Mathematik - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 30 Mar 2024 08:29:08 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Mathematik - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Physik ohne Mathematik https://condorcet.ch/2024/03/physik-ohne-mathematik/ https://condorcet.ch/2024/03/physik-ohne-mathematik/#comments Sat, 30 Mar 2024 08:29:08 +0000 https://condorcet.ch/?p=16332

In seiner bekannt unaufgeregten und stoischen Art erklärt uns Condorcet-Autor Bernhard Krötz aus Paderborn den Leistungsverfall des Faches Physik in den letzten 30 Jahren. Pikant: Die vorgestellten Abituraufgaben wurden ihm von Lehrkräften und geprüften Studenten geschickt, die selber über diesen Absturz schockiert sind.

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Zu viele deutsche Lehrer sind arm – an Kompetenz https://condorcet.ch/2024/03/zu-viele-deutsche-lehrer-sind-arm-an-kompetenz/ https://condorcet.ch/2024/03/zu-viele-deutsche-lehrer-sind-arm-an-kompetenz/#comments Fri, 15 Mar 2024 13:43:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=16179

Seit 25 Jahren befindet sich das deutsche Bildungswesen in einer Abwärtsspirale. Die jüngsten PISA-Ergebnisse markieren den bisherigen Tiefpunkt. Man hat sie schnell durch Migration und Lockdown erklärt, doch das greift zu kurz. Vom Kindergarten bis zum Abitur hat ein ideologisch begründeter Wandel stattgefunden, der die Qualität von Erziehung und Unterricht gesenkt hat. Die Einstellungen der Bildungspolitiker und -forscher müssen sich ändern, damit unsere Kinder wieder etwas Handfestes lernen können. In einer fünfteiligen Serie erklärt die Sonderpädagogin und heilpädagogische Psychologin Miriam Stiehler, woher diese Fehlentwicklungen kommen, wie sie sich auf Schüler auswirken und was sich ändern muss. Wir bringen den vierten Teil der Serie, die im Cicero erschienen ist.

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Schlecht vorbereitete Erstklässler treffen auf mangelhaft ausgebildete Lehrer mit unsachgemässen Methoden und ungeeigneten Schulbüchern. Deshalb wird mehr Geld unser Bildungssystem nicht retten. Wir geben nicht zu wenig Geld aus, sondern für die falschen Dinge. Deutsche Lehrer lernen: Es ist egal, ob Unterricht sachgemäss ist, solange er ideologisch und methodisch gefällt. Dieselbe ideologische Entwicklung, die die GenZ hervorgebracht hat, hat damit das Bildungswesen entkernt. Heutige Bildungsideale sind irrational, sensualistisch und von Verachtung für undiskutierbar eindeutige Strukturen wie Grammatik, Rechtschreibung und Rechenverfahren geprägt. Sie rücken wertvolle Kerninhalte in den Hintergrund und fördern stattdessen volkserzieherische Bemühungen woker und links-grüner Prägung.

Gastautorin Miriam Stiehler

Prägnantes Beispiel: Wir haben in Deutschland über 170 Gender-Lehrstühle, aber nicht einmal einen Lehrstuhl für Rechtschreib-Unterricht pro Bundesland! Wir müssen uns nicht wundern, dass einerseits Schüler nicht mehr richtig schreiben lernen, während andererseits schon in der 5. Klasse seelisch schwer angeschlagene Buben mit Röckchen und Lippenstift sitzen. Der Leistungsgedanke und Kerninhalte wie Lesen, Schreiben, Rechnen wurden erfolgreich als repressiver Kanon des alten weissen Mannes gebrandmarkt. Es erscheint daher legitim, sie zu vernachlässigen. Folglich fehlt es Lehrern an fachlicher Urteilsfähigkeit.

Hantieren ist nicht Handlungsorientierung

Wissen sachgemäss zu vermitteln setzt beim Lehrer Bescheidenheit voraus. Die uns übrigens alte weisse Männer gelehrt haben. Man muss die Struktur dessen, was man lehren will, erst einmal begreifen. Hans Aebli, der wichtigste Schüler von Jean Piaget, war der letzte brillante deutschsprachige Didaktiker, der noch selbst unterrichtet hat. Heutzutage erzählen uns selbsternannte “Experten” wie Gerald Hüther oder Richard David Precht, wie man Schulen reformieren müsse. Doch weil man versteht, wie ein Gehirn aufgebaut ist, ist man noch lange kein guter Lehrer oder gar Bildungsexperte. Der Kniechirurg weiss viel mehr über die Beine des Skifahrers als dieser selbst – aber das macht ihn nicht zum idealen Trainer für die WM-Mannschaft.

Aebli stellte klar: Lehrer müssen die geistige Operation, also die kognitive Handlung, verstehen, die man tut, wenn man z.B. den Umfang und Inhalt einer Fläche berechnet. Sein erstes Buch dazu erschien bereits 1951. Es ermöglichte einen interessanten, im guten Sinne handlungsorientierten und differenzierten Unterricht, aber in Deutschland machte man daraus nur eine triviale und falsch verstandene “Handlungsorientierung”, derzufolge Kinder immer mit irgendwas hantieren müssen.

Wenn Studenten auf dem Boden kriechen

In meinem eigenen Lehramts-Studium sollten wir 1999 wertvolle Noten für die Durchführung eines Bewegungsliedes erhalten. Ich beschloss, das auf die Spitze zu treiben, damit die Dozentin die Niveaulosigkeit dieser Form “akademischer” Bewertung einsähe. Nachdem ich 25 Studenten samt Dozentin über das dreckige Linoleum des Seminarraums kriechen liess, während sie pantomimisch Insekten darstellen mussten, bekam ich eine 1. Es war unfassbar.

Ähnlich ist es im Referendariat. Es ist keineswegs vorgesehen, dass der Prüfer kontrolliert, ob die gezeigte Unterrichtsstunde bei den Schülern zu einem Lernfortschritt führt! Was zählt, ist Sensualismus – gibt es etwas zu riechen, zu schmecken, zu tasten? In der Praxis schwören viele Referendare auf exotische Arbeitsmittel – besonders für gute Noten im 2. Staatsexamen. Unterrichtsplanung beginnt für viele Referendare nicht mit der Frage “Was ist die geistige Struktur des Lerninhalts?”, sondern mit “Hat schonmal jemand von euch mit dem heissen Draht Styropor geschnitten? Damit könnte ich mal was machen.” Wohlgemerkt: Wir sprechen vom Deutschunterricht. Die erwachsenen Akademiker im Referendariat erhalten in vielen Bundesländern zwei Jahre lang keine Einsicht in ihre Noten, sondern bekommen Feedback-Smileys und rein subjektive Notizen als Rückmeldung. Professionalisierung geht anders.

Wir haben in Deutschland über 170 Gender-Lehrstühle, aber nicht einmal einen Lehrstuhl für Rechtschreib-Unterricht pro Bundesland! Wir müssen uns nicht wundern, dass einerseits Schüler nicht mehr richtig schreiben lernen, während andererseits schon in der 5. Klasse seelisch schwer angeschlagene Buben mit Röckchen und Lippenstift sitzen.

 

In diesem System lernen Lehrer nicht, sachgemäss zu unterrichten. Im Studium lernen sie ideologisch geprägte Verachtung rationalistischer Methoden. Und im Referendariat lernen sie, die willkürlichen Anforderungen von Vorgesetzten zu erfüllen. So prägen sie sich ein, dass es egal ist, was ihre Schüler lernen, solange es “eine schöne Stunde” war. Aktuelle Lehrveranstaltungen an der Exzellenz-Universität LMU in München für angehende Deutschlehrer spiegeln dies wider. Belegen kann man “Magic Moments”, “Wertschätzende Rückmeldekultur”, “Social Media im Deutschunterricht einsetzen” oder “Grammatik angstfrei vermitteln”. Nur eines von 33 Seminaren bietet für gerade einmal 20 Teilnehmer einen Platz im Kurs “Grundlagen der Lesedidaktik und Leseförderung”. Den führt ein wissenschaftlicher Mitarbeiter durch – Professoren haben Wichtigeres zu tun.

Rasierschaum auf der Schulbank

Natürlich zeigt sich die fehlende Fachlichkeit im Unterrichtsalltag. Auf Facebook fragt eine Lehrkraft ihre Grundschul-Gruppe, wie man den Buchstaben “R” am besten einführt. Antworten der Kolleginnen: die Schulbänke mit Rasierschaum beschmieren und darin Rs mit dem Finger malen, Rollbrett fahren im Klassenzimmer oder Raketen basteln.

Die Vorschläge selbst zeigen Sensualismus und einen eklatanten Mangel an Respekt vor der Lernzeit der Kinder, die man mit solch unnützen Aktionen verschwendet. Sie zeigen aber auch: Diese Lehrer denken beim “R” alle nur an das gerollte “R” am Wortanfang. Das ist nicht schwierig. Probleme haben Kinder mit dem vokalisierten “r” wie in “Wurm” (typischer Fehler: “Wuam”) und der extrem häufigen Wortendung “-er”. Dort steht das “e” zusammen mit dem “r” für den Laut [ɐ]. In beiden Fällen darf man es keinesfalls als gerolltes “r” sprechen. Das sind die wirklich wichtigen didaktischen Punkte beim “r”. Die ihnen entgegengebrachte Ignoranz spricht Bände.

Wenn schlechter Unterricht krank macht

Im Bereich Mathematik ist es nicht anders. Die grösste Kompetenz für Mathematik-Unterricht findet man heute bei den Mathematischen Instituten, die Kinder mit Rechenschwäche “therapieren”, also per Einzelunterricht die Kollateralschäden unseres Schulsystems beheben. Prof. Michael Gaidoschik von der Universität Bozen ist der führende Autor in diesem Bereich. Experten wie er fordern seit vielen Jahren eine wesentliche Lehrplanänderung. Man solle endlich aufhören, in der 1. Klasse nur bis zur 20 zu rechnen. Stattdessen wäre es notwendig, das Dezimalsystem bis 100 als Notationsform und Grundprinzip zu vermitteln, denn wenn man das Prinzip verstanden hat, ist 84 keine schwierigere Zahl als 14.

“Rechnet” man über ein Jahr lang nur bis zur 20, zählen schwache Schüler nämlich statt zu rechnen, und in der 2. Klasse nutzen sie andere “Tricks”. Dadurch fällt meist erst in der 3. Klasse auf, dass sie das Dezimalsystem nicht verstanden haben. Weil das dann aber als “nicht altersgemäss” gilt, ist es leicht, bei ihnen nun “Dyskalkulie” zu diagnostizieren. Diese Diagnose dient nicht immer, aber oft als Hintertürchen, durch das sich inkompetente Lehrkräfte der Verantwortung für die Folgen ihres Unterrichts entziehen.

Ein gutes Schulbuch zeigt der Lehrkraft, was genau es zu erarbeiten gibt, welche Fragen zielführend sind und von welchen Beispielen, Tafelbildern usw. sie ausgehen kann. Es listet reichlich effiziente Übungen in aufsteigender Schwierigkeit auf.

 

Bei meiner Berufung in die Kommission, die die AWMF-Leitlinien für die Diagnostik von Dyskalkulie überarbeitet hat, musste ich feststellen, dass diese zu 90% mit Vertretern von Lobbies und Psychiatrie besetzt war. Diese haben gar kein Interesse an Verbesserungen im Unterricht, weil ihre Pfründe von einer hohen Zahl an vermeintlich gestörten Kindern abhängen. Entsprechend werden auch didaktogene, also durch den Unterricht verursachte Störungen kaum erforscht.

Da jedoch in aller Regel sowohl Legasthenie als auch Dyskalkulie durch übungsintensiven Einzelunterricht “geheilt” werden, ist sachlogisch klar: Das Hauptproblem ist der Unterricht und nicht das Kind. Eine der häufigsten didaktischen Ursachen für Rechenschwäche ist der Klappfehler. Er ist in Sachbüchern für Mathematiklehrer seit den 1990er Jahren zu finden, aber Fehleranalyse spielt in der Lehrerausbildung nach wie vor praktisch keine Rolle. Man kann jedoch nicht individuell angemessen benoten und fördern, wenn man Fehler nicht analysiert, also nicht versteht, worin der Irrtum eines Kindes bestand beziehungsweise besteht.

Schulbücher sind ungenügend

Nun könnte sich eine schlecht ausgebildete, aber motivierte Lehrkraft an einem guten Schulbuch orientieren, um trotz ihrer Schwächen zufriedenstellend zu unterrichten. Ein gutes Schulbuch zeigt der Lehrkraft, was genau es zu erarbeiten gibt, welche Fragen zielführend sind und von welchen Beispielen, Tafelbildern usw. sie ausgehen kann. Es listet reichlich effiziente Übungen in aufsteigender Schwierigkeit auf. Es ist von Fachleuten mit langjähriger Unterrichtserfahrung geschrieben und bietet einen roten Faden durch ein oder mehrere Schuljahre. Dies leisteten z.B. die 40 Jahre lang erfolgreichen bayerischen Mathematikbücher von Walter & Feuerlein.

Leider haben wir kaum noch solche Schulbücher. In Deutschland muss der Verlag nur die theoretische Kompatibilität mit dem Lehrplan belegen, während man in Japan Schulbücher an Modellschulen erprobt. Ausgerechnet die grundlegenden Bücher für 1.-4. Klasse zeigen gravierende Mängel. Die Fibel “Karibu” z.B. leitet ihren Namen nicht vom kanadischen Rentier ab, sondern bezieht sich auf Swahili, wo das Wort “Willkommen” bedeutet. Die Multi-Kulti-Botschaft ist ein Nebeneffekt.

Hauptsächlich kommt die Morphologie von Swahili den Autoren entgegen, da sie dem sog. Silbenkonzept anhängen, dem goldenen Kalb der aktuellen Grundschuldidaktik. In Sprachen wie Swahili oder Japanisch enthalten die meisten Wörter nämlich immer abwechselnd einen Konsonanten und einen Vokal, ähnlich wie in “Mama” oder “Oma”. Wörter mit dieser Form sind für Anfänger leicht lesbar. Für das Deutsche typisch sind jedoch Konsonantenhäufungen wie “Fr” oder “rst” und mehrbuchstabige Zeichen für einen einzigen Laut wie “ie”, also Wörter wie “du frierst”. Die sind schwerer zu lesen, aber eben notwendig, um Deutsch zu lernen.

“Drai Moisee UNT ain hUNT GHEeN schpAtzIAN” (“Drei Mäuse und ein Hund gehen spazieren”). Das lässt ahnen, was wir von der Digitalisierung im deutschen Schulwesen erwarten dürfen: Karibu! Willkommen in der Bildungswüste.

 

Das umstrittene Silbenkonzept zerteilt deutsche Wörter künstlich in Bestandteile, in denen Konsonant und Vokal abwechselnd vorkommen, wie z.B. “Af-fe”. Das führt zu falschen Erklärungen wie z.B. der angeblich hörbaren Konsonantenverdopplung in “Af-fe” oder “Tref-fer” und zu einem künstlichen Dehnsprechen, das dem Leseverständnis und der Rechtschreibung schadet (s. Video). Deutschdidaktiker wie Günther Thomé fordern daher seit Langem eine Abkehr vom Silbenlesen, ohne Erfolg.

Neben Silben verwendet die Fibel “Zebra” die hoch problematische Anlaut-Methode aus den 1920er Jahren. Sie ist eng verbunden mit der Unsitte, Schüler so schreiben zu lassen wie sie sprechen. Richtig wäre es, zu lehren, wie man die richtige Wahl aus mehreren akustisch möglichen Schreibweisen trifft. Da dies jedoch als repressiv gilt, können Kinder in der hochmodernen App zur Zebra-Fibel Anlaut-Bilder anklicken und daraus so schöne Sätze wie den folgenden fabrizieren, ohne irgendeine Rückmeldung zu ihren Fehlern zu erhalten: “Drai Moisee UNT ain hUNT GHEeN schpAtzIAN” (“Drei Mäuse und ein Hund gehen spazieren”). Das lässt ahnen, was wir von der Digitalisierung im deutschen Schulwesen erwarten dürfen: Karibu! Willkommen in der Bildungswüste.

 

Literatur:

Aebli, Hans: Psychologische Didaktik, 6. Auflage. Stuttgart 1976

Aebli, Hans: Grundformen des Lehrens, 5. Auflage. Stuttgart 1968

Gaidoschik, Michael: Wie Kinder rechnen lernen – oder auch nicht.

Eine empirische Studie zur Entwicklung von Rechenstrategien im ersten Schuljahr. Frankfurt, 2010.

Gaidoschik, Michael: Rechenschwäche vorbeugen. 1. Schuljahr: Vom Zählen zum Rechnen, 7. Auflage. Wien, 2007

Jank, Werner und Meyer, Hilbert: Didaktische Modelle, 4. Auflage. Berlin, 1997

Lorenz, Jens Holger: Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht; 3. Auflage. Hannover, 1993

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Von Japan lernen: Matheunterricht, der zum Denken anregt https://condorcet.ch/2024/01/von-japan-lernen-matheunterricht-der-zum-denken-anregt/ https://condorcet.ch/2024/01/von-japan-lernen-matheunterricht-der-zum-denken-anregt/#comments Wed, 24 Jan 2024 08:18:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=15760

Im Dezember hat die neue PISA-Studie bestätigt, was viele schon haben kommen sehen: die schlechtesten Ergebnisse aller Zeiten für Deutschland, ein dramatischer Absturz seit 2018 – wie in vielen anderen Ländern auch. Nicht so in Japan; dort sind die Leistungen in Mathematik gestiegen. Seit Jahren belegt das Land Spitzenplätze in den Rankings. Das Schulportal hat sich den Matheunterricht in Japan genauer angesehen – mit überraschenden Befunden. Alexander Brand berichtet.

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Betritt man zum ersten Mal ein japanisches Klassenzimmer, scheinen sich alle Vorurteile über Unterricht in Asien zu bestätigen. Die Schülerinnen und Schüler sitzen getrennt an Einzeltischen und blicken nach vorne. Alle tragen die gleiche Uniform: ein weißes Hemd mit Krawatte, dunkelblauen Blazer und graue Hose oder Rock. Die Haare sind bei den Jungen kurz, bei den Mädchen stets im Pferdeschwanz gebunden. Der Mathelehrer steht vorn an der langen Kreidetafel und referiert.

Alexander Brand, Redakteur Schulportal

Drill, Druck und Nachhilfe – so erklären sich hierzulande viele den PISA-Erfolg von Ländern wie Japan. Diese Klischees kommen nicht von ungefähr. Ein Großteil der japanischen Schülerinnen und Schüler nimmt private Nachhilfe, um sich auf die Aufnahmeprüfung für die Universität vorzubereiten. Diese stressige Zeit beginnt meist im letzten Jahr der Junior High School, also in der neunten Klasse.

Doch die Schuljahre bis dahin sind von deutlich weniger Prüfungsdruck und Nachhilfe geprägt. Die Kinder lernen gemeinsam und ohne frühe Selektion wie in Deutschland. Die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler, die an PISA teilnehmen, haben damit den größten Teil ihrer Schulzeit in einem System ohne besagten Druck und außerschulische Nachhilfe verbracht. Diese Faktoren allein können das gute Abschneiden also nicht erklären.

Entscheidend ist der zweite Blick: Nach zehn Minuten hat der Lehrer seine Einführung zur Wahrscheinlichkeitsberechnung beendet, die Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe sollen mehrstufige Baumdiagramme zeichnen. Zuerst versuchen sie sich allein an den Aufgaben. Und dann, ohne dass der Lehrer ein Zeichen gibt, stehen die Jugendlichen allmählich auf und suchen sich eine Kleingruppe, um ihre Ideen zu besprechen. Es wirkt wuselig, es wird gelacht. Später stellen verschiedene Schülergruppen ihre Lösungswege an der Tafel vor. Der Mathelehrer moderiert die Diskussion.

Japanische Mittelstufenschüler knobeln an einer Matheaufgabe (Bild:
© Alexander Brand)

Greifen die gängigen Stereotypen zu asiatischem Matheunterricht vielleicht doch zu kurz?

Anderer Unterricht, bessere PISA-Ergebnisse?

Was viele nicht wissen: Neben den Leistungen von 15-Jährigen erfasst die PISA-Studie auch bestimmte Unterrichtsmerkmale. Als PISA im Jahr 2012 das letzte Mal einen Schwerpunkt auf Mathematik legte, sollten die teilnehmenden Jugendlichen auch angeben, welche Unterrichtsstrategien sie erlebt hatten.

Mit mehreren Items fragte die Studie ab, wie oft die Jugendlichen einen lehrergesteuerten Unterricht, einen schülerorientierten Unterricht oder einen kognitiv aktivierenden Unterricht wahrgenommen haben. Welche Unterrichtsstrategien erhöhen die Wahrscheinlichkeit, eine Mathematikaufgabe richtig zu lösen? Wo besteht ein negativer Zusammenhang? Ein Forschungsteam der OECD hat diese statistischen Zusammenhänge für jedes Land untersucht und zusammengefasst. Untersucht wurde auch, ob bestimmte Unterrichtsansätze bei schweren oder leichten Matheaufgaben besser funktionieren.

Wie PISA diese Unterrichtsstrategien definiert

Lehrergesteuerter Unterricht

Die Lehrkraft …

  • gibt vor, was gelernt werden soll,
  • setzt klare Ziele,
  • fasst die letzte Unterrichtsstunde kurz zusammen,
  • stellt Fragen, um zu überprüfen, ob das Gelernte verstanden wurde.
Schülerorientierter Unterricht

Die Lehrkraft …

  • stellt unterschiedliche Aufgaben für Lernende mit unterschiedlichem Leistungsniveau,
  • sieht Projekte vor, die mindestens eine Woche dauern,
  • lässt die Lernenden in kleinen Gruppen arbeiten,
  • fordert Lernende auf, sich an der Planung des Unterrichts zu beteiligen.
Kognitive Aktivierung

Die Lehrkraft …

  • stellt Aufgaben, die auf verschiedene Weise gelöst werden können,
  • stellt Aufgaben, bei denen die Lernenden das Gelernte in neuen Situationen anwenden müssen,
  • fordert die Lernenden auf, über ihre eigenen Lösungswege zu entscheiden,
  • fordert die Lernenden auf zu erklären, wie sie ein Problem gelöst haben,
  • stellt Fragen, die zum Nachdenken über ein Problem anregen.

 

Die Ergebnisse überraschen. Auf allen Schwierigkeitsstufen besteht ein negativer Zusammenhang zwischen schülerorientiertem Unterricht und dem erfolgreichen Lösen von Mathematikaufgaben. Je schülerorientierter der Unterricht war – zumindest im Sinne der PISA-Definition –, desto schlechter waren die Leistungen. Bei lehrergesteuertem Unterricht sind die Ergebnisse gemischt: Bei einfachen Aufgaben ist der Zusammenhang leicht positiv, bei mittelschweren und schweren Aufgaben wird er leicht negativ. Nur bei der kognitiven Aktivierung besteht unabhängig vom Schwierigkeitsgrad ein positiver Zusammenhang.

 

 

Dass lehrergesteuerter Unterricht den PISA-Erfolg besser vorhersagt als schülerorientierter Unterricht, bezeichnet PISA-Studienleiter Andreas Schleicher als „eines der am meisten diskutierten Ergebnisse von PISA“. Manche würden es für einen statistischen Zufall halten, so Schleicher, es sei aber ein stabiles Ergebnis. Es liege auch nicht daran, dass lehrergesteuerter Unterricht häufiger in den ostasiatischen Ländern anzutreffen sei, die aus anderen Gründen bei PISA gut abschneiden; das Muster gebe es in Ost und West.

Schleicher widerspricht auch dem Argument, dass lehrergesteuerter Unterricht nur gut auf Tests vorbereite, in denen es um das Abrufen von auswendig Gelerntem gehe. Bei PISA müssten die Schülerinnen und Schüler über Fächergrenzen hinweg denken und ihr Wissen kreativ in neuen Situationen anwenden. Er schreibt: „Vielleicht ist es an der Zeit, damit aufzuhören, den lehrergesteuerten und schülerorientierten Unterricht gegeneinander auszuspielen und zu behaupten, der eine sei altmodisch und erdrückend, der andere zukunftsorientiert und förderlich.“ Beide Ansätze hätten eindeutig ihre Berechtigung.

Vielleicht ist es an der Zeit, damit aufzuhören, den lehrergesteuerten und schülerorientierten Unterricht gegeneinander auszuspielen und zu behaupten, der eine sei altmodisch und erdrückend, der andere zukunftsorientiert und förderlich.

Andreas Schleicher (aus dem Englischen übersetzt)

Die kognitive Aktivierung im Unterricht ist entscheidend

Ein Blick auf die Ergebnisse zeigt aber auch: Wenn es darum geht, bei den mittelschweren und schweren Mathematikaufgaben zu punkten, reicht weder ein lehrergesteuerter noch ein schülerorientierter Unterricht aus. In der Bildungsforschung werden diese Strategien den sogenannten Oberflächenstrukturen von Unterricht zugeordnet – sie sind leicht zu beobachten, aber kaum wirksam für den Lernerfolg. Viel wichtiger sind die Tiefenstrukturen: Was passiert in den Köpfen der Kinder? Unterstützt die Lehrkraft ausreichend? Gibt es ein förderliches Lernklima? Gerade der Punkt der kognitiven Aktivierung scheint zentral zu sein. Sie ist umso wichtiger, je anspruchsvoller die PISA-Aufgabe ist.

Werden im Mathematikunterricht also Aufgaben behandelt, die zum Nachdenken anregen und nicht nach Schema F gelöst werden können? Um solche Fragen zu untersuchen, wurden für die 2020 erschienene TALIS-Videostudie zahlreiche Mathestunden der achten Klasse gefilmt und ausgewertet. Neben Deutschland waren Japan, China, England, Spanien, Chile, Kolumbien und Mexiko beteiligt.

Wie misst die TALIS-Videostudie kognitive Aktivierung im Unterricht?

Die Videostudie beurteilt die kognitive Aktivierung im Unterricht nach sechs Kriterien.

  • Denkweise der Schülerinnen und Schüler ergründen: Vielzahl an Schülerbeiträgen ist sichtbar, Lehrkraft regt zu detaillierten Antworten an
  • Anspruchsvolle Fragen: Fragen zielen auf Begründungen, Zusammenführungen, Analysen oder Vermutungen ab
  • Explizite Verknüpfungen: Verknüpfungen zwischen verschiedenen Aspekten der Mathematik werden hergestellt
  • Mehrere Lösungswege: Lernende nutzen mehrere Lösungsstrategien und Begründungen
  • Mathematisches Verständnis: Lernende erklären, warum ein Verfahren funktioniert oder was dessen Ziele oder Merkmale sind
  • Beschäftigung mit kognitiv anspruchsvollen Inhalten: Aufgaben erfordern ein tieferes analytisches, beurteilendes oder kreatives Denken

 

Für Deutschland sind die Ergebnisse ernüchternd. Japan hingegen liegt bei der kognitiven Aktivierung auch im internationalen Vergleich an der Spitze.

  • In Deutschland wurden nur 12 Prozent der Klassen im Unterricht häufig mit herausfordernden Aufgaben konfrontiert. In Japan war es fast jede zweite Klasse (46 Prozent).
  • Knapp jede vierte Klasse in Deutschland (24 Prozent) wurde überhaupt nicht mit herausfordernden Aufgaben konfrontiert. In Japan war dies in nahezu keiner Klasse der Fall.
  • In Japan ging jede zweite Erklärung der Lehrkraft auf tiefere mathematische Inhalte ein (55 Prozent), in Deutschland nur knapp jede fünfte Erklärung (18 Prozent).

Da es sich bei der deutschen Stichprobe überwiegend um Gymnasien handelt, ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse für Deutschland sogar nach oben verzerrt sind.

Strukturiertes Problemlösen

Solche Befunde sind nicht neu. Bereits in den 90er-Jahren, als im Rahmen der TIMSS-Studie die erste internationale Videostudie zum Mathematikunterricht veröffentlicht wurde, zeichnete sich ein ähnliches Bild ab. Während in Japan in 42 Prozent der Mathestunden verschiedene Lösungswege der Schülerinnen und Schüler diskutiert wurden, waren es in Deutschland nur 14 Prozent.

Die Bildungsforscher James Stigler und James Hiebert analysierten damals die gefilmten Unterrichtsszenen. Dabei fiel ihnen ein typisches Muster für den kognitiv aktivierenden Unterricht in Japan auf: Zuerst fasst die Lehrkraft das Ergebnis der letzten Stunde zusammen. Dann stellt sie ein Problem vor, das die Grundlage der Stunde bildet. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten zunächst allein, dann in Kleingruppen an einer Lösung. Die verschiedenen Lösungen werden anschließend im Plenum vorgestellt und diskutiert. Dabei kommentiert und verknüpft die Lehrkraft die Ideen und fasst am Ende die wichtigsten Punkte zusammen. Stigler und Hiebert bezeichnen diesen Unterrichtsansatz als „strukturiertes Problemlösen“.

Kooperatives Lernen statt Individualisierung

Solche Ansätze sind auch knapp 30 Jahre nach der ersten Videostudie präsent, so beschreibt es ein Mathelehrer für die Oberstufe. „Natürlich haben die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Leistungsniveaus“, sagt er. „Aber ein und dieselbe Frage kann einen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad haben.“ In der Fachdidaktik nennt man solche Aufgaben selbstdifferenzierend. Und nicht jedes Kind müsse alle vorgestellten Lösungswege nachvollziehen können, so der Oberstufenlehrer.

Dieses Prinzip erkannten Stigler und Hiebert auch in den Unterrichtsvideos: Während im Westen die Lehrkräfte den leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern einfache Aufgaben stellten, würden die japanischen Lehrkräfte die Heterogenität in der Klasse als Ressource sehen. Denn gerade die Vielfalt an Lösungsansätzen, die man in einer heterogenen Klasse erhält, ermögliche es den Lernenden, diese zu vergleichen und Verbindungen zwischen ihnen herzustellen. Mit anderen Worten: Lehrkräfte in Japan begegneten der Heterogenität im Klassenzimmer mit kooperativem statt individualisiertem Lernen. 

Natürlich haben die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Leistungsniveaus, aber ein und dieselbe Frage kann einen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad haben.

Mathematiklehrer aus Japan

 

Drill und Problemlösen – wie passt das zusammen?

Wie passt das zu der landläufigen Meinung, Unterricht in Asien bestehe aus Drill und Auswendiglernen? Die Antwort des Mathelehrers: Das Problemlösen ist immer erst der zweite Schritt. Zuerst müssten die Grundlagen erklärt und eingeübt werden – und ja, das bedeute auch, dass die Schülerinnen und Schüler viele Formeln verinnerlicht haben müssen. Auch das konnten Stigler und Hiebert in den Videos von damals beobachten.

Aber diese Formeln seien wie Werkzeuge, sagt der Lehrer. Sie würden kombiniert, um neue Formeln abzuleiten und neue, anspruchsvolle Probleme zu lösen. Erst dann beginne die Mathematik. Das sei ein bisschen wie Vokabeln in einer Fremdsprache. Man muss sie auswendig können, aber dann auch richtig kombinieren.

Jeden Tag ein zehnminütiges Zeitfenster für einen “Rechen-Drill”

Auch ein solides Vorwissen ist wichtig. In der Grundschule gibt es jeden Tag ein zehnminütiges Zeitfenster für einen „Rechen-Drill“. Alle Klassen bekommen ein DIN-A3-Blatt mit 100 einfachen Rechenaufgaben – plus, minus, mal, geteilt. Die Lehrerin steht vorne und stoppt die Zeit, während die Kinder eifrig ihre Antworten aufschreiben. Nach fünf Minuten sind alle fertig, dann wird fünf Minuten lang im Chor korrigiert. Die Idee dahinter: Wenn diese Grundlagen automatisiert werden, schafft das im Gehirn Kapazität für komplexere Aufgaben.

Es fällt schwer, den japanischen Mathematikunterricht in eine Schublade zu stecken. Obwohl die Lehrkraft den Unterricht steuert, dominieren die Denkprozesse der Lernenden. Trotz geringer Individualisierung fordert der Unterricht die Schülerinnen und Schüler auf ihrem jeweiligen Niveau heraus. Formeln müssen zwar auswendig gelernt werden, aber mehr als in Deutschland steht die Kreativität im Vordergrund.

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Mehr Mathe und Deutsch an Bayerns Grundschulen https://condorcet.ch/2024/01/mehr-mathe-und-deutsch-an-bayerns-grundschulen/ https://condorcet.ch/2024/01/mehr-mathe-und-deutsch-an-bayerns-grundschulen/#comments Mon, 22 Jan 2024 09:54:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=15745

Als Reaktion auf die jüngsten Ergebnisse der PISA-Studie baut Bayerns Kultusministerin Anna Stolz den Stundenplan in der Grundschule um: Künftig soll es in Bayern pro Woche mehr Unterricht in Deutsch geben und teils auch in Mathe. Wir bringen einen Bericht des bayrischen Rundfunks.

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Eine Stunde mehr Deutschunterricht pro Woche für alle Jahrgangsstufen sowie eine Stunde mehr Mathematik in der ersten und in der vierten Klasse: Das hat Bayerns Kultusministerin Anna Stolz von den Freien Wählern angekündigt – als Reaktion auf das schlechte Abschneiden bei der jüngsten Pisa-Studie.

Julian Löwis, Journalist des bayrischen Rundfunks

“Lesen, Schreiben, Rechnen ist das Wichtigste, was unsere Schülerinnen und Schüler können müssen”, sagte Stolz zur Begründung. In den vergangenen Wochen habe sie viele Gespräche mit Mitgliedern der Schulfamilie und der Wissenschaft geführt und intensiv an einem Maßnahmenpaket gearbeitet.

Mehr individuelle Förderung – vor allem beim Lesen

Neben mehr Deutsch- und Matheunterricht sollen alle Kinder stärker individuell gefördert werden. Dafür will Stolz verbindliche Lesescreenings einführen, “um den Lehrkräften noch besser Aufschluss über Lesefähigkeiten zu geben und eine genauere Diagnose zu ermöglichen”. Laut Ministerium sind außerdem zielgerichtete Lehrerfortbildungen, Unterrichtsmaterialien und eine Stärkung der frühkindlichen Sprachförderung in dem Maßnahmenpaket vorgesehen.

“Innerhalb dieses festen Rahmens bekommen die Schulen aber auch zusätzliche pädagogische Freiräume”, sagte Kultusministerin Stolz. “Schließlich sind die Lehrkräfte die Profis vor Ort, die ihre Schülerinnen und Schüler am besten kennen.”

Wo gekürzt wird, ist noch nicht bekannt

Die Änderungen wirken sich auch auf die Wochenstundenzahl aus: Die erste Klasse bekommt eine Wochenstunde mehr, die vierte eine weniger. Damit gibt es künftig in den Jahrgangsstufen eins und zwei einheitlich 24 Stunden und in den Jahrgangsstufen drei und vier einheitlich 28 Stunden Unterricht pro Woche.

“Wir müssen den Mut haben, Prioritäten zu setzen und auch Neues zu wagen.”

Unterm Strich soll es aber nicht mehr Unterrichtsstunden an den Grundschulen geben – es soll also an anderer Stelle gekürzt werden. Wo genau, ist noch offen. Aus Sicht von Stolz sollten die Lehrpläne wieder auf das Wesentliche konzentriert werden: “Wir müssen den Mut haben, Prioritäten zu setzen und auch Neues zu wagen.”

Anna Stolz, Kultusministerin in Bayern: Deutsch und Mathematik gehören zu den wichtigsten Kompetenzen.

BLLV lobt flexiblen Rahmen – hat aber noch Fragen

Lob für die Pläne kommt vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV): “Jawoll! Genau so muss modernes Management von Schule aussehen”, schrieb Präsidentin Simone Fleischmann. Das Kultusministerium gebe damit einen Rahmen vor, in dem die Schulleitungen vor Ort flexibel agieren könnten.

Auf Nachfrage von BR24 bestätigte ein Ministeriumssprecher, dass das Kultusministerium den Schulen Spielraum lässt, wie sie den Stundenplan umbauen. Allerdings werde es eine Liste an Fächern geben, “die nicht angetastet werden dürfen”. Welche das sind, werde im Augenblick erarbeitet. Diese Herangehensweise erkenne an, “dass die Profis die Kolleginnen und Kollegen sind, die dann mit den entsprechenden Voraussetzungen in diesem gegebenen Rahmen handeln können”, lobte Fleischmann.

Es gebe aber durchaus noch Fragen zu klären. So brauche es zwar dringend einen Fokus auf die Kernkompetenzen, aber eben auch auf ganzheitliche Bildung, die so viel mehr sei als nur Deutsch und Mathematik. Außerdem fragt Fleischmann: “Wo sollen denn nun all die Grundschullehrkräfte herkommen, die all diese Aufgaben übernehmen?” Schließlich gebe es noch immer einen Lehrkräftemangel, der zu Unterrichtsausfällen an den Grundschulen führt und die Lehrerinnen und Lehrer enorm strapaziert.

Einführung zum kommenden Schuljahr

Der neue Stundenplan soll bereits zum kommenden Schuljahr 2024/2025 umgesetzt werden. In den nächsten Wochen soll sich laut Kultusministerium das bayerische Kabinett damit befassen und die Schulordnung entsprechend anpassen. Da Ministerpräsident Söder jüngst ähnliche Schritte gefordert hatte, kann davon ausgegangen werden, dass die CSU den Vorschlägen der Freien-Wähler-Ministerin Stolz nicht im Wege steht.Zum Zankapfel könnte werden, welche Unterrichtsfächer vom Kultusministerium als flexibel eingestuft werden. Dass zum Beispiel der Religionsunterricht angetastet würde, dürfte mit Ministerpräsident Söder nicht zu machen sein.

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Die Volksschule hat grosse Probleme, doch die Politik redet die Probleme schön. Woran liegt’s? https://condorcet.ch/2023/12/die-volksschule-hat-grosse-probleme-doch-die-politik-redet-die-probleme-schoen-woran-liegts/ https://condorcet.ch/2023/12/die-volksschule-hat-grosse-probleme-doch-die-politik-redet-die-probleme-schoen-woran-liegts/#respond Thu, 21 Dec 2023 15:17:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=15540

Die Pisa-Studie stellt der Schweiz ein schlechtes Zeugnis aus. Doch die Ergebnisse werden achselzuckend zur Kenntnis genommen. Das wundert auch den Wirtschaftsprofessor Tobias Straumann in der NZZ am Sonntag.

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Im April 1875 beschloss der Bundesrat, regelmässig pädagogische Rekrutenprüfungen durchzuführen. Die angehenden Wehrmänner sollten zeigen, was sie in der Volksschule gelernt hatten, das heisst, wie gut sie rechnen, lesen und schreiben konnten und was sie über die Geografie und die Geschichte des Landes wussten. Ziel war es, die bildungspolitische Konkurrenz unter den Kantonen anzufachen und auf diesem Weg das Bildungsniveau der jungen Männer zu heben. Diese Politik galt bis 1914, als der Erste Weltkrieg ausbrach.

Gastautor Tobias Straumann

Der Plan ging auf. Die Kantone begannen, sich miteinander zu vergleichen, und erhöhten ihre Bildungsausgaben, um möglichst weit oben in der Rangliste platziert zu sein. So hielt zum Beispiel die freisinnige Zeitung “Der Freie Glarner” im Januar 1885 triumphierend fest, dass der Aufstieg vom 22. auf den 7. Rang ganz klar der Einführung eines siebten Schuljahres zu verdanken sei. Andere Kantone optimierten die Vorbereitung auf die Rekrutenprüfungen durch die Einführung von Spezialkursen. So war plötzlich der traditionell bildungsschwache Kanton Obwalden besser als der Kanton Zürich, der sich auf seine Bildungsinstitutionen besonders viel einbildete, und sofort kam der Vorwurf, es handle sich hier nur um eine “Schnellbleiche”. Die NZZ, das Sprachrohr des Zürcher Bildungsbürgertums, nahm es jedoch sportlich: “Jedenfalls ist eine solche Schnellbleiche besser als gar nichts und hat immerhin das Verdienst, dass die jungen Leute das früher Gelernte und seither Vergessene wieder befestigen und angeregt werden, sich darin weiter zu üben.”

Die EDK ist ganz zufrieden

Wie wirkungsvoll sind demgegenüber die Pisa-Studien? Am Anfang war die Aufmerksamkeit gross, ja die erste Pisa-Studie von 2001 löste einen eigentlichen Schock aus, weil sie zeigte, dass die Lesekompetenz vieler 15-Jähriger mangelhaft war. Aber heute werden die Pisa-Studien von der Politik nur noch zur Kenntnis genommen, obwohl die neusten Ergebnisse wiederum gezeigt haben, dass ein Viertel der 15-jährigen Kinder nicht in der Lage ist, einen normalen Text richtig zu verstehen. Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) war jedenfalls ganz zufrieden: “Die durchschnittliche Leseleistung von 15-jährigen Jugendlichen in der Schweiz bleibt mit 483 Punkten gut. Das Ergebnis liegt über dem OECD-Durchschnitt von 476 Punkten und ist mit den Ergebnissen 2015 und 2018 vergleichbar.”

Wer in die Schweiz einwandert, kann nicht davon ausgehen, dass die Volksschule seinen Kindern die Sprache des Gastlandes richtig beibringt.

In ihrem Pressecommuniqué geht die EDK nicht einmal auf den Umstand ein, dass die Leseschwäche bei den Kindern mit Migrationshintergrund besonders ausgeprägt ist. Fast die Hälfte von ihnen ist davon betroffen. Wer also in die Schweiz einwandert, kann nicht davon ausgehen, dass die Volksschule seinen Kindern die Sprache des Gastlandes richtig beibringt. Die Schweiz ist seit langem ein Einwanderungsland und hat weltweit die höchsten Bildungsausgaben pro Kopf, doch offenbar ist unser Schulsystem nicht in der Lage, den Sprachunterricht entsprechend neu auszurichten. Das Nachsehen haben Immigrantenkinder aus bildungsfernen und einkommensschwachen Familien. Allein dieses Versagen sollte doch eine grosse Diskussion über die Rolle der Schule auslösen. Stattdessen herrscht betretenes Schweigen.

Gewöhnungseffekt und private Optimierung

Warum haben die Pisa-Studien ihre Wirkung verloren? Mit Sicherheit ist ein Gewöhnungseffekt eingetreten. Seit mehr als zwanzig Jahren sind die Ergebnisse mehr oder weniger dieselben geblieben, aber die Schweiz ist deswegen noch nicht untergegangen. Vergleicht man jedoch die heutige Gleichgültigkeit mit der lebendigen Diskussion zur Zeit der Rekrutenprüfungen, zeigt sich, dass vor allem die Aushebelung des Föderalismus zu einem grossen Problem geworden ist. Damals stellten sich die Erziehungsdirektionen der einzelnen Kantone mit Freude dem Wettbewerb. Heute dominiert die EDK, die sich der interkantonalen Harmonisierung verschrieben hat.

Die Folgen sind unerfreulich. Weil die bildungspolitische Diskussion nicht in Fahrt kommt, wird zu wenig gegen die Defizite der Volksschule unternommen; und weil sowohl die Lehrpersonen wie die gut situierten Eltern gemerkt haben, dass die Politik und die Verwaltung die Probleme schön reden, wird privat optimiert. Rette sich, wer kann! Die Lehrpersonen hoffen, dass sie in einer Schule unterrichten können, wo die Arbeitsbedingungen einigermassen erträglich sind, oder kündigen nach einigen Jahren, wenn es ihnen zu bunt wird. Und die gut situierten Eltern ziehen in die besseren Quartiere und Gemeinden, sobald ihre Kinder schulpflichtig sind, und wenn auch das nicht hilft, schicken sie ihren Nachwuchs in die Privatschule. Es ist dieselbe Dynamik, die in den USA zum traurigen Niedergang der einst hervorragenden Volksschulen geführt hat. Wollen wir in der Schweiz wirklich dieselben Fehler machen?

 

Tobias Straumann ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich.

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Die Pisa-Hysterie muss aufhören https://condorcet.ch/2023/12/die-pisa-hysterie-muss-aufhoeren/ https://condorcet.ch/2023/12/die-pisa-hysterie-muss-aufhoeren/#comments Sun, 17 Dec 2023 20:20:44 +0000 https://condorcet.ch/?p=15510

Die Pisa-Studie sorgt wieder einmal für Aufregung: Ein Viertel der Schweizer Jugendlichen kann laut Pisa einen Text nicht lesen und verstehen – und das, obwohl die Schweiz sehr viel für Bildung ausgibt. In Deutschland herrscht Heulen und Zähneklappern ob der noch viel schlechteren Ergebnisse. Zu Recht? Margrit Osterloh mahnt im Nebelspalter zur Gelassenheit.

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Zunächst einmal sollte man die Pisa-Studie ihrerseits einer kritischen Evaluation unterwerfen: Erfassen die Testbatterien wirklich die Bildungsleistung im Sinne der Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Leistung für die Gestaltung des eigenen Lebens und der gesellschaftlichen Zukunft eines Landes? Kann man Bildung auf die Bereiche Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften beschränken? Ist es sinnvoll, auch im Bildungsbereich den “Kult des Allesmessens” zu zelebrieren nach dem Motto “Wir wissen es nicht, aber wir können es messen”?

Gastautorin Margrit Osterloh

Die daraus resultierenden Ranglisten haben grossen Unterhaltungswert, gleichgültig, ob es sich um Fussball-Leagues, die Zufriedenheit mit Ärzten oder Rankings von Universitäten handelt. Der metrischen Erfassung aller Aspekte des menschlichen Lebens. können sich auch diejenigen nicht entziehen, die diese Entwicklung kritisch sehen, zum Beispiel viele erfahrene Pädagogen. Wie soll sich ein Schulsystem neuen Anforderungen wie der Integration des steigenden Anteils an Schülern mit Migrationshintergrund anpassen, wenn es permanent von neuen Test- und Ranking-Wellen überrollt wird?

Eine neue Studie zur Glücksforschung weist einen weiteren, überraschenden Aspekt auf: Längst ist bekannt, dass Glück bzw. Lebenszufriedenheit mit dem Einkommen wächst: Je wohlhabender ein Land ist, desto glücklicher sind im Allgemeinen die Bürger. Nun zeigt sich aber, dass dies nicht für die Jugendlichen in Ländern mit mittlerem und hohem Wohlstand gilt: Je reicher diese Länder sind, desto geringer ist die Lebenszufriedenheit der Jungen [1]. Was ist der Grund? Viele unserer 15 -jährigen stehen unter einem ständigen Druck zu schulischen Höchstleistungen, verstärkt noch vom Druck auf die Lehrer und Lehrerinnen, im Pisa-Wettbewerb gut abzuschneiden.

Der schulische Stress beeinträchtigt das spätere Leben

In vielen OECD-Ländern sitzt ein hoher Anteil der Schüler und Schülerinnen länger in der Schule und an den Hausaufgaben als die Erwachsenen im Büro. In England bringen 11 Prozent der 15-Jährigen 60 Stunden pro Woche mit Lernen zu, in Spanien 16,5 Prozent und in Südkorea gar 23 Prozent. Der schulische Stress beeinträchtigt nicht nur ihre Lebenszufriedenheit, sondern – auch das zeigt die Glücksforschung – ihr späteres Leben. Längsschnittstudien weisen darauf hin, dass die Lebenszufriedenheit während der Adoleszenz mit der mentalen Gesundheit, dem Einkommen und  der Vermeidung von Arbeitslosigkeit  im Erwachsenenleben korreliert. Dieser Effekt ist für Mädchen deutlich höher als für Buben, weil Mädchen auf Wettbewerb im Durchschnitt negativer reagieren. Insgesamt weist dieser Effekt auf erhebliche “mentale Kosten” unseres Wohlstandes hin, der in eine ökonomische Analyse der Bildung einbezogen werden sollte.

Nicht für jede erfolgreiche berufliche Ausbildung sind Höchstleistungen im Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften wichtig, sondern Disziplin, Ausdauer, Verlässlichkeit, Umsicht und kollegiales Verhalten.

Was tun? Die schulischen Anforderungen generell verringern, um den Schulstress abzubauen? Damit werden wir kaum den steigenden Anforderungen der Wissensgesellschaft und der internationalen Konkurrenz gerecht. Die “mentalen Kosten” der Wissensexplosion lassen sich aber reduzieren, wenn man den unbarmherzigen Wettbewerb im Bildungssystem und gleichzeitig um Pisa-Punkte reduziert. Das gelingt dadurch, dass man Kooperation der Schülerinnen und Schüler durch Teamarbeit im Klassenzimmer fördert. Die Lebenszufriedenheit der Jugendlichen hängt stark von ihrem Status innerhalb der Bezugsgruppe und von der Beziehung zur Lehrperson ab.

Gefangen in der Pisa-Zwangsjacke

Eine weitere wichtige Massnahme wäre, den Schulstress dadurch abzubauen, indem man das duale Bildungssystem aufwertet und damit die “Akademisierungsfalle” (Rudolf Strahm) reduziert. Nicht für jede erfolgreiche berufliche Ausbildung sind Höchstleistungen im Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften wichtig, sondern Disziplin, Ausdauer, Verlässlichkeit, Umsicht und kollegiales Verhalten – alles Lernziele, die in den Pisa-Kriterien nicht berücksichtigt werden und die sich der metrischen Messbarkeit entziehen. Gute Pädagogen wissen das längst, befinden sich aber in der Pisa-Zwangsjacke.

Eine Neujustierung der Bildungspolitik wäre deshalb gut beraten, die Pisa-Hysterie gelassen vorbeiziehen zu lassen.

 

[1] Robert Rudolf & Dirk Bethmann (2023). The Paradox of Wealthy Nations´Low Adolescent Life Satisfaction. Journal of Happiness Studies 24: 79-105.

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Zwanzig Jahre Kompetenzorientierung und kein bisschen weise. https://condorcet.ch/2023/12/zwanzig-jahre-kompetenzorientierung-und-kein-bisschen-weise/ https://condorcet.ch/2023/12/zwanzig-jahre-kompetenzorientierung-und-kein-bisschen-weise/#respond Sun, 10 Dec 2023 10:49:26 +0000 https://condorcet.ch/?p=15465

Universitätsprofessor der Biologie Hanspeter Klein wies schon früh auf die Wirkungsweise der kompetenzorientierten Unterrichts hin und sieht sich in den neusten PISA-Resultaten bestätigt.

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PISA 2022: Die zentralen Ergebnisse

Wie seit 2000 alle drei Jahre wurde am 07.12.2023 die PISA-Studie 2022 mit einem Jahr Verspätung aufgrund der Corona-Ereignisse der deutschen Öffentlichkeit in Berlin vorgestellt. Allen am Bildungsgeschehen in den Kitas und Schulen unmittelbar Beteiligten war eigentlich klar, dass dabei für Deutschland nichts Gutes zu erwarten sei. Die letzte IGLU-Studie und der IQB-Trend deuteten die Richtung bereits an (vgl. hierzu den Condorcet Blog Beitrag vom 07.01.2023). Dass es jetzt so schlimm kommen würde, hatten sich vor allem die Politiker nicht erhofft. Im Bundesministerium in Berlin überließ die Bildungsministerin gar ihrem Staatssekretär die knappe Kommentierung der äußerst bedenklichen Ergebnisse. In allen drei getesteten Bereichen der Lesekompetenz, der Mathematik und der Naturwissenschaften sind in allen fünf Kompetenzbereichen signifikante Leistungsrückgänge zu verzeichnen, die deutlich unter dem Mittelwert der OECD liegen (1, 2). So schlecht hatte Deutschland noch nie in den PISA-Studien abgeschnitten. Bei aller möglicher Kritik an den PISA-Studien, auf die im Folgenden beispielhaft näher eingegangen wird, lässt sich nicht leugnen, dass die erzielten  Ergebnisse zumindest reale Tendenzen im deutschen Bildungswesen abbilden. Das hätte man allerdings auch billiger haben können, indem man nämlich auf die eigentlichen Fachleute – die Lehrerinnen und Lehrer aller Schulformen – gehört hätte. Die hatten nämlich seit Langem von einem Leistungsabfall generell und insbesondere in Brennpunktschulen aller deutschen Großstädte mit hohen Anteilen bildungsferner Milieus eindringlich gewarnt.

 

Kritik am bildungsökonomischen Gesamtkonzept von PISA

Als ersten Kritikpunkt kann man sicherlich vorbringen, dass seit 2000 eine wahre Flut  von Testverfahren über die Schulen hereingebrochen ist. Ein kontinuierliches Bildungsmonitoring sei aber die Grundlage für Verbesserungen, so das Mantra der empirischen Bildungsforschung. Nach 20 Jahren lassen diese aber nach wie vor auf sich warten. Schlimmer noch, ein deutlicher Rückgang der schulischen Leistungen ist nicht nur in den Studien festzustellen. Vom vielen Wiegen wird also die Sau nicht fetter!

Professor Hanspeter Klein, Uni Frankfurt, Autor: Es werden zumindest reale Tendenzen abgebildet.

Ganz im Gegenteil wurde mit den PISA-Studien ein kompetenzorientiertes „Bildungskonzept“ durchgesetzt, welches in Abkehr vom Humboldt´schen Allgemeinbildungsgedanken nicht mehr auf die Bereiche Bildung und Wissen ausgerichtet ist, sondern entsprechend der Weinert´schen Kompetenzdefinition den Schwerpunkt auf die Anwendungsorientierung und die Problemlösung legt. Eberhard von Kuenheim, der ehemalige Vorstandsvorsitzende von BMW, hat bereits 2011 in einem viel beachteten Beitrag in der FAZ „Wider die Ökonomisierung der Bildung“ ausgeführt, dass ein enger Utilitarismus gerade in Bildungsfragen von geringem Nutzen sei. Er spricht darin vom Wahn der Kennzahlen: „Eine der Wurzeln in der Ökonomisierung aller Lebensbereiche liegt in dem Meßbarkeitswahn, der sich allgemein und auf breiter Ebene durchgesetzt hat und auch unser Bildungssystem beherrscht. […] Der Wahn, alles und jedes in Kennzahlen pressen zu wollen, verkennt die Wirklichkeit und kann trügerische Sicherheit verleihen mit der Folge gravierender Fehlentwicklungen.“ (3) Und die sind nunmehr folgenschwer eingetreten.

Grundsätzliche Kritik an der Vermessung von Bildung hat der Kollege Meyerhöfer ebenfalls in einem FAZ Beitrag „Empirische Gewissheit gibt es nicht“ vorgestellt. Den Geist der Kinder auf einer Skala abbilden zu wollen und dann noch mit Ziffern zu belegen und daraus internationale Rankingtabellen zu erstellen, in denen nicht einmal bekannt sei, was sich beispielsweise hinter der Zahl 497 oder 513 genau verbirgt, sei mehr als gewagt und einer tatsächlichen Bildung abträglich. (4) Jeder Fußballfan kann in der Bundesligatabelle den Tabellenlatz laut erreichter Punktzahl einsehen. Er kann aber anhand der weiteren Kennziffern – gespielte Spiele,

Internationale Rankingtabellen zu erstellen, in denen nicht einmal bekannt sei, was sich beispielsweise hinter der Zahl 497 oder 513 ist mehr als gewagt.

Tordifferenz, Siege, Unentschieden, Niederlagen – genau nachvollziehen, wie der Tabellenplatz zustande gekommen ist. Und genau das ist bei den Rankings der PISA Studien nicht möglich, außer den Pisianern selbst. Natürlich kann man mit Rankings vor allem die Bildungspolitiker bluffen, denen es ja letztlich nur darauf ankommt, einen besseren Platz im Ranking zu belegen. Und wie Meyerhöfer weiter ausführt, kann man die Skalen strecken, sodass in Wahrheit geringe Unterschiede groß erscheinen. Das macht Eindruck und spült mehr Geld in die Kassen der Tester.

Der Einfluß von Corona und der unkontrollierten Migration

Kritiker mögen nun anführen, dass die diagnostizierten Leistungseinbußen auch andere Ursachen haben. Dem ist nur einschränkend zuzustimmen. Sicherlich hat die unsinnige Corona-Politik in Deutschland mit wochenlangen Schulschließungen und mehr oder weniger digitalem Fernunterricht einen Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet. Allerdings dürfte dieser Effekt deutlich kleiner ausfallen als vernutet. Daraus würde ja folgen, dass bei weltweiter Pandemie die PISA Ergebnisse aller Staaten – je nach Durchführung der Corona-Maßnahmen – mehr oder weniger rückläufig sein müssten, was sie aber bei genauerer Betrachtung von PISA 2022 nicht sind.

Ein weiterer wesentlicher Grund für den Absturz sei die gerade in Deutschland zu beobachtende unkontrollierte Einwanderung vornehmlich aus bildungsfernen Schichten. Zumindest für das bereits rückläufige Ergebnis in 2015 trifft diese Interpretation nicht zu. Zum Zeitpunkt der Erhebung der Studie gab es noch keine Migrationskrise. Der regelrechte Absturz in den PISA Ergebnissen von 2018 und 2022 lässt diese Vermutung allerdings als einen der wesentlichen Gründe für diese Entwicklung erkennen. Eine derart hohe Migrantenquote, wie sie in PISA 2022 für Deutschland ausgewiesen ist, hat es bisher in Deutschland noch nicht gegeben. In der Folge sind die stark rückläufigen Leistungen in allen getesteten Kompetenzbereichen auch ein guter Beleg dafür, dass bei der extremen Heterogenität in den Klassen eine Förderung aller entsprechend ihrem Leistungsstand unmöglich ist. Vor allem die Grundschulen werden seit geraumer Zeit mit Kindern geflutet, die nur lückenhaft oder gar nicht der deutschen Sprache mächtig sind und die eine neue Superdiversität in den Klassen zur Folge haben, die pädagogisch kaum noch erfolgreich zu handhaben ist. Diese Entwicklung wurde in der PISA-Studie 2022 aber noch gar nicht erfasst, da hier nur 15-Jährige getestet werden. Weiteres Unheil ist also vorprogrammiert.

Sozioökonomische Disparitäten

Die gerade für Deutschland laut OECD gebetsmühlenartig vorgeworfene Größenordnung sozial-ökonomisch-kultureller Disparitäten ist aufgrund des zur Verfügung gestellten Datenmaterials im Vergleich zu anderen Ländern allerdings so nicht nachzuvollziehen. Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Daher wird diesem wesentlichen Bereich der sozioökonomischen Disparitäten und ihrer Bedeutung für den Bildungserfolg ein eigner Beitrag gewidmet werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass aus testökonomischen Gründen rund 70% der Fragen Multiple-Choice-Fragen sind. Stehen 4 Antwortmöglichkeiten zur Verfügung, kreuzt man ohne jedes Wissen mit 25%iger Wahrscheinlichkeit die richtige Antwort an, bei nur 2 Ankreuzungsmöglichkeiten steigt die Chance der richtigen Antwort auf 50%.

Kompetenzorientierung auf Abwegen

Kommen wir nun zurück zum kompetenzorientierten PISA Konzept. Es ist mehr als offensichtlich, dass PISA keine curriculare Validität besitzt. Kann es auch gar nicht, da sich die einzelnen Lehrpläne in den unterschiedlichen Ländern wegen ihrer unterschiedlichen kulturellen Einbindung und Bildungsvorstellung signifikant voneinander unterscheiden. Entsprechend wurde bereits 2000 von der OECD ein rudimentäres lesekompetenzorientiertes Bildungskonzept vorgestellt, indem die Sachinformationen vorgegeben und durch Lesekompetenz die Antworten zu finden sind, die in den Texten vorgegeben werden. Es ist letztlich ähnlich dem vor allem in Deutschland in den 90er Jahren praktiziertem Konzept des Klipert´schen Lernens, von dem heute niemand mehr redet. Erschwerend kommt hinzu, dass aus testökonomischen Gründen rund 70% der Fragen Multiple-Choice-Fragen sind. Stehen 4 Antwortmöglichkeiten zur Verfügung, kreuzt man ohne jedes Wissen mit 25%iger Wahrscheinlichkeit die richtige Antwort an, bei nur 2 Ankreuzungsmöglichkeiten steigt die Chance der richtigen Antwort auf 50%. Wer dann noch im „Teaching to the test“-Verfahren auf solche Aufgaben dressiert wird und das Ausschlussprinzip beim Ratespiel „Wer wird Millionär“ anwendet, kann eigentlich an solchen Tests nicht scheitern. Mit Bildung und Wissen, wie von den Testkonstrukteuren behauptet wird, hat dies rein gar nichts zu tun. Die geringfügigen Verbesserungen der Schüler aus Deutschland in den ersten 10 Jahren mögen genau darauf zurückzuführen sein.

Mittlerweile hat die empirische Bildungsforschung aber ein Beratungsmonopol im regierenden Berlin aufgebaut und man flüstert den Politikern ins Ohr, dass trotz IGLU, dem IOB-Trend, der Vera-Studie u.a. alles Geld ins Testen gesteckt werden müsse, um erfolgreich gegenzusteuern zu können.

Nun wäre es ja nicht schlimm, wenn alle drei Jahre ein solcher Test durchgeführt würde. Mittlerweile hat die empirische Bildungsforschung aber ein Beratungsmonopol im regierenden Berlin aufgebaut und man flüstert den Politikern ins Ohr, dass trotz IGLU, dem IOB-Trend, der Vera-Studie u.a. alles Geld ins Testen gesteckt werden müsse, um erfolgreich gegenzusteuern zu können. Nach nunmehr mehr als 20 Jahren PISA&Co und dem völligen Versagen der eingeführten Konzepte wäre es nun allerdings an der Zeit, das Beratungsmonopol der Bildungsquadriga aus IPN, IQB, TUM und des DIPF zumindest einmal in Frage zu stellen. Als gäbe es keine bessere Bildungsberatung.

Selbst in den MINT-Fächern werden seitenlange Texte vorgegeben, die alle wesentlichen Informationen enthalten. Es gilt, die richtigen Stellen zu finden, um die anschließenden Fragen entsprechend dem Erwartungshorizont beantworten zu können und relativ einfache Grafiken zu beschreiben.

Zweifelhafte Kompetenzorientierung im deutschen Schulwesen

Es kommt aber noch viel schlimmer. Genau dieses kompetenzorientierte PISA-Konzept wurde durch die empirische Bildungsforschung in der Klieme Expertise von 2003 als eine Art Paradigmenwechsel dem deutschen Bildungswesen zwanghaft verordnet. Kompetenzorientierte Bildungsstandards sollten die gewünschten Erfolge garantieren. Auch die Abituraufgaben gleichen seitdem PISA-Aufgaben, in allerdings größerem Umfang. Selbst in den MINT-Fächern werden seitenlange Texte vorgegeben, die alle wesentlichen Informationen enthalten. Es gilt, die richtigen Stellen zu finden, um die anschließenden Fragen entsprechend dem Erwartungshorizont beantworten zu können und relativ einfache Grafiken zu beschreiben. Ein grundlegendes Fachwissen ist dafür nicht notwendig, eher hinderlich, da der Schüler etwas Gelerntes einbauen will, nachdem aber nicht gefragt ist.

2010 sorgte unsere Nagelprobe mit einer 9. Klasse für bundesweites Aufsehen. Schüler der 9. Klasse konnten ohne größere Probleme eine Leistungskursklausur mit dem schönen Inhalt der Streifenhörnchen teils sogar mit befriedigenden und guten Noten lösen. Nur 4 erreichten nicht die notwendige Punktzahl für ein ausreichend. Warum war und ist das auch heute noch möglich? Weil entsprechend dem Erwartungshorizont fast alle Lösungen im ausführlichen Text vorhanden waren. Lesekompetenz ist also für das erfolgreiche Abschneiden ausreichend.

An der fachlichen Korrektheit des Textes zweifelnd habe ich die Aufgabe einem Fachkollegen des Alfred Wegener Institut auf Sylt zur Begutachtung vorgelegt, der Experte für pazifische Austern ist. Sein Urteil war vernichtend.

Wie problematisch derartige Aufgabenformate sind, zeigt auch ein Abituraufgabenbeispiel aus Hamburg von 2014. Analog zu den Streifenhörnchen ging es hier um das Thema Miesmuscheln und Pazifische Auster im Wattenmeer (komplette Aufgabenstellung und Arbeitsmaterial exklusiv für diesen Blog (siehe https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2023/12/Pazifische-Auster-Aufgabe.pdf ). Auch hier wird der Schüler zuerst mittels eines langen Textes in die Biologie der Miesmuschel und der eingewanderten Pazifischen Auster eingeführt, inklusive Fotos. Auch hier ist ein fachliches Vorwissen eher hinderlich. Ziel der Aufgabenstellung ist es, die Bedrohung der Miesmuschel durch die eingewanderte Pazifische Auster aus dem asiatischen Raum zu erkennen und Vorschläge zu deren Bekämpfung inklusive Bewertung der Maßnahmen aufzustellen. An der fachlichen Korrektheit des Textes zweifelnd habe ich die Aufgabe einem Fachkollegen des Alfred Wegener Institut auf Sylt zur Begutachtung vorgelegt, der Experte für pazifische Austern ist.

„Herr Klein, Sie haben das mit der Kompetenzorientierung immer noch nicht verstanden. Uns geht es nicht um Fachwissen, sondern um den Umgang mit Wissen.“

Sein Urteil war vernichtend. Nicht einmal die Fakten in dem

Außer im Helgoländer Felswatt verzehren an deutschen Küsten keine Schnecken Miesmuscheln.

Aufgabentext stimmten: Von einer stabilen Wildpopulation kann keine Rede sein. Außer im Helgoländer Felswatt verzehren an deutschen Küsten keine Schnecken Miesmuscheln. Die Schnecke Austerndrill gibt es nicht, es ist eine Sammelbezeichnung für aus dem asiatischen Raum eingewanderte Schnecken. Diese Schnecken sind allesamt nicht auf Austern spezialisiert, sie kämen für eine biologische Bekämpfung gar nicht in Frage. Selbst die Kernaussagen sind falsch: Die pazifische Auster wird überhaupt nicht bekämpft und die Pazifische Auster ist überhaupt nicht für den Rückgang der Miesmuschel verantwortlich, wie die Grafik vorgaukelt, die dem Text beigefügt ist. Auch haben sich die Bestände der Miesmuscheln längst erholt. Um Aussagen zur Stabilität von Populationen zu machen, sind wesentlich längere Zeiträume vonnöten, als in der Grafik dargestellt. Anscheinend ist in den Ministerien die Fachkompetenz verloren gegangen.

Als ich in einem Interview diese Aufgabe beispielhaft in der SZ erwähnte, rief mich ein Ministeriumsmitarbeiter an und sagte ungefähr: „Herr Klein, Sie haben das mit der Kompetenzorientierung immer noch nicht verstanden. Uns geht es nicht um Fachwissen, sondern um den Umgang mit Wissen.“ Es ist also völlig egal, ob die Miesmuschel durch die Pazifische Auster verdrängt worden ist oder ob sie bekämpft wird oder nicht. Korrektes Fachwissen spielt bei kompetenzorientierten Aufgaben keine Rolle mehr. Entsprechend heißt der Kompetenzbereich in fast allen Bundesländern auch „Umgang mit Fachwissen“. Das wiederum ist nun hoch problematisch und bedeutet nichts anderes als: Abiturienten der Zukunft brauchen selbst nichts mehr zu wissen, sondern sollen mit dem Wissen anderer arbeiten können, also eine Art betreutes Denken entwickeln. Bürger mit gefühltem Wissen scheinen mit Worten anscheinend leichter manipulierbar zu sein. Und das in Zeiten von KI und Fake News.

Der Mathematikunterricht ist von diesen Fehlentwicklungen besonders betroffen. Eine Analyse des Kollegen Lemmermeyer, seines Zeichen Professor für Mathematik und Gymnasiallehrer an einer Schule in Baden-Württemberg, zeigt in der Fachzeitschrift „Mitteilungen der Deutschen Mathematiker Vereinigung“, welche Ausmaße die Fehlentwicklungen bereits genommen haben. In einer Analyse ausgewählter Modellierungsaufgaben des Wahlteils Geometrie und Analysis aus dem Mathematikabitur von 2016 stellt er fest, dass selbst für die Lösung der Analysis-Aufgaben Lesefertigkeit und die Beherrschung des grafikfähigen Taschenrechners ausreichen. Rechenfertigkeiten seien dabei nicht notwendig. Trotzdem lägen die großen Schwierigkeiten in der Entkleidung des Aufgabentextes. Er stellt zum Schluss die Frage: Kompetenz oder Mathematik? Seit Fazit: „Unser Bildungssystem befindet sich im freien Fall. Um diesen etwas zu bremsen, müssen die Modellierungsaufgaben schnellstmöglich entsorgt werden. Die Ausbildung der künftigen Lehrer muss wieder in die Hände von Lehrpersonen gelegt werden, die ihr Fach verstehen und sich dafür begeistern können, und darf nicht den Bildungsforschern, Erziehungswissenschaftlern und Didaktikern überantwortet werden, die bis auf wenige Ausnahmen seit Jahrzehnten an der Abschaffung der Inhalte des Mathematikunterrichts arbeiten.“ (5)

Die Folgen des Kompetenzdesasters

Die Folgen dieser Fehlentwicklungen im kompetenzorientierten Schulunterricht sind ebenfalls verheerend. Das zeigen die von den Landesregierungen finanzierten Nachhilfekurse für Studienanfänger vor allem in den MINT-Fächern, in denen teils unterer Mittelstufenstoff in Schnellkursen wiederholt werden muss, um die hohen Durchfall- und Abbrecherquoten in einem halbwegs erträglichen Maß zu halten. Derartige kompetenzorientierte Aufgabenformate sind in allen Fachbereichen der Hochschulen völlig unbekannt. Ganz im Gegenteil findet hier vor allem in den grundlegenden Bachelor-Studiengängen nicht nur der MINT-Fächer ein Pauken harter Fakten statt, die in den Modulabschlussprüfungen kompromisslos abgefragt werden. Die Schulmathematik oder auch Schulbiologie vor allem in der Sekundarstufe II hat mit der Mathematik und Biologie, wie sie an den Universitäten   betrieben wird, rein gar nichts zu tun. Fatal dabei ist, dass auch die Hochschulen mit in den Abwärtssog nachlassender Leistungsfähigkeit bei gleichzeitig mehr oder weniger verordnetem Notendumping hineingezogen werden, sieht man einmal Jura ab. Der Mathematiker Bernhard Krötz berichtete u.a. auch im Condorcet-Blog vom 04.12.2023, dass so gut wie kein deutscher Abiturient das Joint-Entrance-Exam in Indien – die Aufnahmeprüfung für ein Studium an einer Hochschule – bestehen würde und dass ein heutiger Mathematiklehrer für Realschulen an den  Abschlussprüfungen der Realschulen im Fach Mathematik aus dem Jahre 1971 aus Baden-Württemberg kläglich scheitern würden. Die Nivellierung insbesondere der fachlichen Ansprüche auch in der Lehrerausbildung geht unvermindert weiter.

Diese Form von kompetenzorientierten Modellierungsaufgaben ist geradezu toxisch für die Schulmathematik und das gesamte Bildungswesen.

Diese Form von kompetenzorientierten Modellierungsaufgaben ist geradezu toxisch für die Schulmathematik und das gesamte Bildungswesen. Sie benachteiligt zudem Migrantenkinder mit Lücken in der deutschen Sprache in besonderem Maße, da selbst in den PISA-Studien die Ergebnisse in Lesekompetenz mit denen in Mathematik korrelieren. Es ist an der Zeit, Defizite nicht nur festzustellen, sondern sie auch zu benennen und zu beheben, um überhaupt dem negativen Trend halbwegs gegensteuern zu können. Derzeit ist die Wirtschaft von dieser negativen Entwicklung massiv betroffen, da immer mehr Schulabgänger entweder überhaupt keinen Schulabschluss haben oder kaum ausbildungsfähig sind. Bleibt nur die Hoffnung auf das Bürgergeld. Dass dies aber von anderen erwirtschaftet werden muss, scheint nicht einmal mehr in der derzeitigen Regierung präsent zu sein.

 

Quellen

  • Lewalter, D., Diedrich, J., Goldhammer F., Köller, O., REISS, K. (Hrsg) (2023) PISA 2022. Analyse der Bildungsergebnisse in Deutschland. Waxmann, Münster, New York
  • OECD (2023) PISA 2022 Results: Factsheets. Germany. https://www.oecd.org/publication/pisa-2022-results/country-notes/germany-1a2cf137/
  • von Kuenheim, E. (2011) Wider die Ökonomisierung der Bildung. FAZ v. 13.04.2011
  • Meyerhöfer, W. (2013) Empirische Gewissheit gibt es nicht. FAZ v. 27.09.2013
  • Lemmermeyer, F. (2016) Abituraufgaben und Kompetenz. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 24, 170-173

 

 

 

 

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In der Schule sind Ideologen am Werk https://condorcet.ch/2023/12/in-der-schule-sind-ideologen-am-werk/ https://condorcet.ch/2023/12/in-der-schule-sind-ideologen-am-werk/#comments Mon, 04 Dec 2023 15:03:32 +0000 https://condorcet.ch/?p=15416

Der Paderborner Mathematikprofessor Bernhard Krötz vergleicht in seinem Youtube-Kanal den Schulunterricht in Indien mit dem in Nordrhein-Westfalen. Das Ergebnis seines Vergleichs fällt verheerend aus. Stefan Laurin porträtiert in der Welt unseren Condorcet-Autoren, dessen entsprechendes Video wir bereits am 11. März 2023 aufgeschaltet haben (https://condorcet.ch/2023/03/nrw-mathematikprofessor-zerlegt-den-kernlehrplan/).

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Bernhard Krötz schaut in die Kamera, hebt beide Arme hoch und begrüßt seine Zuschauer: „Herzlich willkommen zu einem neuen Beitrag!“ Im Hintergrund ist ein Bücherregal zu sehen. Krötz ist Mathematikprofessor an der Universität Paderborn. Seit fast drei Jahren veröffentlicht er auf seinem Youtube-Kanal Videos. Anfangs waren es mathematische Übungen.

Stefan Laurin, Blogger und Journalist: Mathematik ist die Basis, um gute Ingenieure, Physiker oder Chemiker ausbilden zu können.

2020, im Lockdown, waren die Hochschulen geschlossen. Die Studenten blieben zu Hause und wie viele andere seiner Kollegen wich auch Krötz bei der Lehre auf das Internet aus. Seit einem Jahr nutzt der Mathematiker seinen Kanal, um Beiträge über Mathematik und Bildungspolitik zu veröffentlichen. Ende Februar geht der gebürtige Bayer mit dem Video „Schulmathematik: Vergleich Indien-NRW“ online. Der Vergleich fällt verheerend aus.

Der Professor beginnt in seinem Video damit, dass er den Joint Entrance Examination (JEE) vorstellt, einen Test, den junge Inder absolvieren müssen, um an einer der Ingenieurhochschulen des Landes aufgenommen zu werden. Der Test besteht aus einer Hauptprüfung, an der im vergangenen Jahr 1,5 Millionen Jugendliche in Indien teilgenommen haben. Die besten 400.000 von ihnen wurden dann zum zweiten Teil zugelassen. Taschenrechner sind während der Prüfung verboten.

Es geht in diesem Test vor allem um Mathematik – auch bei den Physik- und Chemiefragen. Nur 10.000 Teilnehmer lösen über 50 Prozent der Aufgaben korrekt, ihnen ist danach ein Platz an den Elitehochschulen des Landes sicher. Aber kein Teilnehmer löst weniger als 15 Prozent Aufgaben. Krötz geht den Test durch. Der Mathematiker kann sich für viele der Fragen begeistern, findet sie gut und klug gestellt. Sein Fazit: In Deutschland würde so gut wie niemand den Test bestehen, sagt er.

„Es ist nahezu ausgeschlossen, dass ein neu ausgebildeter Realschullehrer diese Prüfungen von 1971 heute bestehen würde.“

Mathematikprüfungen in Indien. In Deutschland würde so gut wie niemand den Test bestehen.

Das liege vor allem daran, was und wie in Deutschland Kinder und Jugendliche in Mathematik in der Schule lernen. Er zeigt in dem Video den neuen, noch nicht veröffentlichten Kernlehrplan Mathematik für die Sekundarstufe II in NRW. Nach dem Willen der Politik wird dieser Lehrplan bald vorgeben, was in der Schule unterrichtet wird. Die mathematischen Ziele sind nach Meinung von Krötz nicht anspruchsvoll genug. Außerdem gehe es in diesem Lehrplan nicht nur darum, den Kindern Mathematik beizubringen. Auch sogenannte geschlechtersensible und interkulturelle Bildung seien nun Themen im Matheunterricht.

Am Ende des Videos zeigt Krötz die Matheaufgaben einer Realschulabschlussprüfung, die 1971 in Baden-Württemberg gestellt wurden. Nachdem der Professor diese verglichen hat mit den Prüfungen für heutige Realschullehrer, ist er sich sicher: „Es ist nahezu ausgeschlossen, dass ein neu ausgebildeter Realschullehrer diese Prüfungen von 1971 heute bestehen würde.“

Krötz‘ Videos haben normalerweise zwischen 300 und 700 Zuschauer. Jetzt ist es anders: „Das Video wurde innerhalb von gut zehn Tagen über 30.000-mal abgerufen. Die Zahl der Abonnenten meines Youtube-Kanals hat sich verzehnfacht. Ich habe Zuschriften aus dem ganzen Land bekommen, auch von anderen Hochschullehrern.“ Das Video hat einen Nerv getroffen.

„Mathematik ist die Basis, um gute Ingenieure, Physiker oder Chemiker ausbilden zu können. Mathematisches Wissen ist die Grundlage unseres Wohlstandes und das wissen die Menschen“, sagt der Professor. Um diese Grundlage kümmere man sich immer weniger. Dass Lehrer ihren Schülern etwas erklären, sei heute verpönt, Kinder sollen sich Wissen selbst erarbeiten. „Lehrer werden in eine Moderatorenrolle gedrängt“, sagt Krötz.

Auch Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund würden benachteiligt: „Mathematische Symbole sind international. Ein Plus- oder Minuszeichen bedeutet in der Türkei oder Syrien dasselbe wie in Deutschland. Mathematik war einmal das Fach, in dem viele Migrantenkinder brillierten.

Vieles sollen Kinder zu Hause durch das Betrachten von Videos lernen: „Das theoretische Wissen sollen sie sich selbst erarbeiten, aber das funktioniert nicht. In der Schule sind Ideologen am Werk.“ Schon das „Schreiben nach Gehör“, eine Methode, mit der Kinder angeblich leichter hätten Schreiben lernen sollen, habe sich als Katastrophe erwiesen. „Im Mathematikunterricht werden nun andere, aber vergleichbar gleich große Fehler gemacht.“ Das gehe vor allem auf Kosten der Kinder aus bildungsfernen Schichten: „Wer nicht auf Hilfe der Eltern setzen kann, hat es schwer.“

 

Das Abitur, sagt der Mathematiker, habe nichts mehr mit einer Hochschulreife zu tun.

Auch Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund würden benachteiligt: „Mathematische Symbole sind international. Ein Plus- oder Minuszeichen bedeutet in der Türkei oder Syrien dasselbe wie in Deutschland. Mathematik war einmal das Fach, in dem viele Migrantenkinder brillierten.“ Heute seien Textaufgaben modern. Ein Nachteil für alle, die Deutsch nicht perfekt beherrschen.

Krötz will, dass der Mathematikunterricht wieder besser wird. Dafür brauche es Schülergruppen, die auf einem ähnlich hohen Niveau sind. Und Lehrer, die eine solide mathematische Ausbildung haben. Das Abitur, sagt der Mathematiker, habe nichts mehr mit einer Hochschulreife zu tun. „Bildung für alle klingt gut, aber das Versprechen wird nicht eingehalten.“ Der Professor ist dafür, dass Universitäten Aufnahmeprüfungen durchführen.

Indien ist allerdings nicht sein bildungspolitisches Vorbild: „Wir haben eine andere Bildungstradition, sie setzt stark auf Beweise und Begründungen und weniger auf Auswendiglernen. In Indien steht die harte Arbeit auch bei Schülern hoch im Kurs, aber wir alle brauchen auch Muße, um Gelerntes zu begreifen und darüber nachzudenken.“

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Mathe im Griff https://condorcet.ch/2023/11/mathe-im-griff/ https://condorcet.ch/2023/11/mathe-im-griff/#respond Thu, 09 Nov 2023 09:55:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=15257

Die Deutsche Telekom Stiftung vereinnahmt zunehmend den Mathematikunterricht in Deutschland. Der Staat macht mit, schreibt Wolfram Meyerhöfer, deutscher Mathematikdidaktiker in Potsdam (D).

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Wer in Deutschland Mathematik-Lehrer werden will, lernt die Grundlagen des Unterrichtens in Lehrveranstaltungen zur Didaktik der Mathematik. Die Mathematikdidaktik ist eine kleine wissenschaftliche Disziplin, ihre Berufsgesellschaft hat nur etwa 1000 Mitglieder. Anhand dieser kleinen Wissenschaftsgemeinschaft lässt sich lernen, wie Großkonzerne ganze Disziplinen okkupieren können. Mit Brandenburg lässt nun erstmals ein ganzes Bundesland ein Schulfach von einer Konzernstiftung dominieren.

Wolfram Meyerhöfer, Mathematikdidaktiker: Ihre Schüler tun sich schwer mit Bruchrechnung? Wir wissen, wie es geht.

Klaus Kinkel hilft seinem Enkel

Klaus Kinkel initiierte nach seiner Zeit als Bundesaußenminister in den 2000er-Jahren die Deutsche Telekom Stiftung (DTS). Weil einer seiner Enkel mit seinem Mathematikunterricht fremdelte, entdeckte Kinkel die Mathematikdidaktik als Wissenschaft vom Mathematikunterricht und etablierte die DTS als deren finanzkräftigen Förderer. Für die Projekte der Deutsche Telekom Stiftung gibt es dabei im Regelfall kein offenes Bewerbungsverfahren, sondern die Wissenschaftler müssen direkt in die Stiftung hinein Netzwerken. Entscheidungen über Zuwendungen erfolgen nach Gusto der Stiftung und außerhalb von Nachvollziehbarkeit.

In der einstmals randständigen und eher mittellosen Community der Mathematikdidaktik regnete es plötzlich Geld. In den universitätsinternen Drittmittel-Rankings konnten Mathematikdidaktiker plötzlich mit großen Summen und dem großen Namen „Telekom“ punkten.

 

Da die Einwerbung von Drittmitteln mittlerweile ein zentrales Kriterium bei Berufungen auf Professuren auch in der Mathematikdidaktik ist, bestimmt die DTS indirekt in starkem Maße darüber mit, wer in Deutschland eine Professur für Mathematikdidaktik erhält und wer nicht.

Da die Einwerbung von Drittmitteln mittlerweile ein zentrales Kriterium bei Berufungen auf Professuren auch in der Mathematikdidaktik ist, bestimmt die DTS indirekt in starkem Maße darüber mit, wer in Deutschland eine Professur für Mathematikdidaktik erhält und wer nicht. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass immer mehr Mitglieder von Berufungskommissionen und Gutachter in Berufungsverfahren mit der DTS verbandelt sind. Es gibt sogar Ausschreibungen an öffentlichen Universitäten, in denen die Zusammenarbeit mit Projekten der DTS zum Auswahlkriterium erklärt wird. Dies betraf zum Beispiel über Jahre hinweg alle Mathematikdidaktikprofessuren an der Universität Paderborn.

Wir haben die Lösung

Die Nation im Zentrum

Im Jahr 2011 gründete die DTS eine didaktische Großstruktur zur Lehrer(fort)bildung, das Deutsche Zentrum für Lehrerbildung Mathematik (DZLM). Für den noch hochtönenderen Namen „Nationales Zentrum für Lehrerbildung Mathematik“ hatten Bildungsministerien Unbehagen signalisiert. Bereits auf der ersten Tagung des DZLM im Jahr 2012 forderten die Gründer, dass das DZLM nach Ablauf der Anfangsfinanzierung durch staatliche Strukturen finanziert werden solle. Der damalige Präsident der Kultusministerkonferenz, Ties Rabe, widersprach dieser Forderung in seinem Grußwort mit der Begründung, dass es strukturell problematisch sei, wenn private Initiativen (sofort) eine Übernahme in staatliche Finanzierung postulierten.

Acht Jahre später gelang die Übergabe in staatliche Finanzierung: Mit Beginn des Jahres 2020 wurde das DZLM an das IPN (Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel) angebunden, welches dafür eine Außenstelle an der Humboldt Universität Berlin schuf. Die Finanzierung erfolgt durch den Bund und die Länder Berlin und Schleswig-Holstein. Das entlang der Interessen der DTS engagierte Personal wurde übernommen.

Inhaltliche Engführung statt breiter Förderung

Die von der Deutsche Telekom Stiftung geförderten Projekte zeigen, dass die Stiftung ihr Gestaltungspotential nutzt, um bestimmte Themen und Denkrichtungen zu forcieren und andere Themen und Denkrichtungen außen vor zu lassen. In der Gesamtschau führt dies dazu, dass die Inhalte und Methoden der Mathematikdidaktik und damit gewissermaßen auch des Mathematikunterrichts in Deutschland in ihrem Mainstream von der Deutsche Telekom Stiftung mitgesteuert werden.

Auch das DZLM als Kind der Telekom-Stiftung wird entlang bestimmter Themen und Denkrichtungen geführt, andere Themen und Denkrichtungen werden nicht zugelassen. So werden zum Beispiel unkritisch Projekte zur Digitalisierung gefördert, wohingegen kritische Auseinandersetzungen mit der Digitalisierung von Lernprozessen oder die Auseinandersetzung mit nicht digitalen Alternativen kaum Raum haben. Gleiches gilt etwa für kritische Auseinander­setzungen mit der Funktion von Mathematikunterricht in unserer Gesellschaft und Kultur, mit der Rolle von Mathematikunterricht bei der Reproduktion der Sozialstruktur oder für die Auseinandersetzung mit standardisierten versus offeneren Formen der Beurteilung von Leistungen.

Sinnvollerweise ist es fester Bestandteil von Fortbildungsprogrammen, dass Fachmathematiker Vorträge halten, in denen sie ihre Fachthemen oder Bildungsansprüche in der Lehrerschaft bekannt machten. Dies kommt im DZLM ebenso selten vor wie das konkrete Arbeiten am Unterricht des einzelnen Lehrers.

Auch Lehrkräfte, die eigene Unterrichtskonzeptionen oder pädagogische Ideen entwickelt haben, haben keinen Raum im DZLM. Diese werden durch immer engere formale Vorgaben ohnehin bereits systematisch von Publikationen in der Mathematikdidaktik ausgeschlossen – durch die starke Stellung des DZLM werden sie es künftig immer schwerer haben, als Anbietende in Fortbildungsprogramme zu kommen. Das DZLM kennt Lehrer nur als Probanden professoraler Ideen, eigenständige Denker unter den Lehrern finden im DZLM keinen Ort.

Bedient wird ein Bedürfnis nach Bedienungsanleitungen für nicht funktionierende Schülerhirne.

Fortbildung: Standardprodukte statt Kultur der geistigen Anregung

Das DZLM produziert mathematische Lehrerfortbildungen. Im Grunde ist es ein staatlicher Konzern, der seine Produkte an die Bundesländer verkauft – wobei die einzelnen Lehrkräfte diese Produkte dann meist kostenlos erhalten. Im Ganzen produziert das DZLM standardisierte Fortbildungen entlang der Struktur: Ihr habt das Problem, wir haben die Lösung. „Ihre Schüler kommen mit Lücken aus der Grundschule? Hier ist ein Material plus Fortbildung dafür.“ „Ihre Schüler tun sich schwer mit Bruchrechnung? Wir wissen, wie es geht.“ Bedient wird ein Bedürfnis nach Bedienungsanleitungen für nicht funktionierende Schülerhirne.

Der Hauptfokus von Lehrerfortbildung sollte aber nicht im Nachholen fachdidaktischer Uni-Lehre plus Materialverkauf liegen. Bei der Fortbildung von Lehrkräften geht es im Kern um geistige Mobilisierung.

Solche standardisierten Produkte sind durchaus punktuell sinnvoll. Man arbeitet ja auch mit Lehrbüchern als standardisierte Produkte. Der Hauptfokus von Lehrerfortbildung sollte aber nicht im Nachholen fachdidaktischer Uni-Lehre plus Materialverkauf liegen. Bei der Fortbildung von Lehrkräften geht es im Kern um geistige Mobilisierung. Lehrkräfte sind studierte und hochbezahlte Spezialisten, die allein auf sich gestellt in einem fachlich anregungsarmen, sozial aber anspruchsvollen Umfeld arbeiten. Lehrkräfte brauchen nicht so sehr das Belehrtwerden. Sie brauchen Orte, an denen sie als Partner im Diskurs um die Entwicklung ihres Unterrichts ernst genommen werden. Und sie brauchen sehr unterschiedliche Anregungen. Mal will man etwas Fachliches hören, mal etwas über das Unterrichten von Trigonometrie, und mal braucht man eher einen Unterrichtsdisziplinworkshop.

Eine staatliche Fortbildungsinstitution müsste kritische Diskussionen über Mathematikunterricht in die Lehrerschaft tragen und eine Vielfalt von intellektuellen Anregungen bieten. Das DZLM als Interessenträger der Deutsche Telekom Stiftung lässt aber nur Personal und Projekte in seine Struktur, welche solche Auseinandersetzungen und Anregungen tendenziell vermeiden. Das affirmativ auf die Interessen der DTS ausgerichtete Personal wurde umstandslos in eine staatliche Finanzierung gesetzt. Das ist problematisch genug. In kleinen Bundesländern übernimmt das DZLM nun aber sogar weitgehend die Fortbildung.

Monopolisierung der Fortbildung

Ein Beispiel gibt Brandenburg. Das Land war ein Vorreiter der datengestützten Schul- und Unterrichtssteuerung und wird in Vergleichsstudien als ewiger Tiefflieger abgebildet. Im Bildungsministerium gibt es keinen Fachreferenten für Mathematikunterricht, weil statt Fachstrukturen nur Strukturen für Datenerzeugung existieren und keine fachliche Führung stattfindet. Das Ministerium verpflichtet Lehrkräfte zur Durchführung von vielerlei Lernstandsanalysen und Lernausgangslagenuntersuchungen. Diese binden enorme Ressourcen bei den Lehrkräften und Schülern, sie geben aber kaum nutzbare Informationen für die Unterrichtsgestaltung. Auch Führung kann entlang dieser Daten nicht stattfinden.

Die DZLM-Wissenschaftler wissen ganz genau, wie guter Unterricht funktioniert, und sie tragen dieses Wissen nun Schritt für Schritt an die Lehrkräfte heran, die das leider noch nicht wissen.

In Brandenburg wurden 24 Lehrkräfte teilabgeordnet. Sie werden künftig im Rahmen des sogenannten QuaMath-Programms durch das DZLM geschult und geführt. Dieses bundesweite Projekt ist über 10 Jahre angelegt und standardisiert die Fortbildung in einem Maße, welches selbst Margot Honecker gewundert hätte. Die DZLM-Wissenschaftler wissen ganz genau, wie guter Unterricht funktioniert, und sie tragen dieses Wissen nun Schritt für Schritt an die Lehrkräfte heran, die das leider noch nicht wissen.

Die Fortbildungs-Ressourcen des kleinen Bundeslandes sind mit diesem Projekt weitgehend gebunden. Strukturell passt dieses Outsourcing der Fortbildung sehr gut zur datengestützten Unterrichtssteuerung – konsequent stehen Wissenschaftler und Administratoren in der Ferne und rufen der Lehrkraft zu: „Du musst deinen Unterricht verbessern!“. Inhaltlich bleibt es aber bei einer Situation, in der die Lehrkräfte als Akteure nicht ernst genommen und ihre professionellen Ressourcen kaum entwickelt werden.

 

 

 

 

 

 

 

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Ein Mathematiker und Menschenfreund https://condorcet.ch/2023/10/ein-mathematiker-und-menschenfreund/ https://condorcet.ch/2023/10/ein-mathematiker-und-menschenfreund/#respond Sat, 21 Oct 2023 12:00:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=15155

Professor Walter Krämer ist Ökonom und war bis zu seiner Emeritierung 2018 Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde er durch populärwissenschaftliche Literatur zur Statistik und als Verfechter der deutschen Sprache. In seinem Beitrag erklärt uns Professor Krämer eine der grossen Entdeckungen des Mathematikers und Philosophen Jean Marie de Condorcet: das nach ihm benannte Paradoxon.

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Jeder Student der Soziologie oder Wirtschaftswissenschaften begegnet in mindestens einer Vorlesung dem französischen Marquis der Condorcet, mit den schönen Vornamen Marie Jean Antoine Nicolas Caritat. Denn immer, wenn es darum geht, aus den Wünschen, Vorlieben und individuellen Ranglisten von Einzelpersonen eine Präferenzordnung der Gesamtgesellschaft herzustellen, treten zuweilen sehr irritierende Phänomene auf. Das hat als erster Condorcet erkannt. Bei einer Wahl zum beliebtesten Schweizer Sportler, mit den Kandidaten Roger Federer und Martina Hingis, votiert eine Mehrheit für Hingis. Heißen die Kandidaten dagegen Federer und Vreni Schneider (55 Ski-Weltcupsiege, drei olympische Goldmedaillien), gewinnt Federer. Heißen die Kandidaten dann Hingis und Schneider, muss man gar nicht fragen, denn das Ergebnis ist klar: Hingis gewinnt: Sie liegt vor Federer, der vor Schneider, also auch Hingis vor Schneider.

Professor Walter Krämer, Deutscher Ökonom, Mathematiker und Statistiker, Technische Universität in Dortmund. Der Autor verschiedener wissenschaftlicher Bücher (Wie lügt man mit Statitstik) betreibt auch die Webseite "Die Unstatistik des Monats". Er gründete auch den Verein "Deutsche Sprache".
Professor Walter Krämer, Deutscher Ökonom, Mathematiker und Statistiker, Technische Universität in Dortmund. Der Autor verschiedener wissenschaftlicher Bücher (Wie lügt man mit Statistik) betreibt auch die Webseite “Die Unstatistik des Monats”.

Pustekuchen, sagt Condorcet. Es ist sehr wohl möglich, ganz ohne mentale Derangiertheit der Wählenden, dass jetzt Schneider vorne liegt.

Als weltweit erster beschrieb der dieses Paradoxon in seinem Essai sur l’application de l’analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix (Paris 1785).

Wann immer man per Mehrheitsentscheidung zwischen zwei Alternativen eine Gesamtrangordnung konstruiert, lauert diese Falle im Hintergrund. Sie muss nicht zuschnappen, aber sie kann, man ist nie sicher.

Also muss man eben auf andere Weise die individuellen Präferenzen aggregieren. Aber auch das klappt nicht immer. Wie der amerikanische Ökonom Kenneth Arrow aufbauend auf Condorcet in seinen nobelpreisgekrönten Arbeiten zeigen konnte (Wirtschaftsnobelpreis 1972 zusammen mit John R. Hicks „für ihre bahnbrechenden Arbeiten zur allgemeinen Theorie des ökonomischen Gleichgewichts und zur Wohlfahrtstheorie“), gibt es kein einziges soziales Auswahlsystem, das aus völlig rationalen Individuellen Präferenzen eine wasserdichte, immer das gleiche

Wann immer man per Mehrheitsentscheidung zwischen zwei Alternativen eine Gesamtrangordnung konstruiert, lauert diese Falle im Hintergrund.

Endergebnis produzierende individuenübergreifende Rangordnung herstellen kann. Je nach Reihenfolge oder Organisation der Wahlgänge kommt möglicherweise etwas anderes heraus. So hat etwa der Dortmunder Ökonom Wolfgang Leininger überzeugend nachgewiesen, dass die heutige deutsche Bundeshauptstadt Berlin ein Artefakt der Reihenfolge der Wahlgänge an jenem schicksalsträchtigen Nachmittag des 20. Juni 1991 gewesen ist. Da wurde in einem mehrstufigen Verfahren im Deutschen Bundestag in Bonn über die künftige Hauptstadt abgestimmt. Und wie Leininger beweist, hätte bei einer anderen Reihenfolge der Abstimmungen nicht Berlin, sondern Bonn gewonnen (W. Leininger: The Fatal Vote: Bonn versus Berlin“, Finanzarchiv, Neue Folge, Heft 1, 1993, 1-20) .

Er war ein großer Aufklärer und Liberaler, schon früh in der französischen Revolution trat er mit der damals unerhörten Forderung hervor, dass die gerade proklamierten Bürgerrechte auch für Frauen gelten sollten.

Jean-Marie de Condorcet
1742 – 1794: Namensgeber unseres Blogs

Das ewige Verdienst, als erster auf solche Probleme hingewiesen zu haben, gebührt aber dem Marquis de Condorcet. Außer in der Mathematik hat er auch einen großen Fußabdruck in der Politik und in den Gesellschaftswissenschaften hinterlassen. Er war ein großer Aufklärer und Liberaler, schon früh in der französischen Revolution trat er mit der damals unerhörten Forderung hervor, dass die gerade proklamierten Bürgerrechte auch für Frauen gelten sollten, und in seiner Abhandlung vom Juli 1790  Sur l’admission des femmes au droit de cité sprach er sich für das Frauenwahlrecht aus. Mehr als 150 Jahre später wurde es dann in Frankreich, als einem der letzten Länder Europas, tatsächlich eingeführt. Auch gleiche Rechte für Farbige und die Abschaffung der Sklaverei gehörten zu Condorcets Forderungen. Seinen Landsleuten damals muss er wie aus der Zeit gefallen vorgekommen sein. Heute wissen wir, dass er einer der humansten und größten Denker  seines Jahrhunderts war.

Walter Krämer

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