Kompetenzen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 23 Apr 2024 07:05:14 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Kompetenzen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Frühjahrsputz im Bildungswesen: Was muss weg? Was muss her? https://condorcet.ch/2024/04/fruehjahrsputz-im-bildungswesen-was-muss-weg-was-muss-her/ https://condorcet.ch/2024/04/fruehjahrsputz-im-bildungswesen-was-muss-weg-was-muss-her/#comments Tue, 23 Apr 2024 07:05:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=16563

Viele neue Lernkonzepte entmutigen die Schüler und verringern ihre Kompetenzen. Daher wäre es richtig, ein paar bewährte Bildungsprinzipien zu rehabilitieren. Und zwar in Kombination mit modernsten Mitteln. Die Heilpädagogin und Dozentin Mirjam Stiehler nimmt sich im 5. Teil ihrer Kritik am deutschen Bildungssystem diesmal die Bildungsforscher und -planer vor. Vom Kindergarten bis zum Abitur hat ein ideologisch begründeter Wandel stattgefunden, der die Qualität von Erziehung und Unterricht gesenkt hat. Die Einstellungen der Bildungspolitiker und -forscher müssen sich ändern, damit unsere Kinder wieder etwas Handfestes lernen können.

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Neue Besen kehren gut. Aber die alten wissen, wo der Dreck sitzt! Das gilt in vielerlei Hinsicht für unsere Schulen. Bevor es nun heißt, die Stiehler will zurück zur Rohrstockpädagogik: Nichts läge mir ferner. Aber die neuen konzeptuellen Besen haben sich als fadenscheinige Waschlappen entpuppt, die Schüler entmutigen und Kompetenzen verringern statt aufzubauen.

Gastautorin Mirjam Stiehler, Heilpädagogin, Dozentin und Schulleiterin

Daher sollten wir ein paar bewährte Bildungsprinzipien rehabilitieren. Und zwar in Kombination mit modernsten Mitteln – für mich ist es kein Widerspruch, gezielte Diktate und zugleich die Messung der Lesegeschwindigkeit einzuführen; mehr Handschrift zu fordern und zugleich das elende Vokabelheft flächendeckend durch Apps abzulösen; Schüler gezielt nach Leistungsfähigkeit zu gruppieren, aber zugleich die Anwesenheitspflicht durch eine Lernpflicht zu ersetzen.

Es geht mir nicht um eine Methodensammlung, sondern ein grundlegendes Umdenken: Nicht nur “Was müssen wir tun?”, sondern auch “Wie müssen wir sein?” (Paul Moor). Das Leitprinzip darf nicht länger Unlustvermeidung sein, sondern Mut zur Tatkraft und zur Leistung. Solches Umdenken ist nicht für Geld zu haben. Es erfordert eine veränderte Einstellung von der Schwangerschaft bis zum Abitur, und zwar bei einer Mehrheit von Bildungspolitikern, Eltern, Ärzten und Pädagogen. Dieses Umdenken müsste sich in konkreten Änderungen zeigen:

Selbsterziehung der Eltern von Tag 1 an fördern

Viele frischgebackene Eltern können schlecht unterscheiden, ob ihr Kind aus Unlust, Trauer oder Angst schreit. Sie glauben, gute Eltern dürften ihren Kindern keine dieser Emotionen zumuten. Angst und Trauer sollten tatsächlich die Ausnahme sein – das Erleben und Aushalten von Unlust hingegen ist notwendig und erstrebenswert, denn Unlust gelassen auszuhalten ist Frustrations-Toleranz. Es ist so unvermeidbar wie harmlos, seinem Kind täglich vielfach Unlust zu bereiten, denn Kinder sind zunächst sehr lustgetriebene Wesen. Sie müssen erst lernen, einem größeren Ziel zuliebe auf Triebbefriedigungen zu warten oder zu verzichten.

Das Leitprinzip darf nicht länger Unlustvermeidung sein, sondern Mut zur Tatkraft und zur Leistung. Solches Umdenken ist nicht für Geld zu haben.

 

In diesem Sinne müssen Hebammen aufhören, die Mär vom Stillen und Schlafen nach Bedarf zu verbreiten. Wir müssen kindliche Antriebe mit Maß und Rhythmus befriedigen, damit Kinder Resilienz entwickeln. Eltern müssen Taktgeber sein, denn berechenbare Rhythmen geben seelischen Halt – und nur wer ausgeschlafen ist, kann sich kognitiv gut entwickeln.

Kinderärzte müssen aufhören, Bachblüten und Globuli zu verkaufen und Eltern davor warnen, beim Sturz aufs Knie dramatisch die Rescue-Creme zu zücken. Ein Pflaster und ein aufmunterndes Wort stärken. Wer immer gleich Tabletten einwirft, fokussiert auf sein Leid. Hospitäler sollten Schwangeren weder den Wunschkaiserschnitt noch die PDA pauschal andienen, denn auch elterliche Resilienz ist ein hohes Gut.

Ich spreche hier nicht von Notfällen, sondern ganz normalen Schwangerschaften. Die Vorbereitung auf eine natürliche Geburt hilft Eltern bei der Selbsterziehung, bei ihrem eigenen Umgang mit Unlust und Ängsten, bei der Abkehr von einer Full-Service-Mentalität. Und nur wer sich selbst erzieht, kann andere erziehen.

KiTas: Weniger Wohlstandsverwahrlosung, mehr Qualität

Im Kindergarten ist eine Abkehr vom Situationsansatz, von “romantischen Vorstellungen” und falsch verstandenem Konstruktivismus nötig (Verbeek). Konzepte, die den Erzieher zur Passivität verurteilen, führen zu einer “für das Kindeswohl gefährlichen Mischung zwischen Verwöhnung und Vernachlässigung” (ebd. 99). Wir brauchen nicht bloß mehr Personal, sondern klügeres, leistungsbereiteres und kenntnisreicheres. Prof. Veronika Verbeek bildet seit 30 Jahren Fachkräfte für KiTas aus und konstatiert, dass dem Gros der Fachkräfte die Anstrengungsbereitschaft und die kognitiven Kompetenzen fehlen, um in ihrem Fach schlussfolgernd zu denken oder wichtige Konzepte in die Anwendung zu übertragen (ebd. 160).

Werden Kinder nur halbtags betreut, können Familien Mängel in der Betreuungsqualität ausgleichen. Aber weder Eltern noch KiTas sollten sich einbilden, dass man neun Stunden Betreuung anbieten kann, ohne systematischer Elternersatz zu sein. Ganztägig betreute Kinder müssen vom Händewaschen bis zur deutschen Sprache fast alles in der KiTa lernen. Die meisten Eltern wollen ihr Kind in den verbleibenden drei Wachstunden “genießen”, statt die anstrengenden ungelösten Erziehungsaufgaben anzupacken oder mit ihm zu üben, wie man mit der Schere schneidet und Wörter reimt.

Wir brauchen nicht bloß mehr Personal, sondern klügeres, leistungsbereiteres und kenntnisreicheres.

 

Solange Kinder aber in der KiTa primär nach den Lustprinzip leben, sind sie am Abend besonders anstrengend, worauf viele Eltern wiederum mit Verwöhnung oder Ablenkung reagieren. Das verstärkt Egozentrik und narzisstische Überempfindlichkeit weiter, statt ein Gegengewicht zu schaffen. Wer zugunsten der Erziehungsarbeit beruflich nicht kürzer treten möchte, wäre oftmals mit einer ehrenamtlichen Tätigkeit oder einem Haustier besser bedient.

Sprachdefizite verschlimmern die Lage zusätzlich. Wer mit Kindern einwandern will, sollte deshalb vorher seine Deutschkenntnisse unter Beweis stellen müssen, und wer bereits hier lebt und Kindergeld beziehen will, erst recht. Anstatt zu versuchen, alles irgendwie aufzufangen, müssen wir ausländischen Eltern klar machen, dass Schulbildung ohne sehr gute Deutschkenntnisse einfach nicht machbar ist. Ich wandere auch nicht nach Gouadeloupe aus, ohne vorher mit meiner Familie Französisch zu lernen – Sprachlern-Apps und Lehrbücher gibt es genug.

Dass ich einen gewissen Kenntnisstand und ein eigenes Einkommen nachweisen muss, ehe ich Ressourcen des Gastlands nutzen darf, wäre nur logisch. Alternativ gibt es teure, private internationale Schulen. Wenn ich mir die nicht leisten kann und die Sprache nicht auf eigene Faust lernen möchte, scheidet das Einwanderungsziel aus.

Grundschulen: Lesen, Schreiben, Rechnen aus dem Effeff

Die Grundschulen müssen sich auf die Grundkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen zurückbesinnen und hier nicht bloß rudimentäre Kenntnisse, sondern felsenfeste Routine erreichen. Zusätzliche Stunden lassen sich gewinnen, indem man Religionsunterricht durch eine Stunde verbindlichen Ethikunterricht ersetzt und das in seiner Effektivität sehr umstrittene Frühenglisch streicht. Den Werkunterricht hingegen sollte man m.E. nicht kürzen wie in Bayern, sondern ausbauen, da handwerkliche Tätigkeiten wichtig sind und schon jetzt zu wenig Zeit ist, um ausgiebig zu üben und anschließend ein Werkstück anzufertigen, auf das man stolz sein kann.

Anstatt zu versuchen, alles irgendwie aufzufangen, müssen wir ausländischen Eltern klar machen, dass Schulbildung ohne sehr gute Deutschkenntnisse einfach nicht machbar ist.

 

Besonders die schwächeren Schüler sollten derweil in homogenen, aber durchlässigen Klassen gefördert werden, nicht in leistungsgemischten Klassen. Eine große soziologische Studie zeigt, dass dies negative Herkunftseffekte stark verringert. Bei intelligenteren Schülern hingegen können gemischte Gruppen förderlich sein, zumindest schaden sie weniger. Wo der Zugang zu den weiterführenden Schulen anhand von Leistung und Intelligenz streng geregelt ist, lernen die Kinder auf allen weiterführenden Schularten besser.

Ein Pilotversuch in Franken zeigte ganz konkret, dass Kinder mit Legasthenie-Diagnose innerhalb von nur einem Halbjahr einen normalen Leistungsstand im Lesen und Schreiben erreichten, also “geheilt” waren, sobald sie für drei Stunden pro Tag die Fördergruppe einer gut ausgebildeten Lehrkraft besuchen durften. Eltern, Lehrer und Schüler waren begeistert. Dennoch verbot das Kultusministerium die Fortsetzung dieser Fördermaßnahme, da sie “segregativ” sei und nicht mit der Inklusions-Ideologie vereinbar. Sprich: Was zählt, ist die irrationale Selbstdarstellung der Bildungspolitik und nicht der Lernerfolg der Kinder.

Sachgemäß statt spielerisch rechnen und schreiben

Im Bereich Mathematik sollten Experten aus der Dyskalkulie-Forschung an Unterrichtskonzepten mitarbeiten. Im ersten Halbjahr müssen alle Erstklässler das kleine EinsPlusEins und EinsMinusEins (1+ 9  = 10, 2 + 8 = 10…) auswendig beherrschen, ohne dabei zu zählen. Das Dezimalsystem muss als Prinzip und daher bis zur 100 im zweiten Halbjahr erarbeitet werden. Materialien wie Muggelsteine, die zum Zählen verleiten, sollten keinen Platz im Unterricht haben.

Was zählt, ist die irrationale Selbstdarstellung der Bildungspolitik und nicht der Lernerfolg der Kinder.

 

Die Handschrift muss gestärkt werden: Grundschüler schrieben in den 1960er Jahren etwa sieben Mal so viel wie heute pro Woche. Man weiß inzwischen, dass solche Routine die Auslastung des Gehirns um den Faktor 50 bis 100 senkt und Prüfungsangst verringert. Kinder müssen daher wieder wesentlich mehr schreiben, und zwar als Fließtext, anstatt Lücken auf Arbeitsblättern auszufüllen.

Nachschriften und Diktate sind zur Übung sehr sinnvoll, wenn in ihnen die aktuell thematisierte Rechtschreibregel sehr häufig vorkommt, aber wenige andere Schwierigkeiten. Dabei sollte die Rechtschreibung auf Basis von Ortho- und Basisgraphemen vermittelt werden, anstelle des Silbenkonzepts und des unkorrigierten Schreibens nach Gehör. Schüler müssen ab der 2. Klasse systematisch lernen, ihre eigenen Fehler zu analysieren und deren Schwere einzuschätzen.

In normalem Sprechtempo lesen lernen

Im Lesen muss ein verbindliches Ziel für die Lesegeschwindigkeit pro Trimester eingeführt werden. Aktuell kann die Mehrheit der Schüler nach vier Jahren Unterricht noch nicht einmal in normaler Sprechgeschwindigkeit lesen. Dieses Tempo entspricht 150 Wörtern pro Minute (WPM). Fleißige Leser erreichen dies bereits in der 2. Klasse, zum Ende der 4. Klasse muss es das Ziel für alle normal intelligenten Kindern sein.

Dazu sind wesentlich mehr verpflichtende Lesezeiten und eine strengere Regelung des Medienkonsums zuhause notwendig. In Sprechgeschwindigkeit lesen zu können ist sowohl entscheidend für das genussvolle, noch schnellere stille Lesen als auch für die Informationsaufnahme in der weiterführenden Schule. Nur, wer schneller als Sprechgeschwindigkeit liest, kann in einer Stunde das lesen, was andere aus drei Stunden Videos entnehmen.

Gezielte Förderung statt Medikalisierung

Eltern, Lehrer und Psychiater müssen sich bei der Diagnose von Legasthenie und Dyskalkulie stärker zurückhalten. Diese Diagnosen sind oft nicht kriteriumsgemäß, perpetuieren Lernrückstände und verstärken, im Sinne J. Haidts, das Selbstbild als machtloses Opfer. Wie man im o.g. Projekt sieht, kann man erfolgreich die Zuständigkeit fürs Lesen, Schreiben und Rechnen aus der Psychiatrie zurück an die Schulen verlagern, wo sie hingehört. Schließlich besteht die Therapie dieser “Störungen” ausschließlich in einem ermutigenden, qualifizierten Unterricht mit hohem Übungsanteil.

Es ist besser, an der Mittelschule der Klassenbeste zu sein als sich mit Gewalt durchs Gymnasium zu quälen.

 

Mit diesen Veränderungen würden wir erreichen, dass alle Kinder auf Basis ihrer angeborenen Möglichkeiten ein gutes Leistungsniveau erreichen und die weiterführende Schule wählen können, die zu ihnen passt. Wenn man die richtige weiterführende Schule gewählt hat, sollte man dort mit etwas Fleiß gute Noten erlangen. Es ist besser, an der Mittelschule der Klassenbeste zu sein als sich mit Gewalt durchs Gymnasium zu quälen. Für die weiterführenden Schulen wünsche ich mir noch radikalere Veränderungen – zu lesen im nächsten und letzten Teil dieser Serie.

 

Literatur:

Esser, Hartmut und Seuring, Julian: Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit. In: Zeitschrift für Soziologie 49, 2020.

Gaidoschik, Michael: Rechenschwäche – Dyskalkulie: Eine unterrichtspraktische Einführung für LehrerInnen und Eltern (1. bis 4. Klasse)

Moor, Paul: Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehrbuch. Bern, 1965

Thomé, Günther: Deutsche Orthographie – Historisch, systematisch, didaktisch. Oldenburg 2023

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Zu viele deutsche Lehrer sind arm – an Kompetenz https://condorcet.ch/2024/03/zu-viele-deutsche-lehrer-sind-arm-an-kompetenz/ https://condorcet.ch/2024/03/zu-viele-deutsche-lehrer-sind-arm-an-kompetenz/#comments Fri, 15 Mar 2024 13:43:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=16179

Seit 25 Jahren befindet sich das deutsche Bildungswesen in einer Abwärtsspirale. Die jüngsten PISA-Ergebnisse markieren den bisherigen Tiefpunkt. Man hat sie schnell durch Migration und Lockdown erklärt, doch das greift zu kurz. Vom Kindergarten bis zum Abitur hat ein ideologisch begründeter Wandel stattgefunden, der die Qualität von Erziehung und Unterricht gesenkt hat. Die Einstellungen der Bildungspolitiker und -forscher müssen sich ändern, damit unsere Kinder wieder etwas Handfestes lernen können. In einer fünfteiligen Serie erklärt die Sonderpädagogin und heilpädagogische Psychologin Miriam Stiehler, woher diese Fehlentwicklungen kommen, wie sie sich auf Schüler auswirken und was sich ändern muss. Wir bringen den vierten Teil der Serie, die im Cicero erschienen ist.

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Schlecht vorbereitete Erstklässler treffen auf mangelhaft ausgebildete Lehrer mit unsachgemässen Methoden und ungeeigneten Schulbüchern. Deshalb wird mehr Geld unser Bildungssystem nicht retten. Wir geben nicht zu wenig Geld aus, sondern für die falschen Dinge. Deutsche Lehrer lernen: Es ist egal, ob Unterricht sachgemäss ist, solange er ideologisch und methodisch gefällt. Dieselbe ideologische Entwicklung, die die GenZ hervorgebracht hat, hat damit das Bildungswesen entkernt. Heutige Bildungsideale sind irrational, sensualistisch und von Verachtung für undiskutierbar eindeutige Strukturen wie Grammatik, Rechtschreibung und Rechenverfahren geprägt. Sie rücken wertvolle Kerninhalte in den Hintergrund und fördern stattdessen volkserzieherische Bemühungen woker und links-grüner Prägung.

Gastautorin Miriam Stiehler

Prägnantes Beispiel: Wir haben in Deutschland über 170 Gender-Lehrstühle, aber nicht einmal einen Lehrstuhl für Rechtschreib-Unterricht pro Bundesland! Wir müssen uns nicht wundern, dass einerseits Schüler nicht mehr richtig schreiben lernen, während andererseits schon in der 5. Klasse seelisch schwer angeschlagene Buben mit Röckchen und Lippenstift sitzen. Der Leistungsgedanke und Kerninhalte wie Lesen, Schreiben, Rechnen wurden erfolgreich als repressiver Kanon des alten weissen Mannes gebrandmarkt. Es erscheint daher legitim, sie zu vernachlässigen. Folglich fehlt es Lehrern an fachlicher Urteilsfähigkeit.

Hantieren ist nicht Handlungsorientierung

Wissen sachgemäss zu vermitteln setzt beim Lehrer Bescheidenheit voraus. Die uns übrigens alte weisse Männer gelehrt haben. Man muss die Struktur dessen, was man lehren will, erst einmal begreifen. Hans Aebli, der wichtigste Schüler von Jean Piaget, war der letzte brillante deutschsprachige Didaktiker, der noch selbst unterrichtet hat. Heutzutage erzählen uns selbsternannte “Experten” wie Gerald Hüther oder Richard David Precht, wie man Schulen reformieren müsse. Doch weil man versteht, wie ein Gehirn aufgebaut ist, ist man noch lange kein guter Lehrer oder gar Bildungsexperte. Der Kniechirurg weiss viel mehr über die Beine des Skifahrers als dieser selbst – aber das macht ihn nicht zum idealen Trainer für die WM-Mannschaft.

Aebli stellte klar: Lehrer müssen die geistige Operation, also die kognitive Handlung, verstehen, die man tut, wenn man z.B. den Umfang und Inhalt einer Fläche berechnet. Sein erstes Buch dazu erschien bereits 1951. Es ermöglichte einen interessanten, im guten Sinne handlungsorientierten und differenzierten Unterricht, aber in Deutschland machte man daraus nur eine triviale und falsch verstandene “Handlungsorientierung”, derzufolge Kinder immer mit irgendwas hantieren müssen.

Wenn Studenten auf dem Boden kriechen

In meinem eigenen Lehramts-Studium sollten wir 1999 wertvolle Noten für die Durchführung eines Bewegungsliedes erhalten. Ich beschloss, das auf die Spitze zu treiben, damit die Dozentin die Niveaulosigkeit dieser Form “akademischer” Bewertung einsähe. Nachdem ich 25 Studenten samt Dozentin über das dreckige Linoleum des Seminarraums kriechen liess, während sie pantomimisch Insekten darstellen mussten, bekam ich eine 1. Es war unfassbar.

Ähnlich ist es im Referendariat. Es ist keineswegs vorgesehen, dass der Prüfer kontrolliert, ob die gezeigte Unterrichtsstunde bei den Schülern zu einem Lernfortschritt führt! Was zählt, ist Sensualismus – gibt es etwas zu riechen, zu schmecken, zu tasten? In der Praxis schwören viele Referendare auf exotische Arbeitsmittel – besonders für gute Noten im 2. Staatsexamen. Unterrichtsplanung beginnt für viele Referendare nicht mit der Frage “Was ist die geistige Struktur des Lerninhalts?”, sondern mit “Hat schonmal jemand von euch mit dem heissen Draht Styropor geschnitten? Damit könnte ich mal was machen.” Wohlgemerkt: Wir sprechen vom Deutschunterricht. Die erwachsenen Akademiker im Referendariat erhalten in vielen Bundesländern zwei Jahre lang keine Einsicht in ihre Noten, sondern bekommen Feedback-Smileys und rein subjektive Notizen als Rückmeldung. Professionalisierung geht anders.

Wir haben in Deutschland über 170 Gender-Lehrstühle, aber nicht einmal einen Lehrstuhl für Rechtschreib-Unterricht pro Bundesland! Wir müssen uns nicht wundern, dass einerseits Schüler nicht mehr richtig schreiben lernen, während andererseits schon in der 5. Klasse seelisch schwer angeschlagene Buben mit Röckchen und Lippenstift sitzen.

 

In diesem System lernen Lehrer nicht, sachgemäss zu unterrichten. Im Studium lernen sie ideologisch geprägte Verachtung rationalistischer Methoden. Und im Referendariat lernen sie, die willkürlichen Anforderungen von Vorgesetzten zu erfüllen. So prägen sie sich ein, dass es egal ist, was ihre Schüler lernen, solange es “eine schöne Stunde” war. Aktuelle Lehrveranstaltungen an der Exzellenz-Universität LMU in München für angehende Deutschlehrer spiegeln dies wider. Belegen kann man “Magic Moments”, “Wertschätzende Rückmeldekultur”, “Social Media im Deutschunterricht einsetzen” oder “Grammatik angstfrei vermitteln”. Nur eines von 33 Seminaren bietet für gerade einmal 20 Teilnehmer einen Platz im Kurs “Grundlagen der Lesedidaktik und Leseförderung”. Den führt ein wissenschaftlicher Mitarbeiter durch – Professoren haben Wichtigeres zu tun.

Rasierschaum auf der Schulbank

Natürlich zeigt sich die fehlende Fachlichkeit im Unterrichtsalltag. Auf Facebook fragt eine Lehrkraft ihre Grundschul-Gruppe, wie man den Buchstaben “R” am besten einführt. Antworten der Kolleginnen: die Schulbänke mit Rasierschaum beschmieren und darin Rs mit dem Finger malen, Rollbrett fahren im Klassenzimmer oder Raketen basteln.

Die Vorschläge selbst zeigen Sensualismus und einen eklatanten Mangel an Respekt vor der Lernzeit der Kinder, die man mit solch unnützen Aktionen verschwendet. Sie zeigen aber auch: Diese Lehrer denken beim “R” alle nur an das gerollte “R” am Wortanfang. Das ist nicht schwierig. Probleme haben Kinder mit dem vokalisierten “r” wie in “Wurm” (typischer Fehler: “Wuam”) und der extrem häufigen Wortendung “-er”. Dort steht das “e” zusammen mit dem “r” für den Laut [ɐ]. In beiden Fällen darf man es keinesfalls als gerolltes “r” sprechen. Das sind die wirklich wichtigen didaktischen Punkte beim “r”. Die ihnen entgegengebrachte Ignoranz spricht Bände.

Wenn schlechter Unterricht krank macht

Im Bereich Mathematik ist es nicht anders. Die grösste Kompetenz für Mathematik-Unterricht findet man heute bei den Mathematischen Instituten, die Kinder mit Rechenschwäche “therapieren”, also per Einzelunterricht die Kollateralschäden unseres Schulsystems beheben. Prof. Michael Gaidoschik von der Universität Bozen ist der führende Autor in diesem Bereich. Experten wie er fordern seit vielen Jahren eine wesentliche Lehrplanänderung. Man solle endlich aufhören, in der 1. Klasse nur bis zur 20 zu rechnen. Stattdessen wäre es notwendig, das Dezimalsystem bis 100 als Notationsform und Grundprinzip zu vermitteln, denn wenn man das Prinzip verstanden hat, ist 84 keine schwierigere Zahl als 14.

“Rechnet” man über ein Jahr lang nur bis zur 20, zählen schwache Schüler nämlich statt zu rechnen, und in der 2. Klasse nutzen sie andere “Tricks”. Dadurch fällt meist erst in der 3. Klasse auf, dass sie das Dezimalsystem nicht verstanden haben. Weil das dann aber als “nicht altersgemäss” gilt, ist es leicht, bei ihnen nun “Dyskalkulie” zu diagnostizieren. Diese Diagnose dient nicht immer, aber oft als Hintertürchen, durch das sich inkompetente Lehrkräfte der Verantwortung für die Folgen ihres Unterrichts entziehen.

Ein gutes Schulbuch zeigt der Lehrkraft, was genau es zu erarbeiten gibt, welche Fragen zielführend sind und von welchen Beispielen, Tafelbildern usw. sie ausgehen kann. Es listet reichlich effiziente Übungen in aufsteigender Schwierigkeit auf.

 

Bei meiner Berufung in die Kommission, die die AWMF-Leitlinien für die Diagnostik von Dyskalkulie überarbeitet hat, musste ich feststellen, dass diese zu 90% mit Vertretern von Lobbies und Psychiatrie besetzt war. Diese haben gar kein Interesse an Verbesserungen im Unterricht, weil ihre Pfründe von einer hohen Zahl an vermeintlich gestörten Kindern abhängen. Entsprechend werden auch didaktogene, also durch den Unterricht verursachte Störungen kaum erforscht.

Da jedoch in aller Regel sowohl Legasthenie als auch Dyskalkulie durch übungsintensiven Einzelunterricht “geheilt” werden, ist sachlogisch klar: Das Hauptproblem ist der Unterricht und nicht das Kind. Eine der häufigsten didaktischen Ursachen für Rechenschwäche ist der Klappfehler. Er ist in Sachbüchern für Mathematiklehrer seit den 1990er Jahren zu finden, aber Fehleranalyse spielt in der Lehrerausbildung nach wie vor praktisch keine Rolle. Man kann jedoch nicht individuell angemessen benoten und fördern, wenn man Fehler nicht analysiert, also nicht versteht, worin der Irrtum eines Kindes bestand beziehungsweise besteht.

Schulbücher sind ungenügend

Nun könnte sich eine schlecht ausgebildete, aber motivierte Lehrkraft an einem guten Schulbuch orientieren, um trotz ihrer Schwächen zufriedenstellend zu unterrichten. Ein gutes Schulbuch zeigt der Lehrkraft, was genau es zu erarbeiten gibt, welche Fragen zielführend sind und von welchen Beispielen, Tafelbildern usw. sie ausgehen kann. Es listet reichlich effiziente Übungen in aufsteigender Schwierigkeit auf. Es ist von Fachleuten mit langjähriger Unterrichtserfahrung geschrieben und bietet einen roten Faden durch ein oder mehrere Schuljahre. Dies leisteten z.B. die 40 Jahre lang erfolgreichen bayerischen Mathematikbücher von Walter & Feuerlein.

Leider haben wir kaum noch solche Schulbücher. In Deutschland muss der Verlag nur die theoretische Kompatibilität mit dem Lehrplan belegen, während man in Japan Schulbücher an Modellschulen erprobt. Ausgerechnet die grundlegenden Bücher für 1.-4. Klasse zeigen gravierende Mängel. Die Fibel “Karibu” z.B. leitet ihren Namen nicht vom kanadischen Rentier ab, sondern bezieht sich auf Swahili, wo das Wort “Willkommen” bedeutet. Die Multi-Kulti-Botschaft ist ein Nebeneffekt.

Hauptsächlich kommt die Morphologie von Swahili den Autoren entgegen, da sie dem sog. Silbenkonzept anhängen, dem goldenen Kalb der aktuellen Grundschuldidaktik. In Sprachen wie Swahili oder Japanisch enthalten die meisten Wörter nämlich immer abwechselnd einen Konsonanten und einen Vokal, ähnlich wie in “Mama” oder “Oma”. Wörter mit dieser Form sind für Anfänger leicht lesbar. Für das Deutsche typisch sind jedoch Konsonantenhäufungen wie “Fr” oder “rst” und mehrbuchstabige Zeichen für einen einzigen Laut wie “ie”, also Wörter wie “du frierst”. Die sind schwerer zu lesen, aber eben notwendig, um Deutsch zu lernen.

“Drai Moisee UNT ain hUNT GHEeN schpAtzIAN” (“Drei Mäuse und ein Hund gehen spazieren”). Das lässt ahnen, was wir von der Digitalisierung im deutschen Schulwesen erwarten dürfen: Karibu! Willkommen in der Bildungswüste.

 

Das umstrittene Silbenkonzept zerteilt deutsche Wörter künstlich in Bestandteile, in denen Konsonant und Vokal abwechselnd vorkommen, wie z.B. “Af-fe”. Das führt zu falschen Erklärungen wie z.B. der angeblich hörbaren Konsonantenverdopplung in “Af-fe” oder “Tref-fer” und zu einem künstlichen Dehnsprechen, das dem Leseverständnis und der Rechtschreibung schadet (s. Video). Deutschdidaktiker wie Günther Thomé fordern daher seit Langem eine Abkehr vom Silbenlesen, ohne Erfolg.

Neben Silben verwendet die Fibel “Zebra” die hoch problematische Anlaut-Methode aus den 1920er Jahren. Sie ist eng verbunden mit der Unsitte, Schüler so schreiben zu lassen wie sie sprechen. Richtig wäre es, zu lehren, wie man die richtige Wahl aus mehreren akustisch möglichen Schreibweisen trifft. Da dies jedoch als repressiv gilt, können Kinder in der hochmodernen App zur Zebra-Fibel Anlaut-Bilder anklicken und daraus so schöne Sätze wie den folgenden fabrizieren, ohne irgendeine Rückmeldung zu ihren Fehlern zu erhalten: “Drai Moisee UNT ain hUNT GHEeN schpAtzIAN” (“Drei Mäuse und ein Hund gehen spazieren”). Das lässt ahnen, was wir von der Digitalisierung im deutschen Schulwesen erwarten dürfen: Karibu! Willkommen in der Bildungswüste.

 

Literatur:

Aebli, Hans: Psychologische Didaktik, 6. Auflage. Stuttgart 1976

Aebli, Hans: Grundformen des Lehrens, 5. Auflage. Stuttgart 1968

Gaidoschik, Michael: Wie Kinder rechnen lernen – oder auch nicht.

Eine empirische Studie zur Entwicklung von Rechenstrategien im ersten Schuljahr. Frankfurt, 2010.

Gaidoschik, Michael: Rechenschwäche vorbeugen. 1. Schuljahr: Vom Zählen zum Rechnen, 7. Auflage. Wien, 2007

Jank, Werner und Meyer, Hilbert: Didaktische Modelle, 4. Auflage. Berlin, 1997

Lorenz, Jens Holger: Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht; 3. Auflage. Hannover, 1993

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“Unternehmen schätzen Aussagekraft der Noten sehr gering ein” https://condorcet.ch/2024/01/unternehmen-schaetzen-aussagekraft-der-noten-sehr-gering-ein/ https://condorcet.ch/2024/01/unternehmen-schaetzen-aussagekraft-der-noten-sehr-gering-ein/#comments Mon, 15 Jan 2024 19:02:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=15695

Schulnoten hätten kaum Aussagekraft, sagt Bildungsforscher Hans Brügelmann – diese Überzeugung sei heute auch in der Wirtschaft verbreitet. Dennoch tue das Schulsystem so, als ob Gleichaltrige zur gleichen Zeit dasselbe lernen könnten. Er erklärt, wie eine alternative Bewertung aussehen kann. Wir bringen ein Interview, das in der WELT erschienen ist. Das Gespräch führte Kevin Culina.

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WELT: Herr Brügelmann, welche Note würden Sie dem deutschen Schulsystem geben?

Hans Brügelmann: Ich finde Noten als Urteile grundsätzlich schwierig. Aber klar ist: Das Bildungssystem wird seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht. Ein großes Problem ist die Bildungsungerechtigkeit. Wir haben ein sehr normiertes Schulsystem, das keine Rücksicht auf individuelle Lernbiografien nimmt. Allerdings stimmt, dass zu viele junge Menschen in der Schule die grundlegenden Kompetenzen nicht in zureichendem Maße erlernen, auch beim Lesen, Schreiben oder Rechnen.

WELT: Woran liegt das?

Kevin Culina, Journalist der WELT

Brügelmann: Wir nehmen zu wenig Rücksicht auf die individuellen Voraussetzungen. Schon sechsjährige Schulanfänger unterscheiden sich in allen Kompetenzbereichen um rund drei Entwicklungsjahre. Doch Schule tut meist so, als ob Gleichaltrige zur gleichen Zeit dasselbe lernen könnten.

WELT: Woher kommen diese Unterschiede?

Brügelmann: Das hat zum Teil mit Begabung zu tun, vor allem aber mit den sozialen Milieus, aus denen die Kinder kommen. Haben sie Sprachvorbilder, um einen breiten Wortschatz zu entwickeln? Machen ihre Eltern Würfelspiele mit ihnen? Manche Kinder haben mit fünf Jahren ein großes Interesse für Schrift und Zahlen und erwerben schon wichtige Teilkompetenzen, andere wissen nicht, was Buchstaben sind. Der soziale Hintergrund prägt sie, auch eine mögliche Migrationsgeschichte. Diese Erfahrungen lassen sich nicht in wenigen Monaten aus- und angleichen.

WELT: Junge Menschen empfinden großen Stress, das zeigen aktuelle Erhebungen. Wird die Schule dem gerecht?

Brügelmann: Ob der Stress wirklich zugenommen hat, weiß ich nicht. Aber in der Gesellschaft wächst generell die Bereitschaft, psychische Belastungen ernst zu nehmen, anders als in früheren Zeiten. Auch der Blick auf die Schule verändert sich. Früher ging es darum, dass die ältere Generation ihr Wissen an die jüngere weitergibt. Dass diese die Werte und Vorstellungen, wie Gesellschaft gestaltet wird, übernehmen. Heute wird jedoch überall mehr Beteiligung und Mitwirkung gefordert, etwa flachere Hierarchien in Unternehmen.

Hans Brügelmann (77), war von 1980 bis 2012 Professor für Erziehungswissenschaft an den deutschen Universitäten Bremen und Siegen

Auch Schule kann mit Belehrung von oben nach unten nicht mehr funktionieren. Viele Kinder und Jugendliche erleben im Alltag einen Widerspruch zur Forderung, sich demokratisch zu engagieren. Daran ändern auch Formate wie Schülervertretungen nichts Grundlegendes, wenn zum Beispiel Unterrichtsinhalte nicht mitbestimmt werden können. In den Schulen erleben junge Menschen sich als von Fremdanforderungen und Fremdurteilen abhängig.

WELT: Florian Fabricius von der Bundesschülerkonferenz führt den Stress auch auf Leistungsdruck in der Schule zurück – und fordert, erst ab der Oberstufe zu benoten. Wie bewerten Sie das?

Brügelmann: Die Abhängigkeit von Noten ist in der Tat ein Problem. Zwar beanspruchen sie, objektiv, präzise und vergleichbar zu sein. Aber jeder von uns kennt die Situation: Es gibt einen Lehrerwechsel, und die Noten in der Klasse verändern sich. Einfach, weil der neue Lehrer andere Kriterien für seine Bewertung anlegt oder anders gewichtet. Noten entstehen zudem im Kontext der jeweiligen Klasse. In einer schwächeren Klasse werden identische Leistungen oft besser bewertet als in einer starken Klasse.

Hinter der gleichen Note können ganz unterschiedliche persönliche Leistungen stecken.

Und noch einmal zu den verschiedenen Voraussetzungen: Wenn zwei Schülerinnen in einer Mathearbeit dieselbe Fehlerzahl haben, sagt das nicht viel aus. Wir sehen nicht, was Einzelne aus ihren Möglichkeiten gemacht haben, welche Anstrengungsbereitschaft gezeigt wurde, wie das Potenzial ausgeschöpft wurde. Hinter der gleichen Note können also ganz unterschiedliche persönliche Leistungen stecken, die im bloßen Ergebnisvergleich verschwinden.

WELT: Nun ist eine schriftliche Mathearbeit aber doch sehr klar: Es gibt richtig und falsch. Ist das nicht die objektivste Form der Bewertung von Leistung?

Brügelmann: Die Frage ist, was Sie bewerten wollen: Einen Schüler im Vergleich mit anderen im Hinblick auf das Produkt, das am Ende rauskommt? Oder die Entwicklung eines Schülers.

Nehmen Sie ein Migrantenkind, das vor zwei Jahren nach Deutschland kam und in dieser Zeit sprachlich große Fortschritte gemacht hat. Im Vergleich dazu: Ein Schüler aus einem akademischen Haushalt, der sprachbegabt und familiär gefördert ist, aber eine schlampige Arbeit geschrieben hat. Beide könnten die gleiche Note für ihre Arbeit bekommen – aber die sagt nichts darüber aus, wie sie ihr jeweiliges Potenzial ausgeschöpft haben.

WELT: Spätestens bei einer Bewerbung an Universitäten oder bei Unternehmen wird aber doch eine Form der Vergleichbarkeit benötigt.

Brügelmann: Die Abiturnote sagt doch nicht viel darüber aus, ob sich jemand zum Beispiel für ein Medizinstudium eignet. Zu einem guten Mediziner gehören auch soziale Kompetenzen. Vielmehr müssten intensive Bewerbungsgespräche geführt werden, wie etwa in Finnland beim Lehramtsstudium. Von Unternehmen wissen wir schon lange, dass viele die Aussagekraft der Noten sehr gering einschätzen – und lieber eigene Einstellungsverfahren entwickeln. Die knappen Kapazitäten an Hochschulen sind allerdings ein Problem und erschweren andere Formen der Auswahl.

WELT: Und wie sieht Ihre Alternative zur Note aus?

Brügelmann: Schüler sollten mit ihren Lehrern gemeinsam konkrete Arbeitspläne vereinbaren, die regelmäßig miteinander besprochen werden: Was wurde erreicht? Wo gibt es Schwierigkeiten? Das ermöglicht, Schüler nicht zum gleichen Termin an gleichen Anforderungen zu messen, sondern ihre unterschiedlichen Lernwege zu berücksichtigen. Beim Pkw-Führerschein läuft es doch auch so: Es gibt zwar klare Anforderungen, die erfüllt werden müssen. Doch niemand erwartet, dass 20 Schüler den Führerscheinkurs gleichzeitig beginnen und gleichzeitig die Prüfung bestehen.

Wir brauchen also förderorientierte Rückmeldungen statt der verbreiteten Fixierung auf Selektion.

Und noch eins: Viele Schulen haben jetzt schon statt Noten differenzierte Kompetenzraster: Lernziele aus dem Lehrplan, die in konkrete Beschreibungen von Leistungen übersetzt wurden. Darauf aufbauend werden Rückmeldegespräche zwischen Lehrkraft, Schülerin und Eltern geführt. Wo stand die Schülerin noch vor einem halben Jahr? Welche Fortschritte wurden gemacht? Welche Unterstützung ist erforderlich, um die nächsten Ziele zu erreichen? Wir brauchen also förderorientierte Rückmeldungen statt der verbreiteten Fixierung auf Selektion.

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Beziehung statt Bildschirm https://condorcet.ch/2023/12/beziehung-statt-bildschirm/ https://condorcet.ch/2023/12/beziehung-statt-bildschirm/#respond Sun, 17 Dec 2023 20:22:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=15515

Carl Bossard ist Condorcet-Autor der ersten Stunde und einer der profundesten Kenner der Schweizer Bildungslandschaft. Nun wurde er im Magazin Zeitpunkt von Samia Guemei, die ebenfalls schon im Condorcet-Blog publizierte, interviewt. In diesem Gespräch warnt der Doyen der Bildung vor Reformen und Tools, die vor allem Kinder aus bildungsfernen Milieus schwächen.

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Zeitpunkt: Herr Bossard, Sie gehören zu den Erstunterzeichnern von Wissenschaftlern, die in Deutschland ein Moratorium für elektronische Geräte (Tablets, Handys) in Schulen und Kitas fordern. In der Schweiz finden sich kaum Politiker oder Organisationen, die Ihr Anliegen unterstützen. Woran liegt das? Und warum haben Sie unterzeichnet?

Carl Bossard: Das Moratorium ist ja erst vor Kurzem publiziert worden – und darum nur wenigen bekannt. Das Anliegen aufgenommen hat die SonntagsZeitung. In einem Interview fordert der Neuropsychologe und Hirnforscher Lutz Jäncke, Universität Zürich: “Delete die Digitalisierung an Schulen!” Er argumentiert aus hirnbiologischer Sicht.

Gastautorin Samia Guemei

Warum ich unterzeichnet habe? Bildungspolitik und Wirtschaft kennen zwei primäre Stossrichtungen: Ökonomisierung und Digitalisierung. Gleichzeitig drängen EdTech-Konzerne (EdTech ist Lernsoftware) und IT-Unternehmen in die Schule. Sie nehmen Einfluss auf Bildungsgehalte. Es ist der Ruf nach dem Digital Turn – mit der forcierten Digitalisierung der (Primar-)Schulen und dem Imperativ des «Bring your own device» (BYOD): jeder und jede mit dem eigenen Gerät im Schulzimmer, seien es Laptops, Tablets oder -Smartphones. Ich erlebe ein einseitiges Denken. Pädagogik aber ist kein Entweder-oder. Sie ist ein pädagogisches “Sowohl-als-auch”. Anders gesagt: Es braucht das Analoge wie das Digitale. Vernünftig digitalisieren, ohne die humane Kraft des Analogen zu vergessen.

 

Was muss geschehen, damit Ihr Anliegen von einer breiten Masse von Entscheidungsträgern vertreten wird?

Ich bin kein Prophet. Der Weg in die Zukunft ist bekanntlich umsäumt von den Skeletten nicht eingetroffener Prognosen.

    Ich hoffe einfach, dass das aktuelle PISA-Resultat mit der fatalen Leseschwäche so vieler Jugendlicher als Warn- und Weckruf wirkt.

Wir kennen die Tendenz ja längst. Seit Jahren wird unsere Schule reformiert und umgebaut – Reform an Reform, und gleichzeitig sinken die Lernleistungen im internationalen Vergleich kontinuierlich.

Da stimmt doch etwas im Kern der Schule nicht, bei den Mikroprozessen des Lernens, beim Aufbau der Basiskompetenzen Lesen, Rechnen, Schreiben. Allein das sollte doch die Verantwortlichen in der Bildungspolitik und den Bildungsstäben hellhörig machen.

 

Ist ein Verbot, wie die Deutsche Gesellschaft für Bildung und Wissen es fordert, mit einer liberalen Geisteshaltung überhaupt vereinbar?

Ich votiere aus einer aufklärerisch-liberalen Haltung heraus. Das Gravitationszentrum pädagogischen Geschehens ist für mich ein aufklärerischer Gedanke: Es ist Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern, ihre Kinder und Jugendlichen zu selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln zu erziehen und zu bilden. Das ist ein dialektischer Prozess. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, mit den neuen Medien vernünftig umzugehen. So etwas geht nur über Anleitung, nicht über Verbote.

 

Selbst Organisationen, die ihren Forschungs- bzw. ihr Tätigkeitsfeld in der frühen Kindheit haben, reden die Gefahren der Bildschirme klein. Sie sagen, die digitalen Geräte gehören nun einmal zu unserer Gesellschaft. Und die Kinder müssten einen angemessenen Umgang mit ihnen lernen. Können Kinder das überhaupt: angemessen mit den elektronischen Geräten umgehen?

Das ist das Kernanliegen: der vernünftige Umgang mit diesen Medien. Doch die Frage in der Primarschule ist wohl die: Wie lernen wir in diesem Alter am besten? Selbständig mit elektronischen Geräten oder im intensiven Austausch mit einem vitalen Gegenüber?

Wir wissen es aus der Unterrichtsforschung: Bildung braucht Bindung und Beziehung, braucht darum ein Gegenüber, von dem Zuversicht und Hoffnung ausgehen. Es ist ein Gegenüber, das mich inspiriert, mich zum Selber-Denken anregt, das mich, wie das der Dichterlehrer Peter Bichsel einmal so schön gesagt hat, “von mir selbst überzeugt”. Es ist ein Gegenüber, das mir klares und konsequentes Feedback gibt. Denken kann ich nur selber, ebenso wie lernen. Dazu brauche ich aber ein Gegenüber, das mich ermutigt und mir etwas zutraut und an mich glaubt. Dieses Zwischenmenschliche lässt sich nicht digitalisieren; das Persönliche bleibt – und ist für die Schule konstitutiv.

Es braucht das Echte, nicht die Konserve.

Zusammengefasst: Lernen ist nach wie vor ein Prozess zwischen Menschen, eine Interaktion zwischen Lehrerin und Schüler, zwischen Schülerin und einem verantwortungsbewussten Gegenüber, ein “Meeting of Minds”. Salopp signalisiert: Es braucht das Echte, nicht die Konserve.

 

Sie haben in vielen Artikeln die sogenannte Kompetenzorientierung des Lehrplans 21 beklagt. Der Lehrer verkommt zum Coach. Statt zu lernen und zu üben, müssen sich die Schüler ihr verzerrtes Wissen am Bildschirm selber beibringen. Mit Ihrer Haltung stossen Sie bei den PHs dieses Landes auf taube Ohren. Was gibt Ihnen Hoffnung, weiterzumachen?

Die Kompetenzorientierung und die Lehrperson als Coach sind zwei verschiedene Dinge. Das Erste, die Kompetenzorientierung: Gegen Kompetenzen kann man gar nichts haben: Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll uns besser denken und handeln lassen. Ich habe mich aber dagegen gewehrt, alles und jedes in der Sprache der Kompetenzen auszudrücken. Meine Überzeugung: Kein Kind interessiert sich für Kompetenzen. Es interessiert sich für Inhalte, für Dinosaurier, für Sterne, für Meerschiffe und Entdeckungsfahrten. Es will etwas wissen, es will etwas können, es will etwas verstehen, zum Beispiel das Werden der EU. Das ist ein Inhalt. Im Lehrplan 21 tönt das dann so: “[Schülerinnen und Schüler] können unterschiedliche Positionen zum Verhältnis Schweiz – Europa skizzieren und selber dazu Stellung nehmen.”

    Daran beisst sich ja selbst der Bundesrat die Zähne aus!

Es gibt in der Pädagogik eben viele Bereich, die sich kompetenztheoretisch gar nicht fassen lassen, dazu zählt beispielsweise die menschliche Grundhaltung. Darum meine Skepsis.

Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte

Das Zweite: Der Lehrer ist nicht nur Coach, die Lehrerin nicht nur Lernbegleiterin. Beide sind auch Pädagogen. Das schöne Wort kommt aus dem Griechischen: paid-agogein. Das heisst: Kinder, Jugendliche führen, sie anleiten und hinleiten. Der Neurobiologe Joachim Bauer spricht von ‘verstehender Zuwendung’ – bei gleichzeitiger Klarheit und Führung. Das ist das Dialektische des pädagogischen Berufs. Diese Ambiguitäten müssen Lehrerinnen und Lehrer annehmen und aushalten.

 

Was könnten die Pädagogischen Hochschulen (PHs) dazu bewegen, den eingeschlagenen Weg zu verlassen?

Meine Meinung ist klar: Wir brauchen eine Volksschule, die nicht in der Definitionsmacht der PHs liegt. Ein Diskurs ist heute leider fast nicht mehr möglich. Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel aus den Pädagogischen Hochschulen hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie – die Definitionsmacht über die Schulen übernommen. Sie bestimmen, was gelehrt und wie unterrichtet werden muss – oft auch gegen die Praktiker. Das bedeutetet eine Marginalisierung der Praxisempirie. Kurz: Die Stimmen der Basis müssten wieder gehört werden. Sie weiss, was in den Schulen nottut. Die Bildungspolitik muss diese Praxiserfahrung aufnehmen.

Ebenso prägend wie die Leidenschaft für die Pädagogik war für mich stets die Freiheit, die ich als Lehrer hatte.

Wenn ich die gesetzlich vorgeschriebenen Lehrmittel in Deutsch und Mathematik betrachte, dann ist es eindeutig: Sie sind wohl für die hochbegabten Akademikerkinder der Autoren geschrieben worden. Statt den Kindern stetes Üben zu vermitteln, lassen sie sie von Fallstrick zu Fallstrick stolpern. Verlierer in diesem System sind eindeutig die Migrantenkinder, die weder auf ein akademisches Zuhause noch auf bezahlte Nachhilfe zurückgreifen können. Noch auf Lehrer, die die Lehrmittel explizit gegen den Strich bürsten und eigenes Material bereitstellen. Das haben auch die neuesten PISA-Ergebnisse gezeigt: 25 Prozent können mit 15 Jahren nicht einmal die einfachsten Texte verstehen. Ist da eine Art versteckter Rassismus am Werk?

Das glaube ich nicht. So etwas kann doch keinem verantwortungsbewussten Menschen einfallen.

Die PISA-Studie 2022 bringt nichts Neues. Wir wissen es schon lange. Was mich bedrückt und was für mich eines der grössten Probleme darstellt: Die unzähligen Schulreformen haben die Chancengleichheit kaum verbessert. Die eher schwächeren Schülerinnen und Schüler leiden am stärksten unter den überfüllten Lehrplänen – und darunter, wenn der Lehrperson Zeit und Möglichkeit fürs Üben und Anwenden fehlen. Ausserdem setzt der Lehrplan stark auf selbständiges Lernen. Das überfordert viele und bevorteilt die eh schon lernstarken Kinder.

Ich formuliere damit ein Plädoyer für einen geführten und strukturierten Unterricht – schülerzentriert, sachorientiert, aber lehrergesteuert. Gerade sozial benachteiligte Kinder sind darauf angewiesen. Oder wie es der kürzlich verstorbene, linksliberale Pädagoge Hermann Giesecke formuliert hat:

 «Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.»

Hermann Giesecke, Pädagoge

 

Sie beschreiben immer wieder sehr treffend, wie dem Lehrerberuf durch den Zwang zu Reporting und Einschränkung auf Methoden des offenen Unterrichts die Freiheit abhandengekommen ist. Mir kommt es so vor, als gehörte diese Ausrottung des Individuums zum Projekt Transhumanismus, in dem sich alle aalglatt durch Algorithmen steuern lassen. Übertreibe ich da?

Ob hinter Ihren Beobachtungen eine Agenda steckt, kann ich nicht beurteilen. Das weiss ich nicht. Ich weiss einfach, wie wichtig die Freiheit im Lehrberuf ist. Ich argumentiere für einmal aus persönlicher Warte: Ich war leidenschaftlich gerne Lehrer. Mich fasziniert es, mit Schülerinnen und Schülern unterwegs zu sein, ihren Gedankenkreis zu erweitern und sie so zu verstehenden Menschen auszubilden.

Mit Freiheit ist Verantwortung verbunden – in diesem Fall die Verantwortung für die Kinder und ihre Lernfortschritte. Verantwortung wahrnehmen braucht Freiheit. Die Leidenschaft fürs Pädagogische und damit die humane Energie kommen aus Freiheit, nicht aus lehrmethodischen Direktiven und engen operativen Vorgaben. Heute gibt es so viele Vorschriften. Die Freiheit wird eingeengt, gar erstickt. Das müsste sich dringend ändern.

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Es gibt immer noch zu viele Tabus in der Bildungsdebatte https://condorcet.ch/2023/09/es-gibt-immer-noch-zu-viele-tabus-in-der-bildungsdebatte/ https://condorcet.ch/2023/09/es-gibt-immer-noch-zu-viele-tabus-in-der-bildungsdebatte/#respond Thu, 21 Sep 2023 11:22:52 +0000 https://condorcet.ch/?p=14958

Der Journalist Daniel Wahl hat sich auf Bildungsthemen spezialisiert und hat schon deshalb ein Alleinstellungsmerkmal, weil er die gängigen Bildungsnarrative der Bildungsnomenklatura hartnäckig hinterfragt. Der 54-jährige Vater von vier erwachsenen Kindern lebt im Kanton Baselland und arbeitet beim Nebelspalter. Er war selber einmal Primarlehrer in Seltisberg (BL) und kennt deshalb die Schule als Praktiker, von der Elternseite sowie als politischer Berichterstatter. Seine ersten Schritte in den Journalismus wagte er beim Gratisanzeiger Baselstab. Es folgten die Stationen Telebasel und Baz, bevor er zu seinem aktuellen Tätigkeitsfeld wechselte, dem Nebelspalter. Der Condorcet-Blog veröffentlichte schon viele seiner Berichte. Ein Grund, sich einmal mit diesem Journalisten zu unterhalten. Alain Pichard traf ihn in Basel.

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Condorcet:

Wenn man die Bildungsberichterstattung in der Schweiz liest, haben Sie schon fast ein Alleinstellungsmerkmal. Sie hinterfragen und sind stets kritisch. Könnte das damit zu tun haben, dass Sie als Vater oder selbst als Schüler eigene Erfahrungen aufarbeiten mussten?

Daniel Wahl

Ich hatte eine unauffällige Schulkarriere, die im damals dörflichen Therwil begann, wo ich die Primarschule besuchte. Durch einen Umzug hatte ich auf der Sekundarstufe 1 im Nachbardorf Oberwil gewisse Anbindungsschwierigkeiten, aber sicher kein Trauma (lacht). Prägender waren da meine Erfahrungen als Vater von vier Kindern.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Sie liegen oft auf der Linie unseres Bildungsblogs.

Ganz frech gefragt: Wie waren Sie als Schüler?

Nach der Primarschule war ich war kein besonders guter Schüler mehr. Die Beziehungen zu den Lehrern habe ich als distanziert erlebt. Vieles funktionierte bei mir über die Beziehung. Eine Ausnahme darin war der Mathematiklehrer, auf der Sekstufe 1, auf dessen Citroën Deux chevaux ein Kleber «Atomkraft, nein danke» prangte.

Ganz stereotyp damals…

Genau, der hatte eine tolle Beziehung zu den Schülern und fiel mir durch seine Menschlichkeit auf.

Mit Ihrer Kritik an der gegenwärtigen Bildungspolitik liegen Sie sehr oft auf der Linie des Condorcet-Blogs. Könnten Sie mir zwei, drei Hauptfehlentwicklungen des derzeitigen Bildungsgeschehens nennen?

Beginnen wir mal mit den Lernlandschaften und dem Werkstattunterricht, die ja der Individualisierung dienen sollten…

Und die Eigenaktivität der Schüler fördern wollten…

Diese Lernformen haben amerikanische Grossraumbüros zum Vorbild und die Schulstube zur anonymisierten Bürolandschaft umfunktioniert. Sie entwickelten sich zu einer «Papierliwirtschaft», waren in Wirklichkeit Frontalunterricht vom Feinsten und erzeugten eine unheilvolle Distanz zur Lehrkraft. Dann halte ich die Umsetzung der integrativen Schule für einen der schwerwiegendsten Eingriffe in unser Schulsystem. Sie hat zu viel Unruhe, zu viele Akteure ins Schulzimmer gebracht, erfordert zu viele Absprachen, sprich Bürokratisierung. Sie ist zu kompliziert. Und schliesslich finde ich, dass mit der Einführung des kompetenzorientierten Unterrichts das Fundament des Bildungsbürgertums erodiert. Die auf allen Ebenen kompetenten Schüler wissen nicht mehr, was sie wissen sollten.

Daniel Wahl, Journalist beim Nebelspalter: Vorgefasste Meinungen sind nicht so mein Ding.

Von welchem Fundament sprechen Sie da? Und wer soll denn definieren, was sie wissen sollen?

Grundsätzlich wird der Bildungskanon durch das Leben und die Erwartung an eine selbstbestimmte, mündige Existenz definiert. Ich denke natürlich auch, dass sich der Bildungskanon im Laufe der Zeit verändert.

Können Sie das etwas konkreter ausdrücken?

Ohne Basiswissen geht es nicht. Dazu ein Beispiel. Die Bundestagsabgeordnete Emilia Fester blamierte sich in der Öffentlichkeit, weil sie das Gründungsdatum der Bundesrepublik Deutschland nicht nennen konnte und ebenso wenig wusste sie, dass Bismarck der erste Reichskanzler war. Ich bin überzeugt, dass die Schule ihr die Kompetenz vermittelt hat, solche Informationen zu erarbeiten. Aber ihr Wissen war im richtigen Moment nicht abrufbar. Und schlimmer noch: Sie verspürte gar keine Notwendigkeit dazu, das Wissen je abrufen und sich einprägen zu müssen. Ohne feste Bezüge kann aber keine Entwicklung entstehen, es bleibt alles bruchstückhaft. Die Formel «These – Antithese – Synthese», die in der Aufklärung ihre grosse Blüte erfuhr, lässt sich nicht ohne Wissen anwenden. Die immer schriller und polemisch werdenden Debatten in den Medien sind Ausdruck dass wir die Formel gar nicht mehr anwenden.

 Noch einmal: Wer definiert, was die Schüler wissen sollen?

Er wird vom jeweiligen kulturellen Raum auf Basis seiner Werte von seinen Kindern eingefordert. Es ist eine kulturelle Vereinbarung, die sich «buttom up» definieren sollte. Auch dazu ein Beispiel: Was ist uns die Rechtschreibung wert, warum sollten wir sie einfordern? Wer einen Liebesbrief ohne profunde Kenntnisse der Rechtschreibung verfassen will, hat ein soziales Problem. Der oder die Empfängerin denkt beim Lesen: Er oder sie gibt sich keine Mühe und nimmt sich keine Zeit für mich. Sollten wir also die Rechtschreibung nun aus Bequemlichkeit preisgeben und heute der KI überlassen?

Man bleibst den formalen Plattitüden verhaftet und ist nicht selbstbestimmt.

Aber Schreiben ist eine Kompetenz…

Gewiss doch …. und immer an konkrete Formen gebunden, welche die Literatur hervor- und zur Blüte gebracht hat. Leider hängt die heutige Generation zunehmend auf Whatsapp-Niveau.

Was ist da falsch?

Die heutige Jugend schreibt viel, kommuniziert viel, kritisierte eine Germanistin von der Universität Basel meine skeptische Einstellung gegenüber den heutigen Deutschunterricht. Aber mal ehrlich: Die Kommunikation in den Sozialen Medien, die von Hieroglyphen dominiert wird, ist getrieben, ohne Reflexionsfähigkeit. Man bleibt den formalen Plattitüden verhaftet und ist nicht selbstbestimmt.

Wie informieren Sie sich über die Bildungsthemen?

Ich habe mittlerweile ein festes Netzwerk von Lehrkräften, Unternehmern, Lehrlingsausbildnern. Dazu kommen meine Erfahrungen als Vater und dann ist ja da noch die immer grösser werdende Bildungsliteratur. Und, das darf man nicht vergessen, jedes Interview, das man führt, jede Recherche führt zu Exzellenz, also zu vermehrtem Wissen.

Und wie vermeiden Sie Einseitigkeit?

Margrit Stamm: Erfrischend undogmatisch

Ich habe mir die Neugier bewahrt und nehme für mich in Anspruch, ehrlich zu fragen, um hinhören zu können. Vorgefertigte Meinungen sind nicht mein Ding.

Sie treffen in Ihrer täglichen Arbeit viele Menschen aus dem Bildungsbereich. Wer ist Ihnen da besonders aufgefallen?

Da fällt mir die Bildungsforscherin Margit Stamm ein. Sie ist erfrischend immun gegen ideologische Behauptungen und hat einen pragmatischen Zugang zu ihren Untersuchungsfeldern. Das führt hin und wieder zu überraschenden Thesen, wie zum Beispiel ihre Ergebnisse über den phänomenalen Bildungswert der Secondos. Auch das Gespräch mit dem emeritierten Bildungsforscher Juergen Oelkers über den Reformwahn im Bildungswesen blieb mir nachhaltig in Erinnerung.

Es kommen Master- und Bachelorarbeiten auf den Markt in nie gekanntem Ausmass, die uns kein bisschen weiterbringen.

Eines der Narrative der derzeitigen Bildungspolitik ist die Gleichung «mehr Geld = bessere Leistungen». Sie haben letzthin im Nebelspalter den Bericht des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern vorgestellt, der dieses Narrativ in Frage stellt. Haben Sie das Gefühl, dass im Bildungsbereich Geld auch verschwendet wird?

Ich sehe derzeit vor allem im universitären Bereich, der ja unglaubliche Summen verschlingt, eine problematische Mengenausweitung. Besonders im Bereich Geisteswissenschaften. Es kommen Master- und Bachelorarbeiten auf den Markt in nie gekanntem Ausmass, die uns kein bisschen weiterbringen.

Wir haben da als Gegenstück die Fachhochschulen…

Um ihre Hörsäle und Klassenzimmer füllen zu können, müssen sie Studenten im Ausland rekrutieren. In Shanghai und so weiter. Und sie drängen leider auch immer mehr in die universitären Gebiete vor und treiben parallel zu den Universitäten die Grundlagenforschung voran, statt bei den angewandten Wissenschaften zu bleiben.

Die Bildungsverwaltungen bedienen heute zu stark die Bildungsbürokratie.

Die Player in der Bildungspolitik finden sich derzeit in den Bildungszentralen unseres Landes. Leute, die den Herausforderungen des Unterrichts fernbleiben. Wo sollte die Bildungspolitik nach Ihrer Meinung ansetzen?

Eine grosse Frage. Die Bildungsverwaltungen bedienen heute zu stark die Bildungsbürokratie. Mit der Möglichkeit, alles messbar zu machen und zu dokumentieren, will man heute angeblich die Bildungsqualität steigern. Aber da sind praxisferne Leute in den Schaltzentralen grosser Bildungstanker mit dem Unvermögen, auf Fehl- und Kollisionskurse zu reagieren. Die Einführung von Frühfranzösisch mit ihren Lehrmitteln «Mille feuilles» und «Clin d’oeil» ist ein solches Beispiel. Bis das korrigiert ist, vergeht eine Generation.

Welche Rolle spielen dabei die Lehrerverbände?

Sie sind den Bildungsverwaltungen zu nah und hörig. Sie orientieren sich nach «oben»; seltsam, dass sie kaum auf ihre Basis hören.

Dagmar Rösler, LCH-Präsidentin: Ihre Forderungen entsprechen genau den Vorstellungen der Bildungsbürokratie.

Aber die LCH-Präsidentin Dagmar Rösler gibt ja selber noch Schule!

Während in zahlreichen Kantonen Eltern und Lehrer die integrative Schule in Frage stellen, entsprechen Röslers Stellungnahmen genau den Vorstellungen der Bildungsbürokratie. Vielleicht ist eine solche Haltung das Eintrittsbillett, um die Pforten zum Palast des Bildungsestablishments zu durchschreiten. Ein paar Jahre war ich in der Schulpflege, beziehungsweise im Schulrat. Da habe ich selbst erlebt, dass man mit der Einführung der Schulleitungen die Korporale eingesetzt hat, welche die behördlichen «Glücksverheissungen» durchsetzen sollen. Ich will das System Schulleitung dabei nicht schlecht reden. Es gibt einige hervorragende, kritische und umsichtige Schulleitungen. Aber sie haben es im System schwer und müssen sich immer wieder absichern.

Die weissen Raben, sozusagen

Grossartige Ausnahmen!

Die Bildungsberichterstattung erlebt ja derzeit eine regelrechte Blüte. Berichte aus der Schule sind en vogue, oder sehen Sie das anders?

Ich denke, es macht sich ein Malaise bemerkbar. Die Gesellschaft merkt, dass da etwas nicht mehr stimmt. Vielen Jugendlichen geht es nicht mehr gut. Sie sind psychisch anfällig, wenig kritikfähig, zu wenig resilient. Ich kenne Lehrmeister, die daran fast verzweifeln. Zudem produziert das teuerste Schulsystem der Welt an die 20 Prozent Illetristen. Da kann doch etwas nicht stimmen. Somit spiegelt die Berichterstattung in den Medien dieses gesellschaftliche Unbehagen.

Aber man hat Angst, über die Folgen der Einwanderung wie ungebremst wachsende Schülerzahlen, Lehrermangel, Förderkurse, Schulhausbauten zu reden, weil man meint, damit fremdenfeindliche Gefühle zu bedienen.

Und woran krankt die Bildungsberichterstattung?

Es gibt immer noch zu viele Tabus. Man sieht den Elefanten im Raum nicht oder weigert sich, ihn zu benennen. Dazu zähle ich die Migration, die die Volkschule an den Anschlag gebracht hat. Aber man hat Angst, über die Folgen der Einwanderung wie ungebremst wachsende Schülerzahlen, Lehrermangel, Förderkurse, Schulhausbauten zu reden, weil man meint, damit fremdenfeindliche Gefühle zu bedienen. Was passiert gesellschaftlich: Wir haben zu wenig Nachwuchs, die Geburtenziffer ist weit unter dem Wert, damit sich die Bevölkerung erhält. Wir kompensieren das Manko mit der Migration. Ökonomisch ausgedrückt: Die Paare haben ihre Erziehungsleistung ins Ausland ausgelagert, die Gesellschaft kauft den Nachwuchs mit der Einwanderung ein. Der Preis dafür ist sehr hoch und muss von der Volksschule bezahlt werden. Das sollte man ansprechen.

Eltern in die Pflicht nehmen. Der Kanton Thurgau wurde vom Bundesgericht zurückgepfiffen.

Ein heisses Eisen…

Und nicht das einzige… Ein anderes ist, dass viele Eltern ihre Erziehungsverantwortung abgeben. Und sie tun das auch nur, weil sie es sich erlauben können. Mit offenen Armen übernimmt vielerorts die Schule diese Erziehungsleistung.

Um nachher darüber zu klagen, was sie alles übernehmen muss…

Und mit den entsprechenden Forderungen nach Aufstockung der Ressourcen… Die Schule meiner Kinder glaubte, sie müsse mit den Schülern den Jahrmarkt, in Basel, die Herbstmesse, besuchen. Dabei ist das die Aufgabe der Eltern, der Göttis und der Grosseltern. Weil das Zeitbudget der Schule beschränkt ist, geht diese Erziehungsleistung der Schule immer auf Kosten der Bildung.

Es bleibt ihr auch nichts anderes übrig; wir haben ja Schulpflicht.

Der Kanton Thurgau wollte Eltern, die nicht dafür sorgten, dass ihre Kinder vor dem Schuleintritt angemessen Deutsch können, bezahlen lassen – für Deutschkurse entsprechend ihrem Niveau. Das Bundesgericht pfiff die Behörden zurück. Ganz dahingestellt, ob dies wirklich die richtige Massnahme war, gilt es doch festzuhalten, dass es diese Ansätze gäbe. In einem Milizsystem wird auch erwartet, dass man gemeinsam Feuerwehrdienst leistet oder der Armee dient. Warum soll nicht von Eltern eingefordert werden, ihrem Nachwuchs das Sprechen so beizubringen, dass ihr Kind schulreif ist? Leider fehlt die Bereitschaft, dies offen zu diskutieren.

Wie haben Sie dies als Vater gelöst?

Als ich merkte, dass meine Kinder in der Schule bis zur fünften Klasse keinen Aufsatz schreiben mussten, dass das Verständnis in ihren Texten nach drei, vier Sätzen völlig auseinanderbricht, habe ich sie gezwungen, jeweils in den Ferien einen Aufsatz zu schreiben.

Sie werden Sie dafür geliebt haben…. Haben Sie sie auch korrigiert?

Sie haben mich gehasst. Und ja, selbstverständlich habe ich sie korrigiert.

Und benotet?

Nein. Ich habe sie mit ihnen ausführlich besprochen – und oh Himmel – sogar ins Reine schreiben lassen. Heute lachen wir am Abendtisch darüber.

Daniel Wahl, ich danke Ihnen für das Gespräch

 

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Eine neue Sicht deutet pädagogisches Denken und Handeln primär vom Lernenden her. Das ist sicher förderlich. Nur marginalisiert dieser Kulturwandel in den Schulen das Bedeutsame der Lehrerin und degradiert den Lehrer zum Lernbegleiter. Ein kritisches Gegenhalten von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Kinder brauchen Erwachsene

die ihnen zeigen

wie das gehen könnte

dieses Spiel

ein Mensch zu werden

 

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

So schreibt der Schriftsteller Lukas Bärfuss, wenn er von seiner Schulzeit erzählt. (1) Weiter bekennt der Träger des Georg-Büchner-Preises freimütig: “Ich weiss nicht, was aus mir geworden wäre, wenn meine Lehrer ihre Leidenschaften nicht mit mir geteilt hätten”, ihre Begeisterung, ihr Unverständnis, aber auch ihren Ärger, die Angst und das Staunen.

Ansteckende Begeisterung

Diese Lehrer führten Bärfuss zu Gedichten, sie führten ihn zu neuen Sichten, sie führten ihn in andere Welten. Und sie begeisterten ihn für Dinge, die er gar nicht kannte, weil ihn seine Neigung nie dorthin geführt hätte. So beispielsweise ein “Stellvertreter in der siebten Klasse, ein Mann mit Bart, der uns Gedichte vorlas. Nicht etwa, weil sie im Lehrplan standen. Er las uns Gedichte vor, weil der Gedichte liebte. Gedichte waren ihm wichtig, lebenswichtig. Und er teilte im Grunde auch keine Gedichte mit uns. Er teile seine Liebe, er teilte seine Leidenschaft”.(2)

Nochmals Bärfuss: “Und wenn ich mir einige Gedichte merken konnte, ‘Harlem’ von Ingeborg Bachmann oder ‘Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen’ von Rainer Maria Rilke, dann weil ich spürte, wie diese Gedichte unseren Lehrer berührten, und diese Berührung wollte ich auch erleben. Die Begeisterung meines Lehrers weckte meine eigene Begeisterung.”

Wirksame Lernprozesse

Dieses Prinzip habe nicht nur in der Literatur gewirkt, “für die ich vielleicht von Natur aus eine gewisse Prädisposition besass”. Weiter brachte es ihn auch in Fächern, die ihm weniger lagen, die ihm gar zuwider waren, ist Bärfuss überzeugt. Gerade darum aber bräuchten Kinder Lehrer, sie bräuchten Pädagoginnen. Ganz im Sinne des griechischen Wortes: paid-agogein. “Kinder führen”, “hinführen”, “hinanführen”. Führen, nicht betreuen. Anleiten, nicht begleiten.

Wichtig und wirksam sind angeleitete und strukturierte Lernprozesse.

Eine Einsicht, die auch die empirische Unterrichtsforschung bestätigt. Sie belegt es vielfach: Wichtig und wirksam sind angeleitete und strukturierte Lernprozesse. Sie erzielen hohe Effektwerte. Genau das weist die Bildungswissenschaft nach. Darum erstaunt es immer wieder, wie viele Schulreformen und Lehrmethoden jegliches pädagogische Denken und Handeln ausschliesslich vom Lernenden her sehen und damit das Sowohl-als-auch negieren. Sie marginalisieren so das Bedeutsame der Lehrerin und degradieren den Lehrer zum blossen Lernbegleiter. Unter dem propagierten “Shift from Teaching to Learning“ darf er nicht mehr Lehrer sein, sondern nur noch “Guide at the Side”.(3) Die Verantwortung fürs Lernen wird (weg-)delegiert – an das Kind und vermehrt auch an die Maschine.

Asymmetrische Prozesse

Die Tendenz: Die Lehrperson wird “zum Lerncoach, welche die Kinder auf Augenhöhe begleitet”.(4) So formulierte es vor Kurzem ein Stadtluzerner Schulleiter. Und er formulierte es apodiktisch – mit dem Vokabular und Begriffen aus dem Coaching. Allein ist er mit seiner Aussage nicht. Er artikuliert lediglich, was eine aktuelle Didaktik fordert und Pädagogische Hochschulen vielfach lehren: Lehrer dürfen nur noch begleiten, Lehrerinnen sind Coachs auf einer gleichen symmetrischen Ebene wie die Kinder. Die Schülerinnen und Schüler lernen selbstorientiert.

Selbstgesteuertes Lernen kann nicht anfängliche Lernmethode für alle sein.

Wer so argumentiert, vergisst das asymmetrische Verhältnis von Unterricht und Schule – und nicht zuletzt die Bedürfnisse der Lernenden. Er missachtet den Unterschied zwischen Lehrpersonen und Lernenden. Augenhöhe impliziert eben Symmetrie. Respekt und Vertrauen sollen es sein, nicht aber die Lehr- und Lernprozesse. Pädagogische Prozesse sind asymmetrisch; sie sind gekennzeichnet durch Kompetenzdifferenz. Ziel ist die Autonomie, Ziel ist die Symmetrie, aber der Weg dorthin ist asymmetrisch. Und darum kann selbstgesteuertes Lernen nicht anfängliche Lernmethode für alle sein, wohl aber Ziel. Das ist eine anthropologische Konstante. Heute aber werden Ziel und Weg gerne oder vielleicht sogar willentlich verwechselt.

Verantwortung fürs autonome Lernen

Anders gesagt: Lernen, Denken und Problemlösen sind zunächst sozial, also dialogisch oder eben interpersonal. Da ist das kleine Kind, der Jugendliche, der junge Mensch. Ihm gegenüber steht ein kompetenterer Partner – in einem asymmetrischen Verhältnis. Dieses Vis-à-vis lehrt und zeigt vor, es animiert und inspiriert, setzt Ziele, die Lernende selbst nicht haben können, und gibt Feedback. Beide gehen dabei eine Beziehung ein – eine Dyade als Basis des Dialogs, des (Gedanken-)Austausches, des Lehrens und Lernens. Ganz allmählich internalisieren die Lernenden den Problemlösemodus. Dieser kognitive Vorgang war ja zunächst sozial unterstützt. Irgendwann interagieren die Kinder geistig mit sich selbst – wie sie es vorher mit einem kompetenteren Gegenüber getan haben. Es ist der Transfer vom Interpersonalen zum Intrapersonalen. Lernende übernehmen Verantwortung für ihr autonomes Lernen, für ihr Denken und Problemlösen.

So einfach und so anspruchsvoll ist der pädagogische Beruf.

Die Verantwortung fürs eigene Lernen kommt nicht bei allen Kindern und Jugendlichen von selbst. Und sie kommt nicht bei allen gleich schnell. Genau darum müssen Lehrpersonen Verantwortung übernehmen, um sie dann mittelfristig in die Selbstverantwortung der Schülerinnen und Schüler zu übergeben. Wer diese Verantwortung scheut, sollte keine Lehrerin werden dürfen, sollte nicht Lehrer werden. Wer sie übernimmt, steht in der Pflicht, bis die Jugendlichen für sich selbst die Verantwortung übernehmen können. So einfach und so anspruchsvoll ist der pädagogische Beruf.

“Was ich […] nötig hatte, das waren Lehrer.” (5) Davon ist Lukas Bärfuss mit Blick auf seine eigene Schulzeit zutiefst überzeugt. Von einem Lerncoach spricht er nicht.

 

(1) Lukas Bärfuss (2015), Stil und Moral. Essays. Göttingen: Wallstein Verlag, S. 161.

(2) Ebda, S. 152f. [Zeichensetzung angepasst]

(3) Ewald Terhart (2018): Eine neo-existenzialistische Konzeption von Unterricht und Lehrerhandeln? Zu Gert Biestas Wiederentdeckung und Rehabilitation des Lehrens und des Lehrers, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 94 (2018) 3, S. 479.

(4) Christian Glaus, Schule ohne Noten – so geht’s, in: CH Media, 14.06.2023, S. 25.

(5) Bärfuss, a.a.O., S. 152.

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Es geht um Menschenleben https://condorcet.ch/2023/03/es-geht-um-menschenleben/ https://condorcet.ch/2023/03/es-geht-um-menschenleben/#comments Sat, 18 Mar 2023 16:39:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=13442

Im bernischen Kantonsparlament wurde letzthin ein Vorstoss einer sozialdemokratischen Parlamentarierin diskutiert, die verlangte, dass die Schülerinnen und Schüler obligatorisch in Sachen Reanimation, sprich am Defibrillator, ausgebildet werden sollten. Die Motionäre waren perplex, dass sowohl die Bildungsdirektion wie auch der Lehrerinnen- und Lehrerverband, sogar die Grünen diesen Vorstoss ablehnten. Es gehe doch um Menschenleben!

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Alain Pichard frisch gewählter Grossrat im Kanton Bern.

Die Worte der sozialdemokratischen Kantonsrätin drückten ein grosses Erstaunen aus: «Schade, ich dachte die Sache sei klar. Ärzteorganisationen und die WHO fordern seit langem die Einführung von Reanimationskursen in der Schule.» Geradezu martialisch tönte Mitmotionär André Roggli. Er sei schockiert, dass man dagegen sein könne , wenn sich 14-jährige um lebensrettende Massnahmen kümmern sollten.

Belinda Nazar Walpoth, SP-Grossrätin: Ich bin erstaunt…

Ich bin immer gerührt, wenn ich sehe, welche Wirkungsmächtigkeit man der Schule und uns Lehrkräften zutraut. So sollen wir aus dicken Schülern dünne machen, sie zu weniger Gewalt anhalten, sie vor AIDS und Frühschwangerschaft bewahren, sie vom Drogenkonsum abhalten, ihnen einen geordneten Umgang mit Handy und Socialmedia beibringen oder sie bezüglich Rassismus sensibilisieren. Natürlich sollen sie auch biologisch kochen, Rücksicht auf die Natur nehmen, Energie sparen, sich politisch engagieren

Vielleicht werden meine nun folgenden Einsichten als Kränkung empfunden, und ich bitte die Leserinnen und Leser dieses Blogs es nicht weiterzusagen: Nach 44 Jahren Unterrichtserfahrung komme ich zum Schluss, dass die Möglichkeiten von Unterricht beschränkt sind, in gewissen Schulzonen sogar sehr beschränkt. Wir können zurzeit nicht einmal mehr einen lebensrettenden Schwimmstil garantieren. Ein Ratskollege meinte spöttisch: Das ist ja der Grund für diese Motion, wenn die Kinder schon nicht schwimmen können und halbertrunken aus dem Wasser gezogen werden, könnte man sie wenigstens reanimieren.

Die Schule überfordert sich, wenn sie ständig nach Aufgaben sucht, die ausserhalb der Reichweite von Unterricht liegen.

Doch Spass beiseite. Die Schule überfordert sich, wenn sie ständig nach Aufgaben sucht, die ausserhalb der Reichweite von Unterricht liegen. Und das hat mit dem Wesen von Unterricht zu tun, die auf Lernprozessen basieren. In das Portfolio einer Lehrkraft gehört ein gewisser Werkzeugkasten zum Aufbau von Wissen und Kompetenz. Das fängt mit der Erfassung des Präkonzepts an, geht zu einer konkreten Problemstellung, welche eine gedankliche Forschungsaktivität auslöst. Dann folgt die Vertiefung, basierend auf Visualisierung, Lektüre und wechselnden Situationsschilderungen. Anschliessend folgen Anwendung und – das geht meistens vergessen – das Üben. Fehlen Elemente dieses pädagogischen Basiskonzepts, werde die Schülerinnen und Schüler den Stoff relativ schnell wieder vergessen.

Wenn man eine Schule aber mit lauter interessanten Kompetenzerwartungen überfrachtet, fehlt die Zeit, die ja ein knappes Gut ist.

Was Frau Walpoth und Herr Roggli anmahnen ist eine Pädagogik des Abhakens. Man macht es und geht dann zum nächsten Thema. Der Treppenwitz dieser Parlamentskomödie ist, dass sie von Parlamentariern vorgebracht wurden, deren Parteien von knapp acht Jahren den Lehrplan mit seiner Outputorientierung vorbehaltlos unterstützt haben. Eines der vielen Ziele dieses Lehrplans war es ja, dass man nicht mehr einfach Stoffe durchnimmt, sondern auch schaut, wie die Wirkung ist, bzw. was die Schülerinnen und Schüler am Schluss können. Kompetenzen aufzubauen, benötigt Zeit. Wenn man eine Schule aber mit lauter interessanten Kompetenzerwartungen überfrachtet, fehlt die Zeit, die ja ein knappes Gut ist.  Deshalb gilt es Prioritäten zu setzen und diese mit einem Zeitbudget zu versehen. Tun wir das nicht, haben die Lernenden an unserer Schule Dutzende von interessanten Impulsen eingetrichtert bekommen, beherrschen aber in dieser Hektik ganz basale Kompetenzen nicht mehr. So verlassen 20% unserer Schulabgänger die Volksschule ohne richtig lesen und schreiben zu können.

Deswegen verweigerte Bildung Bern, sonst immer offen für holistische Zielsetzungen, für einmal die Gefolgschaft. Der grüne Parlamentarier Manuel C. Widmer brachte es während der Debatte auf den Punkt: «Wenn der Grosse Rat mittels Motionen immer wieder in den schon heute über dicht gefüllten Lehrplan neue wertvolle Inhalte reinpackt, verringert sich der Handlungsspielraum der Schule.»

Am Ende setzte sich aber die Weltrettungs-Prosa durch. Die Motion wurde in ein Postulat umgewandelt und überwiesen.

 

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„Je geringer der Schulabschluss, desto schlechter die Schwimmfähigkeit“ https://condorcet.ch/2023/02/je-geringer-der-schulabschluss-desto-schlechter-die-schwimmfaehigkeit/ https://condorcet.ch/2023/02/je-geringer-der-schulabschluss-desto-schlechter-die-schwimmfaehigkeit/#respond Tue, 07 Feb 2023 14:34:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=13069

Die Zahl der Nichtschwimmer im Grundschulalter ist dramatisch gestiegen. Binnen der vergangen fünf Jahre hat sich der Wert verdoppelt. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Die DLRG-Vorsitzende Ute Vogt spricht im Interview über das Problem und sagt, was nun geschehen muss. Der Condorcet-Blog veröffentlicht ein Interview mit der DLRG-Vorsitzenden Ute Vogt, das in der Zeitung "Die Welt" erschienen ist und informiert über eine Motion im Berner Kantonsparlament (SCHWEIZ).

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Nur wenige Tage ist es her, da wurden die Zahlen der Öffentlichkeit präsentiert. Das jedoch, was die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) von einer Forsa-Umfrage da preisgab, war alarmierend: Die Zahl der Nichtschwimmer im Grundschulalter hat sich binnen fünf Jahren verdoppelt. Rund 20 Prozent der Kinder zwischen sechs und zehn Jahren konnten 2022 nicht schwimmen. 2017 lag der Anteil der Nichtschwimmer im Grundschulalter bei zehn Prozent.

Wie die Umfrage weiter zeigt, sind weitere 23 Prozent der Kinder nach Angaben ihrer Eltern unsichere Schwimmer. Nur 57 Prozent schwimmen demnach sicher, das sind in etwa so viele wie vor fünf Jahren. Anhand der Angaben der Eltern zu den abgelegten Schwimmabzeichen geht die DLRG allerdings davon aus, dass derzeit insgesamt sechs von zehn Kindern am Ende der Grundschule (58 Prozent) keine sicheren Schwimmer sind. Mütter und Väter gingen allzu oft fälschlich davon aus, das vorbereitende Seepferdchen befähige zum sicheren Schwimmen. Die Gründe, warum so viele Kinder nicht schwimmen können, sind vielschichtig. Darauf verweist Ute Vogt (58), Vorsitzende der DLRG.

 

WELT: Frau Vogt, es heißt, die Zahl der Nichtschwimmer im Grundschulalter habe sich verdoppelt. Wer gilt als Nichtschwimmer?

Ute Vogt: Wer sich nicht längere Zeit allein über Wasser halten kann und unsicher ist. Auch ein Kind, das das Seepferdchen besitzt, ist noch ein Nichtschwimmer.

WELT: Die Zahlen der Kinder, die deutschlandweit nicht schwimmen können oder unsichere Schwimmer sind, sind alarmierend.

Vogt: Das stimmt. Aber Sicherheit bekomme ich eben nur, wenn ich das Schwimmen richtig lerne und auch die Möglichkeit habe, das Schwimmen zu üben. Kinder, die beispielsweise vor der Corona-Pandemie das Schwimmen gelernt haben, hatten fast zwei Jahre keine Zeit zu üben. Das macht sich bemerkbar. Hinzukommt, dass es in vielen Haushalten nicht mehr üblich ist, mit den Kindern regelmäßig in ein Schwimmbad zu gehen. Das liegt zum Beispiel auch daran, dass es in unmittelbarer Nähe des Wohnorts vieler Kinder schlichtweg keine Bäder mehr gibt.

WELT: Lassen Sie uns die Punkte, die Sie angesprochen haben, durchgehen. Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass es nicht mehr üblich ist – hat sich der Stellenwert des Schwimmens in der Gesellschaft verändert?

Vogt: Wenn ich das Schwimmen in der Grundschule lerne, beeinflusst das natürlich das Verhalten in der Freizeit. Lerne ich jedoch keine Grundlagen, ist Schwimmen am Nachmittag, wenn die Schule vorbei ist, auch kein Thema. Dann sucht sich ein Kind eine andere Beschäftigung und sitzt im Zweifel vor dem Computer.

WELT: Inwiefern spielt der Kostenfaktor hinsichtlich eines Schwimmkurses im Kleinkindalter oder der Eintrittspreis für das Schwimmbad eine Rolle, ob ein Kind schwimmen kann? Der Umfrage zufolge gibt es in ärmeren Haushalten viel mehr Nichtschwimmer.

Vogt: Das war der Punkt, der mich bezüglich der Umfrage am meisten erschrocken hat. Denn eigentlich war das Schwimmen immer ein Sport, der leicht zugänglich war und den man für wenig Geld ausüben konnte. Ein Badeanzug oder eine Badehose ist keine teure Ausrüstung, viel günstiger zum Beispiel als ein Paar Fußballschuhe. Ich denke, dass es einen Zusammenhang zwischen Einkommen und Bildungsnähe gibt oder Bildungsferne – und ob ich Schwimmen als wesentlichen Teil der Bildung betrachte. Historisch gesehen ist Schwimmen Teil der klassischen Bildung, wie das Schreiben, das Lesen, das Rechnen. Ich glaube, dass es bei vielen Menschen nicht mehr so präsent ist, dass Schwimmen eine klassische Bewegung darstellt. In Bezug auf Erwachsene lässt sich etwa sagen: Je geringer der Schulabschluss, desto schlechter die Schwimmfähigkeit. Weshalb wir als DLRG auch darauf drängen, dass sich die Schulen in Deutschland dem Thema Schwimmen annehmen, so wie das früher auch der Fall war.

“Oft haben die Schulen keinen Zugang zu einer Schwimmhalle.”

WELT: Woran hakt es diesbezüglich?

Vogt: 2019 haben sich die Kultusminister darauf verständigt, dass kein Kind die Grundschule verlassen soll, ohne richtig schwimmen zu können. In der Realität wird das nur nicht umgesetzt. Da werden zwar entsprechende Lehrpläne gemacht, aber oft haben Schulen keinen Zugang zu einer Schwimmhalle, weil es in ihrer Umgebung einfach keine gibt. Es gibt insbesondere im ländlichen Bereich Schulen, bei denen Kinder teilweise eine Stunde fahren müssten, um ein Bad zu erreichen, sodass man Schwimmen nicht in den Unterricht einbauen kann. Zum anderen fehlen dann auch noch Lehrkräfte.

WELT: Wie kann man diese Probleme lösen?

Vogt: Was den Mangel an Lehrkräften betrifft, braucht es in jedem Bundesland Initiativen dafür, dass sich mehr Lehrkräfte qualifizieren lassen und die Herausforderung annehmen. Der Schwimmunterricht ist personalintensiver. Da können auch Kooperationen beispielsweise mit der örtlichen DLRG helfen, die dazu zum Beispiel Bundesfreiwillige ausbilden und einsetzen kann. Oder man könnte stärker auf Sportstudierende zurückgreifen, die den Lehrkräften in den Hallen dann zur Seite stehen, diese unterstützen.

WELT: Und was ist mit den Bädern beziehungsweise Hallen?

Vogt: Es ist ja nicht so, dass noch nicht investiert worden ist vom Bund und auch den Ländern. Doch von dem Geld der Investitionsprogramme profitieren vor allem Kommunen, die gute Beziehungen haben – und ausreichend Eigenkapital einbringen können. Aber klamme Kommunen, insbesondere die vielen kleinen im ländlichen Raum, sind außen vor. Deshalb fordern wir ein Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen. Man muss zusammen eruieren bzw. schauen, wo die Grundschulen liegen und wo Bäder fehlen. Der Bedarf, der aus dem Abgleich ersichtlich wird, muss dann gedeckt werden. Investitionsprogramme, die es ja gibt, können dann zielgerichtet gelenkt werden. Klar ist aber: Es braucht viel mehr Geld. Allein um den derzeitigen Sanierungsbedarf in den noch bestehenden Bädern zu decken, brauchen wir etwa 4,5 Milliarden Euro. Zusätzliche Bäder, die Anpassung an veränderte Nutzungsbedarfe und die Herstellung von Klimaneutralität sind da noch nicht berücksichtigt.

Die DLRG geht davon aus, dass am Ende der Grundschule rund 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler keine sicheren Schwimmer sind (Quelle: obs)

WELT: Sie haben eingangs die Corona-Pandemie erwähnt, in der viele Dinge nicht möglich waren, nicht geübt, nicht trainiert oder gefördert werden konnten. Aber bereits vor Corona gestaltete es sich für Eltern schwierig, einen Schwimmkursus zu bekommen – selbst bei privaten Schulen.

Vogt: Es fehlen schlichtweg Wasserflächen. Wir haben bundesweit ungefähr 2000 Ortsgruppen. Ich kenne keine, die nicht eine lange Warteliste besitzt. Es gibt welche, die haben ihre Warteliste geschlossen, weil die für die kommenden zwei Jahre und weiter reichen würde. Das ist schon dramatisch. Deshalb betonen wir ja stets, wie unabdingbar es ist, Schwimmen verpflichtend in den Unterricht an der Grundschule einzubinden – und dafür benötigen wir mehr Schwimmhallen. Ehrenamtlich und mit privaten Schulen können wir das Problem nicht lösen.

WELT: Zumal die privaten Kurse dann auch wieder einen Kostenfaktor darstellen.

Vogt: Die Kosten mögen für den einen oder anderen eine Rolle spielen, aber es geht – wie eingangs schon erwähnt – vor allem um den Stellenwert des Schwimmens. Ist das Schwimmen überhaupt wichtig, brauche ich das Schwimmen für die Zukunft, liegt es in der Tradition meiner Familie? Was den Stellenwert des Schwimmens betrifft, unterschätzen Eltern oft, das Wasser eine magische Anziehungskraft für Kinder hat. Und wenn ein Kind nicht sicher schwimmen kann, ist es hochgradig gefährdet. Wir erleben das Jahr für Jahr, insbesondere in den Urlaubsmonaten nehmen die Einsätze hierzulande an den Seen und an der Küste zu. Selbst acht, neun Jahre alte Kinder sind zunehmend unsicherer im Wasser. Viele sind nicht eigenständig in der Lage zu schwimmen.

WELT: Sie haben die Anziehungskraft des Wassers erwähnt. Aufgrund der zunehmenden Hitze in den Sommermonaten sind die Freibäder, See- bzw. Ostseebäder immer voller.

Vogt: Ganz klar. Auch wer nicht schwimmen kann, bleibt dem Wasser nicht fern und fährt vielleicht mit dem Paddle-Board raus. Gerade bei Jugendlichen erleben wir oft eine Art Gruppenzwang. Da gehen mehrere Jugendliche zusammen ins Wasser, von denen einer nicht schwimmen kann, es aber nicht zugibt und dann ertrinkt. Das haben wir erlebt.

“Das Problem ist erkannt, nur zeigt aktuell noch jeder auf den anderen.”

WELT: Gibt es denn aktuell Rückmeldungen aus der Politik, sich der Probleme in Bezug auf die vielen Nichtschwimmer im Grundschulalter anzunehmen?

Vogt: Unser Eindruck ist, dass das Thema in allen Parteien als sehr wichtig erachtet wird. Wir waren am Mittwoch zur Anhörung beim Sportausschuss im Bundestag. Das Problem ist erkannt, nur zeigt aktuell noch jeder auf den anderen. Das heißt, die Länder sagen, das ist Sache der Kommunen, der Bund meint, die Länder müssten da stärker agieren und nicht er selbst, der Geld dafür ausgibt, obwohl er das nicht müsste. Wir haben dafür plädiert, das gemeinsam anzugehen und sich um eine gute Infrastruktur zu kümmern. Bislang denkt immer jeder nur an den eigenen Verantwortungsbereich. Es muss doch möglich sein, dass sich auf dem Land Kommunen zusammentun und schauen, dass sie eine Halle erbauen, die mehrere Schulen nutzen können. Dort könnten auch Lehrkräfte arbeiten, sodass nicht jede Schule selbst welche aufbringen muss. Wir dürfen nicht nur reden und großartige Programme erstellen. Es muss gehandelt werden – und am besten federführend durch den Bund. Die Zukunft kann ja nicht so aussehen, dass Schwimmen an manchen Orten Luxus und woanders gar nicht möglich ist.

WELT: Um noch einmal auf die Kosten zurückzukommen: Was darf ein Schwimmkursus Ihrer Meinung nach kosten, wo sehen Sie die Grenze?

Vogt: Bei uns reden wir von einem Jahresbeitrag für die Mitgliedschaft zwischen 50 und 100 Euro. Oft kommt dann noch der Eintritt zur Halle hinzu. Ich habe aber auch von privaten Schwimmschulen gehört, die zwischen 300 und 600 Euro für einen Kurs verlangen. Das kann es aber nicht sein.

WELT: Die Probleme, die die Politik lösen muss, haben Sie angesprochen. Wie steht es um die Eltern – wünschen Sie sich, dass die stärker dafür sensibilisiert werden, dass ihre Kinder das Schwimmen lernen?

Vogt: Ja. Wir tragen dazu bei, indem wir zum Beispiel in die Kindergärten gehen und dort die Kleinen spielerisch über Gefahren aufklären und Baderegeln vermitteln. Das wiederum bekommen die Eltern mit. Auch sonst weisen wir immer wieder darauf hin, wie wichtig die Eltern sind. Selbst wenn sie keine Lehrer sind und das Schwimmen nicht vermitteln können. Bei gemeinsamen Schwimmbadbesuchen oder auch bei Spiel und Spaß daheim in der Badewanne verlieren die Kinder die Scheu vor dem Wasser, gewöhnen sich an die Bewegung darin und lernen dann später auch schneller das Schwimmen.

Anmerkung der Redaktion:

Im bernischen Kantonsparlament haben die Grossrätin Andrea Zryd (SP) und Alain Pichard (GLP) eine Motion eingebracht, welche auf eine Verbesserung der Schwimmfähigkeit der Schülerinnen und Schüler abzielt. Dabei suchen sie die Kooperation mit den lokalen Schwimmclubs und schlagen vor, dass in Einzelfällen der Kanton sogenannte Gutscheine sprechen kann, welche die Nichtschwimmer bei den Schimmclubs einlösen können. Andrea Zryd: «Die Kompetenz dieser Leute ist hoch. Sie soll aber den Schwimmunterricht in der Schule nicht ersetzen, sondern gezielt in Einzelfällen zur Anwendung kommen, dann wenn man bemerkt, dass eine Schülerin in einer höheren Klasse nicht schwimmen kann.»

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Ein Drittel weniger Lernfortschritt, und es trifft die Schwächsten https://condorcet.ch/2023/02/ein-drittel-weniger-lernfortschritt-und-es-trifft-die-schwaechsten/ https://condorcet.ch/2023/02/ein-drittel-weniger-lernfortschritt-und-es-trifft-die-schwaechsten/#comments Thu, 02 Feb 2023 10:49:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=13036

Während der Pandemie haben Schüler mehr als ein Drittel des normalen Lernzuwachses pro Schuljahr weniger erreicht. Das zeigt eine aufwendige Analyse aus 15 Ländern. Ohnehin schwache soziale Gruppen sind besonders davon betroffen. Wir bringen einen Beitrag der WELT-Journalistin Sonja Kastilan.

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Sonja Kastilan, Journalistin DIE WELT

Wer hilft seinen Kindern schon gerne bei Mathe? Oder Physik? Lesen, ja, das geht oft einfacher, sofern man die Sprache selbst gut spricht. Deshalb mag es manche kaum überraschen, wenn jetzt eine Studie im Fachjournal „Nature Human Behaviour“ feststellt, dass die Schulschließungen in den Anfängen der Covid-19-Pandemie sich vor allem auf die Rechenfähigkeiten auswirkten.

Dass Kinder jedoch im internationalen Durchschnitt mehr als ein Drittel weniger lernten als in normalen Schuljahren, ist dennoch ein bemerkenswert hoher Wert. Und dass dieser Verlust bis 2022 noch nicht wieder aufgeholt werden konnte, auch wenn es gelang, die Vergrößerung der bestehenden Lücken zu verhindern, sollte zu denken geben – und zu entsprechenden Fördermaßnahmen führen.

Die aktuell veröffentlichte Analyse der Lerndefizite umfasst 42 vergleichbare Studien aus 15 Ländern. Die Daten stammen vor allem aus Großbritannien und den USA; aber auch aus Deutschland sind vier Studien darunter. Neben den Defiziten in verschiedenen Schulfächern und Stufen wurden der soziodemografische Status und das Durchschnittseinkommen im jeweiligen Land erfasst.

Wie die Corona-Schulmisere Kindern das Lesenlernen erschwert

Wie sich zeigte, haben sich die Lernfortschritte während der Covid-19-Pandemie zunächst erheblich verlangsamt: Schülerinnen und Schüler lagen im Mittel 35 Prozent hinter dem üblichen Pensum zurück. Die größten Lücken wiesen Kinder mit einem niedrigen sozioökonomischen Status auf; zwischen den Klassenstufen – Grundschüler im Vergleich zu Kindern in der nächsten Stufe – ließen sich keine signifikanten Unterschiede erkennen.

Im Rahmen einer Pressekonferenz betonte der Bildungsforscher Bastian Betthäuser, Erstautor der Studie und derzeit am Centre for Research on Social Inequalities in Paris sowie an der Universität in Oxford beschäftigt, dass die Lernkrise durchaus eine Armutskrise sei. Durch die Schulschließungen wurden Kinder aus ärmeren Verhältnissen, denen zu Hause kein Computer zur Verfügung stand, mehr benachteiligt. Und die auch keine Möglichkeit hatten, sich zum Lernen in ein ruhiges Zimmer zurückzuziehen. Die größeren Defizite in Mathematik als im Lesen erklärt sich Betthäuser damit, dass die Eltern wohl an ihre Grenzen stießen, und es den meisten leichter falle vorzulesen.

Grundschüler haben im Wechselunterricht Luftballons mit Wünschen 2021 vor allem gegen die Corona-Einschränkungen beim Schulunterricht gestaltet, hier in einer Grundschule in Haar bei München. (Quelle: picture alliance / Geisler-Fotopress)

Auf globaler Ebene betrachtet, lägen Länder mit geringerem Bruttoeinkommen wie etwa Mexiko oder Brasilien hinter wohlhabenden Nationen zurück, was die Kluft vergrößere; aus Ländern mit niedrigem Durchschnittseinkommen konnten keine Untersuchungen berücksichtigt werden. Manchmal genügten allerdings schlichte Mittel, etwa SMS-Botschaften, um Kinder entweder mit Mathe-Aufgaben zu versorgen oder sie zu motivieren – erfolgreich, wie Daten aus in Botsuana und Brasilien belegen.

„Diese Studie ist methodisch sehr gut angelegt. Wichtig ist bei solchen Meta-Analysen, dass die Qualität der Einzelstudien, die in die Auswertung einfließen, ganz genau geprüft wird. Das ist hier offenbar sehr akribisch erfolgt“, erklärt Benjamin Fauth, Leiter der Abteilung Empirische Bildungsforschung am Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg, gegenüber dem deutschen „Science Media Center“. Bei der Interpretation der Befunde müsse berücksichtigt werden, dass hier Studien aus unterschiedlichen Ländern eingeflossen sind, deren Ergebnisse zum Teil nicht auf die deutschen Bildungssysteme übertragen werden können.

Ungleiche Verteilung von Lernrückständen

„Aber insgesamt sehen wir auch hierzulande Lernrückstände, und wir sehen vor allem auch deren ungleiche Verteilung: Schülerinnen und Schüler, die es vor der Pandemie schon schwerer hatten, sind sehr viel stärker betroffen“, sagt Fauth, der mit Kollegen erforscht, wie sich die Schulschließungen hierzulande auswirken. Ihre Studien flossen auch in die aktuelle Meta-Analyse mit ein. „Unsere Ergebnisse zeigen die ungleiche Verteilung ebenfalls“, wie Fauth im Gespräch mit WELT bestätigt.

„Nicht nur sind die Lernrückstände an sich sozial ungleich verteilt, sondern auch deren Folgen werden vermutlich sehr unterschiedlich sein: Viele Schülerinnen und Schüler mit dem entsprechenden sozialen Hintergrund werden das ohne Weiteres wieder aufholen können“, sagt Fauth. Er befürchtet, dass die Folgen bei den Leistungsschwächeren und Kindern aus eher bildungsfernen Elternhäusern gravierender seien.

Deshalb müsse man auch darauf achten, wie die Ressourcen verteilt werden, wolle man den ohnehin benachteiligten und nun stärker betroffenen Kindern helfen.

Lehrer Joschka Dusil und Schüler der Klassen 1, 2 und 4 der Liebenauschule bei einer Nachmittagsunterrichtseinheit im Rahmen des Programms „Lernen mit Rückenwind“. Mit dem auf zwei Jahre angelegten Programm soll Kindern und Jugendlichen geholfen werden, Corona-Folgen und Lernlücken zu bewältigen.

„Die Relevanz des festgestellten Lerndefizites ist immens, weil es auf den Unterricht einen unmittelbaren Einfluss hat“, sagt Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Je geringer die Lernleistungen seien, desto schwieriger werde es für die Kinder, die von den Curricula geforderten Standards zu erreichen. In der Folge geht Zierer davon aus, dass sich eine „Generation Corona“ bilde, „die besonders stark unter der Pandemie gelitten hat“. Das treffe insbesondere die Jüngsten im System mit einem bildungsfernen Hintergrund aus wirtschaftlich schwachen Ländern.

Soziales Miteinander wieder auf die Reihe bekommen

Was in der Meta-Analyse nicht beleuchtet wurde, laut Zierer aber andere Untersuchungen zeigen: Die Pandemie hat sich auch auf die psychosoziale Entwicklung und die körperliche Verfassung negativ ausgewirkt. Und Fauth berichtet: Wenn man Lehrkräfte befrage, so werde deutlich, dass neben den eigentlichen Lernrückständen noch ein anderes Problem im Vordergrund stehe, nämlich der gesamte psychosoziale Bereich. „Mein Eindruck ist, dass die Schulen zurzeit in diesem Bereich sehr viel Arbeit damit haben, bestimmte Lernroutinen wieder einzuüben und das ganze soziale Miteinander wieder auf die Reihe zu bekommen.“

„Es sollte alles unternommen werden, um die Lerndefizite aufzuholen. Leider haben viele Länder die ersten Möglichkeiten – Stichwort ,Sommerschulen‘ – verpennt oder absolut unreflektiert implementiert“, kritisiert Zierer. Damit sei noch mehr Zeit verloren gegangen: „Aus Forschungen wissen wir leider, dass sich Lerndefizite schnell kumulieren und daher immer größer werden.“ Je früher es gelinge, gegenzusteuern, desto besser.

Ein Grundschüler sitzt nach der Verlängerung des Lockdowns zuhause vor dem Bildschirm und nimmt mit einem Laptop am Onlineunterricht mit dem Lehrer teil. (Quelle: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)

 

Dem würde Bastian Betthäuser vermutlich zustimmen, denn er riet dazu, die langen Sommerferien, wie sie in zahlreichen Ländern üblich sind, zu nutzen, um Kindern zusätzliche Angebote zu machen: Es genüge eben nicht, einfach wieder den Normalzustand herzustellen, sondern man müsse mehr tun, um die Lernverluste aufzuholen. Gleichzeitig sollte man im Blick behalten, dass die Aufnahmefähigkeit ihre Grenzen hat – was Nachmittags- oder Wochenendkurse einschränkt. Doch Sommer-Lernprogramme hätten sich schon mehrfach bewährt und könnten verhindern, dass die Ungleichheit weiter zunimmt.

„Das Problem ist sicherlich, dass angesichts eines Lehrermangels vor allem das Personal fehlt“, meint Zierer. Hinzu komme, dass die Konzepte nicht erarbeitet wurden und alle auf die Digitalisierung schielen, die sich aber nicht als Retter in der Pandemie bewährt hätte. Vielmehr stehe Digitalisierung als Treiber für Bildungsungerechtigkeit, weil je nach Bildungsniveau digitale Medien anders genutzt würden. Zierer sieht es deshalb als Herausforderung für die nächsten zwei, drei Jahre, hier vernünftige Konzepte anzubieten.

Kein hoffnungsloser Fall, wenn Förderprogramme greifen

Wie sich die Pandemie auf lange Sicht auf den Lernerfolg auswirkt, könne man heute nicht absehen, sagt Betthäuser; man sollte die Entwicklung aber im Blick behalten und evaluieren. Zumal sich an Erhebungen aus dem Frühsommer 2021 ablesen lässt, dass in Schweden und Dänemark offenbar nicht so große Probleme auftraten: Schweden verfolgte zwar einen eigenen Weg in der Pandemie, doch Dänemark ergriff ähnliche Maßnahmen wie andere europäische Länder, ohne dass dänische Kinder ähnlich stark mit dem Schulstoff hinterherhinkten. Warum, lohne sich genauer zu analysieren.

Bildung sei nachweislich ein, wenn nicht sogar „der“ Schlüsselfaktor für einen erfolgreichen Einstieg in den Arbeitsmarkt und entscheidend dafür, wie erfolgreich jemand seinen Lebensunterhalt bestreitet. Es bestehe das Risiko, dass die Generation, die jetzt von den langen Schulschließungen betroffen war, später ein ernsthaftes Problem damit hätte. Aber das bedeute nicht, dass sich nichts verbessern ließe. „Ich würde nicht sagen, dass wir es mit einem hoffnungslosen Fall zu tun haben“, betont Betthäuser. Es sei wichtig, dass jetzt entsprechende Förderprogramme zum Einsatz kommen.

In Deutschland laufen sehr unterschiedliche Programme, abhängig vom jeweiligen Bundesland. Es wurde auch eine länderübergreifende Arbeitsgruppe eingerichtet. Diese hat in Zusammenarbeit mit dem Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht auf der aus Mitteln des DigitalPakts Schule finanzierten länderübergreifenden Plattform „MUNDO“ Instrumente veröffentlicht, die lizenzfrei genutzt werden können. „Das Problem muss allerdings in den Schulen gelöst werden“, sagt Fauth. Dementsprechend müsse auch geklärt werden, welche Schulen mehr Ressourcen als andere brauchen, um benachteiligte Kinder besonders zu unterstützen.

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Der neue Lehrplan: Hehre Bildungsziele https://condorcet.ch/2022/10/der-neue-lehrplan-hehre-bildungsziele/ https://condorcet.ch/2022/10/der-neue-lehrplan-hehre-bildungsziele/#comments Mon, 31 Oct 2022 21:42:28 +0000 https://condorcet.ch/?p=12167

Dominic Iten setzt sich in seinem Bericht mit den hehren Zielen des Lehrplans 21 auseinander und konfrontiert diese mit den in der Praxis eingesetzten Lehrmitteln. Eine Fallstudie mit Durchblick.

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Dominic Iten, Lehrer in Bern, Redaktor von Widerspruch

Die gemäss Lehrplan 21 vermittelte Bildung soll den Einzelnen ermöglichen, ihre «Potenziale in geistiger, kultureller und lebenspraktischer Hinsicht zu erkunden, sie zu entfalten und über die Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt eine eigene Identität zu entwickeln.» Bildung soll befähigen «zu einer eigenständigen und selbstverantwortlichen Lebensführung, die zu verantwortungsbewusster und selbstständiger Teilhabe und Mitwirkung im gesellschaftlichen Leben in sozialer, kultureller, beruflicher und politischer Hinsicht führt.» Besonderer Wert wird im Lehrplan 21 ausserdem auf die Bildung für nachhaltige Entwicklung gelegt: «Die Schüler:innen setzen sich mit der Komplexität der Welt und deren ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander. Sie erfassen und verstehen Vernetzungen und Zusammenhänge und werden befähigt, sich an der nachhaltigen Gestaltung der Zukunft zu beteiligen.» Das klingt vielversprechend.

 

Geschichte wird zu RZG: Geschichte von unten?

Nun formuliert der neue Lehrplan nicht nur eine Reihe kompetenzorientierter Bildungsziele – mit der Einführung des neuen Lehrplans geht auch eine tiefgreifende Umstrukturierung des Bildungswesens einher. Dies betrifft sowohl die Form, in der Bildungsinhalte vermittelt werden sollen als auch die Inhalte selbst. Geschichte wird im Zuge der Einführung des Lehrplans 21 als eigenständiges Unterrichtsfach aufgelöst und findet Eingang in den neu geschaffenen Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG). «Im Zentrum [des Fachbereichs NMG] steht die Auseinandersetzung der Schüler:innen mit der Welt. Um sich in der Welt zu orientieren, diese zu verstehen, sie aktiv mitgestalten und in ihr verantwortungsvoll handeln zu können, erwerben und vertiefen sie grundlegendes Wissen und Können.» Auch das klingt erst mal gut.

Angepeilt ist eine Hinwendung zur Lebenswirklichkeit des einzelnen, unabhängig von Geschlecht, Alter oder sozialer Stellung.

Und eine genauere Betrachtung der didaktischen Hinweise für das Fach RZG (das dem ehemaligen Fach Geschichte am nächsten kommt) lässt hoffen: Nicht mehr rohes Faktenwissen soll vermittelt werden, kein Auswendiglernen von grossen Namen und bedeutenden Daten im Vordergrund stehen: «Geschichtsunterricht zielt darauf ab, dass Schüler:innen anhand von Beispielen aus der Vergangenheit allgemeine, über das konkrete Beispiel hinausweisende Einsichten für die Gegenwart und Zukunft gewinnen.» Der Unterricht soll sich bewusst abwenden von grossen Erzählungen, der Geschichte der grossen Männer und der entscheidenden Schlachten. Angepeilt ist eine Hinwendung zur Lebenswirklichkeit des einzelnen, unabhängig von Geschlecht, Alter oder sozialer Stellung und insbesondere zu den Zusammenhängen zwischen der individuellen Lebenswirklichkeit und den gesellschaftlich übergreifenden Strukturen und Prozessen, denen diese unterworfen sind.

Das entsprechende Lehrmittel: Der Durchblick

Doch wie siehts in der Praxis aus? Wie wird in den nach Lehrplan 21 gestalteten Lehrmitteln Bezug auf den Alltag der Schüler:innen genommen? Wird hier tatsächlich eine didaktische Brücke zwischen der Lebenswelt des Lernenden und dem Politikbezug des Lerngegenstandes geschaffen oder ist die pädagogische Alltagsorientierung eher als Entpolitisierungsprozess zu verstehen, der Fachbezüge zugunsten von Lebensweltbezügen ersetzt? Wird in den hier untersuchten Lehrmitteln tatsächlich der Versuch gemacht, an die gesellschaftlichen Wurzeln zu fassen, oder handelt es eher um eine am Bestehenden und Herrschenden orientierte Heimatsuche?

Durchblick, Band II

Das nach Vorgaben des Lehrplan 21 entwickelte Lehrmittel für den Fachbereich Geschichte nennt sich Durchblick und erscheint in zwei Bänden. Es wurde von einem interkantonalen Autorenteam verfasst und behandelt in Band I grob gesprochen die Kernthemen Revolution, Schweizergeschichte und die europäische Industrialisierung, in Band II den Imperialismus, die beiden Weltkriege, den Wandel der Schweiz sowie Demokratie und Menschenrechte. Gemessen an den grossen Forderungen und hohen Ansprüchen des Lehrplans kommen die Lehrmittel auf den ersten Blick erstaunlich konventionell daher. Die beiden Bände bieten einerseits einen klassischen Abriss der grossen Themen der Weltgeschichte, oftmals festgemacht an grossen Männern: Auf Luther und Zwingli folgen Louis IX und Napoleon, danach Bismarck, bald einmal Hitler und Stalin und zuletzt (bemerkenswerterweise) Emilie Lieberherr. Andererseits wird der Geschichte der Schweiz auffallend viel Platz eingeräumt: Die sagenumwobene Entstehung der Eidgenossenschaft, der Rütlischwur, die Gründung des Bundesstaates und schliesslich Guillaume-Henri Dufour. Die Geschehnisse im Mittelalter, die Reformation der Kirche oder die Geschichte der Weimarer Republik werden überwiegend in Form von Ereignisgeschichte dargestellt.

In den beiden Büchern werden vorwiegend positive Errungenschaften diskutiert.

Bezüge eines historischen Gegenstandes zur Lebenswelt der Schüler:innen sind nicht in übermässiger Fülle vorhanden und dienen meist dazu, die positiven Aspekte der Gegenwart gegenüber der tristen Vergangenheit hervorzuheben. Im Begleitband für Lehrpersonen wird zwar für die Behandlung des Themas ‚Industrialisierung in Europa‘ noch empfohlen, sowohl die Licht- als auch die Schattenseiten von Neuerungen, insbesondere des Wandels der Industriegesellschaft zu betonen. Und auch wenn da einleitend erwähnt wird, dass mit dem schnellen Fortschritt der Industrialisierung sich auch Widersprüche eröffneten, dass das Bürgertum «sich durch den neuen Reichtum zu einer einflussreichen Schicht [erhob], während die Arbeiterfamilien um das tägliche Brot kämpfen mussten», so werden im Folgenden die Schattenseiten moderner Prozesse doch kaum beleuchtet. Die Kehrseite des Fortschritts findet höchstens noch Erwähnung in Form von ökologischen Problemen, der hohen Umweltbelastung als Folge des massiven Verbrauchs fossiler Energien beispielsweise. Ansonsten aber werden vorwiegend positive Errungenschaften diskutiert.

Der Durchblick: Wohnen

Das wird etwa deutlich an der Betrachtung der sich entwickelnden Wohnverhältnisse. Infolge der Urbanisierung und einer hohen Geburtenrate im 19. Jahrhundert wurde der Wohnraum in den Städten knapp. Begehrte, geräumige Wohnungen in Mietskasernen konnten sich nur die Gutverdienenden leisten, während in unmittelbarer Nähe zu den Fabriken Arbeiter:innensiedlungen entstanden, in denen teils prekäre Wohnverhältnisse herrschten: Durchschnittlich lebten sechs Menschen in einem Zimmer von 20 Quadratmetern. Die Lernenden sollen einen Vergleich zur eigenen Lebenswelt anstellen: «Es ist für die Empathie der Schülerinnen und Schüler gewinnbringend, einen Aktualitätsbezug herzustellen und ihre gegenwärtige mit der damaligen Lebenssituation zu vergleichen», steht im Begleitband. Wer sich wegen zu wenig Wohnraum beschweren möchte, wer mit der Teilung seines Zimmers mit seinen Geschwistern sich unzufrieden zeigt, dem dürfte «der Vergleich zu einer Familie in einer Arbeitersiedlung im 19. Jahrhundert […] die Augen öffnen», steht da weiter.

Durchschnittlich lebten sechs Menschen in einem Zimmer von 20 Quadratmetern.

Mangelnder Wohnraum soll nicht auf ökonomische oder politische Verhältnisse zurückgeführt werden.

Zwar werden die krassen Unterschiede zwischen einem Leben in der Arbeiter:innenklasse und dem Bürgertum thematisiert – allerdings bloss bezüglich der längst überwundenen Vergangenheit. Neben Bildern von in winzigen Wohnräumen zusammengepferchten Arbeiter:innenfamilien sehen die Lernenden den prunkvollen Speisesaal, in dem das Grossbürgertum zu speisen pflegt. Auch Quellenberichte werden zur Verdeutlichung dieses Gegensatzes herangezogen: Die Erinnerungen eines Kaufmannssohns um 1900 berichten von Mahagoni, hölzernen Wandverkleidungen, Messing, Kristall und Servicemädchen. Der Bericht eines Arbeiters kontrastiert diese Welt des Wohlstands und erzählt feuchten Wänden, schmalen Fenstern und kalten Nächten. Freilich war um 1900 der Gegensatz zwischen den beiden Klassen deutlich sichtbar, trat offen zutage und äusserte sich im Alltagsleben in Form unmenschlicher Wohn- oder Arbeitsbedingungen. Doch ist dieser Gegensatz heute verschwunden? Den Schüler:innen wird folgende Aufgabe gestellt: «Gibt es auch in der heutigen Zeit verschiedene Bevölkerungsschichten? Wenn ja, in welcher Form? Wo liegen die Unterschiede gegenüber der Zeit um 1900?» Im Begleitband für Lehrpersonen ist als Lösung festgehalten, dass die heutige Gesellschaftsstruktur zwar in eine Arbeiter:innen-, Mittel- und Oberschicht unterteilt werden kann, dass aber «jeder Mensch einen Anspruch auf Grundversorgung, soziale Absicherung und ein menschenwürdiges Leben» hat. «Im Vergleich zur Situation um 1900 geht es den Menschen heute sehr gut.» Hier deutet sich ein Entpolitisierungsprozess an: Mangelnder Wohnraum soll nicht auf ökonomische oder politische Verhältnisse zurückgeführt werden. Selbst der kleinste Wohnraum ist verglichen mit der Wohnsituation eines Arbeitenden um 1900 ein Luxus. Sollten sich die Schüler:innen während ihrer späteren Ausbildung keine Wohnung in den zentrumsnahen Gebieten leisten können, wird ihnen hier nicht das Werkzeug in die Hand gegeben, solche Missstände als Gentrifizierungsprozesse wahrzunehmen und diese auf ökonomische Grundlagen oder strukturelle Ungleichheiten zurückzuführen. Hier wird nicht die im Lehrplan geforderte Auseinandersetzung «mit der Komplexität der Welt und deren ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen» gefördert.

Der Durchblick: Arbeit

Zur Herstellung eines direkten Bezugs von der Vergangenheit zur heutigen Lebenssituation der Lernenden eignet sich selbstverständlich das Thema Kinderarbeit. Da die tiefen Löhne der Fabrikarbeiter:innen des 19. Jahrhunderts nur allzu oft nicht zur Ernährung einer Familie ausreichten, arbeiteten beispielsweise in der Textilindustrie bereits sechsjährige Kinder. Ihre kleinen Hände oder ihre geringen Körpermasse befähigten sie zu Arbeiten, die für den ausgewachsenen Menschen nur mühsam zu bewältigen waren. Auch die ihnen ausbezahlten, sehr niedrigen Löhne machten sie bei Unternehmern zu einer äusserst beliebten Arbeitskraft. Der Begleitband meint: «Heutzutage ‚müssen‘ die Schüler:innen jeden Tag in die Schule. Dass es sich dabei um ein Privileg handelt, werden die meisten wohl eher verneinen.» Dieses Privileg soll den Lernenden über einen direkten Alltagsvergleich vor Augen geführt werden: «Die Schüler:innen beschreiben einen Tagesablauf eines Fabrik-Kindes und vergleichen den Arbeitstag mit dem eigenen Alltag.»

Die Botschaft lautet: Schlechter war es früher und ist es woanders.

Interessanterweise werden auch Vergleiche zum gegenwärtigen Alltag von Kindern in anderen Regionen der Welt gezogen. Rund 190 Millionen Kinder (etwa zwei Drittel davon in Asien) im Alter zwischen fünf und vierzehn Jahren arbeiten heute in der Landwirtschaft, in Steinbrüchen oder Fabriken und können keine Schule besuchen. Globale Zusammenhänge oder strukturelle Ursachen für diesen traurigen Missstand werden aber nicht aufgezeigt. Einzig die sogenannte Schuldknechtschaft in Südasien wird als Ursache für noch heute existierende Kinderarbeit genannt: «Die Schulden werden an die nächste Generation weitergegeben und alle Familienmitglieder, auch die Kinder, werden zu Sklaven des Unternehmers.» Die Botschaft lautet: Schlechter war es früher und ist es woanders. Heute darfst du in die Schule, deine Wohnung ist geräumig und es erwartet dich eine Arbeitswelt, in der du dich verwirklichen kannst. Das ist angesichts tatsächlicher Arbeitswelten von heute mindestens schönfärberisch.

Der Durchblick: Geschlechterverhältnisse

Dass Frauen heute wählen und abstimmen dürfen, bis zu einem gewissen Grad in die Arbeitswelt integriert wurden und sich die Rollenbilder gewandelt haben, wird im Buch als erreichte Gleichstellung der Geschlechter präsentiert.

Auch die Stellung der Frau in der Gesellschaft unterliegt stetiger Veränderung und zwischen dieser zu früheren Zeiten und heute lassen sich anschauliche Bezüge herstellen. Im ‚Durchblick‘ ist dem Vergleich zwischen der Stellung der Frau in der Schweiz Anfang des 20. Jahrhunderts und heute eine Doppelseite gewidmet. Frauen mussten seit Beginn des 19. Jahrhunderts in den Fabriken arbeiten und «wurden in der Textilindustrie sogar den Männern vorgezogen, da sie gemäss damaligen Frauenbild fügsamer waren und weniger Widerstand leisteten als Männer. Die Unternehmer mussten ihnen ausserdem für die gleiche Arbeit weniger Lohn zahlen.» Die Schüler:innen sollen insbesondere die dadurch entstehende Doppelbelastung für die Frau im Zeitalter der Industrialisierung erkennen, denn auch die Erledigung der Hausarbeit war Sache der Frau. Und dies in einer Zeit, bevor das Aufkommen technischer Hilfsmittel das Führen des Haushalts erleichterte: Lebensmittel mussten auf dem Markt gekauft, Kleidung selbst genäht und ausgebessert werden. Gewaschen wurde von Hand, mit Seife und Waschbrett und politisches Engagement war den Frauen untersagt. «In vielen Bereichen des Lebens waren die Frauen gegenüber den Männern benachteiligt. […] Seit dem 19. Jahrhundert hat sich viel verändert.»

Frauen begannen seit Beginn des 19. Jahrhunderts vermehrt in den Fabriken zu arbeiten.

Dass Frauen heute wählen und abstimmen dürfen, bis zu einem gewissen Grad in die Arbeitswelt integriert wurden und sich die Rollenbilder gewandelt haben, wird hier als erreichte Gleichstellung der Geschlechter präsentiert. Die im Begleitband für Lehrende abgedruckte Lösung zur Aufgabe der Beschreibung des Rollenwandels der Frau seit der Industrialisierung lautet: «Heute sind Frauen und Männer gleichgestellt. Sie haben somit die gleichen Rechte und Pflichten wie Männer.» Die bis heute andauernde ungleiche Entlöhnung zwischen den Geschlechtern wird zwar im Begleitband thematisiert, im Lehrbuch für Schüler:innen steht jedoch: «Um die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann durchzusetzen, verfolgt die Regierung in der Schweiz eine Gleichstellungspolitik. Dass für die gleiche Arbeit gleicher Lohn gezahlt wird, ist heute ohnehin selbstverständlich.» Abgesehen davon, dass das schlichtweg nicht stimmt, hätten auch hier weiterführende Diskussionen angestossen werden können: Inwiefern überwindet die Integration der Frau in den Arbeitsmarkt deren Unterdrückung? Weshalb wurde und wird Hausarbeit im Gegensatz Arbeit ausser Haus nicht entlöhnt? Worin wurzelt eigentlich die Unterdrückung der Frau? Ein Geschichtsunterricht, der darauf abzielt, «dass Schüler:innen anhand von Beispielen aus der Vergangenheit allgemeine, über das konkrete Beispiel hinausweisende Einsichten für die Gegenwart und Zukunft gewinnen», müsste diese Fragen stellen. Ansonsten könnte sich die Schülerin von heute eines Tages wundern, weshalb sie, obwohl sie einen ganz ordentlichen Arbeitsplatz besetzt, weiterhin als Frau wie als Mensch sich ausgebeutet fühlt.

Der Durchblick: Umwelt

Zuletzt wird mit dem Thema Umwelt beziehungsweise deren Zerstörung in gleicher Weise verfahren. «Mit der Industrialisierung in Europa im 19. Jahrhundert begann ein Raubbau an der Natur und eine Verschmutzung der Umwelt in zuvor unbekannten Ausmassen.» Die Liste vernichtender Eingriffe in die Natur ist lang: Zerstörung einzigartiger Landschaften durch Abbau und Transport von Rohstoffen, Rodung von Wäldern, Begradigung, Stauung und Verschmutzung von Gewässern, Luftverschmutzung durch ätzende Abgase der Industrie und vieles mehr. Den Schüler:innen wird aufgezeigt, dass dieser rücksichtslose Umgang mit der Umwelt Folge der ungebremsten Industrialisierung war und sich die Situation bis heute in Europa stark verbessert hat. Ein Gemälde aus dem Jahre 1881 zeigt in düsteren Farben eine von rauchenden Schornsteinen geprägte Stadt und soll den Lernenden zeigen, «dass in Europa die Luftverschmutzung damals schlimmer war als heute.» Das «liegt vor allem daran, dass es bessere (aber auch teurere) Technologien gibt und dass strenge Umweltschutzgesetze eingeführt wurden […].»

Dass Industrie- und Schwellenländer aufgrund globaler ökonomischer Zusammenhänge zu billiger Produktion gezwungen sind und auch die westliche Welt weiterhin unter haarsträubenden Bedingungen produziert und konsumiert – all das wird ausgeblendet.

Umweltprobleme gibt’s nur noch anderswo: «Es vergeht kaum ein Monat, in dem nicht über den Smog in Peking berichtet wird.» In enger Verschränkung mit der Hervorhebung des europäischen Fortschritts berichten die Lehrmittel von rückständigen Zuständen in Schwellen- und Entwicklungsländern – das erinnert an das oben erwähnte Beispiel der Kinderarbeit und wirkt fast wie ein Fingerzeig: «Zwar gibt es heute ein grösseres Bewusstsein für den Schutz der Umwelt und entsprechende Gesetze, doch Korruption und Missmanagement – besonders (aber nicht nur) in Schwellen- und Entwicklungsländern – führen dazu, dass der Umwelt auch weiterhin Schaden zugefügt wird.» Über einem Bild des smogverseuchten Peking prangt der abschätzig wirkende Titel: «Nichts gelernt? Industrialisierung auf Kosten der Natur.»

In den Begleitband findet zwar noch die Überlegung Eingang, dass es «ein Stück weit vermessen [wäre], von den Schwellen- und Entwicklungsländern zu verlangen, dass sie Gesetze wie die unseren sofort befolgen müssen», da schliesslich der europäische Wohlstand wesentlich der ungebremsten, nicht durch gesetzliche Rahmenbedingungen eingeschränkten Produktion geschuldet ist. Tiefergehende Gedanken bleiben aber aus. Dass etwa die Ausbeutung von Natur und Mitmensch gewissermassen in der kapitalistischen Produktionsweise angelegt ist; dass Industrie- und Schwellenländer aufgrund globaler ökonomischer Zusammenhänge zu billiger Produktion gezwungen sind und Europa an dieser Produktion auch durchaus ihr Interesse bekundet; dass auch die westliche Welt weiterhin unter haarsträubenden Bedingungen produziert und konsumiert – all das wird ausgeblendet. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil sowohl im Lehrplan 21 als auch in den danach gestalteten Lehrmitteln dem Wunsch nachhaltiges Denken und Handeln zu fördern besonderer Nachdruck verliehen wird.

Rückzug in die bestehenden Verhältnisse

Im ‘Durchblick’ hat der Griff nach der gesellschaftlichen Wurzel sein Ziel verfehlt.

Wohnen, Arbeit, Geschlechterverhältnisse und Umwelt – das sind nur Beispiele dafür, dass es dem ‘Durchblick’ nicht gelingt, die geforderten Bildungsziele zu erreichen. Zwischen den Zeilen des Lehrplans schimmert überall der Wunsch nach der Förderung der demokratischen Selbsttätigkeit, der Schaffung eines mündigen Menschen durch: Jeder soll seiner eigenen Geschichte nachforschen, seinen Lebenszusammenhang verstehen, sich und sein Leben in grössere Zusammenhänge einbetten ohne Spielball anonymer Mächte zu sein. Doch im ‘Durchblick’ hat der Griff nach der gesellschaftlichen Wurzel sein Ziel verfehlt. Die vorhandenen Lebensweltbezüge dienen der Romantisierung des Alltags. Konsequent wird die Gegenwart gegenüber der düsteren Vergangenheit verherrlicht. Manchmal könnte man ja befürchten, dass dort, wo die Gegenwart und die Zukunft für eigenes Handeln zunehmend verstellt und undurchdringbar scheinen, die Interessen sich von ihnen abwenden und sich überschaubaren, harmonischen historischen Gegenwelten zuwenden.

Das aus den Zwängen der modernen Gesellschaft, dem Leiden an sozialer Desintegration und der versperrten Zukunft resultierende Bedürfnis nach sozialräumlicher Verortung wird mittels einfachster, entpolitisierter Lebensweltbezüge befriedigt.

Aber hier stehen wir vor der umgekehrten Gefahr: Vergangenheit wird nicht zum nostalgischen Fluchtpunkt, sondern dient der Darstellung überwundenen Leids und lässt die Gegenwart als Abschluss des historischen Prozesses erscheinen. Oder anders gesagt: Das aus den Zwängen der modernen Gesellschaft, dem Leiden an sozialer Desintegration und der versperrten Zukunft resultierende Bedürfnis nach sozialräumlicher Verortung wird mittels einfachster, entpolitisierter Lebensweltbezüge befriedigt. Nochmals anders: Dieses Lehrmittel befördert den Rückzug in die bestehenden Verhältnisse.

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