstrategie, in der öffentlichen Verwaltung, im Gesundheits- und im Schulwesen neoliberale Reformen in die Wege zu leiten. Zur Umsetzung der Reformen liess Buschor die gesetzlichen Grundlagen entsprechend anpassen (Verwaltungsreformrahmengesetz, Universitätsgesetz, Fachhochschulgesetz, Mittelschulgesetz, Personalgesetz der Volksschule und Lehrerbildungsgesetz, neues Volksschulgesetz usw.)

Das zürcherische Schulsystem vom hohen pädagogischen Ross herunterholen und zu einem Dienstleistungsunternehmen umformen.

NPM beim Bildungswesen  

Kulturwandel auch an den Universitäten nach amerikanischem Vorbild

Nach seiner Wiederwahl 1995 wechselte Buschor unter dem Druck seiner Regierungskollegen in die Erziehungsdirektion, weshalb seine Spitalreform unfertig blieb. Buschor soll wenige Monate nach seinem Wechsel zur Bildungsdirektion versprochen haben, «das zürcherische Schulsystem vom hohen pädagogischen Ross herunterzuholen und zu einem Dienstleistungsunternehmen umzuformen». Als Erziehungsdirektor bis 2003 initiierte er ein Paket von NPM-Reformen, das «Projekt Schule 21». Gleichzeitig führte er die NPM-Reformen an der Universität durch, was zu einem Kulturwandel Richtung «Selbstorganisation» und – wie an den amerikanischen Universitäten – zur Einflussnahme von Sponsoren aus der Wirtschaft auf den bisher freien Wissenschaftsbetrieb führte. In der Folge hatten sich die Zuwendungen aus der Wirtschaft fast verdoppelt.

Für die rasche Globalisierung sind drei Dinge wesentlich: Kostengünstige Kommunikationsinstrumente stehen mit dem PC und den vielfältigsten Netzwerken zur Verfügung. Die Welt-Kommunikationssprache Englisch hat sich weltweit durchgesetzt. Weltweite Liberalisierungen wie der WTO Vertrag und die grossen Binnenmärkte Asiens, Europas und Amerikas erlauben den rascheren Transfer von Wissen und Produkten. Es bestehen erhebliche und kostengünstige Überkapazitäten für Kontakte im Personenverkehr und für die Abwicklung der Warentransporte. Zudem lebt die Menschheit vor allem in den Industriestaaten in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft.

– Ernst Buschor, Referat Schulsynode vom 22. Juni 1998 in Winterthur

Für Buschor war schon damals klar, dass künftig die öffentliche Hand nur noch einfach testbare Fächer als Grundbildung zu erbringen hatte, den Rest sollten die Eltern als Investition für die Zukunft ihrer Kinder auf dem Bildungsmarkt dazu kaufen.

Projekt Schule 21

Das «Projekt Schule 21» begann am «World Economic Forum» in Davos.

Das «Projekt Schule 21» begann am «World Economic Forum» in Davos, wo der in mehreren Hochschul- und Fachhochschulgremien aktive Vizepräsident des Holderbank-Verwaltungsrates an einer Veranstaltung des globalen Wirtschaftsprüfungskonzerns Arthur Andersen über «Education of the Future» teilnahm und zu einem Symposium in Boston eingeladen wurde. Er reichte die Einladung an Ernst Buschor weiter, der in den USA endlich Beispiele von Schulen sah, die seinen Vorstellungen entsprachen. Noch im Flugzeug schrieb er das Grundkonzept für eine Reform, die wie keine andere Staub aufwirbeln sollte, die «Schule 21»: Der Umgang mit Computer, Internet und E-Mails könne nicht früh genug gelernt werden, am besten gleich zu Beginn der Primarschule. Das Gleiche gelte für die englische Sprache. Für Buschor war schon damals klar, dass künftig die öffentliche Hand nur noch einfach testbare Fächer als Grundbildung zu erbringen hatte, den Rest sollten die Eltern als Investition für die Zukunft ihrer Kinder auf dem Bildungsmarkt dazu kaufen. Er war auch für Leistungslöhne für Lehrer und eine Erfolgskontrolle für einzelne Schulen mit allfälligen finanziellen Konsequenzen.

Die «Soft Governance» Methode

Claus Jacobs Unternehmer (1936 – 2008): Mehrere Millionen

Der «Turboreformer» Buschor, wie er genannt wurde, wollte sein Projekt schnell vorwärtsbringen, ohne den demokratischen Weg bemühen zu müssen. Die «Schule 21» sollte in drei bis vier Jahren flächendeckend umgesetzt sein, da hatten Bedenken gegen das Frühenglisch usw. keinen Platz. Er ging den Weg des «Soft Governance» und sammelte Gelder bei interessierten Wirtschaftskreisen. Der Unternehmer Klaus Jacobs unterstützte das Reformvorhaben spontan mit einer Million Franken aus der Johann-Jacobs-Stiftung.  Die Sammlung brachte 2,5 Millionen Franken für das Reformprojekt, um die wissenschaftliche Evaluation des Projekts und die Ausbildung der Lehrer finanzieren zu können. Computerhersteller waren gerne bereit, die Schulzimmer zu Sonderkonditionen mit ihren Produkten zu versorgen. Der damalige Leiter des kantonalen «Entwicklungsprojektes Informatik für die Oberstufe der Zürcher Volksschule» warnte davor, die Volksschule für die Konzerne zu öffnen: «Sponsoring hat viele Gesichter, aber nur eine Seele: die längerfristige Wirtschaftlichkeit für den Geber. Langfristig rechnet es sich für ihn, wenn er in die Digitalisierung der Schule investiert.»

Widerstand gegen Turbo-Reformen von oben

Heftiger Widerstand der Lehrkräfte in Zürich

Mit seinen Turboreformen schaffte sich Buschor nicht nur Freunde. Dass die Reformen von oben kamen, im Wesentlichen Buschors Ideen waren und nicht immer den dringendsten Anliegen von Schülern, Lehrern und Schulbehörden der Gemeinden entsprachen, schuf in vielen Kreisen geradezu einen Widerwillen gegen den Erziehungsdirektor. Erst hatte er die Universitätsreform durchgesetzt, die Oberstufenreform auf Trab gebracht, die «Teilautonomen Volksschulen» (TaV) eingeführt, und schon setzte er zum Frontalangriff mittels Computer und Englisch auf die Kinderseele an, und das erst noch mit Hilfe der Wirtschaft.

Der Widerstand wuchs, als sich Schulpfleger und Lehrer 1999 zum Anti-Buschor-Komitee verbündeten. Ein ehemaliger Kantonsrat und vollamtlicher Schulpflegepräsident der Stadt Zürich hielt im Vorwort der Broschüre «Der Anfang vom Ende der Volksschule» fest, wie unter der Ägide des damaligen Bildungsdirektors Buschor eine Bildungsreform eingeleitet wurde, die gekennzeichnet sei von einer straffen und eingleisigen Hierarchisierung des Bildungswesens (Schulleiter usw.), wie es zum Fahrplan der wirtschaftlichen Globalisierung gehöre. Buschor als ehemaliger Dozent für Finanzwirtschaft an der Hochschule St. Gallen sei offensichtlich vom Erfolg der Globalisierung vollkommen überzeugt und habe diese Tendenz mit grosser Energie auch im Bildungswesen verfolgt. Der «Sonderfall Schweiz» jedoch zeichne sich aus durch seine demokratischen Strukturen und die Möglichkeiten der Mitsprache des Volkes. Das würde schleichend abgebaut.

Erfolge des Widerstands

An der Urne mit 52% NEIN-Stimmen abgelehnt
Widerstand auch in der Romandie und Frankreich.

Anfangs scheiterte Buschor mit seinem ambitiösen «Schulprojekt 21», mit Englisch und Computereinsatz ab der ersten Primarschulklasse, dessen Vorbild ihn in Kalifornien begeistert hatte. Später setzte er das Frühenglisch und das umstrittene Lehrerbeurteilungssystem MAB durch und führte geleitete Schulen als «Profit Center mit CEO» ein. Als Ernst Buschor seine NPM-Reformen Ende 2002 im Volksschulgesetz mit zwölf Teilprojekten absichern wollte, gab es Widerstand durch die Lehrer und das Zürcher Volk lehnte es mit einer Nein-Mehrheit von 52 Prozent ab. Als drei Jahre später das praktisch gleiche Volksschulgesetz mit viel Staatspropanda und mangels Lehrerwiderstand vom Volk angenommen wurde, war Buschor schon nicht mehr im Amt.

Kumulation gesellschaftlicher Machtfelder

Die Kumulation von Positionen in verschiedenen gesellschaftlichen Machtfeldern beförderte Buschor in die Stellung eines wirkmächtigen Reformers: Er war Mitglied zahlreicher Kommissionen und Gremien, darunter war der Vorsitz bei der  «Schweizerischen Harmonisierung der öffentlichen Haushalte», Präsident des Nationalen Forschungsprogramms «Wirksamkeit staatlicher Massnahmen», Präsident der Schweizerischen Hochschulplanungskommission, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Verwaltungswissenschaften, die in den 1990er Jahren zu einem wichtigen Forum der Verbreitung des «New Public Management» wurde. Buschor war von 1998 bis 2003 Mitglied im Schweizer Fachhochschulrat und 2001/02 Vizepräsident der Schweizerischen Universitätskonferenz. Von 2004 bis 2007 war er Vizepräsident des Rates der Eidgenössischen Hochschulen (ETH-Rat). Seit 2003 sass er im Stiftungsrat der Jacobs Stiftung und im Stiftungsrat der Stiftung Careum Zürich, seit 2004 im Beirat des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE). 2005 wurde er Mitglied des Leitungsausschusses der Stiftung Avenir, Zürich. Von 2005 bis 2007 war er Vorsitzender des Kuratoriums der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh. Er war korrespondierendes Mitglied am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer.

Scheitern der Globalisierung

Fredmund Malik, Professor HG St. Gallen kritisierte bereits früh NPM.

Es gab schon früh Kritiker (z.B. Fred Malik, HSG) des von den Medien als erfolgreiches amerikanische Modell hochgelobten NPM. Dessen schuldenfördernde Bilanzierungspraxis führte bereits 2002 zu den weltweit grössten Firmenzusammenbrüchen; Firmen wie Arthur Andersen («Big five») wurden als «Sündenböcke» geopfert. Das Problem lag jedoch laut Nobelpreisträger Stiglitz im System der Globalisierung und deshalb kam bald die grosse Rezession, die 2008 in Amerika begann und sich innert kurzer Zeit auf die ganze Welt ausbreitete – allein in China gingen 20 Millionen Arbeitsplätze verloren – und viele Millionen Menschen verarmten. Die moderne Volkswirtschaftslehre mit ihrem Glauben an freie Märkte und an die Globalisierung hatte Wohlstand für alle versprochen.

Mit Bildung liess sich schnell viel Geld verdienen

Rasantes Wachstum

Versagen eines NPM-Vorzeigemodells

In Neuseeland führte die Einführung von NPM zur Schliessung von psychiatrischen Kliniken, weil das ausgebildete Personal wegen NPM den Beruf wechselte. Die Patienten wurden in Gefängnisse überführt, wo sie vom Gefängnispersonal betreut werden mussten.

Neuseeland hatte 1989 eine Schulreform nach dem New Public Management-Modell durchgeführt und wurde auch für Buschor zum Vorzeigemodell. 10 Jahre später wurde es zum NPM-Versager-Modell, über das nicht mehr berichtet wird.

Neuseeland: Vom Vorzeigemodell zum Versagermodell.

Der durch die Möglichkeit der «freien Schulwahl» ausgelöste Wettbewerb zwischen Neuseelands Schulen hat zu Gewinner- und Verlierer-Schulen (mit ihren Oberschichts- bzw. Unterschichtskindern) und zu neuen Formen der Segregation geführt. NPM hat im Bildungsbereich eine Vergrösserung der Unterschiede in der Bildungsqualität zur Folge, weil das Hauptgewicht auf die Veränderung äusserer Strukturen gelegt und die differenzierte Ermittlung der effektiven pädagogischen Auswirkungen auf das eigentliche Lehren und Lernen vernachlässigt wird. Unterdessen müssen die Lehrpersonen Schulmarketingaufgaben übernehmen, die sie von der Hauptaufgabe der Bildung zeitaufwändig absorbieren. Konkret sieht das dann so aus: Neuseelands «Lehrer müssen auf jede Information achten, welche die Marktstellung der Schule in ihrer Umgebung verändern bzw. verschlechtern könnte. Sie sollten die Leistungen ihrer Schüler in den Medien propagieren; sie sollten neue Bereiche anfügen, welche die Diversität des School Programs hervorstreichen (auch um den Preis grösserer Klassen), und sie sollten das öffentliche und das private Verhalten ihrer Schüler so beeinflussen, dass das beste Bild der Schule daraus resultiert».

Quellen:

Buschor, Ernst: «Das neue Rechnungsmodell für Kantone und Gemeinden» 1978, in: Forum statisticum 10 (1978), S. 3–12

Buschor, Ernst: «New public management. Internationale Erfahrungen und Beiträge». Verlag Heidelberg Zündel & Partner Hrsg. 1996

Buschor, Ernst: «New Public Management als neuer Retter in der Not: Der Anspruchsvolle Weg zum New Public Management.» 1997, in: Reflegs – Informations- und Personalmagazin des GS EMD 1997, Nr. 7

Buschor, Ernst: «New Public Management: Reformbedarf auf Bundesstufe.» 2000, in: Vom Service Public zum Service au Public Zürich, 2000, S. 63–69, ISBN 3858238562

Pelizzari, Alessandro: «Die Ökonomisierung des Politischen: new public management und der neoliberale Angriff auf die öffentlichen Dienste», Konstanz 2001. ISBN 3-89669-998-9, Kapitel 3: Finanzpolitik und gesellschaftspolitische Gegenreformen im Kanton Zürich

Ernst Buschor: «Das Ausmass der Globalisierung wird nicht in Zürich entschieden.» «Wissensgesellschaft: Die Zukunft beginnt auf der Baustelle.» Zeitschrift Bilanz, 8.8.2003

Tonia Bieber: “Soft Governance in Education”. The PISA Study and the Bologna Process in Switzerland. „Staatlichkeit im Wandel“ − „Transformations of the State“ Bremen, 2010

http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Buschor_%28%C3%96konom%29

 

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Die Demokraten am Scheideweg! https://condorcet.ch/2021/01/die-demokraten-am-scheideweg/ https://condorcet.ch/2021/01/die-demokraten-am-scheideweg/#respond Sun, 03 Jan 2021 12:48:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=7431

Seit langem bringt der Condorcet-Blog wieder einmal einen Artikel des mit uns verbundenen Diane Ravitch-Blogs. Peter Greene, der auch schon für uns geschrieben hat, sieht die Demokratische Partei am Scheideweg. «No Child Left Behind» ist gescheitert; «Race to the Top» war ein Fehlschlag; «Common Core» ein Desaster, «Every Student Succeeds» ebenfalls ein Flop. Peter Greene erinnert daran, dass auch die Demokraten einen grossen Anteil an dieser Entwicklung haben, und warnt davor, alles auf Trump zu schieben. Er verlangt von den Demokraten einen radikalen Neuanfang.

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Peter Greene, Lehrer, Autor des Diane Ravitch-Blog: Die Demokraten stimmten immer zu.

Die letzten vier Jahre haben sich die Demokraten eine ziemlich einfache Theorie zurechtgelegt, wenn es um die Bildung geht. Etwas in der Art von «Guter Gott, eine verrückte Dame (Betsy De Vos, Anm. der Redaktion) ist gerade in unseren Porzellanladen gekommen, reitet auf einem Bullen, fuchtelt mit einem

Betsy de Vos, Republikanerin, Bildungsministerin unter Trump: Ein Stier im Porzelanladen.

Flammenwerfer herum und schleppt einen Hai mit einem auf dem Kopf montierten Laserstrahl mit sich herum; wir müssen sie davon abhalten, den Laden zu zerstören.»

Dieses Szenario scheint uns jetzt, Gott sei Dank, nicht mehr zu drohen. Aber ist es mit der Abwahl dieser unseligen Bildungsministerin getan?

Auch Clinton und Obama

Das Problem ist, dass die Umgestaltung des Bildungswesens mit all seinen unsinnigen Reformen seit Jahrzehnten im Gange ist und von allen unterstützt wurde, also auch von Clinton und Obama. Die Grundidee dabei war folgende:

Der Weg, Armut, Rassismus, Ungerechtigkeit, Ungleichheit und wirtschaftliche Not zu beheben, bestehe darin, einen Haufen Kinder dazu zu bringen, in einem einzigen, eng gefassten standardisierten Test bessere Ergebnisse zu erzielen; die beste Chance, dies zu erreichen, habe man, wenn man praxisfernen Bildungsökonomen die Gelegenheit gebe, damit viel Geld zu verdienen.

Das war natürlich niemals ein guter Plan. Niemals.

Bildung kann soziale Ungleichheit nicht beheben

Zum einen ist die Fähigkeit der Bildung, soziale Ungerechtigkeit zu beheben, begrenzt. Eine bessere Bildung wird den Mindestlohn nicht erhöhen. Sie wird Armut nicht ausrotten. Und wie uns gerade über all die Jahre lang bewusst geworden ist, wird sie die Menschen nicht einmal mit Sicherheit zu besseren Denkern machen oder sie von Rassismus befreien. Bildung wird einigen Menschen helfen, der Teergrube zu entkommen, aber sie wird die Grube selbst nicht reinigen.

Ein solcher Punktezuwachs war immer das Ergebnis der Testvorbereitung und des Trainings der Testteilnehmer, und diese Art der Vorbereitung ging immer auf Kosten der echten Bildung.

Testzentrierte Bildung verbessert gar nichts.

Aber genau genommen ging es ja nie um Bildung. Es ging um einen mittelmäßigen, computergesteuerten Test, der einmal im Jahr Mathe und Lesen abfragt. Und das ist uns allen bewusst: Niemand wird einen besseren Job bekommen, weil er eine hohe Punktzahl im PARCC-Test erreicht hat. Niemand wird jemals ein glücklicheres, gesünderes Leben führen, nur weil er seine Punktzahl im Großen Standardisierten Test um fünfzig Punkte erhöht hat. Ein solcher Punktezuwachs war immer das Ergebnis der Testvorbereitung und des Trainings der Testteilnehmer, und diese Art der Vorbereitung ging immer auf Kosten der echten Bildung. Jetzt, ein paar Jahrzehnte später, ist belegt, dass testzentrierte Bildung weder die Gesellschaft noch die Schulen noch das Leben der jungen Menschen, die das System durchlaufen haben, verbessert hat.

Verhängnisvolle Allianz

Die Demokraten müssen auch um die Tatsache ringen, dass viele der fehlgeleiteten Ideen, die mit dieser Handlungstheorie verbunden sind, auf ökonomistischen Theorien beruhen, was überhaupt nicht zum traditionellen Inhalt der Demokratischen Partei passt.

Bei der Unterzeichnung von “No Child Left Behind-Akte” standen die Demokraten und Republikaner harmonisch beieinander.

Viel zu lange hielt diese verhängnisvolle Allianz mit den radikalen Marktreformern, glaubte man, dass Wahlfreiheit eine Frage der sozialen Gerechtigkeit sei. Gewiss, als Donald Trump gewählt wurde, begannen sich die Demokraten von den Republikanern hinsichtlich ihrer Bildungspolitik abzuwenden. Aber davor hatten sie der Lehrerschaft ihre Unterstützung versagt, sich von den Gewerkschaften abgewandt und sich in der Vordenkerrolle von Gruppen wie «Democrats for Education Reform» (Demokraten für die Bildungsreform) gefallen, einer Gruppe, die von Hedge-Fonds-Typen gegründet wurde, die den Namen “Demokraten” annahmen, weil ihnen dieser gut klingende Name eine Menge Reputation einbrachte. Das war für den gewaltigen Paradigmenwechsel des US-amerikanischen Bildungssystem verantwortlich.

Diese Allianz bildete die perfekte Suppe für die Fütterung eines marktradikalen Gedankenguts. Und sie bewirkte, dass alles, wofür die Demokraten in der öffentlichen Bildung je gestanden hatten, den Bach runterging.

Die Rückkehr zu den Werten dieser Partei wird somit zwei Hindernisse überwinden müssen. Einerseits braucht es Mut zum Eingeständnis, dass das, wofür man in Kumpanei mit den Reformern eingestanden ist, kolossal gescheitert ist. Und das andere ist, nicht der naheliegenden Verlockung zu verfallen, nun alles auf die Ära Trump/De Vos zurückzuführen. Das wäre mehr als fatal.

Eli Broad, Demokrat und Milliardär: Schulprobleme sind Managementprobleme.

Ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass das Grundproblem dieser katastrophalen Entwicklung darin bestanden hat, die Bildung in die Hände ahnungsloser und praxisferner Technokraten gegeben zu haben. Und diese Ermächtigung ging durchaus von beiden Parteien aus.

War es nicht der Milliardär und Demokrat Eli Broad, der immer wieder betonte, dass das Bildungswesen keine Bildungs-, sondern betriebswirtschaftliche Probleme habe und diese am besten von Management-Profis gelöst werden sollten?

In einigen Regionen wurde Bildung von Republikanern und Demokraten zu einem Immobilienproblem umgedeutet, das am besten von Immobilienprofis gelöst werde. Das ökonomistische Modell forderte, dass die Schulen nicht von einem demokratisch bestimmten Laiengremium in der Aufsichtsbehörde oder von einem Haufen Lehrer geführt werden solle, sondern von visionären CEOs, die die Macht erhalten, einzustellen und zu feuern und die Regeln festzulegen, ohne von Vorschriften oder gar den Gewerkschaften gestört zu werden.

Die Demokraten gingen sogar einen Schritt weiter, indem sie die Vorstellung übernahmen, dass alles, was man brauche, um eine Schule zu leiten, eine betriebswirtschaftliche Vision sei ohne irgendeine Art von Fachwissen.

Demokraten mit neoliberaler Überzeugung stimmen dem immer zu. Und sie gingen sogar einen Schritt weiter, indem sie die Vorstellung übernahmen, dass alles, was man brauche, um eine Schule zu leiten, eine betriebswirtschaftliche Vision sei ohne irgendeine Art von Fachwissen. Die Demokraten unter Obama waren dafür verantwortlich, dass unausgebildete “Best and Brightest Ivy Leaguers” in Klassenzimmer geschickt wurden, die dann als Experten Unterricht und Lehrkräfte beurteilten und dazu auch noch gross abkassierten.

Ich wäre viel begeisterter von Biden gewesen, wenn er zu irgendeinem Zeitpunkt im Wahlkampf etwas gesagt hätte wie: “Jungs, wir haben die Bildungspolitik vermasselt.”

Vereinfache ich zu sehr? Mag sein. Aber Sie verstehen meine Skepsis. Die Demokraten kehrten der öffentlichen Bildung und dem Lehrerberuf den Rücken zu. Ein solcher Punktezuwachs war immer das Ergebnis der Testvorbereitung und des Trainings der Testteilnehmer, und diese Art der Vorbereitung ging immer auf Kosten der echten Bildung.Haufen Daten erzeugt, die für alle möglichen Zwecke verwendet werden können (vergessen Sie nie – «No Child Left Behind» wurde als große parteiübergreifende Errungenschaft gefeiert).

Ich wäre viel begeisterter von Biden gewesen, wenn er zu irgendeinem Zeitpunkt im Wahlkampf etwas gesagt hätte wie: “Jungs, wir haben die Bildungspolitik vermasselt.” Ich nehme an, das ist wohl zu viel verlangt. Aber wenn die Demokraten einen Neubeginn in der Bildungspolitik wagen wollen, müssen sie sich von vielem verabschieden, was sie in den letzten Jahrzehnten mitgetragen haben.

Eine Umkehr setzt das Eingeständnis des Scheiterns voraus.

Sie müssen sich von ihrem grossen Irrtum verabschieden, der auf dem fehlerhaften Fundament der standardisierten Tests aufbaut.

Sie müssen zur Erkenntnis gelangen, dass es doch die Lehrkräfte sind, die die wahren Experten auf dem Gebiet der Bildung sind.

Sie müssen akzeptieren, dass Bildung zwar ein mächtiger Motor sein kann, um gegen die Kräfte der Ungleichheit und Ungerechtigkeit anzugehen, dass aber diese Kräfte auch immer das Umfeld prägen, in dem Schulen arbeiten müssen.

Sie müssen aufhören, auf praxisferne Bildungsbürokraten und deren Adlaten aus dem Finanzsektor und der Wirtschaft zu hören. Erfolg in anderen Bereichen qualifiziert jemanden nicht dazu, Bildungspolitik zu machen. Zwei Jahre lang durch ein Klassenzimmer zu kreuzen macht niemanden zum Bildungsexperten. Jeder, der jemals zum Arzt gegangen ist, ist kein medizinischer Experte, jeder, der jemals an seinem Auto gearbeitet hat, ist kein Mechaniker, und jeder, der jemals zur Schule gegangen ist, ist kein Bildungsexperte. Das heißt nicht, dass all diese Menschen nicht etwas zur Bildungsdiskussion beitragen sollten, im Gegenteil. Aber ihnen eine derartige Machtfülle zu verleihen, war ein fataler Fehler – das gilt auch für all die Konzerne des Silicon Valley, die zurzeit mit Macht in die Schulen drängen und den Unterricht auf Algorithmen umstellen wollen.

Sie müssen begreifen, dass Schulen keine Unternehmen sind.

Sie müssen begreifen, dass Schulen keine Unternehmen sind. Ihre primäre Funktion besteht auch nicht darin, Unternehmen mit nützlichen Arbeitsbienen zu versorgen. Bildung muss die Menschen befähigen, mündig zu werden.

Wenn sie mehrere parallele Bildungssysteme mit Charter-Schulen und Gutscheinen und all den Rest weiterbetreiben wollen, müssen sie endlich für Kostentransparenz sorgen und aufhören, Schulen ungleich zu finanzieren.

Sie müssen akzeptieren, dass privatisierte Schulsysteme nicht viel Neues, Revolutionäres oder bisher Unentdecktes in Sachen Bildung hervorgebracht haben. Aber viele von ihnen haben sich einige clevere neue Wege ausgedacht, um Steuergelder zu verschwenden und sich dann davonzumachen.

Das ist meine Botschaft an die Demokraten: Hören Sie auf die Lehrer. Hören Sie auf die Eltern in der Gemeinde, welche die Schule kennen und auf sie angewiesen ist. Werden Sie wieder eine Kraft für die öffentliche Bildung, und lamentieren Sie nicht zu lange über eine verrückte Frau mit einem Flammenwerfer.

Peter Greene

Übersetzung Alain Pichard

 

 

 

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Die empirische Forschung hat sich verselbständigt https://condorcet.ch/2020/03/die-empirische-forschung-hat-sich-verselbstaendigt/ https://condorcet.ch/2020/03/die-empirische-forschung-hat-sich-verselbstaendigt/#respond Tue, 31 Mar 2020 19:27:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=4374

Eine neue Autorin aus Deutschland, Inge Konradi, Studienrätin in Mathematik, Physik und Spanisch, besuchte im Dezember 2019, eine Fachtagung Mathematik, die von der KMK, dem IQB und dem Leibniz-Institut organisiert wurde. Daraufhin hat die Lehrervertreterin 6 Thesen verfasst, die sie dem Condorcet-Blog zur Verfügung stellt.

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Im Dezember 2019 fand ein von der KMK, dem IQB und dem Leibniz-Institut für Naturwissenschaften (IPN) in Kiel koordinierter Fachtag Mathematik in Berlin statt, an dem ich teilgenommen habe.

Anstelle eines Berichtes habe ich mich für eine Zusammenstellung meiner Eindrücke in Form von 6 Thesen entschieden, die im Folgenden aufgeführt werden.

  1. Die empirische Forschung hat sich verselbständigt.
Kernaufgaben des IQB: Nationale Bildungsstandards inhaltlich weiter entwickeln und methodisch präzisieren.

Im Zuge der Ökonomisierung der Bildung, der Unterwerfung von Bildungseinrichtungen unter betriebswirtschaftliche Prinzipien und der angeblichen Objektivierung der Resultate, kommt der quantitativen Erhebung und dem darauf basierenden Ranking eine solche Bedeutung zu, dass diese Erhebungs- und Evaluationsstudien die inhaltliche Ausrichtung von Prüfungen und Lehrinhalten steuern.

Das beste Beispiel für die Verselbständigung der quantitativen Messung ist das IQB (Institut für Qualitätssicherung) mit Sitz in Berlin, berühmt-berüchtigt für bundesweite Lernstanderhebungen wie Vera 3 bzw. Vera 8 und Abituraufgabenformate (EPAs).

Neben der Krake IQB gibt es zahlreiche empirische Forschungsinstitute an den Universitäten. Die dort Arbeitenden haben ein ganz persönliches Interesse am Fortbestand dieses Zweiges der Bildungsforschung. Um weitere Gelder zu adquirieren und ihre Stellen zu sichern, müssen sie deshalb natürlich immer darauf verweisen, dass sie noch größere Stichproben bzw. weitere Aspekte untersuchen müssten, um stichhaltige Aussagen liefern zu können, wie konkret am Fachtag immer wieder geschehen. Doch der Wert dieser Studien für die Unterrichts- oder Lehrpraxis ist äußerst fraglich.

Um weitere Gelder zu adquirieren und ihre Stellen zu sichern, müssen sie deshalb natürlich immer darauf verweisen, dass sie noch größere Stichproben bzw. weitere Aspekte untersuchen müssten, um stichhaltige Aussagen liefern zu können, wie konkret am Fachtag immer wieder geschehen.

  1. Praktische Erfahrungen der Lehrenden werden ignoriert.
Schüler sind nicht dümmer als früher.

Alle von Praktikern vorgebrachten Aussagen und Vorschläge zu den Inhalten der Lehrpläne bzw. zum problematischen Einsatz digitaler Medien, die darauf zielten, den Kenntnisstand der Abschlussklassen in Mathematik zu verbessern, wurden stereotyp mit zwei Totschlagargumenten zurückgewiesen:

  • Die Lehrenden haben schon immer über die Defizite der Lernenden geklagt.
  • Die Schüler sind nicht dümmer als früher.

Entgegen dem ansonsten formulierten Anspruch der Bildungsforscher nach handfesten Belegen wurde die erste Behauptung durch historische Zitate sehr allgemeiner Art, die zweite weder durch Argumente noch durch empirische Studien belegt.

  1. Die empirische Bildungsforschung behindert eine Verständigung zwischen Lehrern in den Schulen und Lehrenden in den Hochschulen.

Bekannter Weise klaffen die Leistungen vieler Schulabgänger in Mathematik und die Eingangsvoraussetzungen der Hochschulen in den MINT-Fächern und den Ingenieurwissenschaften weit auseinander.
Aus zwei Bundesländern, Niedersachsen und Baden-Württemberg, wurde berichtet, dass diesbezüglich gemeinsame Tagungen zum Austausch zwischen Lehrkräften und Lehrenden an den Hochschulen einberufen worden seien, auf denen sehr schnell ein Grundkonsens über die Anforderungen der Universitäten bzw. Fachhochschulen und der inhaltlichen Vorbereitung der Schulen auf ein MINT-Studium hergestellt werden konnte. Ein Teilnehmer einer solchen Runde aus Baden-Württemberg berichtete, dass Lehrer und Lehrende schnell einig geworden wären, behindert würde die Einigung ausschließlich durch „die Bildungsverwaltung“[1].

  1. Standards und Kompetenzen sind Spiegelbilder ökonomischer Kennziffern.

Im Gegensatz zur industriellen Fertigung, bei der der Herstellungsprozess gedanklich in viele Einzelteile zerlegt, vermessen und planbar ist, lässt sich der Erkenntnisprozess des Menschen nicht genau steuern und erfassen, denn er verläuft nicht eindimensional, sondern macht Umwege. Der Mensch ist eben keine Maschine!

Erkenntnisprozesse lassen sich nicht genau steuern.

Deshalb sollten wir Pädagogen im Interesse der Schüler und der Gesellschaft die Souveränität über das Unterrichtsgeschehen zurückerobern, indem wir uns auf die pädagogische Freiheit berufen.

Abgesehen davon könnten die Schulen die Ressourcen und Stellen, die die empirische Forschung und speziell das IQB verschlingen, gut und sogar nützlicher im realen Unterricht gebrauchen.

Dasselbe gilt auch für die Lehrkräfte, die hochdotierte Stellen in der Schulinspektion innehaben – ein Arbeitsbereich, der erst der betriebswirtschaftlichen Sicht auf Schule und der indirekten Steuerung entsprungen ist.

Die Forderungen:

  • Abschaffung des IQB!

  • Wiedergewinnung der Autonomie der Lehrenden!

  • Freiheit der Lehre!

 

  1. Die Folgen der Kompetenzorientierung sind eine hirnlose Standardisierung der Aufgabenformate und quantitative statt qualitative Bewertungsraster.

Noch auffälliger als in Mathematik oder den Naturwissenschaften finden die Bildungsstandards und die vorgegebene Objektivierung der Bewertungskriterien ihren Niederschlag in den Sprachen. Die kleinschrittigen standardisierten Aufgabenformate des schriftlichen Abiturs z.B. werden weder dem Inhalt der Texte bzw. Lektüren gerecht noch regen sie zu einer tieferen Analyse an.

Stellwerktest Schweiz:
hirnlose Standardisierung.

Durch die Verallgemeinerung und den Gleichschritt (Inhaltsangabe, Vergleich eines Textaspektes mit einem ähnlichen Aspekt einer Lektüre, die zum Lesekanon gehört, und dem „kreativen“ Schreiben beispielsweise in der Form eines Tagebucheintrags oder Leserbriefs) geht der intellektuelle Anreiz verloren, die kognitiv-anregende und kreativ-erotische Komponente der Auseinandersetzung mit der Literatur bleiben außen vor.

  1. Die „moderne Schule“ ist eine Schule, die sich selbst abschafft.

Eine fast logische Folge von Bildungsstandards, Kompetenzrastern, standardisierten Aufgabenformaten und quantitativen statt qualitativen Bewertungskriterien ist das Konzept des Lernbegleiters – eine Idee, die als Begleitung oder Kontrolle eines Produktionsprozesses (z.B. am Fließband) sinnvoll sein mag, in der Schule, wo es auf soziale Beziehungen, didaktisches und pädagogisches Handeln ankommt, ist sie hingegen nicht nur völlig kontraproduktiv, sondern auch wenig weitsichtig, denn:

Die Zukunft des Lernbegleiters ist der digitale Algorithmus, d.h. der Computer kann verhältnismäßig problemlos den Lernbegleiter ersetzen – jedoch den Lehrer, bei dem die humane Interaktion im Mittelpunkt steht, sicher nicht.

[1] Sinngemäße Aussage eines Teilnehmers

Dieser Artikel erschien zuerst auf der Webseite der GBW, unseres Partnerblogs in Deutschland

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Gegen die Ökonomisierung der Bildung https://condorcet.ch/2020/02/gegen-die-oekonomisierung-der-bildung/ https://condorcet.ch/2020/02/gegen-die-oekonomisierung-der-bildung/#respond Tue, 18 Feb 2020 20:28:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=4036

Bildung ist mehr als Kompetenzorientierung. Sie lässt sich nicht in Schemata pressen, normieren und skalieren. Das zeigt eine Publikation von Thomas Philipp . Ein Resümee von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Bildungsethik von Thomas Philipp Bildung kennt kein “um zu”.

Alles redet über Bildung. Vom Kampf um Bildungsressourcen ist die Rede, von Bildungsreserven, von Bildungsmanagement, von Bildungsexpansion, gar von Bildungsoffensive. Die Sprache zeigt sich militant.

Bildung wird auf Ausbildung reduziert

Auch wenn bildungspolitische Postulate und Parolen anderes verkünden, ist die Tendenz eindeutig: Die Wissens- und Informationsgesellschaft reduziert Bildung auf Ausbildung. Spätestens seit PISA und Bologna dominiert das Kriterium der Effizienz. Gefragt sind direkt anwendbare Kompetenzen. Sie gehorchen dem Diktat der aktuellen Verwertbarkeit – und machen Kinder und Jugendliche, pointiert und als These formuliert, zu Puppen des Zeitgeistes.

Imperative des Funktionierens 

Die Philosophen haben die Schule den Pädagogen überlassen, schreibt der Jurist Bernhard Schlink in seinem Roman „Der Vorleser“. Und heute den Ökonomen und Empirikern, diagnostiziert das komprimierte und kluge Buch „Bildungsethik“ von Thomas Philipp. Grund genug zu fragen, warum „die öffentlichen Schulen nicht daran interessiert sind, gebildete Menschen hervorzubringen“, wie der Philosoph Robert Spaemann nüchtern festhält. Ein Blick auf die aktuelle Entwicklung tut not. Diesem Bedürfnis kommt die neue Publikation nach. Sie analysiert den Bildungsdiskurs in der PISA-Ära.

Thomas Philipp: Die Philosophen überliessen die Schule den Pädagogen. Heute gehört sie den Ökonomen.

Was ist für einen jungen Menschen wichtig, wenn er das Bildungswesen verlässt? Diese Frage formuliert das erste Kapitel. Der zweite Abschnitt beleuchtet die Gegenwart im Spiegel der Bildungsbegriffe von einigen grossen Bildungsdenkern wie Meister Eckhart, Johann Heinrich Pestalozzi und Hannah Arendt. Der dritte Passus konfrontiert deren Bildungsziele und Sprache mit dem Zielen von PISA, Bologna und den politischen Parteien. Dass hier humane Ziele hinter den Imperativen des Funktionierens verschwinden, erklärt im vierten Kapitel Jürgen Habermas‘ These von der „Kolonialisierung der Lebenswelt“. Das Schlusskapitel plädiert für eine „gebildete Bildungspolitik“.

Nutzen und Profit

Es braucht diese „gebildete Bildungspolitik“; denn im PISA-Zeitalter untersteht vieles der Logik der Ökonomie. Der Mensch muss marktfähig und marktförmig sein. Die PISA-Studie selbst zielt ja auf den Homo oeconomicus. Es geht um die materiellen Bedingungen des Lebens, um Nutzen und Profit. Der Test soll darum bei 15-Jährigen jene Kenntnisse und Fähigkeiten messen, „die für das tägliche Leben relevant sind.“

Der Test soll darum bei 15-Jährigen jene Kenntnisse und Fähigkeiten messen, „die für das tägliche Leben relevant sind“.

So fordert es die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD. Darum ist es nichts als konsequent, dass PISA einen reduktiven Kompetenzbegriff ins Zentrum stellt und nicht von Bildung spricht. Der Ausdruck ‘Bildung‘ passt nicht in diese Konzeption.

Der Wahn des Messens

Stellwerktest: Gewünscht wird “sozioökonomische Tüchtigkeit”.

Das Wesentliche der pädagogischen Aufgabe aber besteht in der Persönlichkeitsentwicklung – und damit in der Kunst des Ermöglichens – mit den individuellen und sozialen Prozessen des Wahrnehmens und Sich-Ausdrückens, des Suchens und Ordnens, des Nachdenkens und Problemlösens. Die Schule soll lehren, wie man denkt – und nicht, was man denkt. Das nennt sich divergentes Denken.

Heute zielt fast alles auf das Steuern und Lenken, so der Befund von Philipps lesenswerter Publikation. Hinter diesem Begriffspaar verbirgt sich eine der zentralen Kategorien des neuen Bildungsverständnisses. Die Dominanz der Steuerung im Sinne soziökonomischer Funktionstüchtigkeit kanalisiert und dynamisiert Lehren und Unterrichten.

Dieser Primat segelt unter dem Vorzeichen von Qualitätsentwicklung, Qualitätsmanagement und Evaluation. Kompetenzstandards normieren den Output von Lern- und Ausbildungswegen. Die erwarteten und als relevant bezifferten Bildungseffekte werden in ein testfähiges Format transformiert. Mit den Messmethoden der empirischen Bildungsforschung sind sie erfassbar und kontrollierbar. So wird Bildung geplant und gesteuert, limitiert und formatiert, in Ankreuztests und Messung reproduziert. Die Resultate münden nicht selten in Rankings.

Kultivierung, nicht Konditionierung

Wenn man Lernen und Bildung mit Messbarkeit koppelt, dann impliziert das in letzter Konsequenz den Ausschluss metaphysischer Probleme aus dem Bildungsbegriff. Denn wie lässt sich eine kognitive, soziale, emotionale Persönlichkeitswerdung und Urteilfähigkeit vermessen?

Die Schule soll lehren, wie man denkt – und nicht, was man denkt.

Bildung ist die individuelle Verwirklichung der Kultur.

Gemäss Lehrplan 21 soll sich jedes schulisch vermittelte Wissen als ein Können kontrollieren lassen; es sind sogenannte Skills. Der Unterricht orientiert sich an formalen Fertigkeiten. Inhalte verschwinden, oder sie werden zu reinen Trainingsobjekten degradiert. Der Bildungsbegriff verliert so jede intellektuelle und wohl auch kognitive und emotionale Attraktivität. Pädagogisch angeleitete Bildung aber ist im ursprünglichen Sinne Kultivierung, nicht umfassende Konditionierung.

Bildung bedarf der Inhalte, nicht der blutleeren Abstraktion. Bildung hat mit Wissen und Erkenntnis zu tun. Der Weg dorthin ist zuweilen eine rechte Plackerei und keine Schnellstrasse. Spass allein genügt nicht. Wir brauchen aber Bildung, weil es eine Welt ausser uns gibt. Diese Welt ist uns zunächst fremd. Wir müssen sie uns erschliessen, müssen uns das Fremde aneignen. Die Welt als Metapher für das Fremde, um es mit Wilhelm von Humboldt zu sagen, und Bildung als Wechselwirkung zwischen Ich und Welt.

Bildung folgt keinem „um zu“

Das ist anstrengend und erfolgt nicht nach den Parametern von Effizienz und Nützlichkeit. Wie sonst kann man mit Kindern über Aristoteles‘ Idee eines gelingenden menschlichen Lebens philosophieren? Oder über die Frage, was gerecht und was ungerecht ist? Wie lässt sich ein Hilde-Domin-Gedicht gewinnbringend unterbringen, was zählt Faust im Kontext der Gewinnmaximierung, was das Nachdenken über die Kopernikanische Wende oder die Heisenbergsche Unschärferelation?

Das ist das eine: Bildung als individuelle Verwirklichung der Kultur. Unter Bildung versteht man auch, dass sich eine Persönlichkeit formt, die selbständig denkt, in verantworteter Eigenständigkeit ihren Weg geht und die nicht nur mittels Anpassung funktioniert. Das Denken muss über die sogenannten Tatsächlichkeiten hinausreichen. Das Alltagswissen braucht übergeordnetes ethisch-kulturelles Orientierungswissen. Nur so werden wir eigenständig und damit Gestalter und Autoren unseres Lebens.

Wer Bildung dagegen einseitig vom gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bedarf her betrachtet, der generiert Puppen des Zeitgeistes.

Wer Bildung dagegen einseitig vom gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bedarf her betrachtet, der generiert Puppen des Zeitgeistes und verfehlt, was mit Bildung gemeint ist. Bildung führt zur Selbstwerdung des Menschen; darum folgt sie in letzter Instanz keinem „um zu“; sie ist kein Mittel zu einem Zweck, sondern vertritt ein Ziel: die Autonomie des Menschen, die Mündigkeit des Einzelnen, die Souveränität des Individuums. Philipps Buch ist ein wunderbares Plädoyer wider den dumpfen Imperativ des Funktionierens.

 

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Wettbewerbsdenken funktioniert in der Schule nicht https://condorcet.ch/2019/11/wettbewerbsdenken-funktioniert-in-der-schule-nicht/ https://condorcet.ch/2019/11/wettbewerbsdenken-funktioniert-in-der-schule-nicht/#comments Thu, 21 Nov 2019 15:36:37 +0000 https://condorcet.ch/?p=2977

Condorcet-Autor Felix Schmutz widerspricht den Aussagen von Hans Rentsch "Ökonomisierung nur ein Schlagwort". Er warnt vor Vermessungswahn und wendet sich gegen den Wettbewerbsgedanken im Schulwesen.

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Felix Schmutz, BL, hält schulischen Wettbewerb für schädlich.

Der Artikel von Hans Rentsch zeigt, wie verschieden wir die Welt je nach Standpunkt wahrnehmen. Wir beurteilen und bewerten alles von einer bestimmten Warte aus, die unser Denken kanalisiert. Wo hat Rentsch Recht und wo nicht, wenn er sich zu Tendenzen der Schulpolitik äussert?

Wo Hans Rentsch Recht hat

Recht hat er, wenn er die Kompetenzen zum Wirtschaftsunterricht im LP 21 anzweifelt. Tatsächlich ist auf den ersten Blick festzustellen, dass die Schüler(innen) wenig über die Grundlagen und Organisationsformen der Wirtschaft, dafür umso mehr über die Kritik an der Wirtschaft lernen sollen, was nahelegt, dass es den Autoren eher um moralingetränkte politische Einflussnahme als um objektive Information gegangen ist, etwa so, wie wenn Mediziner im ersten Semester zunächst lernen müssten, welche Nachteile die Schulmedizin hat, obwohl sie noch nicht einmal den Unterschied zwischen Viren und Bakterien kennen.

Rentsch verteidigt den Vermessungswahn

Sein Blick ist hingegen etwas getrübt, wenn er den Vermessungswahn (Standards, Tests, Schulvergleiche) als notwendigen Bestandteil des Bildungswesens verteidigt, in der Meinung, dass dies zu Qualitätsverbesserungen und weniger Analphabeten führen würde. Hier verrät sich eben doch die Perspektive des Ökonomen, denn er kann sich offenbar nicht vorstellen, dass sich Bildungserfolge durch solche Massnahmen, wie sie in der Wirtschaft gängig sind, in der Schule nicht auch einstellen sollten.

In der schulischen Realität verleiten gute Messresultate zum Ausruhen und schlechte Resultate zum Aufgeben.

Die Anhänger des Vermessens sind der Meinung, Messresultate würden aus sich selbst heraus Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler zu vermehrtem Einsatz anspornen, was dann zu höheren Erfolgsquoten führen würde. Dem ist nicht so: In der schulischen Realität verleiten gute Messresultate zum Ausruhen und schlechte Resultate zum Aufgeben. Für Kinder und Jugendliche haben Messresultate nur die Bedeutung, die ihnen das familiäre Umfeld verleiht. Mit allen positiven und negativen Konsequenzen, die aus der elterlichen Einstellung resultieren.

Wettbewerb schadet der Schule Bild: AdobeStock

Das Wettbewerbsdenken, das in der Wirtschaft funktioniert, funktioniert in der Schule nicht. Um den Schulerfolg zu verbessern, braucht es ganz im Gegenteil pädagogische und didaktische Massnahmen im Mikrobereich, d.h. im Klassenzimmer. Anspornen ist selbstverständlich auch im Klassenzimmer möglich, aber die Motivation beruht auf einem grösseren psychisch-sozialen Spektrum. Tests und Noten gehören als Stimulans auch dazu, aber nicht im Sinne von nationalen Standards, sondern als Rückmeldung über individuelle Lernfortschritte.

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