Humboldt - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 15 Aug 2023 20:13:05 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Humboldt - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Unterrichten ist Segeln, nicht Bahnfahren https://condorcet.ch/2023/08/unterrichten-ist-segeln-nicht-bahnfahren/ https://condorcet.ch/2023/08/unterrichten-ist-segeln-nicht-bahnfahren/#comments Tue, 15 Aug 2023 20:13:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=14818

Lernen ist Aufbrechen zu Neuem; Bildung eröffnet Horizonte. Das ist anspruchsvoll. Lehrpersonen agieren vielfach unter Bedingungen der Unsicherheit. Dabei tragen sie eine hohe Verantwortung. Freiheit ist das notwendige Korrelat. Gedanken zum Schuljahresbeginn von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Tausende von Schülerinnen und Schülern starten diese Tage in ein neues Schuljahr – zusammen mit ihren Lehrerinnen und Ausbildnern. Anfangen, und zwar immer wieder, jeden Tag, das gehört zum menschlichen Leben und damit auch zur Schule. Leben ist anfangen. Mit Kindern und Jugendlichen sowieso. Am schönsten ist es wohl beim Start. Jedem Anfang wohnt ja ein Zauber inne, wie es Hermann Hesse im Gedicht “Stufen” formuliert. Etwas Freudig-Beschwingtes liegt im Aufbrechen, etwas Erwartungsvolles, manchmal vermischt mit Unsicherheit und einer Prise Skepsis.

Aufbrechen zu neuen Horizonten

Lernen heisst immer auch aufbrechen und sich einlassen auf Neues, Unbekanntes. Es gleicht einer Entdeckungsreise: den geschützten Hafen verlassen und hinaussegeln in ein neues Schuljahr. Lernen bedeutet sich aufmachen, heisst die feste Mole verlassen und sich auch ins Unbekannte wagen.

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

“Hinaus, hinaus ins Offene!”, schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche, als er am Strand von Genua in die unendliche Weite des Mittelmeeres hinausschaute und den Horizont absuchte. Das lässt sich auf die Bildung übertragen und auf die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer: konfrontiert sein mit Unbekanntem und aufbrechen ins Offene, manchmal sogar ins Unbegangene – zu neuen Horizonten. Mit Kindern und Jugendlichen unterwegs sein ist anstrengend und anspruchsvoll zugleich.

Die Hohe See kennt das Unwägbare, das Unberechenbare und Nichtkalkulierbare. Das gilt auch für Schule und Unterricht.

Jede Pädagogin kennt die Spannung zwischen dem Machbaren und dem Unsicheren. Jeder Ausbildner weiss um den Widerspruch zwischen der Offenheit der Aufgabe und der Ungewissheit der Route; er ist sich der Diskrepanz zwischen dem theoretisch anvisierten Ziel und der immanenten Unsicherheit pädagogischen Handelns bewusst. Unterrichten ist Segeln in offener See, nicht Bahnfahren – im stets gleichen Geleise. Die Hohe See kennt das Unwägbare, das Unberechenbare und Nichtkalkulierbare. Das gilt auch für Schule und Unterricht: Wie bei der Seefahrt lässt sich nicht alles planen und unter Kontrolle halten, und doch muss man auf das Auslaufen, auf die Bildungsreise mit den Schülerinnen und Schülern gründlich vorbereitet sein und das gemeinsame Ziel à fond kennen.

Freiheit als pädagogisches Elixier

Schulleitung und Lehrpersonen sind weder für Wind und Wellen noch für Sturm und Strömung verantwortlich, aber sie sind verantwortlich für das Boot, das Team, die Passagiere. Sie sind verantwortlich für den richtigen Kurs, zuständig für die Lernatmosphäre und die Performance an Bord. Wer Verantwortung trägt, braucht Freiheit. Das gilt für die Seefahrer, das gilt für die Schule. Freiheit sei für die Bildung “die erste und unerlässliche Bedingung”, schrieb Wilhelm von Humboldt, Philosoph und Reformer der preussischen Volksschule.[1]

“Hinaus, hinaus ins Offene!”, schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche, als er am Strand von Genua in die unendliche Weite des Mittelmeeres hinausschaute und den Horizont absuchte.

Doch Freiheit, dieses kleine Wort, hat heute wenig Freunde, und es ist weit weniger populär, als es die politische Rhetorik suggeriert. Darum wohl wird in den Schulen immer enger normiert. Das zermürbt die Akteure und schadet der Unterrichtsqualität. Dabei müssten Lehrpersonen die Kinder und Jugendlichen zur Autonomie führen, zum Vermögen, «sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen», wie es Immanuel Kant so einprägsam formuliert hat.

Zu viele Regeln wirken als Korsett

Darin aber liegt das Paradoxe: Die vielen Regeln und Reglemente stehen im Widerspruch zur notwendigen Freiheit. Sie bringen Schulen in Atemnot. Doch zielgerichtet navigieren und situativ richtig reagieren ruft nach Freiheit. Nur schon deshalb muss die Schule ein Ort der Freiheit bleiben. Frei von unnötigen Vorschriften und Vorgaben, frei fürs kreative Handeln, frei fürs spontane Eingehen auf Kinder. Freiheit bringt Raum fürs Unvorhersehbare.

Doch Freiheit, dieses kleine Wort, hat heute wenig Freunde, und es ist weit weniger populär, als es die politische Rhetorik suggeriert.

Und in der Schule ist manches weder voraussehbar noch klar prognostizierbar. Humor und Witz, Imagination und Fantasie blühen nicht im engen Kleid der Vorgaben; sie brauchen einen Humus der Freiheit. Das Humane aber lässt sich nicht mit Vorschriften erzwingen. Was uns menschlich berührt, können wir nicht über bürokratische Fesseln steuern. Es braucht das Momentum der Freiheit. In der Freiheit liegt darum der Kern des ganzen pädagogischen Wirkens.

Hinausfahren in Freiheit, das zählt!

Nun sind die Schulschiffe wieder unterwegs, die Klassenboote in voller Fahrt. Stimmen muss die Richtung. Woher der Wind weht und wie die See wogt, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, wie die einzelnen Schulen und Klassen die Segel setzen, welcher Esprit d’équipe sie leitet, in welchem Geist sie aufbrechen und den anvisierten Horizont ansteuern. Ein anspruchsvoller Auftrag, fast ein clin d’œil à l’impossible – ein augenzwinkerndes Liebäugeln mit dem Unmöglichen. Gerade darum brauchen Lehrerinnen und Lehrer für die Fahrt hinaus ins Offene die notwendige Freiheit. In diesem Sinn: Schulen ahoi!

 

[1] Wilhelm von Humboldt (2006), Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Stuttgart, S. 22.

 

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Die Gesellschaft der Hochqualifizierten – wenn die Bildung zur Industrieware wird https://condorcet.ch/2022/10/die-gesellschaft-der-hochqualifizierten-wenn-die-bildung-zur-industrieware-wird/ https://condorcet.ch/2022/10/die-gesellschaft-der-hochqualifizierten-wenn-die-bildung-zur-industrieware-wird/#respond Fri, 14 Oct 2022 11:36:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=11959

Der Mensch denkt gerne in Mustern. Akademiker gelten deshalb generell als hochqualifiziert – unabhängig von Fach, Leistung, Erfahrung und Können. Das wird der Realität aber nicht ganz gerecht, meint Claudia Wirz, Kolumnistin der NZZ.

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Claudia Wirz, Journalistin und Autorin

Was ist ein gebildeter Mensch? Ist es einer, der beim Pisa-Test gut abgeschnitten hat? Einer, der an der Universität akademische Titel erarbeitet hat und auf höchstem Niveau gendern kann? Ist es einer, der stets effizient lernt und sich nicht von unnützem Wissen ablenken lässt? Ist es einer, der das lebenslange Lernen praktiziert und viel Geld für Weiterbildungsprogramme ausgibt?

So viele Hochqualifizierte wie heute gab es noch nie.

Englisch statt Latein

Oder ist es der Praktiker, der die Berufs- und Lebenserfahrung zum Lehrmeister hat, der sich weitgehend jenseits von Diplomen selber weiterbildet und dessen Triebfedern die Neugier und der Wissensdrang sind? Schliesslich ist das Leben an sich ein einziger Lernprozess, auch wenn es dafür kein anerkanntes Zertifikat gibt. Und was unterscheidet den gebildeten Menschen eigentlich vom hochqualifizierten? Kann es heute, da sich Wissen laufend vermehrt, überhaupt noch Gebildete geben, oder kennt die Wissensgesellschaft nur Hochqualifizierte?

Eines ist klar: So viele Hochqualifizierte wie heute gab es noch nie. In der Schweiz haben 50 Prozent der unter 35-Jährigen eine Tertiärausbildung und gelten damit als hochqualifiziert – die meisten von ihnen sind Hochschulabsolventen. Bei den über 65-Jährigen trifft Letzteres nur auf 12,5 Prozent zu (Stand: 2017).

Bildung ist, was der Arbeitsmarkt braucht. Der Rest ist Ballast und kann abgeworfen oder ausgelagert werden. Durch diese Lesart ist Bildung zu einer Art Industrieware geworden, und die Hochschulabsolventen gehören kraft ihres tertiären Ausbildungsweges automatisch zu den Hochqualifizierten – unabhängig von Fach, Können, Leistung, Erfahrung und Wissen.

Doch damit ist die Eingangsfrage nicht hinreichend geklärt; zu schillernd ist der Bildungsbegriff. Mal steht er für praktisches Können, mal für Weltklugheit, mal für Belesenheit in den Klassikern, mal für freie Forschung, mal für digitale oder andere fachspezifische Fähigkeiten. Es ist noch nicht so lange her, da war das Latein in der abendländischen Kultur so etwas wie eine Visitenkarte des Gebildetseins. Doch Latein ist tot. Englisch lebt dafür umso mehr, und so gibt heute das kaufmännische Prinzip der Employability bei der Bildung den Ton an. Das heisst: Bildung ist, was der Arbeitsmarkt braucht. Der Rest ist Ballast und kann abgeworfen oder ausgelagert werden.

Durch diese Lesart ist Bildung zu einer Art Industrieware geworden, und die Hochschulabsolventen gehören kraft ihres tertiären Ausbildungsweges automatisch zu den Hochqualifizierten – unabhängig von Fach, Können, Leistung, Erfahrung und Wissen.

Das selbstbestimmte Individuum

Alexander von Humboldt

Das Prädikat «hochqualifiziert» ist bei genauer Betrachtung jedoch rein technischer Natur. Weil der Mensch in Mustern denkt, erleichtern ihm solche Taxierungen, die Dinge zu sortieren und Statistiken zu erstellen. Über die Bildung einer Person im weiteren Sinne sagt der Begriff aber nicht viel aus. Denn Bildung – zumindest jene im Humboldtschen Sinn – ist weit mehr als abgeprüftes, genormtes und zweckdienliches Wissen.

Bildung im Sinne von Humboldt hat nicht den geschmeidigen Mitarbeiter zum Ziel, sondern das mündige, selbstdenkende und selbstbestimmte Individuum, das in der Lage ist, die Dinge und auch sich selber kritisch zu hinterfragen und eine eigenständige Meinung zu bilden. In einer Zeit, da Hochschulen zunehmend zu ideologischen Hochburgen werden und die künstliche Intelligenz ihr menschliches Pendant herausfordert, wäre es nicht das Dümmste, sich wieder verstärkt daran zu orientieren.

Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen: https://www.nzz.ch/wirtschaft/ueberall-nur-noch-hochqualifizierte-die-bildung-als-industrieware-ld.1706688

 

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Ein Plädoyer für die Fächer https://condorcet.ch/2021/12/ein-plaedoyer-fuer-die-faecher/ https://condorcet.ch/2021/12/ein-plaedoyer-fuer-die-faecher/#respond Mon, 27 Dec 2021 09:33:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=10213

Der Genfer Professor Bernard Schneuwly, der bei der Entstehungsgeschichte unseres Bildungsblogs Pate stand und uns allen die Bedeutung des Marquis de Condorcet bewusst machte, stellte uns ein wichtiges Bildungsdokument aus seiner Werkstatt zur Verfügung. Es geht um die Bedeutung der Fächer, die er als Garant für die Universalität der Bildung hält. In einer Zeit, in der Fächer aufgehoben, Kombinationen wie ERG, NMG, RGM die Runde machen und überfachliche Kompetenzen gepredigt werden, setzt Bernard Schneuwly einen deutlichen Kontrapunkt und weist nach, dass damit auch der Bildungsbegriff verwässert zu werden droht.

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Bernard Schneuwly, emer. Professor für Pädagogik in Genf. Er war der Gastreferent bei der Gründungsversammlung des Condorcet-Blogs am 18. Mai 2019 in Bern

Der Begriff der Bildung, maßgeblich von Wilhelm von Humboldt entwickelt, und derjenige der instruction, entscheidend vom Marquis de Condorcet definiert, prägen bis heute die Schule in deutsch- und französischsprachigen Kulturen. Sobald Bildung/instruction für alle durch öffentliche Institutionen garantiert wird, setzt sich das Schulfach als allgemeines Prinzip der Ordnung schulischen Wissens durch. Ich vertrete die These, dass das Schulfach die sozio-historische Form des modernen Schulsystems darstellt, in der der Begriff „Bildung/instruction“ sich in widersprüchlicher Art und Weise ständig weiterentwickelt hat. Ausgehend von der von Humboldt geprägten Definition von Bildung, die in Condorcets Begriff der „instruction“ gespiegelt wird, diskutiere ich vier Thesen:

1. Der Kanon der Schulfächer bietet Schülern, Humboldts und Condorcets Begriffe zum Teil realisierend, eine „Mannigfaltigkeit von Situationen“ zur Entwicklung von Fähigkeiten.

2. Schulfächer sind Gebilde, die widersprüchliche Erwartungen an Schule integrieren: Bildung als
Entwicklung der eigenen Fähigkeiten, Kontrolle des Denkens und Verhaltens als „governing de soul“; nationale Kohäsion, Auslese und Unterscheidung von Schülern.

3. Die Tatsache, dass die Schulfächer allen Schulstufen gemeinsam sind, macht
es möglich, dass Wissen und Können mehr Schülern zugänglich gemacht werden kann, als dies zuvor der Fall gewesen ist.

4. Schulfächer verbinden globale, universale mit lokalen und regionalen Inhalten und Zielen.

Marquis de Condorcet 1742 -1794: Jedem die Möglichkeit gewährleisten…
Willhelm von Humboldt, 1767 – 1835: Schulfächer sind vielschichtige, historisch gewachsene Gebilde.

1. Einleitung
Seit über 150 Jahren heißen in der deutschen Schweiz die meisten den deutschen Kultusministerien analogen Institutionen „Bildungsdepartement“, und in der französischen Schweiz „départements de l’instruction publique“. Dies verweist auf eine lange Geschichte, die sich in den vielfältigen, zum Teil widersprüchlichen, oft gesellschaftlich umkämpften Bedeutungen dieser beiden Wörter niedergeschlagen hat, die die Diskurse über Schule als hauptsächliche gesellschaftliche Anstalt für die Ermöglichung und Beförderung der Bildung und der instruction beeinflussten. Sie beinhalten zentrale Anliegen, die mit Demokratie und Gleichheit zu tun haben, auch wenn sie zugleich ihr Gegenteil einschließen können. Die Institutionen mit ihren bedeutungsbeladenen Namen entstehen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, ungefähr gleichzeitig mit der Verallgemeinerung der Ordnung des zu lehrenden und lernenden Wissens und Könnens durch Schulfächer.

Schulfächer sind vielschichtige, historisch gewachsene Gebilde.

Diese Gleichzeitigkeit ist mehr als anekdotisch: Bildung und Schulfach, instruction und discipline scolaire stehen seit dem Entstehen der modernen Schulsysteme in einem engen Zusammenhang. In vorliegendem Beitrag bestimme und illustriere ich einige zentrale Aspekte dieses Zusammenhangs. Dafür skizziere ich in einem ersten Schritt den Begriff der Bildung und kontrastierend dazu denjenigen der instruction. Ich zeige dann auf, dass Schulfächer Resultat der Entwicklung der modernen Schulform sind, die sich im 19. Jahrhundert entwickelte und gebe eine erste, allgemeine Definition des Schulfachs, die ich auf der Grundlage einer kurzen Darstellung der Hauptthesen zweier gegensätzlicher Ansätze der Geschichte von Schulfächern vertiefe und präzisiere. Darauf aufbauend beschreibe ich wesentliche Dimensionen des Verhältnisses von Bildung und Schulfach in vier Thesen, die ich in den darauf folgenden Teilen vertiefe und durch Resultate wissenschaftlicher Arbeiten illustriere:

1. Die Organisation in Schulfächer garantiert „Mannigfaltigkeit von Situationen“ (Humboldt), und geht in Richtung des „ganzen Systems menschlicher Kenntnisse“ (Condorcet).
2. In Schulfächern sind zentrale Elemente der Bildung in widersprüchlicher Form aufgehoben. Diese Elemente sind Ausdruck der Multifunktionalität des Schulsystems: Schulfächer sind Kampfplätze.
3. Aus der Veränderbarkeit der Schulfächer ergibt sich die Möglichkeit, mehr Schülern Zugang zu breiterem Wissen zu geben.
4. Das institutionelle Gefäß „Schulfach“ bietet die Möglichkeit, lokale, regionale oder nationale mit universalen Ansprüchen an Bildung zu verbinden.

Bernard Schneuwly, Genf

Den ganzen Teil der Überlegungen von Herrn Schneuwly können Sie hier herunterladen.

Schulfächer_Vermittlungsinstanzen-1

 

 

 

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Humboldt richtig lesen https://condorcet.ch/2020/10/humboldt-richtig-lesen/ https://condorcet.ch/2020/10/humboldt-richtig-lesen/#respond Fri, 09 Oct 2020 12:33:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=6650

In seinem Plädoyer für die Kompetenzorientierung berief sich Professor Markus Wilhelm (Zu oft wird der Bildungsbegriff im gymnasialen Schulalltag gleichgesetzt mit Wissensvermittlung, 5.10.2020) auf Wilhelm Alexander Humboldt, was in den Kreisen der Condorcet-Leser und -leserinnen für Erstaunen sorgte. Die Redaktion veröffentlicht hier im Voraus einen Textausschnitt von Professor Bernard Schneuwly, in welchem er die Grundidee des Humboldtschen Bildungsideals zusammenfasst. Der ganze Text wird unseren Leserinnen und Lesern demnächst präsentiert.

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Willhelm von Humboldt richtig lesen

In seinem äußerst einflussreichen Text über die „Wirksamkeit des Staates“ schreibt Humboldt folgende oft zitierte Sätze:

Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltigkeit der Situationen. (Humboldt 1960 [1792], S. 64)

Hier erscheint Bildung allgemein als Aufgabe für jeden Menschen, nämlich Entwicklung der menschlichen Kräfte. Für deren Erreichen sind zwei Bedingungen notwendig:

  1. Freiheit, das heißt Wegfall aller Zwänge, die mit Sklavenherrschaft und Feudalsystem zusammenhängen. Moderne Staatsbürgerschaft und das Recht auf Selbstbestimmung sind Voraussetzung der Selbstentwicklung.
  2. Mannigfaltigkeit der Situationen, die die Entwicklung verschiedener Fähigkeiten in Auseinandersetzung mit der Natur und der Kultur ermöglichen.

Humboldts Arbeit als Bildungspolitiker führte ihn dazu, das Problem anzugehen, wie denn Bildung für alle zugänglich gemacht werden kann (Lenhart 2009).   In seinem Projekt eines Lehrplans unterscheidet Humboldt dafür zwei Arten von Schulen:

Alle Schulen aber, deren sich nicht ein einzelner Stand, sondern die ganze Nation oder der Staat für diese annimmt, müssen nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. Was das Bedürfnis des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss abgesondert und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen noch vollständige Bürger einzelner Klassen. (Litauischer Lehrplan, Humboldt 1969 [1809], S. 188)

Es sind allein die allgemeinbildenden Schulen als  staatliche  Institutionen, die die Bildungsidee des vollen Menschentums ermöglichen, da sie „reine“ Bildung garantieren und nicht auf Nützlichkeit ausgerichtet sein müssen.

Humboldt bestimmt auch die Lehrgegenstände, die dieser Bildungsidee entsprechen und die aus drei Hauptbereichen entstammen: dem linguistisch-literarischen, dem historischen (sowohl Geschichte als auch Naturgeschichte) und dem mathematischen Hauptbereich. Entscheidend ist dabei:

Dieser gesamte Unterricht kennt daher auch nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner, und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüt ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch, und verschroben sein soll […]. (in Humboldt 1969 [1809], S. 189)

Dieser Text ist dem längeren Artikel von Professor Schneuwly “Schulfächer: Vermittlungsinstanzen von Bildung” entnommen. Er erschien in der “Zeitschrift für Erziehungswissenschaft im Februar 2018 und wurde uns vom Autor zur Verfügung gestellt. Der ganze Artikel  wird zurzeit in der Redaktion aufbereitet.

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Kompetenzorientierung auch im Gymnasium? https://condorcet.ch/2020/10/kompetenzorientierung-auch-im-gymnasium/ https://condorcet.ch/2020/10/kompetenzorientierung-auch-im-gymnasium/#comments Tue, 06 Oct 2020 18:34:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=6636

Nicht ganz unerwartet hat der Beitrag von Professor Markus Wilhelm (Zu oft wird der Bildungsbegriff im gymnasialen Schulalltag gleichgesetzt mit Wissensvermittlung, 5.10.2020) eine Reaktion ausgelöst. Sie stammt von unserem Condorcet-Autor Felix Schmutz.

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Felix Schmutz, BL:
Kompetenzen, Inhalte und Bereitschaften werden einem undurchschaubaren Nebel formuliert

Markus Wilhelm verteidigt die Kompetenzorientierung, indem er sie nicht als Gegensatz zum humboldtschen Bildungsbegriff, sondern als die bestmögliche Umsetzung von dessen Ideal der Persönlichkeitsbildung deutet. Man reibt sich die Augen!

Der Verweis auf Klafki und Weinert soll das Argument entkräften, wonach Kompetenzorientierung Bildung auf die nützliche Anwendung von Wissen zur Problemlösung reduziere. Die Kritik sei falsch, weil Kompetenz stets mit kognitiv strukturiertem Fachwissen und der Bereitschaftseinstellung einhergehe.

Allerdings ist diese Argumentation aus folgenden Gründen nicht wirklich stichhaltig:

  1. Allgemeinbildende Schulen (dazu gehört letztlich auch das Gymnasium, das Lernende zur Studierfähigkeit führen muss) haben den gesetzlichen Auftrag, «die geistigen und körperlichen, schöpferischen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten zu fördern, das Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Mitmenschen und der Mitwelt zu stärken sowie das Hineinwachsen in die Gesellschaft vorzubereiten und zu begleiten. (§17 Verfassung Kanton BS).

Mit einem so verstandenen Bildungsbegriff werden alle nicht auf Problemlösung fokussierten Inhalte zweitrangig.

Utilitaristisch verzweckt

Kompetenzorientierung ist vom Resultat her gedacht

Das Fördern der Fähigkeiten wird bei der Kompetenzorientierung jedoch von Anfang an mit der «Lösung konkreter Probleme» verknüpft und damit utilitaristisch verzweckt. Das ist eine Einschränkung der Persönlichkeitsbildung, denn mit einem so verstandenen Bildungsbegriff werden alle nicht auf Problemlösung fokussierten Inhalte zweitrangig: Vertieftes Verständnis für eine Sache, ästhetisches Erleben, freies Ausprobieren, neugieriges Erkunden, Motivation aus der Faszination an einem Stoff, eine eigene Meinung entwickeln, mithin Dinge, die wichtig oder sogar wichtiger sind, wenn grundlegende Fähigkeiten entwickelt und gefördert werden sollen.

Kompetenzorientierung entspricht also gerade nicht dem humboldtschen Ideal.

Konzept der Berufsbildung

Anwendungskompetenzen ergeben sich als Folge der einzelnen Lernvorgänge und als Folge der allgemein ausgerichteten Persönlichkeitsbildung. Vorherrschendes Bildungsziel sind sie erst in der Berufsbildung. Das heisst nicht, dass im allgemeinbildenden Unterricht nicht Fähigkeiten und Fertigkeiten geübt werden sollen. Sie sind jedoch Teil der Lernprozesse und nicht deren erstrangiger Zweck.

Kompetenztests als humboldtsches Ideal ?

Kompetenzorientierung entspricht also gerade nicht dem humboldtschen Ideal, das im zitierten Verfassungstext deutlich anklingt. Deshalb hat Yasemin Dinekli in ihrem Beitrag Recht, wenn sie als Basis des Unterrichts am Gymnasium inhaltliche Ziele setzen will, aus denen sich in der Folge die geeigneten Kompetenzen ergeben sollen.

  1. Es sei daran erinnert, dass der Begriff Kompetenz von Weinert als Grösse eingeführt wurde, um Schulleistungen mess- und vergleichbar zu machen. Die Psychologie, die sich schon seit hundert Jahren mittels Intelligenztests die Deutungshoheit über die Einschätzung des menschlichen Potenzials anmasst, erhielt von der OECD den Auftrag, das Potenzial, das sich aus schulischer Bildung ergibt, in ähnlicher Weise zu vermessen (PISA).
    Franz Weinert: Schulleistungen mess- und vergleichbar machen

    Kompetenzen dienen also in erster Linie dem Zweck, Resultate schulischer Bildung zu erheben, soweit diese überhaupt mess- und vergleichbar sind. Typischerweise können Kompetenzen erst nach Abschluss eines Unterrichtsabschnittes erhoben werden, wenn sich aus der schulischen Arbeit die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten haben ergeben können. Dass Kompetenztests aber zu einem Bildungsprogramm erhoben wurden, das erst noch angeblich das humboldtsche Ideal verkörpern soll, ist nichts anderes als eine Zweckentfremdung eines als Testgrundlage gedachten Konstrukts. Pädagogik und Didaktik haben sich willfährig der sachfremden Vermessungspsychologie gebeugt und deren Testbatterien zu Lernzielen umfunktioniert. Ein Irrtum, der dem ganzen Lehrplan 21 zugrunde liegt und nach den mässigen PISA-Resultaten der letzten Erhebung allmählich offenkundig werden sollte. Leistungserhebung und Lernprozesse sind strikt auseinanderzuhalten, Äpfel sind keine Birnen.

Lehrpläne, die aus Kompetenzrastern bestehen, wie das nun auch für die Schweizer Gymnasien geplant ist, priorisieren jedoch den Output gegenüber dem Input.

  1. Die Priorisierung von Kompetenzen gegenüber Inhalten in einem Lehrplan ist das grundlegende Problem des Bildungsbegriffs von Wilhelm. Der Irrtum besteht in der Grundannahme, Kompetenzen existierten unabhängig vom Inhalt gleichsam wie Naturgesetze, denen alles
    Prof. Dr. Markus Wilhelm war Gymnasiallehrer und lehrt heute Naturwissenschaften und ihre Didaktik an der PH Luzern. Zudem ist er Honorarprofessor an der PH Heidelberg.

    Materielle gehorchen muss. Dies mag für Naturwissenschaftler eine verlockende Ansicht sein. Sie scheitert jedoch an der Tatsache, dass sich Kompetenzen im Unterschied zu den allgemeingültigen Naturgesetzen auf die Domänen beschränken, in denen sie erworben wurden. Die Beschäftigung mit Inhalten steht an erster Stelle, Kompetenzen zur Problemlösung ergeben sich aus der Arbeit mit den Inhalten. Lehrpläne, die aus Kompetenzrastern bestehen, wie das nun auch für die Schweizer Gymnasien geplant ist, priorisieren jedoch den Output gegenüber dem Input. Kein Wunder sprechen die Anhänger der Kompetenzen von der Outputorientierung, auf die der Unterricht umgestellt werden müsse. Wohlweislich stimmt Wilhelm nicht in den Chor seiner PH-Kollegen ein, die solches verkünden. Statt dessen vermengt er Kompetenzen, Inhalte und Bereitschaften zu einem undurchschaubaren Nebel, den Unterrichtende bitte gekonnt managen sollen, um das angeschlagene Konzept irgendwie noch zu retten.

Statt dessen vermengt er Kompetenzen, Inhalte und Bereitschaften zu einem undurchschaubaren Nebel, den Unterrichtende bitte gekonnt managen sollen, um das angeschlagene Konzept irgendwie noch zu retten.

Fazit: Kompetenzorientierung als Bildungsprogramm eignet sich deshalb nicht, weil Kompetenzen das Lernen vom Resultat her denken und dabei die notwendigen andern Lernschritte vernachlässigen, die der Anwendung zur Problemlösung vorangehen: Interesse und Motivation, Begegnung mit dem Lernstoff, Erstverständnis, Verankerung im Gedächtnis, Verarbeitung und vertieftes Verständnis. Wilhelm kann den Vorwurf, Kompetenzorientierung sei auf Nützlichkeit ausgerichtet, nicht entkräften. Allerdings steht nicht die Nützlichkeit als solche im Fadenkreuz der Kritik. Wenn Schulbildung nicht nützlich wäre, müsste man die Schule schleunigst abschaffen. Der eigentliche Stein des Anstosses ist der Irrglaube, den Schulunterricht im Sinne praktischer Problemlösungsfähigkeiten «verzwecken» zu müssen, damit er nützlich sei, damit man im internationalen Wettbewerb bestehen könne. Es ist diese Doktrin, die dem humboldtschen Ideal und dem gesetzlichen Auftrag der Persönlichkeitsbildung diametral zuwiderläuft.

 

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