Fernunterricht - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 02 Feb 2023 10:49:39 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Fernunterricht - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Ein Drittel weniger Lernfortschritt, und es trifft die Schwächsten https://condorcet.ch/2023/02/ein-drittel-weniger-lernfortschritt-und-es-trifft-die-schwaechsten/ https://condorcet.ch/2023/02/ein-drittel-weniger-lernfortschritt-und-es-trifft-die-schwaechsten/#comments Thu, 02 Feb 2023 10:49:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=13036

Während der Pandemie haben Schüler mehr als ein Drittel des normalen Lernzuwachses pro Schuljahr weniger erreicht. Das zeigt eine aufwendige Analyse aus 15 Ländern. Ohnehin schwache soziale Gruppen sind besonders davon betroffen. Wir bringen einen Beitrag der WELT-Journalistin Sonja Kastilan.

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Sonja Kastilan, Journalistin DIE WELT

Wer hilft seinen Kindern schon gerne bei Mathe? Oder Physik? Lesen, ja, das geht oft einfacher, sofern man die Sprache selbst gut spricht. Deshalb mag es manche kaum überraschen, wenn jetzt eine Studie im Fachjournal „Nature Human Behaviour“ feststellt, dass die Schulschließungen in den Anfängen der Covid-19-Pandemie sich vor allem auf die Rechenfähigkeiten auswirkten.

Dass Kinder jedoch im internationalen Durchschnitt mehr als ein Drittel weniger lernten als in normalen Schuljahren, ist dennoch ein bemerkenswert hoher Wert. Und dass dieser Verlust bis 2022 noch nicht wieder aufgeholt werden konnte, auch wenn es gelang, die Vergrößerung der bestehenden Lücken zu verhindern, sollte zu denken geben – und zu entsprechenden Fördermaßnahmen führen.

Die aktuell veröffentlichte Analyse der Lerndefizite umfasst 42 vergleichbare Studien aus 15 Ländern. Die Daten stammen vor allem aus Großbritannien und den USA; aber auch aus Deutschland sind vier Studien darunter. Neben den Defiziten in verschiedenen Schulfächern und Stufen wurden der soziodemografische Status und das Durchschnittseinkommen im jeweiligen Land erfasst.

Wie die Corona-Schulmisere Kindern das Lesenlernen erschwert

Wie sich zeigte, haben sich die Lernfortschritte während der Covid-19-Pandemie zunächst erheblich verlangsamt: Schülerinnen und Schüler lagen im Mittel 35 Prozent hinter dem üblichen Pensum zurück. Die größten Lücken wiesen Kinder mit einem niedrigen sozioökonomischen Status auf; zwischen den Klassenstufen – Grundschüler im Vergleich zu Kindern in der nächsten Stufe – ließen sich keine signifikanten Unterschiede erkennen.

Im Rahmen einer Pressekonferenz betonte der Bildungsforscher Bastian Betthäuser, Erstautor der Studie und derzeit am Centre for Research on Social Inequalities in Paris sowie an der Universität in Oxford beschäftigt, dass die Lernkrise durchaus eine Armutskrise sei. Durch die Schulschließungen wurden Kinder aus ärmeren Verhältnissen, denen zu Hause kein Computer zur Verfügung stand, mehr benachteiligt. Und die auch keine Möglichkeit hatten, sich zum Lernen in ein ruhiges Zimmer zurückzuziehen. Die größeren Defizite in Mathematik als im Lesen erklärt sich Betthäuser damit, dass die Eltern wohl an ihre Grenzen stießen, und es den meisten leichter falle vorzulesen.

Grundschüler haben im Wechselunterricht Luftballons mit Wünschen 2021 vor allem gegen die Corona-Einschränkungen beim Schulunterricht gestaltet, hier in einer Grundschule in Haar bei München. (Quelle: picture alliance / Geisler-Fotopress)

Auf globaler Ebene betrachtet, lägen Länder mit geringerem Bruttoeinkommen wie etwa Mexiko oder Brasilien hinter wohlhabenden Nationen zurück, was die Kluft vergrößere; aus Ländern mit niedrigem Durchschnittseinkommen konnten keine Untersuchungen berücksichtigt werden. Manchmal genügten allerdings schlichte Mittel, etwa SMS-Botschaften, um Kinder entweder mit Mathe-Aufgaben zu versorgen oder sie zu motivieren – erfolgreich, wie Daten aus in Botsuana und Brasilien belegen.

„Diese Studie ist methodisch sehr gut angelegt. Wichtig ist bei solchen Meta-Analysen, dass die Qualität der Einzelstudien, die in die Auswertung einfließen, ganz genau geprüft wird. Das ist hier offenbar sehr akribisch erfolgt“, erklärt Benjamin Fauth, Leiter der Abteilung Empirische Bildungsforschung am Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg, gegenüber dem deutschen „Science Media Center“. Bei der Interpretation der Befunde müsse berücksichtigt werden, dass hier Studien aus unterschiedlichen Ländern eingeflossen sind, deren Ergebnisse zum Teil nicht auf die deutschen Bildungssysteme übertragen werden können.

Ungleiche Verteilung von Lernrückständen

„Aber insgesamt sehen wir auch hierzulande Lernrückstände, und wir sehen vor allem auch deren ungleiche Verteilung: Schülerinnen und Schüler, die es vor der Pandemie schon schwerer hatten, sind sehr viel stärker betroffen“, sagt Fauth, der mit Kollegen erforscht, wie sich die Schulschließungen hierzulande auswirken. Ihre Studien flossen auch in die aktuelle Meta-Analyse mit ein. „Unsere Ergebnisse zeigen die ungleiche Verteilung ebenfalls“, wie Fauth im Gespräch mit WELT bestätigt.

„Nicht nur sind die Lernrückstände an sich sozial ungleich verteilt, sondern auch deren Folgen werden vermutlich sehr unterschiedlich sein: Viele Schülerinnen und Schüler mit dem entsprechenden sozialen Hintergrund werden das ohne Weiteres wieder aufholen können“, sagt Fauth. Er befürchtet, dass die Folgen bei den Leistungsschwächeren und Kindern aus eher bildungsfernen Elternhäusern gravierender seien.

Deshalb müsse man auch darauf achten, wie die Ressourcen verteilt werden, wolle man den ohnehin benachteiligten und nun stärker betroffenen Kindern helfen.

Lehrer Joschka Dusil und Schüler der Klassen 1, 2 und 4 der Liebenauschule bei einer Nachmittagsunterrichtseinheit im Rahmen des Programms „Lernen mit Rückenwind“. Mit dem auf zwei Jahre angelegten Programm soll Kindern und Jugendlichen geholfen werden, Corona-Folgen und Lernlücken zu bewältigen.

„Die Relevanz des festgestellten Lerndefizites ist immens, weil es auf den Unterricht einen unmittelbaren Einfluss hat“, sagt Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Je geringer die Lernleistungen seien, desto schwieriger werde es für die Kinder, die von den Curricula geforderten Standards zu erreichen. In der Folge geht Zierer davon aus, dass sich eine „Generation Corona“ bilde, „die besonders stark unter der Pandemie gelitten hat“. Das treffe insbesondere die Jüngsten im System mit einem bildungsfernen Hintergrund aus wirtschaftlich schwachen Ländern.

Soziales Miteinander wieder auf die Reihe bekommen

Was in der Meta-Analyse nicht beleuchtet wurde, laut Zierer aber andere Untersuchungen zeigen: Die Pandemie hat sich auch auf die psychosoziale Entwicklung und die körperliche Verfassung negativ ausgewirkt. Und Fauth berichtet: Wenn man Lehrkräfte befrage, so werde deutlich, dass neben den eigentlichen Lernrückständen noch ein anderes Problem im Vordergrund stehe, nämlich der gesamte psychosoziale Bereich. „Mein Eindruck ist, dass die Schulen zurzeit in diesem Bereich sehr viel Arbeit damit haben, bestimmte Lernroutinen wieder einzuüben und das ganze soziale Miteinander wieder auf die Reihe zu bekommen.“

„Es sollte alles unternommen werden, um die Lerndefizite aufzuholen. Leider haben viele Länder die ersten Möglichkeiten – Stichwort ,Sommerschulen‘ – verpennt oder absolut unreflektiert implementiert“, kritisiert Zierer. Damit sei noch mehr Zeit verloren gegangen: „Aus Forschungen wissen wir leider, dass sich Lerndefizite schnell kumulieren und daher immer größer werden.“ Je früher es gelinge, gegenzusteuern, desto besser.

Ein Grundschüler sitzt nach der Verlängerung des Lockdowns zuhause vor dem Bildschirm und nimmt mit einem Laptop am Onlineunterricht mit dem Lehrer teil. (Quelle: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)

 

Dem würde Bastian Betthäuser vermutlich zustimmen, denn er riet dazu, die langen Sommerferien, wie sie in zahlreichen Ländern üblich sind, zu nutzen, um Kindern zusätzliche Angebote zu machen: Es genüge eben nicht, einfach wieder den Normalzustand herzustellen, sondern man müsse mehr tun, um die Lernverluste aufzuholen. Gleichzeitig sollte man im Blick behalten, dass die Aufnahmefähigkeit ihre Grenzen hat – was Nachmittags- oder Wochenendkurse einschränkt. Doch Sommer-Lernprogramme hätten sich schon mehrfach bewährt und könnten verhindern, dass die Ungleichheit weiter zunimmt.

„Das Problem ist sicherlich, dass angesichts eines Lehrermangels vor allem das Personal fehlt“, meint Zierer. Hinzu komme, dass die Konzepte nicht erarbeitet wurden und alle auf die Digitalisierung schielen, die sich aber nicht als Retter in der Pandemie bewährt hätte. Vielmehr stehe Digitalisierung als Treiber für Bildungsungerechtigkeit, weil je nach Bildungsniveau digitale Medien anders genutzt würden. Zierer sieht es deshalb als Herausforderung für die nächsten zwei, drei Jahre, hier vernünftige Konzepte anzubieten.

Kein hoffnungsloser Fall, wenn Förderprogramme greifen

Wie sich die Pandemie auf lange Sicht auf den Lernerfolg auswirkt, könne man heute nicht absehen, sagt Betthäuser; man sollte die Entwicklung aber im Blick behalten und evaluieren. Zumal sich an Erhebungen aus dem Frühsommer 2021 ablesen lässt, dass in Schweden und Dänemark offenbar nicht so große Probleme auftraten: Schweden verfolgte zwar einen eigenen Weg in der Pandemie, doch Dänemark ergriff ähnliche Maßnahmen wie andere europäische Länder, ohne dass dänische Kinder ähnlich stark mit dem Schulstoff hinterherhinkten. Warum, lohne sich genauer zu analysieren.

Bildung sei nachweislich ein, wenn nicht sogar „der“ Schlüsselfaktor für einen erfolgreichen Einstieg in den Arbeitsmarkt und entscheidend dafür, wie erfolgreich jemand seinen Lebensunterhalt bestreitet. Es bestehe das Risiko, dass die Generation, die jetzt von den langen Schulschließungen betroffen war, später ein ernsthaftes Problem damit hätte. Aber das bedeute nicht, dass sich nichts verbessern ließe. „Ich würde nicht sagen, dass wir es mit einem hoffnungslosen Fall zu tun haben“, betont Betthäuser. Es sei wichtig, dass jetzt entsprechende Förderprogramme zum Einsatz kommen.

In Deutschland laufen sehr unterschiedliche Programme, abhängig vom jeweiligen Bundesland. Es wurde auch eine länderübergreifende Arbeitsgruppe eingerichtet. Diese hat in Zusammenarbeit mit dem Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht auf der aus Mitteln des DigitalPakts Schule finanzierten länderübergreifenden Plattform „MUNDO“ Instrumente veröffentlicht, die lizenzfrei genutzt werden können. „Das Problem muss allerdings in den Schulen gelöst werden“, sagt Fauth. Dementsprechend müsse auch geklärt werden, welche Schulen mehr Ressourcen als andere brauchen, um benachteiligte Kinder besonders zu unterstützen.

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Was sich aus Unterricht im Coronamodus lernen lässt https://condorcet.ch/2021/04/was-sich-aus-unterricht-im-coronamodus-lernen-laesst/ https://condorcet.ch/2021/04/was-sich-aus-unterricht-im-coronamodus-lernen-laesst/#respond Sun, 04 Apr 2021 18:11:32 +0000 https://condorcet.ch/?p=8214

Professor Ralf Lankau ist im Condorcet-Blog kein Unbekannter. Der Experte für Informatik und digitalen Unterricht warnt kontinuierlich vor dem ungezügelten Einsatz digialer Unterrichtsprogramme im Unterricht. Lesen Sie hier seine aktuelle Zusammenfassung der eingegangenen Studien.

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Prof. Dr. phil. Ralf Lankau
Bild: Lankau

Seit über 30 Jahren wird kontrovers über Digitaltechnik in Schulen diskutiert. Nutzen und Mehrwert sind bis heute nicht zweifelsfrei belegt. Daher kommen Vertretern der Digitalfraktion die durch Covid-19 erzwungenen Schulschließungen und der Wechsel zu Fernunterricht gerade recht. In dieser Ausnahmesituation konnten sie, ohne Diskussion, weitreichende Strukturen schaffen und Techniken etablieren. Schließlich musste der Unterricht weitergehen und Digitaltechnik in der Praxis geprüft werden. Es gibt ja gute Gründe, warum Unterricht weltweit in Präsenz stattfindet. Es sei hier nur auf eine Aktualisierung der Hattie-Studie verwiesen, die mit aller Klarheit formuliert, dass Medien und Technik immer nur Hilfsmittel im Unterricht sein können, kein Selbstzweck:

„Strukturen, Methoden und Medien alleine bewirken für effektives Lernen wenig. Entscheidend bleibt die Qualität des Unterrichts. Kooperation, soziale Interaktion und Teamarbeit zwischen Lehrenden und Lernenden stehen damit im Zentrum. Es sind letztlich die Menschen, die Strukturen, Methoden und Medien zum Leben erwecken. (Zierer, 2020, 2)

Digital- und Netzwerktechniken mit Internetdiensten, Schulcloud und Avataren als „Lernpartner“ seien nicht nur zeitgemäß, die Bereitstellung medialer Inhalte im Sinne einer digitalen und multimedialen Bibliothek sei vielmehr alternativlos.

Das sehen Protagonisten des Digitalunterrichts selbstredend anders. Begeistert verkünden sie die zunehmend vollständige Automatisierung von Unterrichten und Prüfen als Ziel. Digital- und Netzwerktechniken mit Internetdiensten, Schulcloud und Avataren als „Lernpartner“ seien nicht nur zeitgemäß, die Bereitstellung medialer Inhalte im Sinne einer digitalen und multimedialen Bibliothek sei vielmehr alternativlos. Aus “Lernbegleitern” werden Sozialcoaches, weil Software selbst zum “Lernbegleiter” wird, so jedenfalls Achim Lebert in einem Beitrag im Heft Schulverwaltung spezial 2/2021.

Olaf Köller, Psychologe, Direktor des Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel: “Der Rubikon ist überschritten.”

Das Unterrichten selbst und sogar das Prüfen würde zukünftig von Software übernommen. Ähnlich sieht es z.B. Olaf Köller, Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN, Kiel), der zwar für neue Inhalte noch auf Lehrkräfte und nicht nur IT-Systeme setzt, für das Üben, Hausaufgaben und eventuell erneuten Fernunterricht aber Software präferiert:

“Der Rubikon ist schon überschritten, es gibt kein Zurück mehr, was die Digitalisierung nach der Corona-Krise betrifft. Der Druck, über intelligente Software zu verfügen, wird immer größer, auch um die Lehrkräfte zu entlasten. In Kiel sitzen wir selbst an einem System, das den Lehrkräften die Korrektur von Aufsätzen abnimmt. Der Computer wertet automatisch aus, gibt Rückmeldung an Schüler und auch an die Lehrer, denen der Aufsatz mit vorgeschlagenen Lernhilfen zugeleitet wird.“ (Köller, zit. n. Ebbinghaus, FAZ 2020)

Köller reduziert Sprachvermögen und Textverständnis auf Mustererkennung, als wäre das Ziel des Schreibens von Aufsätzen das Repetieren stereotyper Phrasen.

Automatisierung wird sich durchsetzen
Karikatur

Köller reduziert Sprachvermögen und Textverständnis auf Mustererkennung, als wäre das Ziel des Schreibens von Aufsätzen das Repetieren stereotyper Phrasen. Standardtexte wie Börsen-, Sport- oder Wetterberichte können Computer mittlerweile ebenso schreiben wie Standardbriefe. Nur ist das gerade nicht das Ziel von Aufsätzen. Der Fehlglaube besteht darin anzunehmen, dass Sprache berechenbar sei wie eine mathematische Gleichung. Aber Köller glaubt daran, dass sich solche Automatisierungssysteme durchsetzen werden, da sich Situationen wie mit Covid-19 wiederholen könnten.

Diesen Technikpositivismus konterkarieren Analysen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), das die Automatisierbarkeit von Berufen untersucht. Im Projekt „JobFuturomat“ (IAB, 2021) kann man in eine Suchmaske Berufe eingeben und bekommt angezeigt, ob und gegebenenfalls welche Bereiche automatisiert werden können. Bei Lehrkräften an Grundschulen sind 86% der Tätigkeiten nicht automatisierbar. Dazu gehören alle pädagogischen, fachlichen und zwischenmenschlichen Aufgaben (Didaktik, Pädagogik, Methodik, Pädagogische und Schulpsychologie, Unterricht im schulischen Bereich). Automatisierbar sei nur die Lernzielkontrolle (14%), das Köllersche Testen und Auswerten der Tests. Das Gleiche gilt für Lehrerinnen und Lehrer der Sekundarstufe I. Hier hat die Lernzielkontrolle einen Anteil von 11%, während 89% der beruflichen Tätigkeiten an die Person und Persönlichkeit der Lehrkraft gebunden und nicht automatisierbar sind. Die Arbeit von allgemeinen Pädagoginnen und Pädagogen ist nach der IAB-Datenbank sogar gar nicht automatisierbar (0%). Das gilt insbesondere für die Vermittlung von Wissen und Können (Bildungsarbeit, Didaktik, Methodik, Unterricht u.a.).

Fernunterricht: Unbefriedigende Resultate

Eine Studie der Oxford Universität zu den Lernleistungen in niederländischen Schulen bestätigt, dass sich Fernunterricht schnell in Lerndefiziten zeigt. Dabei sind die niederländische Schulen technisch überdurchschnittlich gut mit IT und Endgeräten ausgestattet und der Einsatz im Präsenzunterricht ist üblich.

„Dennoch zeigen unsere Ergebnisse einen Lernverlust von etwa 3 Prozentpunkten oder 0,08 Standardabweichungen. Der Effekt entspricht einem Fünftel eines Schuljahres, also dem Zeitraum, in dem Schulen geschlossen blieben. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Schüler nur geringe oder gar keine Fortschritte machten, während sie von zu Hause aus lernten, und legen nahe, dass die Verluste in Ländern mit schwächerer Infrastruktur oder längeren Schulschließungen noch größer waren.“ (Engzell et.al. 2220)

Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler: Fernunterricht funktioniert vielerorts nicht.

Das Lernen alleine zu Hause am Bildschirm funktioniert offensichtlich bei vielen Kindern nicht. Deutlich größere Lerndefizite belegt eine Meta-Analyse, die Klaus Zierer (Augsburg) durchführte. Dabei wurden die Lernleistungen von 600.000 Lernenden aus den Niederlanden, der Schweiz und den USA ausgewertet. Bei aller Unterschiedlichkeit der Schulsysteme sei ein Vergleich durch ähnliche Pandemie-Maßnahmen möglich.

„Das Ergebnis ist eindeutig und nicht überraschend: In allen untersuchten Ländern haben die Schulschließungen mit Distanzunterricht zu einem negativen Effekt auf Seiten der Lernenden geführt. Der Rückgang der Lernleistungen entspricht durchschnittlich und hochgerechnet auf ein Schuljahr etwa dem Verlust eines halben Schuljahres. Er ist damit größer als die Dauer des Lockdown selbst, weil sich die eingefangenen Lernrückstände im Lauf des Schuljahres aufgrund fehlender pädagogischer Unterstützungsmaßnahmen noch weiter verstärkten.“ (Zierer, 2021, 30)

Doch das Scheitern des digital basierten Fernunterrichts und das ebenso gescheiterte „selbstorganisierte Lernen“ (Sol) lässt sich nicht leugnen.

Lernrückstand und psychische Folgen

Das adäquate Mittel, die durch Schulschließungen und Fernunterricht entstandenen Lernrückstände beurteilen und kompensieren zu können, sind vergleichende Leistungserhebungen, vor dem Entwickeln von Unterstützungsangeboten. „Eine aussagekräftige Diagnose ist die Basis jeder Förderung“ (Zierer). Umso irritierender war, dass diese Lernstandserhebungen wegen Covid-19 zunächst ausgesetzt werden sollten. Doch das Scheitern des digital basierten Fernunterrichts und das ebenso gescheiterte „selbstorganisierte Lernen“ (Sol) lässt sich nicht leugnen. 20 bis 25 Prozent der Schüler hätten vermutlich große oder sogar dramatische Rückstände, so das BMBF im März 2021, weswegen ein milliardenschweres Nachhilfeprogramm aufgesetzt werde. (DLF, 2021). In den Sommerferien oder spätestens zum neuen Schuljahr sollen zusätzliche Förderangebote bereitgestellt werden, so das Ministerium.

Wie wäre es, die nicht abgerufenen Milliarden des „Digitalpakts Schule“ umzuwidmen in einen „Bildungspakt Schule“ und damit Lehramtsstudierende für Betreuung und Nachhilfe zu finanzieren?

Copsy-Studie: Starke psychische Belastungen

Wie wäre es, die nicht abgerufenen Milliarden des „Digitalpakts Schule“ umzuwidmen in einen „Bildungspakt Schule“ und damit Lehramtsstudierende für Betreuung und Nachhilfe zu finanzieren? Auch wären mehr feste Stellen für Schulpsychologinnen und Sozialarbeiter sinnvoll. Denn nicht nur die schulischen Leistungen leiden unter Corona-Bedingungen. Die beiden COPSY-Studien (CO-rona und PSY-che) der Hamburger Kollegin Ravens-Sieberer (UKE) belegen starke psychische Belastungen bei jungen Menschen. In der zweiten Befragung von Mitte Dezember 2020 bis Mitte Januar 2021 wurden mehr als 1000 Kinder und Jugendliche und mehr als 1600 Eltern per Online-Fragebogen befragt. Die Ergebnisse sind eindeutig: Acht von zehn der befragten 7–17-jährigen fühlen sich durch die Lockdown-Maßnahmen belastet, eine Zunahme von 71 % auf 85 % im zweiten Lockdown. Zwei Drittel der Befragten empfinden Schule und Lernen anstrengender als im ersten Lockdown. Drei von 10 Kindern weisen psychische Auffälligkeiten auf. (Ravens-Sieberer, 2021b).

Geldsorgen

Das bestätigen die JuCo-Studien I und II (Jugend und Corona). Die Corona-Pandemie stelle junge Menschen in Deutschland vor große Herausforderungen. 61 Prozent fühlen sich teilweise oder dauerhaft einsam. 64 Prozent stimmen zum Teil oder voll zu, psychisch belastet zu sein. 69 Prozent berichten von mehr oder weniger stark ausgeprägten Zukunftsängsten. Ein Drittel der Jugendlichen (34 Prozent) hat zudem finanzielle Sorgen, wobei Geldsorgen und Zukunftsängste die psychische Belastung und die Einsamkeit verstärken. (Andresen et.al. 2021)

Darauf macht auch ein Bündnis von fünf Verbänden von Kinder- und Jugend-Psychotherapeuten, -Psychiatern und -Ärzten aufmerksam, das 60 000 Berufsangehörige repräsentiere und von weiteren 23 psychotherapeutischen Berufs- und Fachverbänden unterstützt werde. Sie beobachten seit dem zweiten Corona-Lockdown verstärkt Angst- und Schlafstörungen, Depressionen, Zwangs- und Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität. Unter dem Motto „Kinder brauchen mehr/Jugend braucht mehr“ fordern sie von den politisch Verantwortlichen, dem Leiden von jungen Menschen in der Corona-Krise mit einem Maßnahmenpaket zu begegnen. Gefordert wird ein Kinder- und Jugendrat, ähnlich wie der Ethikrat, die Unterstützung von Sport- und Kulturangeboten für Kinder und Jugendliche und z.B. ein Hilfe-Telefon für junge Menschen in Not mit Beratung durch Fachpersonal statt durch Freiwillige. Es dürfe nicht nur um versäumten Schulstoff gehen, sondern es werde Unterstützung auch „jenseits von Leistungsorientierung“ gebraucht, so Ariadne Sartorius, Bundesvorstandsmitglied des BVVP. (Feuerbach, 2021 )

Besinnung auf Schule als Lebens- und Sozialraum

Die emotionalen Bedürfnisse berücksichtigen

Entscheidend ist daher bei allen Konzepten, dass nicht nur Lernlücken erfasst und durch gezielte Förderung kompensiert werden, sondern dass auch die sozialen und emotionalen Bedürfnisse junger Menschen berücksichtigt werden. Schulen sind für Kinder und Jugendliche oft der wichtigste außerfamiliäre Ort, um Mitschülerinnen und Mitschüler zu treffen, Freundschaften zu beginnen und sich in Klassen- wie Sozialgemeinschaften einzugliedern. Nur im Miteinander werden wir zum „Ich“. Nur durch die Gemeinschaft und in der Gemeinschaft lernen wir, wie vielfältig Menschen und ihre Persönlichkeiten, Sicht- und Reaktionsweisen sind. Nur im Kontext mit anderen lernen wir das Nachdenken und Reflektieren, statt nur Vorgegebenes zu übernehmen. Zum Denken-Lernen als Ziel von Lehre und Unterricht brauchen wir ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog. Das formulierte schon Immanuel Kant im Text “Was heißt: sich im Denken orientieren?” (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken und Fragen stellen könnten.

Dazu gehören auch „weiche“ Fächer wie Kunst- und Musikunterricht. Gefördert werden müssen Tanz- und Theatergruppen und gemeinsame Aktivitäten wie Exkursionen, Wandertage, Klassenfahrten, auch Bewegung und Sport.

Tanzen, Singen, Spotz treiben und Kunst

Mündigkeit und Reflexionsvermögen sind laut Schulverordnungen der Länder elementare Bildungsziele. Das gelingt nur, wenn wir die Verkürzung des Fächerkanons auf die MINT- oder WiMINT korrigieren, die Schule und Unterricht auf Ausbildungsvorbereitung in technischen Disziplinen verkürzen. Verstärkt werden muss vielmehr die Allgemeinbildung. Dazu gehören auch „weiche“ Fächer wie Kunst- und Musikunterricht. Gefördert werden müssen Tanz- und Theatergruppen und gemeinsame Aktivitäten wie Exkursionen, Wandertage, Klassenfahrten, auch Bewegung und Sport. Um pandemiebedingte Lernrückstände auszugleichen, darf nicht nur Abprüfbares trainiert werden. Vielmehr müssen wir Realräume schaffen für ein Miteinander, nach vielen Monaten Isolation an Display und Touchscreen. Der Mensch ist ein soziales Wesen und kann sich nur in Gemeinschaft sozialisieren. Daher müssen wir Schulen viel stärker als einen sozialen Lebensraum des Miteinanders und gemeinsamen Lernens gestalten, statt Kinder und Jugendliche immer früher an Rechner zu vereinzeln. Das zumindest sollte als Ergebnis von Fernunterricht im Coronamodus gelernt werden.

Ralf Lankau

 

Andresen, Sabine; Heyer, Lea; Lips, Anna; Rusack, Tanja; Schröer, Wolfgang; Thomas, Severine; Wilmes, Johanna (2021) Das Leben von jungen Menschen in der Corona-PandemieErfahrungen, Sorgen, Bedarfe, Bertelsmann-Stiftung;

https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Familie_und_Bildung/Studie_WB_Das_Leben_von_jungen_Menschen_in_der_Corona-Pandemie_2021.pdf

DLF (2021) Corona-Pandemie: Karliczek plant bundesweites Nachhilfeprogramm für lernschwache Schüler, https://www.deutschlandfunk.de/corona-pandemie-karliczek-plant-bundesweites.1939.de.html?drn:news_id=1242143 (27.3.2021)

Ebbinghaus, Uwe (2020) Mint-Schwäche in Schulen: Ist Lernsoftware besser als ein schlechter Mathelehrer?, in FAZ vom 23.6.2020

Engzell, P., Frey, A., & Verhagen, M. D. (2020, October 29). Learning Inequality During the Covid-19 Pandemic. https://doi.org/10.31235/osf.io/ve4z7

Feuerbach, Leonie (2021) Auch Kinder sind systemrelevant, in: FAZ vom 27.März 2021, S. 7; https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/folgen-der-corona-pandemie-auch-kinder-sind-systemrelevant-17265356.html (30.3.21)

IAB (2021) https://job-futuromat.iab.de/

Lebert, Achin (2021)Digitale Endgeräte werden zu Lernbegleitern, Heft Schulverwaltung spezial 2/2020, S.36-39 )

Ravens-Sieberer, Ulrike (2021b) Ergebnisse aus zweiter BefragungsrundeCOPSY-Studie: Kinder und Jugendliche leiden psychisch weiterhin stark unter Corona-Pandemie; https://idw-online.de/de/attachmentdata85769

Ravens-Sieberer, U., Kaman, A., Otto, C. et al. Seelische Gesundheit und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen in der ersten Welle der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse der COPSY-Studie. Bundesgesundheitsbl (2021). https://doi.org/10.1007/s00103-021-03291-3

Zierer, Klaus (2021) Schulen in der Pandemie:Ein Jahr zum Vergessen, in: SZ vom 16.3.21, S. 30; https://www.sueddeutsche.de/politik/schulen-in-der-pandemie-ein-jahr-zum-vergessen-1.5233757 (26.3.21)

Zierer, Klaus (2020) Visible Learning 2020: Zur Weiterentwicklung und Aktualität der Forschungen von John Hattie, hrsg. v.d. Konrad Adenauer-Stiftung,

https://www.kas.de/documents/252038/7442725/Visible+Learning+2020.pdf/e664fc77-2b6e-bc9d-f6a1-9b8075268a50 (31.3.21)

Hattie, John; Zierer, Klaus (2017): Kenne deinen Einfluss! Visible Learning für die Unterrichtspraxis, 2. Auflage, Schneider Verlag Hohengehren.

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Wirksamkeit des digitalen Unterrichts auf dem Prüfstand https://condorcet.ch/2021/02/wirksamkeit-des-digitalen-unterrichts-auf-dem-pruefstand/ https://condorcet.ch/2021/02/wirksamkeit-des-digitalen-unterrichts-auf-dem-pruefstand/#comments Thu, 04 Feb 2021 13:31:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=7640

Hanspeter Amstutz hat den Disput zwischen Annemarie Aeschbacher und ihrem Schulhauskollegen Alain Pichard mit grossem Interesse gelesen. Er findet diese Diskussionen sehr wichtig und wünscht sich, dass diese in den Kollegien wirklich stattfinden.

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Hanspeter Amstutz:
Bild: Fabü

Als Zuschauer im Lehnsessel bin ich wenig legitimiert, über Sinn und Unsinn des Fernunterrichts zu urteilen. Dennoch hat mich der freundschaftliche Disput zwischen Alain Pichard und seiner Lehrerkollegin Annemarie Aeschbacher angeregt, ein paar Gedanken dazu zu äussern. Offensichtlich hat die Frage der Qualität des Fernunterrichts die Bildungspolitik elektrisiert. Die einen forderten nach dem ersten Lockdown die sofortige Nachrüstung aller Schulen mit Tablets für jeden Primarschüler, andere sprachen gar von einer digitalen Revolution, welche die Volksschulbildung in die Zukunft katapultieren werde. Bedenkenlos wurde das pädagogische Geschehen in den Schulzimmern mit der erfolgversprechenden Digitalisierung in der Wirtschaft gleichgesetzt.

Riesige Heilserwartungen

Die Heilserwartungen an neuen digitalen Lernformen waren teils riesig. Reportagen über Klassen im ferngesteuerten Unterricht füllten die Gazetten. Bemerkenswert war, wie engagiert die Lehrerschaft in der Phase des Fernunterrichts die hohen Erwartungen mit grossem Mehraufwand zu erfüllen versuchte. Man war bemüht, die vielen Kompetenzziele des Lehrplans trotz Corona zu erreichen.

Aufwertung der Schule als Ort des gemeinsamen Lernens

Ernüchterung machte sich breit

Doch dann kam die Ernüchterung. Immer mehr drang durch, dass im Fernunterricht die tollen Bildungsziele kaum erreicht wurden. Neue Inhalte konnten schwächeren Kindern via Bildschirm nur schwer vermitteln werden und viele Schüler hängten beim Lernen gar völlig ab. Für erfahrene Lehrpersonen waren diese Erkenntnisse keine Überraschung. Ihre Bedenken, dass ein weitgehend digitalisierter Unterricht in zentralen Bereichen mit einem lebendigen Klassenunterricht im Schulhaus nicht mithalten konnte, wurden aber lange Zeit nicht Ernst genommen. Es brauchte die viel zitierte niederländische Studie und den überraschenden Aufschrei fast aller Kinder nach „richtiger“ Schule, um eine kritische Sicht auf den digitalisierten Unterricht zu bewirken.

Die Geborgenheit in der Dynamik einer Klasse, wo wie auf einer Theaterbühne Kommunikation mit Worten und Mimik stattfindet, ist für junge Menschen zentral.

 

Pädagogik muss Vorrang haben.

Corona hat den Wert der Schule als Ort des Miteinanders und des anregenden Lernens vielen wieder bewusst gemacht. Die Geborgenheit in der Dynamik einer Klasse, wo wie auf einer Theaterbühne Kommunikation mit Worten und Mimik stattfindet, ist für junge Menschen zentral. Es geht dabei mehr als nur um das Erreichen von messbaren Lernzielen. Die gemeinsame Auseinandersetzung mit einem bewegenden Thema, sei es in einer Geschichtsstunde, bei einer dramatischen Ballade oder bei einer komplexen Matheaufgabe ist im realen Klassenunterricht weit wirkungsvoller als bei einer Vermittlung am Bildschirm. Lehrpersonen sehen unmittelbar, wie ein Lernprozess verläuft und wo sie nachhaken müssen. Für einen Lehrer wie Alain Pichard, der auf der breiten Klaviatur des lebendigen Unterrichtens zu spielen weiss, ist deshalb der Präsenzunterricht das unverzichtbare Element für gelingendes Lernen.

Zu Recht können diese Teams für sich beanspruchen, ein Stück weit aufgezeigt zu haben, dass man die digitale Selbständigkeit mancher Jugendlicher gezielt fördern kann.

Bessere digitale Kompetenzen als Nebeneffekt des Fernunterrichts

Damit nehme ich aber die Einwände seiner Kollegin keinesfalls auf die leichte Schulter.

Sie hat im Fernunterricht, wie sie selber schreibt, weit mehr Aufwand betrieben als im regulären Unterricht. Dabei stellte sie fest, dass bei einigen Schülern der Fernunterricht ganz gut ankam. Deshalb versteht man ihre Frustration, wenn nun in den jüngsten Presseberichten kaum ein gutes Haar an den hart erarbeiteten Notprogrammen digital kompetenter Schulteams gelassen wird. Zu Recht können diese Teams für sich beanspruchen, ein Stück weit aufgezeigt zu haben, dass man die digitale Selbständigkeit mancher Jugendlicher gezielt fördern kann.

Wenn eine Unterstufenlehrerin ihre erfolgreiche konventionelle Methode zugunsten eines eingekauften Lernprogramms aufgeben muss, nur damit die teure digitale Infrastruktur amortisiert werden kann, wird es bedenklich.

Die Diskussion wird sich nach Corona weniger um das Szenario einer nächsten Fernunterrichtsphase drehen als um die generelle Frage nach der Wirksamkeit eines weitgehend digitalisierten Unterrichts. Viele Schulgemeinden haben bereits beschlossen, schon ab der Primarschule die Kinder mit Tablets auszurüsten. Das ist an und für sich nicht schlecht, wenn die Lehrerschaft überzeugt ist, dass schon Drittklässler dank diesen Geräten in ihrer schulischen Entwicklung besser vorankommen. Doch da scheiden sich die Geister. Wenn eine Unterstufenlehrerin ihre erfolgreiche konventionelle Methode zugunsten eines eingekauften Lernprogramms aufgeben muss, nur damit die teure digitale Infrastruktur amortisiert werden kann, wird es bedenklich. Digitalisierung darf nicht zu einer de facto eingeschränkten Methodenvielfalt führen und kompetente Lehrpersonen mit unhaltbaren Fortschritts-Dogmen unter Druck setzen.

Pädagogische Überlegungen bei der Digitalisierung haben Vorrang

Thema völlig politisiert

Annemarie Aeschbacher hat recht, wenn sie beklagt, dass die Digitalisierung längst zu einem Politikum geworden ist. Es droht zurzeit ein aufwändiger Wettbewerb um digital bestausgerüstete Schulen, ohne zu hinterfragen, welche pädagogischen Leitbilder denn eine digitalisierte Schule prägen sollen. Diese Frage muss in erster Linie von der aktiven Lehrerschaft selber beantwortet werden und kann weder der digitalen Bildungsindustrie noch umtriebigen Schulpolitikern überlassen werden.

Ich hoffe, dass der freundschaftliche Disput in Orpund und Streitgespräche in andern innovativen Schulteams richtig Fahrt aufnehmen. Die Öffentlichkeit soll wissen, dass es starke Bestrebungen in der Lehrerschaft gibt, die Wirkung digital gesteuerter Lernprozesse nüchtern zu prüfen und nur das zu übernehmen, was einen pädagogischen Mehrwert bringt.

 

 

 

 

 

 

 

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Studie zu Corona-Schulschließungen: Kinder haben “wenig oder nichts” gelernt https://condorcet.ch/2021/01/studie-zu-corona-schulschliessungen-kinder-haben-wenig-oder-nichts-gelernt/ https://condorcet.ch/2021/01/studie-zu-corona-schulschliessungen-kinder-haben-wenig-oder-nichts-gelernt/#respond Mon, 25 Jan 2021 14:55:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=7538

Niederländische Schulen gelten als digitale Vorreiter. Doch selbst dort zeigt eine Studie: Der Unterricht im Netz bringt kaum Lernfortschritte – besonders bei Kindern mit schwierigem sozialen Umfeld. Wir bringen hier einen Beitrag, der jüngst in der Zeitschrift "Der Spiegel" erschienen ist.

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Ein ernüchterndes Fazit der Schulschließungen in den Niederlanden während der Coronakrise haben drei Sozial- und Bildungswissenschaftler an der Universität Oxford gezogen. Trotz des Onlineunterrichts hätten die Schülerinnen und Schüler “wenig bis nichts” gelernt, heißt es in einer neuen Studie des Leverhulme Centre for Demographic Science.

Grösstenteils ineffektiv

Digitales Klassenzimmer: besorgniserregende Resultate.

Die Ergebnisse zeigten, “dass Onlineunterricht während des Lockdowns größtenteils ineffektiv war, selbst in einem Land, das für die Herausforderungen von Onlineunterricht gut gerüstet ist”, schreiben die Autorinnen und Autoren. Dabei sei die Situation im niederländischen Bildungssystem deutlich besser als in vielen anderen Staaten und daher eigentlich ein “Best Case”-Szenario: Die Niederlande hätten eine der weltweit höchsten Internetzugangsraten, es gab im Frühjahr nur einen relativ kurzen Lockdown von acht Wochen, außerdem sei die erste Welle der Pandemie im Land relativ mild verlaufen.

Bei den Kindern und Jugendlichen lag der Lernfortschritt durchschnittlich 20 Prozent unter dem erwarteten Wert.

“Trotz dieser guten Voraussetzungen gingen die Fortschritte der Schüler erheblich zurück, was auf noch größere Verluste in Ländern hindeutet, die weniger gut auf die Herausforderungen von Onlineunterricht vorbereitet sind”, heißt es in der Auswertung. Die wichtigsten Ergebnisse:
• Bei den Kindern und Jugendlichen lag der Lernfortschritt durchschnittlich 20 Prozent unter dem erwarteten Wert – das entsprach der Zeit, in der die Schulen keinen Präsenzunterricht anbieten konnten. “Mit anderen Worten haben die Schüler beim Lernen von zu Hause aus kaum oder gar keine Fortschritte gemacht”, sagt Co Autor Per Engzell.
• Soziale und ökonomische Faktoren wirken sich verschärfend aus: “Für Kinder aus
benachteiligten Verhältnissen waren die Auswirkungen noch verheerender”, so die Forscher.

Die Niederlande haben eine hervorragende digitale Infrastruktur

Hatten die Eltern keine Hochschulausbildung, war der Verlust an Wissen um bis zu 50
Prozent stärker als bei Kindern aus Akademikerfamilien.
Die Forscher hatten für die Studie die Testergebnisse von rund 350.000 niederländischen Schülerinnen und Schülern im Alter von sieben bis elf Jahren genutzt. Zweimal pro Jahr gibt es in den Niederlanden zentrale Leistungstests; die Erhebungen fanden im Januar/Februar und im Mai/Juni 2020 statt. Die aktuellen Daten von vor und nach den Schulschließungen wurden außerdem mit Ergebnissen früherer Schülerjahrgänge verglichen.

“Besonders besorgniserregend”
“Die Ergebnisse der Studie sind besonders besorgniserregend, da die Niederlande so viele Dinge richtig gemacht haben”, sagt Mitautor Arun Frey: Lehrer und Schulbeamte hätten “enorme Anstrengungen unternommen und die Regierung hat sogar Laptops für alle Kinder gekauft, die einen benötigen”. Trotzdem bestätigten die Ergebnisse des Onlineunterrichts “viele der schlimmsten Befürchtungen, die Pädagogen anfangs des ersten Lockdowns hatten”.

Der Spiegel 12.1.21

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Unheilsbringer https://condorcet.ch/2021/01/unheilsbringer/ https://condorcet.ch/2021/01/unheilsbringer/#respond Tue, 19 Jan 2021 10:04:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=7510

Die Corona-Krise hat die Schulen digitaler gemacht. Ist das allein schon ein Zeichen des Fortschritts? Mitnichten, denn dabei verkümmert der Ort der Bildung. Dieser Ansicht ist der Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer.

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Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler: Nicht nur Lernort, sondern auch Lebensort

Deutschland stemmt sich gegen die Pandemie und fährt sein öffentliches Leben herunter. Doch Großbetriebe dürfen weiterlaufen, die Schulen hingegen bleiben geschlossen. Dabei liegen nach neun Monaten pädagogischem Stotterbetrieb viele Karten auf dem Tisch, und trotz hoher finanzieller Anstrengungen muss man feststellen: Die meisten taugen nichts. Das Homeschooling hat nicht geklappt und es klappt bis heute nicht. Kinder und Jugendliche sehnen sich danach, in die Schule zu  gehen – und freuen sich selbst auf schlechten Unterricht, Hauptsache Präsenz. Keiner lernt gerne allein zu Hause. Und egal wie die Videoplattform auch heißt: Beziehungen – das Bildungselixier schlechthin – lassen sich nicht auf Dauer digital pflegen, geschweige denn aufbauen. Vor diesem Hintergrund kann man deutsche Schlagzeilen zur Wirksamkeit von Homeschooling drehen und wenden, wie man möchte. Überzeugende Empirie kommt aus den Niederlanden, wo eine Forschergruppe die Effekte des Homeschoolings untersuchte und zu dem Ergebnis kam, dass alle Schüler weniger lernten, besonders wenig Kinder aus bildungsfernen Milieus.

Bildungsungerechtigkeit nimmt also zu, und Digitalisierung wird zu ihrem Treiber. Allein damit ist aber das ganze Ausmaß der Digitalisierung und ihrer Wirkung auf die Bildung noch nicht beschrieben. Denn Lernende hängen seit der Krise noch mehr an den Endgeräten – und nein, sie lernen dabei nicht immer. Meistens verschwenden sie ihre Zeit, daddeln herum, unterfordern sich kognitiv und schaden sich körperlich.

Überzeugende Empirie kommt aus den Niederlanden, wo eine Forschergruppe die Effekte des Homeschoolings untersuchte und zu dem Ergebnis kam, dass alle Schüler weniger lernten, besonders wenig Kinder aus bildungsfernen Milieus.

Eine Ifo-Studie hat diese Tendenz eindringlich offengelegt und davor gewarnt. Es ist nicht nur empirisch zweifelsfrei, sondern für den gesunden Menschenverstand nachvollziehbar: Wer immer weniger Zeit mit Lernen verbringt, wird weniger lernen. Die notwendige Selbständigkeit im Umgang mit digitalen Medien ist übrigens nicht eine Frage des Alters, sondern der Kompetenz.

Das Ende der Kreidezeit ist längst da.

Ein gewisser Aktionismus…

Und in der Schule selbst? Das Ende der Kreidezeit ist längst da, und die Digitalisierung drängt immer weiter vor. Tafeln raus, Smartboards rein. Die nächsten Schritte sind auch schon beschlossen: Lernende bekommen ein Tablet, Lehrpersonen natürlich ebenso. Bei alledem wird man den Eindruck nicht los, dass ein gewisser Aktionismus herrscht nach dem Motto: Hauptsache, neuer Lack für den maroden Bildungstanker. Demgegenüber können viele Schüler bestätigen, was mit Forschungen belegt wurde: Digitale Technik allein verbessert den Unterricht nicht. Erst wenn sie pädagogisch sinnvoll in den Unterricht integriert ist, kann sie wirken.

Digitale Technik allein verbessert den Unterricht nicht.

Mehr Monotonie als je zuvor

Wenn nicht, nimmt Lernen sogar Schaden. Und so gibt es heute vielfach mehr Powerpoint, mehr Frontalunterricht, mehr Monotonie im Unterricht als jemals zuvor. Statt Feiern gibt es Filme, statt Diskussionen gibt es Erklärvideos und statt Sportfesten gibt es Robotik-Wettbewerbe.

Freude entsteht so nicht.
Foto: Bernerzeitung

Freude an der Schule entsteht so nicht, und es ist kein Wunder, dass die Motivation, in die Schule zu gehen, mit jedem weiteren Schuljahr abnimmt und erst zum Ende hin wieder steigt – wenn Licht am Ende des Tunnels sichtbar ist. Wenn man angesichts von mehr als 40-jähriger Forschung zum Einsatz von digitalen Medien und dem damit verbundenen Ergebnis, dass sie nicht von sich aus wirken, immer noch glauben kann, dass sie Bildungsrevolutionen auslösen oder in Krisenzeiten zum Heilsbringer avancieren, zeugt von pädagogischer Naivität. Vielleicht ist der Anspruch aber auch zu hoch. Sinnhaftigkeit würde schon ausreichen oder zumindest Nützlichkeit. Wie machen wir uns also fit für die digitale Zukunft? Na klar: Programmieren, am besten schon im Kindergarten. Wer inhaltlich auf die Angebote blickt, wird ernüchtert sein – medienkritischer Tiefgang findet sich nur selten. Meistens wird gespielt. Selbst das langweiligste Gedicht bietet mehr Stoff zur Reflexion. Stattdessen noch mehr Sitzen vor den Endgeräten – was durch die aktuelle Lage noch verschärft wird. Wer Musik, Kunst und Sport in der Krise aufgibt und mit dem Etikett der Entbehrlichkeit versieht, der wird dem Bildungsauftrag nicht gerecht und reißt der Schule die Seele aus dem Leib.

Sie ist heute kein Bildungsort mehr, sondern zu einem Lernort verkümmert, an dem nur noch das unterrichtet wird, was ökonomisch von Interesse ist.

Der Digitalisierungsschub in Folge der Corona-Krise hat zu einer Transformation von Schule geführt. Sie ist heute kein Bildungsort mehr, sondern zu einem Lernort verkümmert, an dem nur noch das unterrichtet wird, was ökonomisch von Interesse ist. Während also der musische Bereich stirbt, nimmt der ökonomisch interessante Bereich Fahrt auf. Kurz gesagt, es droht eine Bildungskatastrophe. Ein Umdenken ist unerlässlich.

Schon eher punktet man als Digitalisierungsguru, der viele Spiele kennt, aber nicht in die Augen von Kindern sehen kann, oder als stellvertretender Chefvirologe, wie so manch ein Verbandsfunktionär in der Vergangenheit aufgetreten ist – mediale Selbstbefriedigung statt Einsatz für das Wohl der Kinder.

Schule ist nicht nur Lernort, sondern Lebensraum. Dazu gehört der soziale Austausch und deswegen ganz besonders auch das soziale Lernen. Der wichtigste Grund für Schüler, in die Schule zu gehen, ist nicht das Lernen – es sind die Gleichaltrigen. Doch es ist nicht die Stunde der Anwälte der Kinder. Schon eher punktet man als Digitalisierungsguru, der viele Spiele kennt, aber nicht in die Augen von Kindern sehen kann, oder als stellvertretender Chefvirologe, wie so manch ein Verbandsfunktionär in der Vergangenheit aufgetreten ist – mediale Selbstbefriedigung statt Einsatz für das Wohl der Kinder.

Was also tun? Keine Zauberei, ein Blick zur Seite hilft. Denn es gibt selbst in der Krise Schulen, die überzeugen. Sie meistern die Distanz, nutzen Technik sinnvoll und immer mit Augenmaß, schaffen es sogar, Beziehungen zu pflegen. Das Geheimnis des Erfolges liegt nicht im Strukturellen, sondern in der Art und Weise, wie das Kollegium über Schule denkt: Das Denken bestimmt das Sein. In der Forschung wird von kollektiver Wirksamkeitserwartung gesprochen. Gelingt es einer Schule, eine gemeinsame Vision von Bildung zu entwickeln, Kriterien für Unterrichtsqualität zu bestimmen und als Richtschnur im Alltag zu nehmen, dann kann sie selbst in der Krise vieles bewirken.

Dabei steht im Zentrum dieses Denkens nicht die Frage: Haben wir ausreichend Tablets? Sondern die pädagogische Frage schlechthin: Wer ist der Mensch?

Ausweg Schulfernsehen?

Nun wird es dauern, bis alle Schulen sich auf diesen Weg gemacht haben. Bleibt also keine Alternative, als weiterhin durch die Krise zu stottern? Eine gibt es, die bereits in den Siebzigerjahren im Zug der Diskussionen um die damals befürchtete Bildungskatastrophe eingeführt wurde und institutionell verankert ist: das Schulfernsehen. Bei allem pädagogischen Bedenken gegenüber  dem Fernsehen, in der Krise könnte es zum Heilsbringer werden. Viele Sender haben bereits Angebote, der entscheidende Schritt aber fehlt. Für jede Klassenstufe müsste vonseiten des Ministeriums ein Krisenstundenplan entwickelt werden, mit festen, verbindlichen, fokussierten und rhythmisierten Sendezeiten, die didaktisch auf höchstem Niveau sind. Lernende hätten so eine Struktur, Lehrpersonen eine Unterstützung, Eltern eine Entlastung. Eine Bildungskatastrophe könnte so zumindest abgefedert werden.

Wer aus pädagogischer Sicht erfolgreich durch die Krise kommen und vor allem auch aus der Krise lernen möchte, der muss für eine Rehumanisierung der Schulen eintreten. Technik allein verbessert nicht den Unterricht Haben wir genug Tablets? Ist das wirklich die entscheidende Frage?

Klaus Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg.

Dieser Text erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung

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Alain Pichard im Kulturplatz – Das vollständige Interview: Der Mensch lernt durch den Menschen https://condorcet.ch/2020/08/alain-pichard-im-kulturplatz-das-vollstaendige-interview-der-mensch-lernt-durch-den-menschen/ https://condorcet.ch/2020/08/alain-pichard-im-kulturplatz-das-vollstaendige-interview-der-mensch-lernt-durch-den-menschen/#comments Sun, 23 Aug 2020 15:03:40 +0000 https://condorcet.ch/?p=6149

Es gab viele Vorgespräche und grosse Vorbereitungen, bis der SRF-Journalist Richard Herold mit seinem Kameramann einen insgesamt fünfstündigen Arbeitseinsatz am OSZ-Orpund absolvieren konnte. Im Vorfeld beantwortete Condorcet-Autor Alain Pichard schriftlich einige Fragen und gab auch bei den Filmaufnahmen ein 20-minüitges Interview. Heraus kam ein 10-Minutenbeitrag, der die wichtigen Punkte streifte und auf Zuspitzung bedacht war. Dass Alain Pichard die digitalen Medien intensiv nutzt, beweist er nicht nur mit seiner Arbeit an unserem Bildungsblog, sondern auch in seinen ausführlichen Antworten, die er hier unserer LeserInnenschaft vorstellt.

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Bilanz der Corona-Wochen im Lockdown – was hat die Schule gelernt in dieser ausserordentlichen Zeit? Wie erlebten Sie diese Zeit?

Für mich war es eine spannende, intensive und hochinteressante Zeit, in der ich viel gelernt habe. Und die Schule hat getan, was sie konnte. Manchmal besser, manchmal weniger gut. Im Großen und Ganzen ziemlich unaufgeregt und mehrheitlich professionell. Die wichtigste Erkenntnis aus der Corona-Zeit ist eine an sich bekannte: dass Erziehen und Bilden, Schule und Unterricht immer in Beziehungen stattfindet, dass die Lehrerinnen und Lehrer mit ihrer ganzen Persönlichkeit, mit ihrer Betreuung und den persönlichen Rückmeldungen entscheidend für das Gelingen von Lernprozessen sind. Der Mensch ist des Menschen Lehrer oder Lehrerin. Medien können Vermittlungsprozesse unterstützen und begleiten, vor- oder nachbereiten, aber es braucht immer den Dialog.

Ausserdem bin ich zur Überzeugung gekommen, dass für Phasen des Fernunterrichts mehr, nicht weniger qualifizierte Lehrkräfte gebraucht werden. Die Gruppen müssen kleiner sein, es braucht viel mehr Kleingruppengespräche bis hin zur Einzelbetreuung. Fernunterricht ist personalintensiv und gewiß nicht geeignet, um (Personal-)Kosten zu sparen. Was man aus der Erwachsenenbildung weiß – Fernunterricht gelingt durch klare Ziele, feste organisatorische und zeitliche Strukturen und eine Bindung durch persönliche Betreuung – gilt in noch viel stärkerem Maße für den Fernunterricht mit Kindern.

Und als drittes: Für die Primarschulen ist Fernunterricht eine extreme Belastung und Zumutung für alle Beteiligten und von Grund auf ungeeignet.

Wie erlebten Sie diese Zeit? Was hat gut funktioniert – was nicht so? 

Digitalunterricht ist automatisiertes Lernen

Im Grunde zeigt sich, was auch im Präsenzunterricht gilt: Schülerinnen und Schüler, die sich und ihre Zeit gut organisieren können, kommen bei klaren Aufgabenstellungen und regelmäßigem Feedback halbwegs gut zurecht. Das Soziale fehlt, alles Menschliche, aber wer familiär gut eingebunden ist, übersteht solche Auszeiten ordentlich. Wer mehr Unterstützung und Führung braucht, fällt im Fernunterricht schneller und noch stärker zurück. Fehlt die Unterstützung zu Hause, wird es schnell kritisch.

Unterschiedliche Lerntypen und -geschwindigkeiten hat man in jeder Klasse, jeder Unterricht ist binnendifferenziert, das Zwischenschalten von Lernmedien und digitaler Kommunikation wirkt im Prinzip nur als Verstärker bekannter Phänomene.

Technisch vermittelte Hilfe ist immer distanziert, unpersönlich, weniger ganzheitlich, weil niemand körperlich präsent ist. Körperliche Präsenz ist aber elementar, um direkt aufeinander reagieren zu können.

Was gar nicht funktioniert, ist die tatsächliche Interaktion, bei der man jemandem über die Schulter und ins Gesicht schaut, auf einem Übungsblatt etwas vorrechnet oder zeichnet oder kurz gesagt: die direkte und ganz persönliche Ansprache und Hilfestellung am Sitzplatz. Technisch vermittelte Hilfe ist immer distanziert, unpersönlich, weniger ganzheitlich, weil niemand körperlich präsent ist. Körperliche Präsenz ist aber elementar, um direkt aufeinander reagieren zu können.

Was sind für Sie die wichtigsten Learnings – was nehmen Sie mit? 

Arbeitsplatz einer Schülerin während der Fernschulung

Die wichtigste Erkenntnis ist, dass auch eine gute technische Ausstattung wie an den meisten Schweizer Schulen nur ein Hilfsmittel in Pandemie-Zeiten sein kann, manches erleichtert, etwa den Dokumentenaustausch, aber dass Lernprozesse immer ein persönliches Gegenüber brauchen. Die Anfangseuphorie des „Schule vom Sofa aus“ verebbt schnell. Eine Videokonferenz nach der anderen führt fast automatisch zum Abschalten, nicht nur der Kamera. Auch Diskussionen in Kleingruppen wirken zunehmend steril, da Kamera und Mikrofon nur akustische und visuelle Signale übertragen, aber kein echtes Miteinander ermöglichen. Alles bleibt zweidimensional und technisch vermittelt.

Zum Denken-Lernen als Ziel von Lehre und Unterricht brauchen wir aber ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog. So jedenfalls Immanuel Kant im Text „Was heißt: sich im Denken orientieren?” (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken und Fragen stellen könnten. Anderes formuliert: Schulen sind nur als Präsenzschulen echte Schulen. Alles andere sind Hilfskonstruktionen für den Notfall.

Und für die Schülerinnen und Schüler wage ich zu behaupten: Viele von ihnen haben entdeckt, dass man auch zu Hause für die Schule arbeiten kann. Sie haben Arbeitsplätze eingerichtet und lange Zeit an Aufträgen gearbeitet. Das ist sicher ein positiver Aspekt.

Und für die Schülerinnen und Schüler wage ich zu behaupten: Viele von ihnen haben entdeckt, dass man auch zu Hause für die Schule arbeiten kann. Sie haben Arbeitsplätze eingerichtet und lange Zeit an Aufträgen gearbeitet. Das ist sicher ein positiver Aspekt.

Eine Studie besagt, dass ein Drittel der Schüler besser, ein Drittel gleich gut und ein Drittel während der Fernschulung weniger gelernt hätten. Wie stehen Sie dazu? 

Eine umfassende Studie der OECD aus dem Jahre 2012 zeigt ernüchternde Resultate

Ich staune immer wieder, wie schnell solche Studien auf den Markt kommen und wie unkritisch sie von den Journalisten kolportiert werden. Bei solchen Studien gilt doch immer nachzufragen: Was heisst „mehr gelernt“? Handelt es sich um eine Befragung oder eine Output-Auswertung?  Für welche Schüler gilt dies? Oder besser: Wer hat an dieser Umfrage teilgenommen? Gab es Kontrollgruppen? Wer hat die Studie in Auftrag gegeben? und so weiter. Ich kann Ihnen aber eine OECD-Studie empfehlen, in der alle Methoden transparent sind. Die Daten wurden 2012 erhoben und 2015 veröffentlicht. Diese Studie wurde von der FAZ als „zweiter PISA-Schock“ kommentiert, weil sie ergab, dass Schülerinnen und Schüler, die intensiv mit den digitalen Medien lernten, wesentlich schlechtere Ergebnisse erreichten als ihre Kontrollgruppe.

Inwiefern hat sich Ihre Position gegenüber digitalen Mitteln verändert? 

Digitale Medien sind seit über 30 Jahren in Schulen im Einsatz, es wurde vieles ausprobiert und jetzt in der Covid-19-Zeit vieles aus dem Berufsleben und der Erwachsenenbildung übernommen. Dabei hat sich ganz klar gezeigt, dass Schülerinnen und Schüler weder Erwachsene noch Arbeitnehmer sind – und es ja auch (noch) nicht werden sollen, solange man Bildungseinrichtungen als solche begreift – und nicht nur als Zurichte-Anstalten für den Beruf.

Es gibt durchaus Gebiete und Themen, in denen digitale Medien dem klassischen Unterricht überlegen sind. Darauf sollte man zurückzugreifen oder in die konstruktive Medienproduktion einsteigen (Videos produzieren, PP herstellen, webbasierte Produkte kreieren). Zum Wörtchen-Lernen, Wortarten-Üben, Umrechnungen-Üben oder Texte-Verfassen sind die digitalen Tools echt nutzbringend. Aber das wussten wir schon vor dem Homeschooling.

Das heißt, dass digitale Medien, die im Kern nichts anderes sind als Automatisierungstechniken, gezielt eingesetzt werden, dagegen alle Automatisierungstendenzen beim Lernen und Prüfen vermieden werden sollen: ein Widerspruch schlechthin.

Bezüglich Pädagogik und Didaktik sind aber viele Angebote in den Lernportalen trotz ihrer zum Teil beeindruckenden Technik ausserordentlich bieder, wenn nicht sogar reaktionär.

Es gibt durchaus Gebiete und Themen, in denen digitale Medien dem klassischen Unterricht überlegen sind. Darauf sollte man zurückzugreifen oder in die konstruktive Medienproduktion einsteigen (Videos produzieren, PP herstellen, webbasierte Produkte kreieren). Zum Wörtchen-Lernen, Wortarten-Üben, Umrechnungen-Üben oder Texte-Verfassen sind die digitalen Tools echt nutzbringend. Aber das wussten wir schon vor dem Homeschooling. Bezüglich Pädagogik und Didaktik sind aber viele Angebote in den Lernportalen trotz ihrer zum Teil beeindruckenden Technik ausserordentlich bieder, wenn nicht sogar reaktionär. Pädagogische Konzepte für den Einsatz von – analogen wie digitalen – Medien im Unterricht haben immer den Menschen und seine Lernprozesse im Blick, nicht Mess- und Prüfbarkeit.

Grundsätzlich sehen Sie die Rolle des Pädagogen in Gefahr – nur noch „Coach”, „Controller” – können Sie das etwas näher ausführen.

Die Frage ist auch hier: Welche Aufgabe hat ein Pädagoge, eine Pädagogin? Die traditionelle Antwort: Junge Menschen zur Freiheit zu führen, das geht nur über Lernen und Verstehen. Das wiederum geht nur über Beziehung und Dialog. Das funktioniert nur im Miteinander.

Ich bin überzeugt, dass unsere Gesellschaft besser damit fährt, die Unterrichtsprozesse nicht an Algorithmen zu delegieren.

Was technisch abgebildet werden kann, ist nur das Auswendiglernen von Repetitionswissen, das dann auch automatisiert abgeprüft werden kann. Der ehemalige Leiter des MIT, Rafael Reif, formulierte im NZZ-Interview (2015): „Die Ausbildung bei uns besteht aus drei Komponenten. Erstens: das Lernen von bestehendem Wissen. Zweitens: das Verbessern von bestehendem Wissen. Drittens: die Anwendung des Wissens, um etwas Neues zu schaffen. Den letzten Punkt nennt man Innovation. Digitales Lernen können wir nur für den ersten Teil nutzen.

Online-Aufträge – verkappte Arbeitsblattitis

Aber wir gewinnen damit mehr Zeit für die beiden anderen Komponenten.“ Punkt Zwei ist das Arbeiten im Seminar oder im Klassenzimmer. Auch hier stellt sich wieder die Frage: Welche Aufgabe, welche Funktion hat Schule? Wer sich nur als Lernbegleiter oder Lerncoach begreift, sorgt dafür, dass Kinder und Jugendliche an ihre Lernstationen gehen und dort ihr Pensum abarbeiten, greift nur ein, wenn etwas nicht funktioniert. Die Metapher dazu ist: Produktion von Wissen wie in einer Fabrik Waren produziert werden; der Nürnberger Trichter in digitaler Version. So funktioniert vielleicht das Bulimie-Lernen, aber daraus werden weder Verstehen noch Persönlichkeitsentwicklung. Fazit: Ich bin überzeugt, dass unsere Gesellschaft besser damit fährt, die Unterrichtsprozesse nicht an Algorithmen zu delegieren.

Es kann aber doch auch durchaus ein Vorteil sein, wenn man es mit der Lehrperson einfach nicht kann?

Schlechte Lehrer sind eine Zumutung

Keine Frage: Schlechte Lehrer sind eine Zumutung. Aber schlechte Lehrkräfte machen auch keinen guten Fernunterricht. In den letzten Jahren ist viel geschehen, damit sich Schülerinnen und Schüler sowie Eltern auch wehren können. Ihre Frage suggeriert, dass neutrale Algorithmen den Unterricht übernehmen können und damit die Qualitätsunterschiede vermieden werden. Wie langweilig wäre Schule, wenn alle Lehrkräfte gleich wären? Manchmal sind auch die, an denen wir uns reiben, besonders wichtig für die eigene Entwicklung. Außerdem: Wir lernen auch von den Lehrkräften, mit denen wir gar nicht zurechtkommen, sehr viel – und sei es nur, wie man mit Menschen auskommt, mit denen man an sich nicht auskommt, aber auskommen muss. Das haben wir in der Familie, in der Klassen oder Nachbarschaft, in der Gemeinde oder am Arbeitsplatz. Wir müssen lernen, mit ganz unterschiedlichen Menschen und Charakteren und selbst mit halben Psychopathen auszukommen, weil es diese überall gibt. Die digitalen Medien sind sicher kein Ausweg.

Für mich ist klar: Wir haben während der Zeit des Homeschoolings Dinge gemacht, die in Bezug auf den Datenschutz illegal sind. Wenn man das alles in Zukunft machen will, soll man die Gesetze ändern. Sie einfach administrativ auszuhöhlen ist eines Rechtsstaats unwürdig.

Datenschutz ist ja auch immer ein Thema im digitalen Unterricht – wo sehen Sie die grössten Probleme? 

Vieles ist absolut illegal

Die größten Probleme sind:

  1. die US-Monopolstrukturen, weil US-Unternehmen auf Anfrage amerikanischer Behörden alle Daten herausgeben müssen (US Cloud Act). US-Recht bricht EU-Recht und jede kantonale Datenbestimmung; es gibt keinen Datenschutz mit US-Unternehmen;
  2. die völlige Intransparenz der Datensammlung und -auswertung, obwohl die Nutzer durch die zurückgespielten Antworten in ihrem Verhalten gesteuert werden;
  3. das lebenslange Speichern der Daten und damit die fehlende Option des Vergessens; gerade für Schülerinnen und Schüler ist es eminent wichtig, dass sie sich, z.B. nach einem Scheitern, „neu erfinden können“ und sie z.B. nach einem Schulwechsel nicht schon vorab durch ein Profil identifiziert werden, sondern sich als Person in neue Sozialstrukturen einfinden können;
  4. die ganzen unterschwelligen Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten, die mit den ganzen Psychotechniken der Benutzerführung (affective Computing, persuasive Technologies usw.) eingesetzt werden. Für diese Systeme ist man keine Person, sondern nur ein zu optimierender Datensatz, der für ein extern vorgegebenes Ziel optimiert wird (Teilziele sind z.B. möglichst lange Bildschirmzeiten, um Werbung schalten zu können, Maximierung des Konsumverhaltens usw.).

Für mich ist klar: Wir haben während der Zeit des Homeschoolings Dinge gemacht, die in Bezug auf den Datenschutz illegal sind. Wenn man das alles in Zukunft machen will, soll man die Gesetze ändern. Sie einfach administrativ auszuhöhlen, ist eines Rechtsstaats unwürdig.

Mit vielen digitalen Anwendungen sind weitgehende Formen der Überwachung möglich – nutzen Sie diese? 

Nein, was für eine Haltung steckt denn hinter dieser Frage? Die Basis für die pädagogische Arbeit ist Vertrauen. Man kann kein Vertrauen entwickeln, keine vertrauensvolle Beziehung und keine Bindung aufbauen, wenn man Lehren und Lernen über Kontrollsysteme organisiert. Man muss sich entscheiden: Arbeitet man als Pädagoge oder als Aufseher?

In den USA werden die öffentlichen Kindergärten und Schulen immer stärker digitalisiert, während die privaten die Computer aus den Klassenzimmern verbannen und Kinder für viel Geld den „Luxus der menschlichen Interaktion“ erleben dürfen, wie der Unterricht durch echte Menschen dort heißt.

Mit den Digitaltechniken ist ohne Probleme ein Benthamsches Panoptikum zu realisieren, die kleinteilige, vollständige Überwachung aller Aktivitäten aller Nutzerinnen und Nutzer. Die Instrumente dafür sind das Speichern in Big Data-Datenbanken und die algorithmisch gesteuerte Auswertung der Persönlichkeiten samt Leistungsfähigkeit, Stärken und Schwächen, eine vollständige psychometrische Vermessung usw. Das ist technisch alles machbar. Das ist die Grundlage für die sogenannte „datengestützte Schulentwicklung“ Der Begriff dafür ist Learning Analytics und bedeutet: digital gesteuerter Unterricht. Wollen wir das? Wer will das? Auch für die eigenen Kinder? (In den USA werden die öffentlichen Kindergärten und Schulen immer stärker digitalisiert, während die privaten die Computer aus den Klassenzimmern verbannen und Kinder für viel Geld den „Luxus der menschlichen Interaktion“ erleben dürfen, wie der Unterricht durch echte Menschen dort heißt; so jedenfalls die NYT).

Sind Sie nie versucht, da etwas mehr rauszuholen? 

Nicht das Messen ist das Ziel

Keine Frage, ich will mich als Lehrer ständig verbessern, aber pädagogisches Arbeiten ist kein wirtschaftlich geprägter  Optimierungsprozess, wie es mit dem „mehr Herausholen“ anklingt, weil man dafür vordefinierte Skalen und Ziele bräuchte wie im Sport. Beim Weitwurf sind 15 Meter mehr als zehn. Wir arbeiten aber mit jungen Menschen, da gibt es dieses „Mehr oder Besser als“ nur bedingt. Das klassische Unterrichten vor dem Siegeszug der empirischen Bildungsforschung hatte denn auch nicht das Messen zum Ziel, sondern das Verstehen und die Persönlichkeitsentwicklung. Das aber lässt sich weder automatisiert prüfen noch generieren, sondern dialogisch erfragen und fördern und entwickeln wie in Platons Akademie.

 

Es gibt das nationale Projekt „Edulog” – Anlauf ab August Zugang/Login zu vereinheitlichen und Schulen/Eltern Last abnehmen. Was halten Sie davon?  

Ich begrüsse alle digitalen Neuerungen, welche die Daten der Schüler respektieren. Und ich bin gespannt, welche Inhalte Edulog anbieten wird. Im Moment wird vor allem von biederen ProMotion-Filmchen „geschwärmt“.

Edulog – ein Versprechen, das eingehalten werden kann?

Das nationale Projekt „Edulog“ ist vermutlich ein typisches IT-Projekt, bei dem ganz am Anfang die Frage steht, wie man alle Aktivitäten der Nutzerinnen und Nutzer personenscharf tracken kann. Ich zitiere exemplarisch aus dem Papier eines Anbieters für Schulsoftware, dass „schulische IT ohne eine Benutzerverwaltung nicht funktionieren kann und damit ohne ein Identity- und Acess-Managment (IAM) keine Fortschritte bei der Digitalisierung im schulischen Bildungsbereich erzielt werden. Eine Vielzahl von relevanten Fragen werden mit einem IAM beantwortet: So kann damit beispielsweise ein altersgerechter Zugang ins schulische WLAN gesteuert, ein auf jede Schülerin, jeden Schüler individueller und zielgenauer Zugang zu Lerninhalten (Zuordnung von Lizenzen, Dokumentation des quantitativen und qualitativen Lernfortschritts, definierte Distributionsmöglichkeiten etc.) geregelt sowie jedwede mit Rollen und Rechten verbundene Freigabe oder der Zugang zu Inhalten, Medien und Internetseiten sichergestellt werden.“ (Univention, Handlungsempfehlungen, S. 7.) Das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was in einem IAM und später der Lernmanagementsoftware (LMS) alles zur Person gespeichert ist und wie der Zugang gesteuert werden kann.

Wenn Sie einen IT-Dienstleister damit beauftragen, IT in Schulen zu etablieren, kommt als erstes so ein Tool zur eindeutigen Identifikation heraus. Damit kann man dann alle Aktivitäten an allen Geräten und übergreifend über alle Anwendungen verfolgen und so ein immer genaueres Profil erstellen.

Das ist bequem: Einmal einloggen und alles steht zur Verfügung, was man machen darf und/oder soll. Aber in diesem Profil steht eben auch, wer man ist und was man gemacht hat und machen darf. Aus pädagogischer Sicht sollte man aber immer nur und ausschließlich die (Schüler-)Daten speichern, die zur Nutzung des Systems absolut notwendig sind, ohne Profil- und Leistungsdaten. Das ist ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Und gehört nicht der Respekt vor der Person und den Rechtsgrundlagen einer demokratischen Gemeinschaft zu den Bildungszielen von Schule und Unterricht?

Die technisch affinen „Digitalisierer“ sind oft viel altmodischer als die als altmodisch diffamierten Digitalisierungskritiker.

Was müsste Ihrer Meinung nach in Sachen Digitalisierung jetzt geschehen?

In die Pädagogik investieren

Wir müssen klar zwischen Produktivitätszuwachs (digitale Möglichkeiten) und pädagogischen Zielen unterscheiden. Dort, wo die Schülerinnen und Schüler besser lernen, repetieren und üben können, soll man die digitalen Medien nutzen. Sonst sollte man vor allem in das Verstehen und das Lernen investieren, will heissen: besserer Unterricht, bessere Lehrerinnen und Lehrer, mehr inhaltliche, didaktische Weiterbildung. Ich hatte mich in den sechs Wochen der Fernschulung intensiv in den digitalen Angeboten umgesehen: technisch verlockend, grafisch teilweise eindrucksvoll, aber pädagogische Steinzeit, Frontalunterricht zum Davonlaufen, null Problemstellungen, komplett rezeptorientiert. Innovativ ist das alles nicht. Die technisch affinen „Digitalisierer“ sind oft viel altmodischer als die als altmodisch diffamierten Digitalisierungskritiker.

 

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