Kompetenzorentierung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 10 Jan 2022 09:46:32 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Kompetenzorentierung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Unbehagen an der Kompetenz: Die Checklisten-Mentalität hat sich durchgesetzt https://condorcet.ch/2022/01/unbehagen-an-der-kompetenz-die-checklisten-mentalitaet-hat-sich-durchgesetzt/ https://condorcet.ch/2022/01/unbehagen-an-der-kompetenz-die-checklisten-mentalitaet-hat-sich-durchgesetzt/#comments Sat, 08 Jan 2022 10:12:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=10285

Christian Villiger, Gymnasiallehrer in Zürich (Rämibühl), stellt uns einen Text zur Verfügung, der sich mit dem neuen Rahmenlehrplan der Gymnasien beschäftigt. Es handelt sich hier um eine eindrückliche Analyse der gegenwärtigen "Kompetenzmanie", über die - so unser Gastautor - man in 50 Jahren wohl nur nach schallend lachen wird.

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Ein Gespenst geht um in der Bildungslandschaft, das Gespenst der Kompetenz. Es ist kein Marxsches Gespenst, vor dem sich alle fürchten und gegen das eine Hetzjagd veranstaltet wird. Es ist vielmehr ein Gespenst, das sich mit solcher Selbstverständlichkeit in den Diskurs eingenistet hat, dass es niemand mehr sieht und sich niemand mehr daran stösst.

Wer von Bildung redet, sagt heute Kompetenz.

Wer von Bildung redet, sagt heute Kompetenz. Beredtes Zeugnis dieses Befundes legen die Entwürfe für die neuen Fachrahmenlehrpläne ab, da sich die Arbeitsgruppen zwingend an die Vorgabe halten mussten, den Beitrag ihres Faches zu den überfachlichen Kompetenzen auszuweisen und den fachspezifischen Teil des Lehrplans in Form von Kompetenzformulierungen zu gestalten. Zusätzlich gilt einer der sechs Transversalen Bereiche eigens den überfachlichen Kompetenzen.

Lediglich eine Weiterentwicklung eines schon länger andauernden Prozesses?

Der Kompetenzbegriff ist „gegessen“, hat sich „durchgesetzt“, wird von niemandem mehr ernsthaft in Frage gestellt. Heisst es auf kritische Nachfrage. Die Einwände gegen den Kompetenzbegriff wurden doch längst widerlegt: In der Kompetenz „fallen Wissen und Können zusammen“, auch „Selbst- und Sozialkompetenz ist eingeschlossen“.[1] Und: „Auch unter der Leitidee der Kompetenzorientierung behält Unterricht seinen Charakter als kognitiver und sozialer Austausch unter Menschen und mit Gegenständen, er bleibt als personale Interaktion auch weiterhin risikoreich, nicht linear und ergebnisoffen – gerade was Verstehens- und Verständigungsprozesse  anlangt.“[2] Selbst der Lehrplan 21, mit dem der neue Rahmenlehrplan der Gymnasien kompatibel sein möchte, wurde den Volksschulen nicht bürokratisch aufoktroyiert, sondern stellt lediglich eine Weiterentwicklung eines schon länger andauernden Prozesses dar.[3] Wer heute noch den Kompetenzbegriff angreift, scheint tatsächlich ein Marxsches Gespenst zu jagen.

Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass die Bildungsforschung in fünfzig Jahren herzhaft lachen wird über die 2020er Jahre, die so vernarrt waren in den Kompetenzbegriff und ihm hinterherliefen wie dem Rattenfänger von Hameln.

Ich verschlucke mich dennoch immer wieder an diesem angeblich „gegessenen“ Begriff. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass die Bildungsforschung in fünfzig Jahren herzhaft lachen wird über die 2020er Jahre, die so vernarrt waren in den Kompetenzbegriff und ihm hinterherliefen wie dem Rattenfänger von Hameln. „Kompetenz“: eine Allzweckwaffe, die alternativlose Wunderformel zur Beschreibung von Unterrichtszielen, die scheinbar alles in sich aufsaugt, auch noch das Gegenteil von dem, wofür der Begriff ursprünglich steht (also ein trügerischer Begriff). Ein Wort, so selbstverständlich und durchsichtig, dass man es schon gesagt hat, bevor man überhaupt mit dem Denken beginnen muss (also ein ideologischer Begriff). Ein Hochwertwort, mit dem man sich das Eintrittsticket in den herrschenden Diskurs verschafft und die Herzen der Bildungspolitiker gewinnt (also ein opportunistischer Begriff).

Kompetenzorientierter Lyrikunterricht in BW, Deutschland: Hohl und geistlos.

Mein Unbehagen ist zunächst ein stilistisches: Die „kompetenzorientierten“ Beschreibungen dessen, was im Unterricht angeblich bei den Schülerinnen und Schülern geschieht oder geschehen soll, klingen hohl, geistlos, banal. Lese ich die Entwürfe zu den Rahmenlehrplänen durch, möchte ich mir am liebsten einen anderen Beruf suchen. Es ist ja nicht völlig falsch, was hier steht, und ich würde auch nicht sagen, dass ich in meinem Unterricht etwas ganz anderes mache oder mich nicht an diesen oder ähnlichen Zielen orientiere. Und doch: Dieses technokratische Gebrabbel soll abbilden, was in meiner Wahrnehmung ein lebendiger, geistiger Dialog, eine kreative, nie ganz kontrollierbare Begegnung von Personen sein kann und oft auch ist. „Kreatives Denken“ ist gemäss Rahmenlehrplan eine kognitive „überfachlich-methodische Kompetenz“, die gleichermassen den Zielen „der Allgemeinen Studierfähigkeit und der vertieften Gesellschaftsreife“ dient. Sie besteht darin, dass man durch „das Verlassen gewohnter Denkweisen und Strukturen neue Sichtweisen und vielfältige Ideen zur Lösung von Problemstellungen entwickelt“[4] und wird im Fach Deutsch gemäss Fachlehrplan dadurch erworben, dass die Schülerinnen und Schüler „Phantasie ausbilden“.[5] Wissen die Verfasser/innen dieser Papiere, wovon sie reden? Oder schauen wir hier gerade dabei zu, wie Farbenblinde die Farbe Rot beschreiben? Der beste Weg, der Kreativität den Garaus zu machen, ist wohl, sie als „Kompetenz“ zu bezeichnen. Das Gleiche gilt für die „selbst- bzw. persönlichkeitsbezogene“, „nicht-kognitive“ (wirklich?) Kompetenz der Neugier, die man erwirbt, indem man „eine Begegnung mit Grundfragen erleb[t]“.[6] Man kann von schlechtem Stil nicht zwingend auf schlechtes Denken schliessen, aber gutes Denken zeichnet sich eher nicht durch stilistische Unbeholfenheit und Begriffshörigkeit aus. Die (verzeihlich) hilflosen Formulierungen im Deutsch-Rahmenlehrplan zeigen ganz nebenbei, dass solche Kompetenzlisten für das konkrete Planen und Organisieren von Unterricht schlicht unbrauchbar sind.

Professor Elmar Anhalt, Bern: Der Kompetenzbegriff sei nicht in der Lage, Komplexität zu denken.

Neben diesem subjektiven Unbehagen gibt es auch auf der theoretischen Ebene gute Gründe, gegen den Kompetenzbegriff Einspruch zu erheben. Elmar Anhalt, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Bern, hat dies kürzlich in einem noch nicht veröffentlichten, aber bereits kursierenden Aufsatz luzid getan.[7] Drei Punkte scheinen mir an seinen Ausführungen besonders bemerkenswert: Der Kompetenzbegriff sei nicht in der Lage, Komplexität zu denken (definiert als „Herausforderung, zu deren Bewältigung keine Regel bekannt ist“); der Kompetenzbegriff sei nicht in der Lage, die Entwicklung des Kompetenzerwerbs zu denken, da er keinen Komplementärbegriff kennt (Bildungsprozesse sind nur als Mischverhältnis von Kompetenz und Inkompetenz zu verstehen); schliesslich sei der Kompetenzbegriff politisch blind und orientiere sich nicht mehr an der Idee einer auf demokratischem Miteinander beruhenden, offenen Gesellschaft. Der Einwand, dass Anhalt sich auf ein Zerrbild des Kompetenzbegriffs stütze, da „Kompetenz“ ja alle Formen von kritischem, gewagtem, ergebnisoffenem Denken ein- und nicht ausschliesse (siehe das Reusser-Zitat weiter oben), ist so erwartbar wie unredlich. Man kann nicht das Eine und sein Gegenteil wollen. Man kann sich nicht der Logik von Bildungsstandards und standardisierten Tests andienen und zugleich meinen, das habe dann keine Auswirkungen auf unser Verständnis und unsere Praxis von Bildung. Es klingt fast ein wenig naiv, wenn Kurt Reusser am Ende seiner Verteidigungsschrift einräumt: „Offenbleiben muss […], welche Nebenwirkungen die Umsetzung der Kompetenzorientierung zeitigen wird, wenn Kompetenzen nicht nur in der Schule unterrichtet, sondern auch gemessen und getestet werden.“[8] Freilich schlägt Reusser selbst einen auf den ersten Blick harmlosen Begriff von Kompetenz vor: Die Lehrpersonen sollen „nicht nur an den Stoff denken“, sondern sich vermehrt fragen, mit welchem Ziel sie einen bestimmten Stoff behandeln: „[A]lso nicht einfach: ‹Jetzt nehmen wir die Römer durch›, sondern: ‹Was sollen die Schülerinnen und Schüler – fachlich und überfachlich – lernen, wenn wir uns mit den Römern beschäftigen?›“[9] Die Forderung ist so banal, dass sie sich fast wie eine Beleidigung anhört. Sobald jedoch Listen von Kompetenzen angelegt werden, die sich Schülerinnen und Schüler „fachlich und überfachlich“ aneignen sollen, und Lehrpersonen dazu aufgefordert werden, ihre Lehrpläne gemäss diesen Checklisten auszurichten, nimmt sich die Forderung weniger appetitlich aus.

Es zerlegt, vergleichbar dem Projekt der Physiognomik im 18. Jahrhundert, den Menschen in einzelne Teilfähigkeiten und glaubt, diese unabhängig voneinander beüben zu können. Die einzelnen Schulfächer sind dann wie die verschiedenen Geräte in einem Fitnessstudio, die jeweils bestimmte Muskeln trainieren und in der Summe den gestählten, kompetenten Schüler erzeugen.

Die kompetenzorientierten Rahmenlehrpläne für das Gymnasium sind bereits stark geprägt von einer solchen Checklisten-Mentalität. Das Modell der überfachlichen Kompetenzen zeigt das deutlich. Es zerlegt, vergleichbar dem Projekt der Physiognomik im 18. Jahrhundert, den Menschen in einzelne Teilfähigkeiten und glaubt, diese unabhängig voneinander beüben zu können. Die einzelnen Schulfächer sind dann wie die verschiedenen Geräte in einem Fitnessstudio, die jeweils bestimmte Muskeln trainieren und in der Summe den gestählten, kompetenten Schüler erzeugen. (Wer das für übertrieben hält, schaue sich einmal den Lehrplan der Kantonsschule Schwyz an, der diesem Irrglauben bereits anhängt.)[10] Störend daran ist das zugrundeliegende Menschenbild, störend auch der Glaube an die vollständige Steuer- und Kontrollierbarkeit von Lern- und Bildungsprozessen. Und ganz grundsätzlich möchte ich einwenden, dass Expertise vielleicht gar nicht darin besteht, etwas zu „können“, sondern darin, sich bewusst zu sein, dass sich viele Dinge nie endgültig beherrschen und begreifen lassen. „Ich weiss, dass ich nichts weiss“, sagte Sokrates. Der gute Forscher, die gute Forscherin steht trotz approbierter „allgemeiner Studierfähigkeit“ jedes Mal von neuem vor einem Rätsel, für das es keine hergebrachte Lösung gibt. „Inkompetenzkompetenz“ könnte man das nennen. Aber man lässt es besser sein. Vielleicht sollten wir den Ausdruck „Kompetenz“ aus unserem Vokabular streichen, damit wir wieder nachdenken können – über Bildung und die Zukunft des Gymnasiums.

 

Zuerst erschienen in: Bulletin 2021 des Vereins Schweizerischer Geschichtslehrerinnen und -lehrer

[1] Entwürfe Rahmenlehrplan: Kapitel II – Transversale Bereiche, S. 8.

[2] Reusser, Kurt: Kompetenzorientierung als Leitbegriff der Didaktik. In: Beiträge zur Lehrerinnen- und

Lehrerbildung 32 (2014) 3, S. 325-339, hier S. 337.

[3] Ebd.

[4] Entwürfe Rahmenlehrplan: Kapitel II, S. 12.

[5] Entwürfe Fachlehrpläne, S. 63.

[6] Ebd.

[7] Anhalt, Elmar: Überlegungen zu einem bildungstheoretisch begründeten Lehrplan, 1. März 2021 (ungedruckt, PDF)

[8] Reusser, S. 338.

[9] Reusser, S. 333.

[10] https://kks.ch/angebot/gymnasium/lehrplan/ (12.10.21)

 

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Die Banken ziehen die Notbremse bei der KV-Reform https://condorcet.ch/2021/05/die-banken-ziehen-die-notbremse-bei-der-kv-reform/ https://condorcet.ch/2021/05/die-banken-ziehen-die-notbremse-bei-der-kv-reform/#respond Fri, 21 May 2021 10:44:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=8647

Gegen die geplante KV-Reform gibt es heftigen Widerstand. Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz fragt sich, warum die Einwände gegen die Kompetenzorientierung von Seiten der Wirtschaft erst jetzt kommen und erinnert an die Lehrplandebatte.

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Hanspeter Amstutz:Kritik aus der Wirtschaft vermisst.
Bild: Fabü

Der heftige Protest der Bankenvereinigungen gegen die Reform der KV-Ausbildung lässt aufhorchen. Offenbar haben die Banken gerade noch rechtzeitig bemerkt, welch verheerende Auswirkungen das geplante Ausbildungsmodell für ihre Auszubildenden hätte. Die Taktik der Reformer, das Grundkonzept in Kabinettsmanier möglichst weit voranzutreiben und erst dann in die Vernehmlassung zu schicken, wenn nur noch Retouchen angebracht werden können, scheint zu scheitern. Das ist in keiner Weise zu bedauern.

Erfahrene KV-Lehrpersonen waren entsetzt über die Reformpläne, als sie erstmals konkret informiert wurden. Viele wollten Alarm schlagen, doch die Mutigsten wurden massiv unter Druck gesetzt, sich nicht  vorzeitig in der Öffentlichkeit zu Wort zu melden. Heute sprechen einige der Betroffenen gar von einem Maulkorb.

Die Vorwürfe der Bankfachleute an die KV-Reformkommission sind gut begründet, denn sie wissen, worauf es im Finanzgeschäft ankommt. Sie wehren sich gegen eine oberflächliche Bildung, die situativ in Form von gehobenen Rollenspielen die Deutschausbildung fördern will. Sie akzeptieren es nicht, dass auf einen methodischen Aufbau in der deutschen Sprache und auf eigentliche Fächer verzichtet werden soll. Das Gleiche gilt für die Fremdsprachen, wo mit einer Abwahlmöglichkeit offensichtlich der Weg des geringsten Widerstands gewählt wurde. Diese Abwertung der KV-Ausbildung wollten sich die direkt betroffenen Banken nicht bieten lassen.

Die Taktik der Reformer, das Grundkonzept in Kabinettsmanier möglichst weit voranzutreiben und erst dann in die Vernehmlassung zu schicken, wenn nur noch Retouchen angebracht werden können, scheint zu scheitern.

Wenig Substanz

Für einmal wurde exakt hingeschaut, was denn genau an den KV-Schulen verändert werden soll. Die Bankfachleute haben gemerkt, dass hinter vielen betörenden didaktischen Ausdrücken wenig Substanz steckt.  Sie waren zu Recht verärgert, dass der an sich unbestrittene Auftrag einer zweckmässigen KV-Reform in einen nicht vorgesehenen Totalumbau des KV umgewandelt wurde. Ganz sauer ist ihnen aber die Tatsache aufgestossen dass man sie in der Phase der konzeptionellen Weichenstellung links liegen liess.

Den frischen Wind aus der Wirtschaft hat man bei der Lehrplanreform der Volksschule leider vermisst. Offenbar war vor fünf Jahren die Zeit noch nicht reif, um mögliche Fehlentwicklungen in der neuen Didaktik zu erkennen. Das Zauberwort vom kompetenzbasierten Unterricht hat damals alles überstrahlt. Nur wenige haben sich daran gestört, dass die Lehrplanreform weit über das vom Volk geforderte Ziel einer Bildungsharmonisierung hinausging und den Schulen einen didaktischen Paradigmenwechsel vorschrieb.

Einige Parallelen zu aktuellen KV-Reform sind dabei augenfällig: Verstärkte Ausrichtung der Bildung auf vordergründig nützliche Aspekte, weniger Ausbildungszeit für das Training der Grundlagen, belastende Nebenwirkungen eines Unterrichts mit individualisierten Bildungszielen bei der Schulorganisation und der Notengebung sowie die Unübersichtlichkeit des Lehrplans als handlicher Bildungskompass.

In Kabinettsmanier durchgepaukt

Die Lehrplanverantwortlichen haben den Anspruch an den Lehrplan der Volksschule bewusst hochgeschraubt. Der Paradigmenwechsel von einer an Bildungsinhalten orientierten Schule hin zu einem bis in Detail ausgearbeiteten Kompetenzenmodell mit starker Bildungssteuerung wurde als Jahrhundertwerk gefeiert. Wer so unbescheiden auftritt, muss sich allerdings nicht wundern, wenn er kritisch begutachtet wird.

 

Vieles erinnert an die Lehrplan-21-Debatte

Lehrplan 21: Das Zauberwort vom kompetenzbasierten Unterricht hat damals alles überstrahlt.

Skeptiker, welche gegen einige der völlig unerprobten Neuerungen begründete Einwände hatten, wurden damals kaum ernst genommen. Man lud sie ein, in regionalen Reformzirkeln ihre Bedenken zu formulieren. Doch viel schaute dabei nicht heraus, denn am Grundkonzept liess sich nichts mehr ändern. Einige zweckdienliche Korrekturen am fast sechshundertseitigen Werk und die Komprimierung des überladenen Kompetenzenprogramms wurden als Beweis für die offene Lehrplanarbeit hingestellt. Doch von einer echten Auseinandersetzung um eine Schule der Zukunft konnte keine Rede sein. Die EDK war entschlossen, die Sache rasch durchzuziehen , um den gesetzlichen Harmonisierungsauftrag abschliessen zu können.

Spannend bleibt die Frage, wie der neue Lehrplan in den nächsten Jahren die Schule verändert. Die ersten Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass die gröbsten Reformbrocken bereits ziemlich abgeschliffen wurden oder einfach umgangen werden. Doch die grosse Gefahr des sich Verzettelns im überladenen Bildungsprogramm ist damit nicht ausgeschaltet. Zwar versetzt ein Blick in den Lehrplan die meisten Lehrpersonen nicht gleich in den Modus des schnellen Abhakens all der vielen Kompetenzziele, doch mehr Hektik und Erwartungsdruck sind unterdessen ständige Begleiter an unseren Schulen.

Der Lehrplan 21 hat gewaltige Erwartungen geweckt, die kaum erfüllt werden können. Schon jetzt wird überall zurückbuchstabiert, weil die komplizierten Zielsetzungen des Lehrplans die Lehrpersonen zu stark belasten.

Wer an die Zukunft unserer Volksschule glaubt, kann mit dieser Entwicklung nicht zufrieden sein. Ein Jahrhundertwerk wie der Lehrplan 21 müsste Antworten auf die drängendsten Fragen der aktuellen Pädagogik bieten. Doch in ganz wesentlichen Bereichen zeichnet sich überhaupt nicht ab, dass dies der Fall ist. So sucht man im Lehrplan vergeblich eine überzeugende Strategie, wie die zunehmende Leseschwäche eines Viertels der Volksschulabgänger behoben werden könnte. Statt den Deutschunterricht bereits in der Primarschule zu stärken wird auf frühe Vielsprachigkeit gesetzt und als Folge der Programmfülle die Zeit fürs Üben der sprachlichen Basiskompetenzen gekürzt.

Der Lehrplan 21 hat gewaltige Erwartungen geweckt, die kaum erfüllt werden können. Schon jetzt wird überall zurückbuchstabiert, weil die komplizierten Zielsetzungen des Lehrplans die Lehrpersonen zu stark belasten. Bei jeder Neuerung wird zwar darauf hingewiesen, dass diese lehrplankompatibel sei. Doch das ist kein Qualitätslabel, da bei der Fülle der Kompetenzen für fast alles eine Entsprechung im Lehrplan gefunden werden kann. Die Austauschbarkeit der Bildungsinhalte wird vielmehr zur Herausforderung der Lehrpersonen, wenn der Lehrplan als wegweisender Bildungskompass versagt.

Man will die Ausbildungsqualität sicherstellen und Fehler vermeiden, die beim Volksschul-Lehrplan gemacht wurden.

Bei der KV-Reform ist offensichtlich von Vertretern der Wirtschaft die Notbremse gezogen worden. Man will die Ausbildungsqualität sicherstellen und Fehler vermeiden, die beim Volksschul-Lehrplan gemacht wurden. Das ist bedeutend effizienter als der Umweg über kostspielige und zeitraubende Korrekturen in der Schulpraxis.

Fehraltorf, 19. Mai 2021

Hanspeter Amstutz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Zitat der Woche: Heute Felix Hoffmann: Kompetenzmotor abgesoffen https://condorcet.ch/2021/05/zitat-der-woche-heute-felix-hoffmann-kompetenzmotor-abgesoffen/ https://condorcet.ch/2021/05/zitat-der-woche-heute-felix-hoffmann-kompetenzmotor-abgesoffen/#respond Sun, 09 May 2021 11:32:45 +0000 https://condorcet.ch/?p=8523

Die KV-Reform bewegt. Sie ist ein Paradebeispiel, wie der bildungsindustrielle Blog versucht, die Bildungsinstitutionen in den Griff zu bekommen, um sich dadurch auch eine Auftragssicherheit zu verschaffen. Felix Hoffmann bringt es auf den Punkt

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Felix Hoffmann, BL, Sekundarlehrer, Condorcet-Autor

 

Zumindest ein Teil der Politik ist nun endlich aufgewacht. Doch auch in der Wirtschaft regt sich Widerstand gegen den Kompetenzenwahn. Es entbehrt allerdings nicht der Ironie, wenn letztere Zetermordio schreit, weil sie mit der Kompetenzorientierung exakt die Medizin verschrieben bekommt, die sie 20 Jahre zuvor über die OECD ungefragt den Schulen zwangsverordnete.

In Wirtschaft, Politik und Bildung gibt es übereifrige Fantasten, dermassen weit von der Basis entfernt, dass sie nicht mehr wissen, was für ihre angestammte Branche gut bzw. schlecht ist. Diese Leute gleiten ziellos auf dem Flugzeugträger «MS Kompetenzorientierung», ohne zu merken, dass dessen Motor längst abgesoffen ist.

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Lehrpläne: Eine kurze Geschichte https://condorcet.ch/2021/04/lehrplaene-eine-kurze-geschichte/ https://condorcet.ch/2021/04/lehrplaene-eine-kurze-geschichte/#comments Tue, 27 Apr 2021 04:18:20 +0000 https://condorcet.ch/?p=8370

Es ist nicht alles neu, was Condorcet-Autor und Sekundarlehrer Felix Hoffmann über den Lehrplan 21 schreibt. Aber gut fünf Jahre nach den verlorenen Abstimmungen analysiert er die Entwicklung und stellt fest: Die Gegner von damals hatten in vielen Punkten recht. Die Konsequenz? Mut zum Ausscheren!

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“Die Internetverbindungen werden breitbandiger, doch die Ansichten enger; die Häuser grösser und die Familien kleiner. Wir vermehren unseren Besitz und verlieren unsere Werte. Wir hetzen uns ab zur Steigerung des Lebensstandards und vergessen dabei zu leben… Paradoxien sind allgegenwärtig und Teil des Lebens. So werden bei steigenden Krankenkassenprämien vermehrt Leistungen beansprucht, auf dass sich die Versicherung lohnt, wodurch jedoch die Prämien steigen. Und ausgerechnet im Bereich der Bildung, wo es ums Lernen und Denken, um Wissen und Kompetenzen sowie um den Mut zur Selbstentfaltung geht, herrschen in der Politik Gleichschaltung, Feigheit, Inkompetenz, Denkfehler, Autoritarismus, Beratungsresistenz.”

Die hier erwähnten Paradoxien finden sich im Originalwortlaut auf: https://www.biek-ausbildung.de/meditation-achtsamkeit/das-paradox-des-lebens/

“Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle Unrecht haben.”

Bertrand Russell (http://zitate.net/politik-zitate?p=29)

Menschen, die solche Reformen ablehnen, seien dem Fortschritt grundsätzlich feindlich gesinnt.

TINA – There Is No Alternative

Wie immer bei grossangelegten Schulreformen im Top-down-Prinzip wird auch die Kompetenzorientierung im nationalen Lehrplan 21 (LP21) seitens der exekutiven Bildungspolitik als alternativlos dargestellt. Veränderungen im Schulbetrieb entsprächen dem gesellschaftlichen Wandel. «Menschen, die solche Reformen ablehnen, seien dem Fortschritt grundsätzlich feindlich gesinnt.»[1] Derartige Vorverurteilungen sind offensichtlich nötig, denn als Reaktion auf den autoritär erzwungenen Paradigmenwechsel im Deckmäntelchen einer nationalen Schulharmonisierung – unter diesem Vorwand wurde er der Bevölkerung verkauft – hagelt es Kritik von allen Seiten, insbesondere auch von linker bzw. linksliberaler Seite. Zahlreiche bekannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und schulisch-pädagogischem Umfeld melden sich zu Wort.[2]

Mehrheitlich verschwurbelt

Die wichtigsten Kritikpunkte in Kürze:

  1. Dem LP21 fehlt die demokratische Legitimation, denn Konsultation ist nicht Partizipation.[3]
  2. Ungleich klassischer Lehrpläne legt der LP21 keine Stoffinhalte und Lernziele fest, vielmehr plant und steuert er den Unterricht. Damit entmündigt er die Lehrkräfte und führt zu einer Entprofessionalisierung des Lehrberufs.
  3. Auf rund 550 Seiten wird das Verb können 4’753mal verwendet: «Die Schülerinnen und Schüler können…» Der LP21 verkommt dadurch zur unerträglich monotonen Litanei.
  4. Man würde es nicht für möglich halten, aber die Monotonie wird noch gesteigert durch die fast 4’000malige Verwendung des Begriffs Kompetenz.
  5. Die Kompetenzorientierung ist alter Wein in neuen Schläuchen, da es in der Schule schon immer um die Anwendung erworbenen Wissens ging, also um Fähigkeiten.
  6. Der LP21 strapaziert den Erziehungsauftrag der Schule und greift somit in die Persönlichkeit von Schülerinnen und Schülern ein.
  7. Zu viele Kompetenzbeschreibungen sind abstrakt verklausuliert und mit Fremdwörtern gespickt, sodass sie zumeist unverständlich sind.
  8. Die über die Massen strapazierte Thematisierung von Kompetenzen wird ad absurdum geführt durch die Inexistenz einer allgemeingültigen Definition zum Kompetenzbegriff.
  9. Der LP21 belässt die Hoheit über die Stundentafeln bei den Kantonen und unterwandert dadurch das Ziel der Chancengerechtigkeit.[4]
  10. Die unterschiedlichen Einführungszeitpunkte der Fremdsprachen in diversen Kantonen hintertreiben die Harmonisierung der kantonalen Bildungssysteme zur Herstellung interkantonaler Kompatibilität.
  11. Der LP21 respektiert eine thematische Trennung der Fächer Geschichte und Geografie und fusioniert diese dennoch zum Fach Räume, Zeiten und Gesellschaften.
  12. Er widerspricht sich auch darin, dass er die Methodenfreiheit der Lehrkräfte angeblich anerkennt, aber dennoch deren Unterricht reglementieren will.[5]
  13. Das im LP21 propagierte Selbstorganisierte Lernen widerspricht entwicklungspsychologischen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen.

Nicht so in der Bildungspolitik. Hier wird ausschliesslich befohlen, bestimmt, dekretiert, erzwungen, angeordnet, von oben nach unten durchgedrückt.

Die Bildungspolitik verharrt im Autoritarismus des 20. Jahrhunderts

Februar 2014: «Gemäss Kommunikation der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) (…) müssen die HarmoS-Kantone den Lehrplan 21 unverändert umsetzen.»[6]

Demokratie lebt von Partizipation, die jeden dazu einlädt, sich einzubringen. Insofern kommt es bei uns in allen gesellschaftlichen Themenfeldern zu wiederkehrenden und teilweise lebhaften Wettkämpfen unterschiedlicher Ideen, über die bald mehr bald weniger leidenschaftlich debattiert wird. Solche konstruktiven Auseinandersetzungen führen zuweilen zu einem gesellschaftlichen Konsens, der Mehrheitsbeschlüsse erübrigt. Nicht so in der Bildungspolitik. Hier wird ausschliesslich befohlen, bestimmt, dekretiert, erzwungen, angeordnet, von oben nach unten durchgedrückt usw. Sind die autoritär verfügten Konzepte auch noch so schlecht, zuweilen gar schädlich, nutzen auch die besten Argumente nichts. Bildungspolitische Konzepte lassen sich offenbar weder hinterfragen noch verhandeln. Für notwendige Verbesserungen bedarf es stets des ultimativen demokratischen Mittels der Initiative. Und selbst solche werden zuweilen listig ausmanövriert, sollte deren Ergebnis der bildungspolitischen Obrigkeit nicht genehm sein, siehe weiter unten.

Christoph Eymann (LDP), ehemaliger Vorsteher des Baselstädtischen Erziehungsdepartements: Links wie rechts ticken sie gleich.

Den autoritären Charakter der Bildungspolitik mit den historisch totalitären Wurzeln der Linken zu erklären, die bildungspolitisch traditionell in der Verantwortung steht, greift zu kurz. Denn kaum stehen PolitikerInnen anderer Parteien Bildungsdirektionen vor, ticken sie gleich wie ihre SP-KollegInnen. Christoph Eymann und dessen Nachfolger Conradin Cramer aus Basel sind hier nur zwei Beispiele. Ein anderer Erklärungsansatz besteht in der Projektion des für den Schulbetrieb typischerweise hierarchischen Verhältnisses zwischen Lernenden und Lehrenden auf die bildungspolitisch exekutive Ebene. So betrachtet, wären die BildungsdirektorInnen die Lehrenden bzw. der ganze Rest der Gesellschaft die unmündigen und ahnungslosen Lernenden mit stark beschnittenen partizipatorischen Möglichkeiten.

Welche Lehrkraft möchte schon für ihre Fächer zig Seiten abstrakt verklausulierter Kompetenzformulierungen lesen mit hundertfacher Nennung der Begriffe können und Kompetenz, ohne anschliessend zu wissen, was sie ihren Schutzbefohlenen beibringen soll.

Die unerbittliche Macht des Faktischen

Der Widerstand gegen den LP21 scheitert fast überall an der Urne, da die Stimmbevölkerung unterschiedlicher Kantone verständlicherweise daran glaubt, die Harmonisierung der nationalen Schullandschaft verteidigen zu müssen, was ja auch vernünftig wäre, hätte es sich denn tatsächlich je darum gedreht. Doch auf dem harten Boden der Unterrichtsrealität jenseits von bildungspolitischem Wunschdenken bestätigt sich die Berechtigung der Kritik am LP21. Welche Lehrkraft möchte schon für ihre Fächer zig Seiten abstrakt verklausulierter Kompetenzformulierungen lesen mit hundertfacher Nennung der Begriffe können und Kompetenz, ohne anschliessend zu wissen, was sie ihren Schutzbefohlenen beibringen soll, dafür aber Gefahr zu laufen, sich mit Eltern anlegen zu müssen wegen eines neuerdings völlig überdrehten Erziehungsanspruchs der Schule.

Wie so oft bei Reformdebakeln der Bildungspolitik wird zur Gesichtswahrung aller Beteiligten nun der sogenannte Versandungsprozess eingeläutet.

Wie so oft bei Reformdebakeln der Bildungspolitik wird zur Gesichtswahrung aller Beteiligten nun der sogenannte Versandungsprozess eingeläutet. Hierzu wird im September 2016 der LP21 offiziell zur Mustervorlage erklärt. Im Widerspruch zur versuchten Harmonisierung der nationalen Bildungslandschaft kann ihn nun jeder Kanton nach eigenem Gutdünken abändern.[7] Damit wird nachträglich ausgerechnet der Köder von der Angel genommen, mit dem die Stimmbevölkerung unterschiedlicher Kantone zuvor für den LP21 gewonnen wurde. Die Frage, ob die Degradierung des nationalen Lehrplans auch vorgenommen worden wäre, wenn er als tauglich gewertet würde, erübrigt sich. Mit dieser Lösung bleibt der LP21 offiziell bestehen, zugleich wird zumindest die Möglichkeit geboten, die öffentlichen Schulen vor dessen Umsetzung zu schützen.

Lehrplan wie ein Flugzeugträger. Fährt mit Volldampf, aber ohne Ziel.

Die Geister, die man rief

Doch der LP21 entpuppt sich als überdimensionierter Flugzeugträger, der sich nicht mehr einfach so stoppen lässt. Er fährt ohne Ziel, dafür aber mit Volldampf. Schweizweit wurden für Hunderte Millionen von Franken kompetenzorientierte, aber untaugliche Schulbücher und, darauf aufbauend, unsinnige Weiterbildungslehrgänge gekauft, also rechtsverbindliche Verträge abgeschlossen. In Anlehnung an den LP21 bieten diese Lehrwerke zu wenig Stoffinhalte und in der Folge kaum Übungsmöglichkeiten. Es ist diesbezüglich die Rede von Sightseeing Pädagogik[8], bei der manches gestreift, aber nichts eingehend behandelt wird. Kompetenzen lassen sich so paradoxerweise kaum entwickeln mit diesen kompetenzorientierten Schulbüchern. Lehrkräfte müssen sie reichhaltig und aufwändig mit eigenen Unterrichtsmaterialien ergänzen. Nicht wenige legen sie ganz beiseite. So meint Dagmar Rösler vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) auf die Frage, wie man bei Kindern beurteilen wolle, ob diese bestimmte Kompetenzen hätten oder nicht: «Das ist so ein bisschen auch unsere grösste Frage, auf die wir leider noch keine Antwort bekommen haben.»[9] Mit der Leistungsbeurteilung fällt damit einer der wichtigsten Aspekte des Unterrichtens durch die allzu groben Maschen der Kompetenzorientierung.

Hinzukommt, dass die durch die offizielle Degradierung des LP21 gewonnene Handlungsfreiheit nur von wenigen kantonalen Bildungsdirektionen genutzt wird zur Korrektur von Fehlentscheidungen. Die steil hierarchisch organisierte Bildungslandschaft ist Befehle von oben gewohnt und völlig überfordert mit Autonomie und Selbstverantwortung. Autonom und selbstorganisiert sollen gemäss LP21 nur Kinder und Jugendliche sein. Doch von der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) ist nichts mehr zu hören. Man könnte meinen, sie wolle am liebsten nichts mehr mit der Kompetenzorientierung zu tun haben. Schliesslich war auch sie bloss Befehlsempfängerin und übernahm das Konzept auf Geheiss der OECD[10], ohne es in seinen Konsequenzen je erfasst zu haben.

Und so fährt der Flugzeugträger führungslos weiter ins Ungewisse, und um ja nicht eigenständig aus der Reihe zu tanzen, hat kaum ein Kanton den Mut, abzuspringen, … ausser einem.

Was soll schlecht sein auf einer Insel?

Das kleine gallische ‘Dorf’ in der Nordwestschweiz namens Baselland

Obwohl Angst bekanntlich ein schlechter Ratgeber ist, herrscht auch in der Baselbieter Bildungs- und Kulturdirektion (BKSD) die Befürchtung: Unterwerfen wir uns nicht dem kompetenzorientierten Gruppenzwang, verkommt Baselland zur Bildungsinsel. Dabei ist man sich der Bedeutung des metaphorischen Begriffs nicht klar: Was soll schlecht sein an einer Insel der Bildung, umgeben von einem Ozean auf Papier verschriftlichter Kompetenzen?

Betreffend die kompetenzorientierte Passepartout-Ideologie beispielsweise bekamen all diejenigen Lehrkräfte Recht, die ihren Unterricht nicht einmal in einer Anfangsphase am mittlerweile ausgelaufenen Sprachbad ausrichteten.

Die Frage ist weitaus mehr als nur rhetorischer Natur. Denn insbesondere in der Bildungslandschaft lohnt sich die Maxime des eigenen Wegs. Betreffend die kompetenzorientierte Passepartout-Ideologie beispielsweise bekamen all diejenigen Lehrkräfte Recht, die ihren Unterricht nicht einmal in einer Anfangsphase am mittlerweile ausgelaufenen Sprachbad ausrichteten. Beide involvierten Verlage sind dabei, ihre zwischenzeitlich in Verruf geratenen Lehrbücher zu überarbeiten, wobei sie sich verabschieden von der kompetenzorientierten Mehrsprachigkeits-Ideologie mit der ihr eigenen Verachtung für Grammatik, Wortschatz, Üben und Lernen an sich. Bei Bernhard Kobel, Geschäftsführer beim Schulverlag plus, hört sich dies folgendermassen an: «Wir wissen (…), dass bei der Einführung Fehler gemacht und viele Lehrpersonen vor den Kopf gestossen wurden, als ihnen ExpertInnen erklärten, dass eine neue Ära im Fremdsprachenunterricht angebrochen sei und sie alle ihre Erfahrungen vergessen müssten (…) Da ist noch das nicht funktionierende Sprachbad … Nun, wir sind nie der Illusion erlegen, dass ein paar wenige Unterrichtsstunden pro Woche für ein Sprachbad reichen. Deshalb schütten wir es gerne aus …»[11]

Von rund 180 Lehrpersonen, die neue Lehrmittel bestellt haben, haben sich noch zwei für Clin d’oeil entschieden.

Eine Verstopfung ist dem Mann sicher bei so viel Kreide, falls er nicht vorher daran erstickt. Der Verlag wäre gut beraten, seinen Lehrwerken nicht nur, wie angekündigt, einen Inhalt, sondern auch gleich neue Titel zu verpassen, denn ist der Ruf erst ruiniert, kommt der Konkurs ganz ungeniert. Damit soll keine Schadenfreude zum Ausdruck kommen, sondern ein durchaus plausibles Szenario: «Nun zeigen Zahlen aus dem Kanton Baselland, dass auf der Sekundarstufe die bisherigen umstrittenen Lehrmittel kaum mehr bestellt werden. Von rund 180 Lehrpersonen, die neue Lehrmittel bestellt haben, haben sich noch zwei für Clin d’oeil entschieden und elf für New World. Eine ähnliche Entwicklung ist in Basel-Stadt zu beobachten.»[12] Entschliesst sich auch der Kanton Bern für die Lehrmittelfreiheit, was wahrscheinlich ist, wird es eng für den Verlag.

Mut zum Ausscheren

Bei Schulreformen der jüngsten Zeit geht es um Kennzahlen wie Umsatz und Gewinn privatwirtschaftlicher Unternehmen statt um die Bedürfnisse von Lernenden.[13] Von daher ist gewiss, dass von der Zeit Recht bekommt, wer sich von Beginn an gegen pädagogisch kontraproduktive Reformen stellt. Bei der ausschliesslichen Kompetenzorientierung des LP21 wird sich dies nicht anders verhalten.

Erfahrungsgemäss dauert es acht bis zehn Jahre, bis sich die Unzulänglichkeit einer von Bildungsdirektionen erzwungenen Reform nicht länger unter den Teppich kehren lässt. Nach weiteren zwei bis vier Jahren werden solche Reformen von den nachfolgenden BildungsdirektorInnen klangheimlich versenkt. So geschehen mit der Orientierungsschule Basel (OS).

Was nun erfahrene Lehrkräfte innert weniger Nachmittage erledigen, brachten die damit Betreuten des AVS in drei Jahren nicht fertig.

Auf diesem Hintergrund wäre es mit Bezug auf den ausschliesslich kompetenzorientierten LP21 wünschenswert gewesen, hätte die BKSD gleich zu Beginn mehr Mut zum Ausscheren gehabt. Stattdessen lieferte sie sich über das Amt für Volksschulen (AVS) einen jahrelangen und Ressourcen verschleissenden Machtkampf mit den Unterrichtenden, wobei bis heute nicht klar ist, wer bei diesem Gezerre eigentlich den Lead hatte, die BKSD oder das AVS. Ungewiss ist auch, woran die für die Lehrpläne Verantwortlichen im AVS scheiterten. Kannten sie den Unterschied zwischen Stoffinhalten und Kompetenzen nicht oder war ihnen ihr Auftrag nicht klar? Tatsache ist, dass die Baselbieter Lehrpläne für etliche Fächer nach mehreren Rückmeldeschlaufen und Ratingkonferenzen noch immer überarbeitet werden müssen, und zwar im Auftrag des Bildungsrats. Was nun erfahrene Lehrkräfte innert weniger Nachmittage erledigen, brachten die damit Betreuten des AVS in drei Jahren nicht fertig. Doch eins ums andere.

Kompetenzraster Deutsch: Inhalte sind den Kompetenzen untergeordnet.

Denkfehler

Im Juni 2018 gelingt es der Starken Schule beider Basel anlässlich der damaligen Abstimmung, Stoffinhalte und Lernziele im Baselbieter Lehrplan zu verankern, und zwar mit einer Mehrheit von fast 85%. Als Kompromiss einigte man sich in der Folge auf den zweigeteilten Lehrplan Volksschule Baselland: «Er besteht aus den beiden Lehrplanteilen A «Stoffinhalte und Themen» und B «Kompetenzbeschreibungen».[14] Ermöglicht wurde dies durch die bereits oben erwähnte Degradierung des Lehrplan 21 zur Mustervorlage im September 2016.

Sich nach wie vor im kompetenzorientierten Gruppenzwang wähnend, musste sich die BKSD nach dem klaren Volksverdikt 2018 von der Starken Schule ausgetrickst fühlen. Ihre mutmassliche Überlegung: «Packen wir tatsächlich den ganzen Wulst an Kompetenzformulierungen in den Lehrplanteil B, wird keine Lehrkraft sich diesen je anschauen. Also müssen wir sie entgegen dem Volksentscheid auch im Lehrplanteil A unterbringen. Das Resultat: Beide Lehrplanteile umfassen Kompetenzbeschreibungen. Im Teil A sind sie zusätzlich wahllos vermengt mit teilweise schwierig bis gar nicht auffindbaren Stoffinhalten.

Der Denkfehler besteht in der Annahme, Kompetenzbeschreibungen bekämen im Lehrplanteil A auf wundersame Weise plötzlich eine Relevanz.

Der Vater des vermeintlichen Gedankens der BKSD ist die Einsicht, dass Kompetenzformulierungen für unterrichtende Lehrkräfte irrelevant sind, was auf die grosse Mehrheit aus rein pragmatischen Gründen auch tatsächlich zutrifft. Der Denkfehler besteht in der Annahme, Kompetenzbeschreibungen bekämen im Lehrplanteil A auf wundersame Weise plötzlich eine Relevanz. Doch die Irrelevanz der ausschliesslichen Kompetenzorientierung gründet nicht in irgendwelchen Lehrplanteilen, sondern in sich selbst. So wird denn auch bei privatwirtschaftlichen Testverfahren wie dem «Multicheck» Stoffwissen abgefragt, welches zuvor anhand von Stoffinhalten eingeübt wurde.

Schluss

Wie üblich bei Reformen in der Bildungspolitik war auch der LP21 ein Schuss aus der Hüfte. Er wurde ohne vorgängige Evaluationen, Abklärungen oder Pilotstudien flächendeckend durchgedrückt, ohne dass auch nur die geringsten Erfahrungswerte vorgelegen haben. Seither gibt es auch keinerlei Controlling zur Qualitätssicherung. Dem Experiment mit völlig offenem Ausgang und ungewissen Folgen sind hunderttausende junger Menschen ausgesetzt. Lässt sich dies anders umschreiben als mit verantwortungslos?

Durch die Macht des Faktischen dazu angeleitet, das Richtige zu tun, liegt es an den Lehrkräften, Verantwortung zu übernehmen, wo sie an übergeordneter Stelle verweigert wird. Mit anderen Worten wird im Unterricht folglich ignoriert, was nicht praktikabel oder schädlich ist.

Wie sonst nirgendwo können im exekutiven Bildungsbereich der öffentlichen Schulen die schrägsten Wirrköpfe die absonderlichsten Ideen durchsetzen, ohne je um die Konsequenzen zu wissen. Aufgrund der für die Bildungspolitik typischen Gesichtsbewahrungsfrist von 10 – 15 Jahren, wird auch nie einer von denen je zur Rechenschaft gezogen. Durch die Macht des Faktischen dazu angeleitet, das Richtige zu tun, liegt es an den Lehrkräften, Verantwortung zu übernehmen, wo sie an übergeordneter Stelle verweigert wird. Mit anderen Worten wird im Unterricht folglich ignoriert, was nicht praktikabel oder schädlich ist.

Die ehemalige Basler SP-Ständerätin, Anita Fetz, meinte in Bezug auf den LP21 im Einspruch «…eine überambitionierte Maus [hat] einen Dokumentenberg geboren, … Auch der Titel hat mit dem 21. Jahrhundert nichts zu tun. Sondern mit der Anzahl der Kantone, deren Lehrpläne gleichgeschaltet werden sollen. Es ist also nicht auszuschliessen, dass er irgendwann einmal nur noch Lehrplan 5 heissen wird.»[15] Mit dem kantonseigenen Lehrplan Volksschule Baselland ist er bereits jetzt nur noch der Lehrplan 20.

«Inkompetente Leute können mangels Kompetenz ihre Inkompetenz nicht erkennen; das ist nicht nur ihre persönliche Tragik, sondern oft auch eine große Belastung für die Gesellschaft.»[16]

Gjergj Perluca

emer. Prof. für Physik

 

[1]  https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/einspruch-tut-not-neuerscheinung-aus-der-schweiz.html

[2]  Zwei spannende und aufschlussreiche Textsammlungen finden sich in den beiden Ausgaben des Einspruch. Bestellungen: Alain Pichard, Neuenburgstrasse 138, 2505 Biel, arkadi@bluemail.ch oder Yasemin Dinekli, Brunngasse 3, 8708 Männedorf, yasemin.kanele@web.de

[3]  Für die Punkte 1-6 siehe Walter Herzog: https://www.svp.ch/wp-content/uploads/140107HERZOG-Kritik-Lehrplan-21-korr1.pdf

[4]  Für Punkte 9-11 siehe: https://www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/02-November/06_inform1314-02-Stellungnahme_LP21.pdf

[5]  https://www.youtube.com/watch?v=gy2t5PJEimM

[6]  http://starke-schule-beider-basel.ch/starkeschule.aspx

[7]  http://starke-schule-beider-basel.ch/starkeschule.aspx

[8]  Wortkreation Loretz/von Wartburg

[9]  https://www.srf.ch/play/tv/10vor10/video/fokus-lehrplan-21—dagmar-roesler-im-studiogespraech?id=a1b3d783-528a-4c54-bbd2-2dc859aa2e7f

[10]  Organisation for Economic Co-operation and Development, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

[11]  https://condorcet.ch/2021/04/quo-vadis-mille-feuilles-und-clin-doeil/

[12]  https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/lehrer-wenden-sich-ab-von-milles-feuilles-und-co?partId=11966651

[13]  Siehe z.B.: https://www.youtube.com/watch?v=utlV0PXSxHg

[14]  http://www.starke-schule-beider-basel.ch/archiv/Archiv_Artikel/GeschichtederSSbB.aspx

[15]  Einspruch S, 10, siehe Fussnote 2.

[16]  https://www.aphorismen.de/suche?f_thema=Inkompetenz

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https://condorcet.ch/2021/04/lehrplaene-eine-kurze-geschichte/feed/ 5
Interview mit einer PH-Studentin: Habe mir den Beruf nicht so cool vorgestellt. https://condorcet.ch/2020/12/interview-mit-einer-ph-studentin-habe-mir-den-beruf-nicht-so-cool-vorgestellt/ https://condorcet.ch/2020/12/interview-mit-einer-ph-studentin-habe-mir-den-beruf-nicht-so-cool-vorgestellt/#comments Sun, 13 Dec 2020 19:52:31 +0000 https://condorcet.ch/?p=7191

Vor einem Jahr kam die PH-Studentin Rebecca Schaer mit ihrer Kollegin an das OSZ-Orpund und übernahm dort eine 7. Klasse. Condorcet-Autor Alain Pichard, der an derselben Schule unterrichtet, wurde ihr Mentor. Sein Urteil: eine selbstbewusste, intelligente und mutige junge Lehrerin. Für unseren gebeutelten Berufsstand ein Versprechen.

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Rebecca Schaer, 24 Jahre alt, PH-Studentin und Klassenlehrerin: Der Lehrplan ist nicht hilfreich.

Rebecca Schaer ist 24 Jahre alt. Sie wohnt in Biel und arbeitet derzeit am OSZ-Orpund Klassenlehrerin einer 8. Klasse. In ihrer Freizeit spielt sie Eishockey bei den Brandis Ladies (Hasle-Rüegsau) und ist Mitglied im Studentinnen Nationalteam. Auch besitzt sie neben der Matur einen Abschluss der Sir John Franklin Highschool in Yellowknife (CA).

Condorcet:

Neben einem Master-Studium noch eine Klasse auf der Sekundarstufe 1 zu führen, ist kein Pappenstiel. Du wirkst aber relativ locker.

Schaer

Danke, das ist auch so…

Condorcet

Kein Überlastungssyndrom?

Schaer
Es kann schon manchmal eng werden, aber mir macht die Arbeit hier sehr Spass und ich bin belastbar.

Condorcet

Hilft da der Spitzensport, den du auch noch betreibst?

Schaer
Kann sein.

Rebecca Schaer und Alain Pichard auf einer Exkursion

Condorcet
Erzähle einmal unseren Leserinnen und Lesern, wie es dazu kam, dass du anderthalb Jahre vor deinem Masterabschluss hier eine Klassenlehrstelle übernommen hast.

Schaer
Ich hatte immer neben der Schule gearbeitet, seit meinem 12. Lebensjahr. Ich suchte also auch einen Job neben dem Semesterpraktikum, das im Januar anstand. Da sah ich die Ausschreibung eurer Schule. Gesucht eine Lehrkraft, 100%-Pensum, Klassenlehrerfunktion. Ich dachte mir: Anstatt hier an der PH kurz dauernde Praktika an verschiedenen Klassen zu absolvieren, übernehme ich doch gleich mal eine ganze Klasse und komme so zu meinen Berufserfahrungen.

Condorcet
Ziemlich unverfroren würde ich sagen. Entweder verlangt unser Job nicht viel oder das Studium ist ein Kindergeburtstag.

Schaer
Das habe ich mir gar nicht überlegt. Ich habe mich einfach beworben. Und ich wurde tatsächlich, zu meiner grossen Überraschung, eingeladen.

Condorcet

Ich will deine Performance nicht schmälern, aber wir hatten auch nicht eine grosse Auswahl …

Schaer
Jetzt bist du aber unverfroren. Wie auch immer. Ich ging an das Gespräch und euer Schulleiter war so offen, dass er mir die Stelle gab. Ich war gewählt!

Condorcet
Da hast du die Rechnung aber ohne den Wirt gemacht, nehme ich an.

Schaer
Ja, natürlich. Ich fragte nun die PH-Direktion, ob das ginge, und die sagten – diesmal nicht überraschend – Nein!

Condorcet
Und da kam deine Kollegin ins Spiel!

Schaer
Ja, ich suchte eine Partnerin oder einen Partner, und es brauchte nur wenig Überzeugungsarbeit für die Zusage von Xenia. Auch eure Schulleitung stimmte zu,  und da reduzierte sich natürlich meine Präsenzzeit um 50%. Unter diesen Bedingungen stimmte dann auch die PH zu. Und natürlich, du hast recht, hattet ihr auch keine grossen Alternativen…

Condorcet
Das erste Halbjahr habt ihr bravourös gemeistert. Jetzt unterrichtest du meines Wissens nur noch 10 Lektionen.

Schaer
Genau, ich bin aber immer noch Klassenlehrerin.

Condorcet
Jetzt kommt die unvermeidliche Frage. Wie hast du den «Praxisschock» gemeistert?

Schaer

Rebecca Schaer im Chemieunterricht: konnte auf die Hilfe der Kollegen zählen

Die Klasse und das Kollegium waren dabei sehr hilfreich. Wir erhielten eine tolle Klasse, die mir vieles verzieh. Ausserdem konnte ich bei den schwierigen oder neuen Erfahrungen von der Hilfe eines älteren Kollegen profitieren; beispielsweise als wir mit dessen Klasse ins Skilager gingen. Auch seitens der Schulleitung wurde ich unterstützt.

Condorcet
Du bist also ein Naturtalent.

Schaer (lacht)
Ja, immer und überall.

Condorcet
Welche Fächer hast du in der PH belegt?

Schaer
Deutsch, Natur und Technik und Englisch.

Es hat oft überhaupt keine Relevanz und ist meilenweit von meiner jetzigen Tätigkeit entfernt.

Condorcet
Viele PH-Studentinnen und –Studenten klagen über die Praxisferne der PH-Ausbildung. Das war auch zu unserer Zeit am Lehrerseminar so, eine Art Evergreen. Klagst du auch?

Schaer
Natürlich bereiten die PHs uns nicht auf die reellen Probleme eines Schulalltags vor. Ich frage mich manchmal, ob sie das überhaupt können. Eigentlich ist es tragisch. Ich interessiere mich zwar für viele Inhalte, die ich an der PH durchnehme, weil ich gerne neue Sachen lerne, bezweifle aber, dass das für meinen Berufsalltag gewinnbringend ist. Es hat oft überhaupt keine Relevanz und ist meilenweit von meiner jetzigen Tätigkeit entfernt.

Condorcet
Man will euch eben einen grösseren Horizont eröffnen, Perpektiven aufzeigen, Bildung vermitteln.

Schaer
Es ist eine Berufsausbildung, vergiss das nicht. Ich habe eher das Gefühl, dass wir uns viel zu viel in Banalem und Unnötigem verlieren. Es wäre besser, wenn wir uns vertiefen und fokussieren würden. Aber wie gesagt, vieles mache ich an der PH gerne, kann es aber in meinem Alltag überhaupt nicht brauchen.

Condorcet
Ihr müsst ja auch Forschung betreiben …

Dozentinnen und Dozenten: Es gibt hervorragende und miserable

Schaer
Ja, wir lesen Studien und müssen bei Forschungspraktika mitwirken … und auch hier gibt es Fragestellungen und Inhalte, die wenig praxistauglich sind. Das gilt auch für die «Forschungsarbeit», wo ich mich manchmal frage, was das noch mit Forschung zu tun hat.

Am besten natürlich wäre es, wenn diese Leute mal zwischendurch selbst unterrichten würden. Nicht an einer Spez. Sek wohlgemerkt, sondern mit einem hohen Pensum an einer Realklasse im urbanen Umfeld oder sogar in einer Brennpunktschule.

Condorcet

Es wird derzeit viel von Unterrichtsqualität gesprochen. Wie sieht es mit der Unterrichtsqualität bei euch an der PH aus?

Rückmeldungen müssen etwas bewirken, sonst nützen sie nichts und man kann sie bleiben lassen.

Schaer
Unterschiedlich, sehr unterschiedlich. Es gibt grossartige und es gibt miserable Dozentinnen und Dozenten.

Condorcet
Immerhin gibt es ja bei euch eine Rückmeldungskultur …

Schaer
Rückmeldungen müssen etwas bewirken, sonst nützen sie nichts und man kann sie bleiben lassen. Von meinen Leuten weiss ich, dass sie regelmässig sehr kritische Rückmeldungen geben. Die DozentInnen sind auch verpflichtet, diese mit uns zu diskutieren. Es scheint mir aber wie ein hohles Ritual. Die Umfragen sind zeitintensiv, die Rückmeldungen sind höchstens durchschnittlich; Rechtfertigungen dafür sind die Regel und ändern tut sich nichts. Dass Hochschuldozierende mit einem «mässig» oder wie man es auf der Sek I ausdrücken würde «genügend» zufrieden sind, finde ich bedenklich.

Am besten natürlich wäre es, wenn diese Leute mal zwischendurch selbst unterrichten würden. Nicht an einer Spez. Sek wohlgemerkt, sondern mit einem hohen Pensum an einer Realklasse im urbanen Umfeld oder sogar in einer Brennpunktschule.

Condorcet
Bei euch wird ja die Kompetenzorientierung in der Ausbildung stark gewichtet.

Schaer
Das ist so …

Condorcet
Unterrichtest du mit Kompetenzrastern?

Schaer

Ja, das tue ich, ich benote die Arbeiten meiner SchülerInnen stets mit einem ihnen vorher bekanntgegebenen Beurteilungsraster.

Condorcet
Mit vielen Kriterien und Kreuzchen?

Schaer
Ich verbitte mir deine Ironie. Die Kriterien helfen mir, die Note zu begründen, so zu begründen, dass die SchülerInnen dies auch verstehen.

Condorcet
Helfen da nicht viel mehr Gespräche?

Schaer
Natürlich, das gehört dazu … Ich schreibe auch Fliesstexte unter die Aufsätze. Anders steht es mit der Verpflichtung, alle unsere Inhalte stets mit Kompetenzformulierungen zu untermauern, sie nach diesen auszurichten. Diese sind aber oft dermassen «schwurbelig» formuliert, dass dies zu einer rein akademischen Selbstbefriedigung wird. Ich weiche dann auf die Lehrmittel aus, aber auch dort findet man viele Kompetenzformulierungen, die unverständlich und nicht fassbar sind.

Condorcet
Ich nehme an, dass der schülerzentrierte Unterricht –mit Lehrkräften als Coaches – ebenfalls hoch im Kurs steht?

Schaer
Das stimmt … und das mache ich hier immer noch viel zu viel.

Condorcet
Habe ich richtig gehört? Du machst es zu viel?

Schaer
Ja, ich lasse sie immer noch viel zu viel allein wursteln … Das ist oft nicht sehr effizient, braucht viel Zeit und sie lernen viel zu wenig. Insbesondere leistungsschwache Klassen sind überfordert.

Condorcet
Was wäre die Alternative?

Man muss sich nur einmal vorstellen, wie lange die Menschheit gebraucht hat, um zum Beispiel das Auftriebsgesetz zu verstehen, geschweige denn zu formulieren.

Schaer

Schülerzentrierter Unterricht: Sie lernen zu wenig

Wieder so eine rhetorische Frage … Nun denn, ich glaube, die Schüler benötigen zu einem gewissen Grad Struktur und Anleitungen, sonst sind sie verloren. Das heisst nicht, dass man sie nicht auch gewisse Dinge selbst entdecken lassen kann. Aber einen ganzen Unterricht darauf aufzubauen? Man muss sich nur einmal vorstellen, wie lange die Menschheit gebraucht hat, um zum Beispiel das Auftriebsgesetz zu verstehen, geschweige denn zu formulieren.

Condorcet
Dann kommst du auch in Konflikt mit dem Lehrplan 21?

Lehrplan 21: wenig hilfreich

Schaer
Konflikt? Nein, der ist für mich einfach nicht hilfreich und deshalb auch nicht immer relevant. Zu gewissen Themen findet man Dutzende von verschwurbelten Wischiwaschi-Kompetenzformulierungen; die bringen doch nichts für die Unterrichtsplanungen. Ich schaue dann in die Lehrmittel und nehme das heraus, was Sinn macht.

Condorcet
Was ist denn für dich ein guter Unterricht?

Schaer
Nun, wir haben an der PH natürlich die berühmten 10 Prinzipien guten Unterrichts angeschaut. Hier in der Praxis weiss ich: Die SchülerInnen müssen etwas lernen, und sie sollten ihre Neugier behalten. Schön ist es auch, wenn ich ihre Neugier wecken kann. Das gilt übrigens auch für mich. Solange ich neugierig bin, so lange mag ich auch lernen.

Condorcet

Und das funktioniert hier am OSZ-Orpund?

Schaer
Ich hatte Glück mit meiner Klasse. Sie ist neugierig und aufgeweckt. Wir können manchmal stundenlang diskutieren. Wichtig ist einfach, dass die Beziehung stimmt.

Condorcet
Und wenn es nicht stimmt, also wenn disziplinarische Probleme auftreten?

Schaer

Dann muss ich handeln …

Condorcet
Mit Strichli und Strafarbeiten?

Schaer
Diese Frage ist eine Beleidigung.

Ab und zu werden an dieser wirklich «braven» Schule Vorkommnisse dramatisiert.

Condorcet
Im Ernst, wie empfindest du unseren Umgang mit den Regeln?

Schaer
Es hat hier keine grosse Regelungsdichte, das sagt mir zu, ich kann vieles mit der Klasse regeln, so wie ich es mir vorstelle. Ab und zu werden an dieser wirklich «braven» Schule, Vorkommnisse dramatisiert. Das ist nicht mein Ding. Ich muss einfach dafür sorgen, dass die SchülerInnen arbeiten können, dass der Unterricht pünktlich beginnt, dass sie mir zuhören, dass ich über ihren Leistungsstand Bescheid weiss, einfach dass kein Chaos herrscht …

Condorcet
Chaos kann ja auch kreativ sein …

Schaer
Ja, sehr sogar, aber nicht als permanenter Zustand.

Condorcet
Wir sind hier in deinem Klassenzimmer. Du hast einen Pingpongtisch eingerichtet. Es ist 17 Uhr und deine SchülerInnen bleiben noch im Zimmer, obwohl sie frei hätten.

Das sind sehr schöne Momente

Schaer
Das sind sehr schöne Momente. Sie bleiben und müssen das Schulzimmer nicht verlassen, solange ich da bin. Genau das verstehe ich unter Quality Time: Da entstehen auch die guten Gespräche. Ich kenne meine SchülerInnen mittlerweile ziemlich gut.

Condorcet
Du bist ausserordentlich gut mit den digitalen Medien vertraut. Während des Lockdowns hast du die SchülerInnen in verschiedenen Chaträumen betreut, hast die «Olympic Games of Homeschooling» (tägliche digitale Challenges) ins Leben gerufen und ihnen animierende Aufgaben gegeben.

Digitalisierung hat enge Grenzen

Schaer
Danke für die Blumen … willst du Nachhilfe?

Condorcet
Wenn ich noch länger im Dienst wäre, sofort. Aber heute ist ja eh viel von der Digitalisierung die Rede. Wie wird sich deiner Meinung nach der Beruf entwickeln, in den du soeben eingetreten bist?

Schaer
Eine gezielte Digitalisierung ist ja durchaus sinnvoll, und ihr macht das hier gut. Aber es gibt viele Dinge, da bringt der Computer mit seinen algorithmischen Programmen gar nichts. Es sind Kinder. Die wollen nicht den ganzen Tag an den Geräten hängen und ständig auf die Tasten drücken. Die elektronische Wandtafel, die ja jetzt kommen soll, finde ich unnötig.

Condorcet
Kannst du dir vorstellen, in diesem Beruf alt zu werden?

Schaer
Ich neige zu Kurzschlusshandlungen.

Condorcet
Wie meinst du das?

Schaer
Vor der PH studierte ich 2 Jahre lang Chemie, hatte sogar den Minor in der Tasche. Von einem Tag auf den anderen brach ich die Ausbildung ab und flog für drei Wochen nach Panama, bereiste die Welt.

Condorcet
Und das könnte hier wieder passieren?

Schaer
Wenn mich etwas nicht mehr interessiert, dann löst das bei mir Fluchtreaktionen aus …

Condorcet
Okay, dann frage ich so: Kann man damit rechnen, dass dieser Beruf dich einmal nicht mehr interessieren wird?

Schaer
Natürlich, aber so lange die Bedingungen stimmen … Schau, bevor ich hierherkam, habe ich nicht gedacht, dass es hier so cool sein würde. Ich komme jeden Tag gerne in die Schule und bin selbst überrascht über meine eigene Neugierde.

Ich bin einfach noch kein so gutes Vorbild.

Condorcet
Und deine Defizite?

Schaer
Was denkst du?

Condorcet
Hm …, du redest zu schnell …

Schaer
Sei nicht albern … Ich bin einfach noch kein so gutes Vorbild. Auch beim Reden. Ich habe im Unterricht noch einen zu schnoddrigen Umgangston.

Condorcet

Was habe ich dich noch nicht gefragt, was möchtest du noch sagen?

Schaer

Du hast mich nicht gefragt, was ich an meinem Beruf gut finde. Ich habe kürzlich einer Schülerin – eine Geflüchtete aus Syrien – auf den Test geschrieben: «YA EVA! Das hast du toll gemacht. Ich bin so stolz auf dich». Sie hatte im Deutschtest eine 6. Dass sie so viel mitgenommen hat und das erreicht hat, beeindruckt und beflügelt mich sehr. Ausserdem bin ich von absolut liebenswerten Leuten umgeben. In unserem Kollegium gibt es Lehrpersonen, mit denen ich ohne Tabus diskutieren kann. Ich schätze sie sehr und bin dankbar, dass ich in solch einem Umfeld gelandet bin.

Condorcet
Wie wollen wir aufhören?

Schaer

Zwischen mir und meiner Klasse hat sich das arabische Wort «Hamdullah» als mehrbesseres Tschüss eingebürgert. Von einer Schülerin liess ich mir erklären, dass das Lob/Dank sei Gott bedeutet. Ich bin nicht religiös, aber Dankbarkeit auszudrücken, als Verabschiedung, finde ich schön. Ein High-Five wie in alten Zeiten wäre aber auch super.

Das Gespräch führte Alain Pichard.

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Bildung ist nicht gleich Ausbildung https://condorcet.ch/2020/10/bildung-ist-nicht-gleich-ausbildung/ https://condorcet.ch/2020/10/bildung-ist-nicht-gleich-ausbildung/#comments Wed, 21 Oct 2020 13:19:03 +0000 https://condorcet.ch/?p=6725

André Vanoncini, ehem. Dozent für franz. Literaturwissenschaft an der Universität Basel, übt massive Kritik an der Ausbildung, wie sie zurzeit an den PH's betrieben wird. Unter anderem wirft er ihnen vor, trotz sehr schlechter Rückmeldungen ein "business as usual" zu betreiben.

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André Vanoncini, ehem. Dozent an der Universiät Basel: Es bleibt alles beim Alten.

Der seit 30 Jahren andauernde Prozess der Globalisierung hat sämtliche Lebensbereiche erfasst und in seine Abhängigkeit gebracht. Jeder Mensch droht dabei ein Rädchen in einer weltumspannenden Profitmaschinerie zu werden. Betrieben wird diese Profitmaschinerie durch Spezialisten, beraten von Experten, gesteuert durch Manager und inspiriert von Hightech-Genies. Nun zeigen sich erstmals grössere Risse im Modell. Die Umweltproblematik und die Corona-Krise haben Verwerfungen bewirkt und die Individuen zur fundamentalen Hinterfragung ihrer gesellschaftlichen Aufgabe herausgefordert.

Natürlich sind der Schul- und der Studienbereich von dieser Entwicklung nicht ausgenommen. Bekanntlich wurde in den vergangenen Jahrzehnten der Ausbildung höchste Priorität eingeräumt. Die Auszubildenden sollten durch entsprechend instruierte Ausbilder zu möglichst funktionstauglichen Leistungsträgern herangezogen werden. Die Entwicklung der Persönlichkeit und ihres kulturellen Verständnisses – also die Bildung – rückte dabei in den Hintergrund.

Unterrichtende  sind aus dieser Perspektive Ausführende einer expertenbasierten Lerntechnologie.

PH FHNW: Treiber einer verheerenden Entwicklung

Als mächtige Treiber dieser Veränderung haben sich (in paradoxer Verleugnung ihrer humanistischen Tradition) die Pädagogischen Hochschulen erwiesen. Sie verstehen sich längst nicht mehr als Bildungsinstitutionen für zukünftige Lehrpersonen, sondern als Steuerungsorgan des gesamten Erziehungsbereichs. Sie liefern die Konzepte für Schulaktivitäten auf allen Stufen. Beispiele sind der Lehrplan 21, die Mehrprachigkeitsdidaktik, die geleitete Schule, Unterrichtsvermessung, Lernateliers, Sammelfächer und darauf abgestimmte Studiengänge für zukünftige Lehrpersonen. Unterrichtende sind aus dieser Perspektive Ausführende einer expertenbasierten Lerntechnologie. Erziehungsdirektionen und ihre Verwaltungen sorgen für die Umsetzung der „wissenschaftlichen“ Vorgaben. Es ist diesbezüglich aufschlussreich, die Funktionsbeschreibungen von PH-Dozierenden anzuschauen. Die meisten erscheinen als Vertreter von technischen Spezialitäten oder als Betriebsmanager.

Es ist diesbezüglich aufschlussreich, die Funktionsbeschreibungen von PH-Dozierenden anzuschauen. Die meisten erscheinen als Vertreter von technischen Spezialitäten oder als Betriebsmanager.

Leider hat diese oft in vorauseilendem Gehorsam erfolgte Übernahme der oben erwähnten Globalisierungstendenzen zu keinen nennenswerten Erfolgen im Schulbereich geführt. Im Gegenteil: Passepartout, von Unterrichtstheoretikern entworfen und der Lehrerschaft aufgezwungen, hat sich inzwischen als millionenteurer Fehlschlag erwiesen und wird zurzeit in verschiedenen Kantonen diskret entsorgt. Kompetenzorientierung, selbstgesteuertes Lernen und Volldigitalisierung werden ihre Verheissungen ebenfalls nicht erfüllen können. Die grössten Leidtragenden solcher Exzesse sind leider die SchülerInnen.

Ausnahmslos schlechte Rückmeldungen

Nun kommt es auch vor, dass sich die Expertengemeinschaft dem von ihr entwickelten Instrumentarium selbst unterzieht und eine Selbstdurchleuchtung veranlasst. So hat die pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (PH/FHNW) im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte mehrmals auf verschiedenen Niveaus Zufriedenheitsumfragen bei ihren Studierenden durchgeführt. Die Resultate waren ausnahmslos schlecht. Anstatt Konsequenzen zu ziehen, die der von ihr selbst proklamierten Kundenfreundlichkeit entsprechen würden, begnügte sich die PH mit Optimierungsversprechen und beliess alles beim Alten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Es geht einerseits um Betriebsblindheit und politische Zwänge, andererseits um Posten und Prestige.

Die erste Eigenschaft wird am besten durch Fachvertreter der Universität gewährleistet. Die zweite erfährt eine optimale Förderung durch erfahrene Lehrpersonen.

Miserable Feedbacks der Studierenden

Es wurde jedenfalls offensichtlich, dass eine Wende zum Besseren nicht durch innere Reformen der Institution gelingen kann. Sie ist nur über eine der heutigen Krise entspringende Neubewertung zu bewerkstelligen. Grundsätzlich ist dabei die Bildung wieder vor die Ausbildung zu stellen. SchülerInnen dürfen nicht  zum Humankapital für gewinnbringende Investitionen in die Zukunft werden. Erstes Ziel muss es sein, sie zu urteilsfähigen Mitgliedern in einer Solidargemeinschaft heranwachsen zu lassen. Um sie dahin zu bringen, braucht es inhaltlich und unterrichtspraktisch gebildete Lehrpersönlichkeiten. Die erste Eigenschaft wird am besten durch Fachvertreter der Universität gewährleistet. Die zweite erfährt eine optimale Förderung durch erfahrene Lehrpersonen. Den Pädagogischen Hochschulen bleibt die wichtige Aufgabe vorbehalten, pädagogische und didaktische Inhalte zu vermitteln.

In einem solchen Rahmen wird das Zusammenspiel von Bildung und Ausbildung als identitätsstiftende Grundlage für Lehrpersonen und Schülerschaft ermöglicht. Unser Land ist mit Recht stolz darauf, eine bürgernahe Demokratie zu sein. Damit dies so bleiben kann, sind alle dazu aufgerufen, sich  der im Gefolge der Globalisierung erfolgten Entmündigung entgegenzustellen. Die Lehrpersonen haben dabei eine besondere Verantwortung. Mit unser aller Unterstützung können sie diese zurückgewinnen.

 

André Vanoncini, ehem. Dozent für franz. Literaturwissenschaft an der Universität Basel

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Das duale Prinzip kann nicht überschätzt werden https://condorcet.ch/2020/10/das-duale-prinzip-kann-nicht-ueberschaetzt-werden/ https://condorcet.ch/2020/10/das-duale-prinzip-kann-nicht-ueberschaetzt-werden/#respond Mon, 19 Oct 2020 04:33:26 +0000 https://condorcet.ch/?p=6704

Marianne Wüthrich, ehemalige Berufsschullehrerin und Mitglied der Starken Volksschule Zürich und St. Gallen, kann den Aussagen von Professor Tobias Straumann in seinem Beitrag "Den Wert der Bildung nicht überschätzen" nicht vollumfänglich zustimmen.

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Marianne Wüthrich: Die Volksschule fördert mit ihrer Kompetenzorientierung die Chancenungleichheit.

Dass die nicht-akademischen Berufe von manchen Akademikereltern zu wenig gewürdigt werden, ist zweifellos richtig. Wo ich als langjährige Berufsschullehrerin widersprechen muss: «Bildung für alle» ist nicht nur auf dem akademischen Weg zu erlangen. Gerade in der Schweiz mit ihrem qualitativ hochstehenden und durchlässigen dualen Berufsbildungssystem ist eine Berufslehre der «Königsweg» zu vielen weiterführenden Möglichkeiten. Auch für diesen Weg werden gute schulische Grundlagen vorausgesetzt. Dafür hätte die Volksschule zu sorgen, und in neun Schuljahren wäre dies auch für Kinder mit weniger guten familiären Bedingungen möglich.

Hier liegt das Problem. Denn die Schulreformen der letzten Jahrzehnte verstärken die Chancenungleichheit erheblich. Besonders gravierende Folgen für Kinder, die zu Hause wenig gefördert werden können, hat das Konzept des Lehrplan 21. Gerade sie bräuchten einen geführten Klassenunterricht. Mit «selbstorganisiertem Lernen» vermögen die vielen Kompetenz-Bröckchen in ihren Köpfen nicht zu einem strukturierten Ganzen zusammenzuwachsen. Die Volksschule steht in der Pflicht, allen Kindern die Grundlagen für eine gute Bildung zu ermöglichen. In diesem Sinn kann Bildung nicht überschätzt werden.

Dr. iur. Marianne Wüthrich.

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Kompetenzorientierung auch im Gymnasium? https://condorcet.ch/2020/10/kompetenzorientierung-auch-im-gymnasium/ https://condorcet.ch/2020/10/kompetenzorientierung-auch-im-gymnasium/#comments Tue, 06 Oct 2020 18:34:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=6636

Nicht ganz unerwartet hat der Beitrag von Professor Markus Wilhelm (Zu oft wird der Bildungsbegriff im gymnasialen Schulalltag gleichgesetzt mit Wissensvermittlung, 5.10.2020) eine Reaktion ausgelöst. Sie stammt von unserem Condorcet-Autor Felix Schmutz.

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Felix Schmutz, BL:
Kompetenzen, Inhalte und Bereitschaften werden einem undurchschaubaren Nebel formuliert

Markus Wilhelm verteidigt die Kompetenzorientierung, indem er sie nicht als Gegensatz zum humboldtschen Bildungsbegriff, sondern als die bestmögliche Umsetzung von dessen Ideal der Persönlichkeitsbildung deutet. Man reibt sich die Augen!

Der Verweis auf Klafki und Weinert soll das Argument entkräften, wonach Kompetenzorientierung Bildung auf die nützliche Anwendung von Wissen zur Problemlösung reduziere. Die Kritik sei falsch, weil Kompetenz stets mit kognitiv strukturiertem Fachwissen und der Bereitschaftseinstellung einhergehe.

Allerdings ist diese Argumentation aus folgenden Gründen nicht wirklich stichhaltig:

  1. Allgemeinbildende Schulen (dazu gehört letztlich auch das Gymnasium, das Lernende zur Studierfähigkeit führen muss) haben den gesetzlichen Auftrag, «die geistigen und körperlichen, schöpferischen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten zu fördern, das Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Mitmenschen und der Mitwelt zu stärken sowie das Hineinwachsen in die Gesellschaft vorzubereiten und zu begleiten. (§17 Verfassung Kanton BS).

Mit einem so verstandenen Bildungsbegriff werden alle nicht auf Problemlösung fokussierten Inhalte zweitrangig.

Utilitaristisch verzweckt

Kompetenzorientierung ist vom Resultat her gedacht

Das Fördern der Fähigkeiten wird bei der Kompetenzorientierung jedoch von Anfang an mit der «Lösung konkreter Probleme» verknüpft und damit utilitaristisch verzweckt. Das ist eine Einschränkung der Persönlichkeitsbildung, denn mit einem so verstandenen Bildungsbegriff werden alle nicht auf Problemlösung fokussierten Inhalte zweitrangig: Vertieftes Verständnis für eine Sache, ästhetisches Erleben, freies Ausprobieren, neugieriges Erkunden, Motivation aus der Faszination an einem Stoff, eine eigene Meinung entwickeln, mithin Dinge, die wichtig oder sogar wichtiger sind, wenn grundlegende Fähigkeiten entwickelt und gefördert werden sollen.

Kompetenzorientierung entspricht also gerade nicht dem humboldtschen Ideal.

Konzept der Berufsbildung

Anwendungskompetenzen ergeben sich als Folge der einzelnen Lernvorgänge und als Folge der allgemein ausgerichteten Persönlichkeitsbildung. Vorherrschendes Bildungsziel sind sie erst in der Berufsbildung. Das heisst nicht, dass im allgemeinbildenden Unterricht nicht Fähigkeiten und Fertigkeiten geübt werden sollen. Sie sind jedoch Teil der Lernprozesse und nicht deren erstrangiger Zweck.

Kompetenztests als humboldtsches Ideal ?

Kompetenzorientierung entspricht also gerade nicht dem humboldtschen Ideal, das im zitierten Verfassungstext deutlich anklingt. Deshalb hat Yasemin Dinekli in ihrem Beitrag Recht, wenn sie als Basis des Unterrichts am Gymnasium inhaltliche Ziele setzen will, aus denen sich in der Folge die geeigneten Kompetenzen ergeben sollen.

  1. Es sei daran erinnert, dass der Begriff Kompetenz von Weinert als Grösse eingeführt wurde, um Schulleistungen mess- und vergleichbar zu machen. Die Psychologie, die sich schon seit hundert Jahren mittels Intelligenztests die Deutungshoheit über die Einschätzung des menschlichen Potenzials anmasst, erhielt von der OECD den Auftrag, das Potenzial, das sich aus schulischer Bildung ergibt, in ähnlicher Weise zu vermessen (PISA).
    Franz Weinert: Schulleistungen mess- und vergleichbar machen

    Kompetenzen dienen also in erster Linie dem Zweck, Resultate schulischer Bildung zu erheben, soweit diese überhaupt mess- und vergleichbar sind. Typischerweise können Kompetenzen erst nach Abschluss eines Unterrichtsabschnittes erhoben werden, wenn sich aus der schulischen Arbeit die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten haben ergeben können. Dass Kompetenztests aber zu einem Bildungsprogramm erhoben wurden, das erst noch angeblich das humboldtsche Ideal verkörpern soll, ist nichts anderes als eine Zweckentfremdung eines als Testgrundlage gedachten Konstrukts. Pädagogik und Didaktik haben sich willfährig der sachfremden Vermessungspsychologie gebeugt und deren Testbatterien zu Lernzielen umfunktioniert. Ein Irrtum, der dem ganzen Lehrplan 21 zugrunde liegt und nach den mässigen PISA-Resultaten der letzten Erhebung allmählich offenkundig werden sollte. Leistungserhebung und Lernprozesse sind strikt auseinanderzuhalten, Äpfel sind keine Birnen.

Lehrpläne, die aus Kompetenzrastern bestehen, wie das nun auch für die Schweizer Gymnasien geplant ist, priorisieren jedoch den Output gegenüber dem Input.

  1. Die Priorisierung von Kompetenzen gegenüber Inhalten in einem Lehrplan ist das grundlegende Problem des Bildungsbegriffs von Wilhelm. Der Irrtum besteht in der Grundannahme, Kompetenzen existierten unabhängig vom Inhalt gleichsam wie Naturgesetze, denen alles
    Prof. Dr. Markus Wilhelm war Gymnasiallehrer und lehrt heute Naturwissenschaften und ihre Didaktik an der PH Luzern. Zudem ist er Honorarprofessor an der PH Heidelberg.

    Materielle gehorchen muss. Dies mag für Naturwissenschaftler eine verlockende Ansicht sein. Sie scheitert jedoch an der Tatsache, dass sich Kompetenzen im Unterschied zu den allgemeingültigen Naturgesetzen auf die Domänen beschränken, in denen sie erworben wurden. Die Beschäftigung mit Inhalten steht an erster Stelle, Kompetenzen zur Problemlösung ergeben sich aus der Arbeit mit den Inhalten. Lehrpläne, die aus Kompetenzrastern bestehen, wie das nun auch für die Schweizer Gymnasien geplant ist, priorisieren jedoch den Output gegenüber dem Input. Kein Wunder sprechen die Anhänger der Kompetenzen von der Outputorientierung, auf die der Unterricht umgestellt werden müsse. Wohlweislich stimmt Wilhelm nicht in den Chor seiner PH-Kollegen ein, die solches verkünden. Statt dessen vermengt er Kompetenzen, Inhalte und Bereitschaften zu einem undurchschaubaren Nebel, den Unterrichtende bitte gekonnt managen sollen, um das angeschlagene Konzept irgendwie noch zu retten.

Statt dessen vermengt er Kompetenzen, Inhalte und Bereitschaften zu einem undurchschaubaren Nebel, den Unterrichtende bitte gekonnt managen sollen, um das angeschlagene Konzept irgendwie noch zu retten.

Fazit: Kompetenzorientierung als Bildungsprogramm eignet sich deshalb nicht, weil Kompetenzen das Lernen vom Resultat her denken und dabei die notwendigen andern Lernschritte vernachlässigen, die der Anwendung zur Problemlösung vorangehen: Interesse und Motivation, Begegnung mit dem Lernstoff, Erstverständnis, Verankerung im Gedächtnis, Verarbeitung und vertieftes Verständnis. Wilhelm kann den Vorwurf, Kompetenzorientierung sei auf Nützlichkeit ausgerichtet, nicht entkräften. Allerdings steht nicht die Nützlichkeit als solche im Fadenkreuz der Kritik. Wenn Schulbildung nicht nützlich wäre, müsste man die Schule schleunigst abschaffen. Der eigentliche Stein des Anstosses ist der Irrglaube, den Schulunterricht im Sinne praktischer Problemlösungsfähigkeiten «verzwecken» zu müssen, damit er nützlich sei, damit man im internationalen Wettbewerb bestehen könne. Es ist diese Doktrin, die dem humboldtschen Ideal und dem gesetzlichen Auftrag der Persönlichkeitsbildung diametral zuwiderläuft.

 

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