Computer - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 31 Dec 2023 12:54:36 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Computer - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Traf der Loretz (auf) den Wampfler • Nachwehen eines Editorials https://condorcet.ch/2023/12/traf-der-loretz-auf-den-wampfler-nachwehen-eines-editorials/ https://condorcet.ch/2023/12/traf-der-loretz-auf-den-wampfler-nachwehen-eines-editorials/#comments Thu, 28 Dec 2023 16:07:43 +0000 https://condorcet.ch/?p=15551

Vor einigen Wochen gingen in diesem Blog die Wogen hoch, als sich der Präsident des lvb, Philipp Loretz, und der Fachdidaktiker Philippe Wampfler einen Diskurs über den Sinn der Digitalisierung unseres Unterrichts lieferten. Roger von Wartburg fasst ihn zusammen und ordnet ihn ein.

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Das Editorial des «lvb inform» aus der Feder von LVB-Präsident Philipp Loretz trug den Namen «Schulische Digitalisierung bedarf der Reflexion» [1] und rief dazu auf, die stetig anwachsende digitale Vereinnahmung von Schülerinnen und Schülern – mittlerweile bis auf die Unterstufe hinab – kritisch zu hinterfragen und einem pädagogischen Konzept unterzuordnen. In der Folge löste besagtes Editorial kontroverse Debatten im Internet aus. Dieser Artikel liefert hierzu einen kurzen Überblick und bietet Interessierten die Möglichkeit, via QR-Codes die aufschlussreichen Kommentare nachzulesen.

Roger Von Wartburg, Sekundarlehrer, ehemaliger Präsident des lvb: Das lvb-Inform hat Wirkung.

Facebook und Wampfler

Ihren Anfang nahm die Kontroverse in der Facebook-Gruppe «Lehrerinnen und Lehrer Schweiz», die von der früheren LCH-Vizepräsidentin Marion Heidelberger administriert wird und über 6000 Mitglieder zählt. Dort repostete die Administratorin einen Post von Gymnasiallehrer und Fachdidaktiker Philippe Wampfler, in dem dieser verkündete, Schulen müssten einen Unterricht anbieten, der in eine Kultur der Digitalität passe.

Philippe Wampfler ist seit einigen Jahren medial sehr präsent und wird von verschiedenen Zeitungen und anderen Medien gerne als Experte für Bildungsfragen hinzugezogen, nicht zuletzt im Themenkomplex Digitalität. Aber auch zu anderen Fragen äussert sich Wampfler pointiert; so hat er etwa im Jahr 2021 zusammen mit Björn Nölte das Buch «Eine Schule ohne Noten» publiziert, dessen Titel Programm ist.

Loretz wirft ein

Philipp Loretz nahm Philippe Wampflers Äusserung zum Anlass, um einige Kernelemente seines Editorials ins virtuelle Rund zu werfen. Er verwies u.a. auf Befunde, wonach der permanente Einsatz digitaler Werkzeuge zu starker Ablenkung, einer Schwächung der Konzentrationsfähigkeit, einer Behinderung des Arbeitsgedächtnisses und damit zu einer markanten Verschlechterung der Lernleistung führe. Aus diesem Grund votiere er für klare IT-Nutzungsregeln, die sich an der geistigen und körperlichen Unversehrtheit der Schülerinnen und Schülern orientierten. Den Einsatz von iPads bereits in der Basis- und Unterstufe sieht er sehr kritisch.

Philippe Wampfler reagierte umgehend und warf Loretz eine «eigenwillige Auswertung der Studien» vor. Eine Reflexion müsse «mehr sein als eine Ablehnung». Loretz seinerseits antwortete ebenfalls und das Ganze ging munter hin und her – und weckte das Interesse des Bildungs-Blogs www.condorcet.ch, zu dessen Autorenteam Philipp Loretz zählt. Condorcet übernahm die Debatte aus der Facebook-Gruppe auf die eigene Website, was weitere Kommentare hervorrief. [2]

Condorcet und Hoffmann

Das langjährige LVB-Mitglied Felix Hoffmann, seines Zeichens ebenfalls Teil des Condorcet-Autorenteams, sah sich veranlasst, eine Replik auf den Austausch zwischen Wampfler und Loretz [3] zu verfassen, die auf www.condorcet.ch veröffentlicht wurde. Hoffmann ging darin mit Wampfler ins Gericht und warf ihm vor, seine Unterstellungen an Philipp Loretz’ Adresse nicht zu begründen, sondern mit Allgemeinplätzen um sich zu werfen.

«Schreiben, was ist», lautete das Motto von SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein. Diesem Credo fühlt sich auch der LVB seit jeher verpflichtet.

Diese Replik wiederum zog diverse neue Kommentare nach sich – nicht zuletzt von Philippe Wampfler selbst, aber auch von anderer Seite. Frei nach Mani Matter: Da mischte der (virtuelle) Saal sich ein. Wer sich ein Bild davon machen will, ist dazu herzlich eingeladen; die QR-Codes führen Sie an die entsprechenden Stellen.

Dem Diskurs verpflichtet

Das Gelbe Heft lebt!

Eines jedoch wurde einmal mehr eindrücklich unter Beweis gestellt: Artikel aus dem «lvb inform» zeitigen immer wieder Wirkung. Manchmal werden sie in Zeitungen aufgenommen, von Landratsmitgliedern in den politischen Debatten zitiert oder – wie im vorliegenden Fall – im Internet heiss diskutiert.

Wir werden alles dafür tun, dass das auch in Zukunft so bleibt. Indem wir ganz bewusst auch heisse Eisen aufgreifen und die redensartlichen Elefanten im Raum, welche an vielen Orten gerne dauerhaft ausgespart werden, thematisieren. «Schreiben, was ist», lautete das Motto von SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein. Diesem Credo fühlt sich auch der LVB seit jeher verpflichtet.

 

[1] Schulische Digitalisierung bedarf der Reflexion, lvb inform 2023/24-01
https://lvb.ch/2022/wp-content/uploads/2023/10/02_Editorial-Schulische-Digitalisierung-bedarf-der-Reflexion_lvb-inform_23-24-01-1.pdf

[2] Digitalisierung: Wie weit soll sie gehen?
https://condorcet.ch/2023/10/digitalisierung-wie-weit-soll-sie-gehen/

[3] Eine Replik auf den Austausch zwischen Wampfler und Loretz, https://condorcet.ch/2023/10/eine-replik-auf-den-austausch-zwischen-wampfler-und-loretz/

 

 

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Eine kritische Stimme zum radikalen Digital Turn https://condorcet.ch/2023/11/eine-kritische-stimme-zum-radikalen-digital-turn/ https://condorcet.ch/2023/11/eine-kritische-stimme-zum-radikalen-digital-turn/#comments Mon, 20 Nov 2023 13:17:18 +0000 https://condorcet.ch/?p=15331

Die Bildungspolitik kennt zurzeit zwei primäre Stossrichtungen: Ökonomisierung und Digitalisierung. Gleichzeitig drängen EdTech-Konzerne und IT-Unternehmen in die Schule. Sie nehmen Einfluss auf Bildungsgehalte. Eine kluge Studie beleuchtet die Hintergründe und macht Mut fürs Pädagogische. Condorcet-Autor Carl Bossard hat das Buch gelesen.

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Es ist ein kurzer Text, aber ein couragierter – und von gewichtigem Gehalt, die Publikation «Kritik und Verantwortung» von Nils B. Schulz.[1] Da löckt ein erfahrener Gymnasiallehrer und Publizist klug wider den Stachel des Zeitgeistes und des Mainstreams Digital Turn – mit der forcierten Digitalisierung der (Primar-)Schulen und dem Imperativ des «Bring your own device (BYOD): jeder und jede mit dem eigenen Gerät im Schulzimmer, seien es LaptopsTablets oder Smartphones.

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Da erinnert ein engagierter Pädagoge daran, dass der Geist einer lebendigen Schule durchaus auch ein Geist des Widerspruchs ist – und Bildung etwas Antizyklisches in sich trägt: Bildung als «Unverführbarkeit», wie es der Philosoph Hans Blumenberg einmal ausgedrückt hat[2] – ein Diktum von brennender Aktualität in Zeiten von Fake News in digitalen Medien, von Künstlicher Intelligenz KI und vorschneller Identitätspolitik. Der Untertitel von Schulz’ lesenswerten Essays weist daraufhin: «Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik».

 

Aufwachsen in einer Welt aus zweiter Hand

Wir alle spüren: Unser Leben verliert das, was das Erlebnis von Gegenwärtigkeit ausmacht: Körperlichkeit und physische Präsenz. An ihre Stelle tritt eine vermittelte Weltwahrnehmung. Touchscreens und Monitore haben sich zwischen die Welt und uns geschoben. Wir sind fast immer online – nicht nur die Jugendlichen – und fühlen uns laufend aufgefordert, irgendwie auf die Welt zu reagieren, auch wenn das, was wir als Welt bezeichnen, mehr und mehr aus Daten und elektronischen Signalen besteht. Eine virtuelle Welt, eine Parallelwelt.

Die Realität zeigt es: Das Spielen mit dem Smartphone nimmt mittlerweile den ersten Platz unter den Aktivitäten der 6- bis 13-jährigen Kinder ein. Viele Jugendliche verbringen zwischen vier bis acht Stunden täglich im Netz; manche sehen ihre Freundinnen und Kollegen mehr online als analog. Das hat Folgen. Dazu zählen beispielsweise die Internetsucht und eine vermehrte soziale Isolation, die Abnahme von Kreativität und Empathie fürs Gegenüber sowie der Fähigkeit, geduldig auf etwas zu warten und auszuharren. Viele Kinder können kaum mehr vertieft spielen, diagnostizieren Sozialpsychologen, die Aufmerksamkeitsspanne werde spürbar kleiner, die Unselbständigkeit nehme zu.[3]

Das Schulkind als postmoderner Einzeller?

Was heisst es nun, Lehrerin im digitalen Zeitalter zu sein, als Ausbildner zu wirken – in medienphilosophischer wie in pädagogischer Hinsicht? Und was bedeutet es für den Kern der Schule, für das pädagogische Dreieck «Lehrer – Schülerin – Unterrichtsthema», wenn zunehmend Digitaltechniken in den Schulalltag drängen und sich EdTech-Konzerne als Stakeholders im Bildungswesen verstehen?

Das ist die Kernfrage der Studie, und darum untersucht sie auch den didaktischen Newspeak und die technokratische Sprachpolitik im Bildungssystem. Ihr enges ökonomistisches Vokabular, so Schulz, bekommt Unterricht als lebendiges Miteinander-Sein, als gemeinsames Nachdenken kaum mehr in den Blick. Das Gemeinsame und Soziale werden wie ausgeblendet. Im Zusammenspiel mit digitalen Tools entstehen neue Formen des Lehrens und Lernens. Die Gefahr ist gross, dass Kinder zu postmodernen Einzellern werden. Gefragt und gepusht ist das isolierte Lernen in der Atmosphäre eines digitalisierten Grossraum-Schulbüros.

Das Schulzimmer der Zukunft? Einzelboxen? Jeder sein eigener Lerner? Die Sekundarschule Sandgruben Basel (Bild: Roman Weyeneth/Stücheli Architekten AG)

Solche Formen werden heute mit Schulpreisen prämiert. Dagegen wehrt sich Schulz. Nicht jedes Kind ist sein eigener Lerner, wie das heute propagiert wird, nicht jeder Schüler lernt selbstorientiert effizient genug. Es braucht das Soziale und Emotionale, es braucht fürs Mensch-Werden das menschliche Vis-à-Vis. Lernen basiert auf dem direkten Kontakt mit Menschen: Bildung als Erlebnis von gemeinsamer Gegenwärtigkeit. Das zu betonen bedeutet aber nicht, ein Relikt aus Jeremias Gotthelfs Zeiten zu revitalisieren oder die digitalen Möglichkeiten zu eliminieren.

 

Das Nadelöhr des digitalen Weltbezugs

Lernen ist ein dialogisches Geschehen, ein zwischenmenschlicher Austausch. Das zeigt die Lernpsychologie, das belegt die Neurowissenschaft. Darum sind Momente der Präsenz so wichtig, ein vitales Gegenüber – ein physisch spürbares Vis-à-Vis, mit Augenblicken des Nachdenkens im sozialen Miteinander und des gemeinsamen Gedankenaustausches. Das gilt für den Alltag, und das gilt ganz besonders für die Schule, und hier primär für die Volksschule.

Das Erleben einer gemeinsamen Welt im Schulzimmer und darüber hinaus ist dem Autor ein fundamentales Anliegen. «Doch bildschirmvermittelte Unterrichtsthemen erschaffen eben keinen gemeinsamen Resonanzraum», wie Schulz mit Verweis auf den Soziologen Hartmut Rosa hervorhebt.[4] Denn der Bildschirm, so Rosa, werde «zu einer Art Nadelöhr, durch das sich unsere Welterfahrung und Weltaneignung vollzieht, was eine tendenzielle Uniformierung oder Mono-Modularisierung des Weltbezugs zur Folge hat».[5]

Vom Bedeutsamen des (Vor-)Zeigens

Darum sei das Zeigen für die zwischenmenschliche Kommunikation im Unterricht so bedeutsam, betont Schulz. Er beruft sich dabei auf die anthropologischen Forschungen des US-amerikanischen Evolutionsbiologen Michael Tomasello. Doch je mehr das Zeigen durch das Anzeigen digitaler Medien ersetzt werde, desto mehr reduziere sich die Welterfahrung von Kindern und Jugendlichen.

Wie wichtig das Zeigen und damit das Gemeinsame ist, verdeutlich Schulz an einem Bild aus der Zeit der Reformpädagogik. Er will damit aber nicht in die «Kreidezeit» oder ins «Digitale Steinzeitalter» zurückführen.

Der Reformpädagoge und Lehrer Carl Dantz (um 1927)Bild: Fotosammlung Schulmuseum Bremen

«Dies ist unsere Welt»

Es ist die Atmosphäre gemeinsamen Lernens, die den Autor fasziniert, die triadische Situation zwischen einem vital präsenten Lehrenden, den aufmerksamen Lernenden Kindern und einem Lerngegenstand. Und dieser Gegenstand liegt nicht als abstrakte Zeichnung vor; er wird mehrdimensional wahrgenommen. Jedes Kind hat ihn auch in der Hand.

 Damit verbunden ist das Elementare einer jeden Schulbildung: Mit-Verantwortung übernehmen für diese Welt. Und das Gefühl für diese Welt baut sich im «(Da-)Zwischen» auf. «Die Welt liegt zwischen den Menschen», unterstreicht Hannah Arendt 1959, als sie den renommierten «Lessing-​Preis der Freien und Hansestadt Hamburg» verdankt.[6] Gegenüber dem Kind, so Arendt, nehmen Lehrerinnen und Lehrer es gleichsam auf sich, «die Erwachsenen zu repräsentieren, die ihm sagen und im Einzelnen zeigen: Dies ist unsere Welt»[7]. Es geht nicht primär um den Aufbau «eigener Welten», sondern um die Befähigung, an einer gemeinsamen Welt zu partizipieren und darin Sinn zu finden; das ist die pädagogische Funktion der Schule.

 «Im Anderen zu sich selbst kommen»

Schulz‘ Schrift ist ein analytisches Buch, nicht eine Broschüre mit Rezepten. Sie regt zum Nachdenken an und zum Handeln. Das macht seine Gedanken so wertvoll. Es geht um eine Rückbesinnung auf das Eigentliche und Wesentliche von Schule und Unterricht, auf die Bildung zum Menschsein. Das kommt auch in einem aufrüttelnden Text des Schriftstellers Lukas Bärfuss zum Ausdruck; Schulz stellt ihn zu Recht an den Anfang seines Essays. Lehrerinnen und Lehrer sollten sich (wieder) auf eine ihrer wichtigen Aufgabe besinnen: den Kindern und Jugendlichen zu zeigen, «wie das gehen könnte / dieses Spiel / ein Mensch zu werden».[8]

«Im Anderen zu sich selbst kommen» – und dabei eine unverwechselbare Identität gewinnen, wie der Philosoph Georg Friedrich Hegel das Wesen von Bildung bestimmt – im Spiel, ein Mensch zu werden: mit der Mit-Verantwortung für diese Welt.

[1] Nils B. Schulz (2023), Kritik und Verantwortung. Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik. München. Claudius Verlag. 152 Seiten

[2] Hans Blumenberg (1961), «Weltbilder und Weltmodelle», in: Schriften zur Technik. Herausgegeben von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. Suhrkamp, 2015, S. 126-137, hier: S. 136.

[3] Vgl. Jonathan Haidt (2023), Handys raus aus der Schule!, in: Schweizer Monat. Die Autorenzeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur. Ausgabe 1111/9, November 2023, S. 10ff.

[4] Schulz (2023), S. 39.

[5] Hartmut Rosa (2016), Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 157.

[6] Hannah Arendt (2019), Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, in: Dies. (2019), Menschen in finsteren Zeiten. 5. Aufl. Hrsg. von Ursula Ludz. München: Piper Verlag, S. 12.

[7] Schulz (2023), S. 30.

[8] Ebda., S. 5 und 122. Der Text ist publiziert in: Lukas Bärfuss (2018), Ode an die Lehrer, in: Stil

und Moral. Essays. München: btb Verlag, S. 152ff.

 

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Die Schule als Turing-Test-Anstalt https://condorcet.ch/2023/03/die-schule-als-turing-test-anstalt/ https://condorcet.ch/2023/03/die-schule-als-turing-test-anstalt/#comments Sat, 11 Mar 2023 08:31:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=13391

Was kann der Computer? Was kann der Mensch? In Zeiten der ChatGTP und KI fordern diese Fragen vor allem das Bildungssystem heraus. Laut Physiker und Philosoph Eduard Käser droht das gegenseitige Vertrauen von Lehrer und Schüler zu erodieren.

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Eduard Käser, Physiker, Philosoh und Jazzmusiker: Die Liebe zur Sprache wiederentdecken.

KI-Systeme imitieren unsere kognitiven Fähigkeiten immer besser. Und je besser sie das tun, desto deutlicher rückt ein Unterschied in den Fokus, den man aus der Linguistik kennt: zwischen Kompetenz und Performanz. Ich kann zum Beispiel einige Sätze Italienisch sprechen. Diese Performanz ist natürlich kein Beleg für meine Italienisch-Kompetenz. Eher lässt sich sagen: I’m faking it, not making it. Und das scheint mir auch eine treffende Kurzcharakterisierung der Künstlichen Intelligenz (KI) zu sein.

I’m faking it, not making it.

KI-Systeme demonstrieren schon heute eine eindrückliche Performanz. Jüngst der Textgenerator ChatGPT von OpenAI. Auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Kompetenz und Performanz «antwortet» er: Kompetenz ist das Vermögen, etwas erfolgreich zu tun, während Performanz die aktuelle Demonstration dieses Vermögens ist.

Man prüft nicht den Schüler, sondern den Hybrid.

Bündiger kann man das nicht formulieren. Aber was für ein Vermögen demonstriert denn eigentlich der Textgenerator? Schreibt ChatGPT wirklich? Liegt seine Kompetenz nicht schlicht darin, aus einer Bitfolge mittels eines Transformer-Algorithmus eine neue Bitfolge zu generieren? Na und? Nenne man das nun «schrei­ben» oder auch nicht. Wenn man die «intelligente» Maschinenleistung – Problemlösen – auf vielen Gebieten nicht mehr von der menschlichen Leistung unterscheiden kann, weshalb dann nicht die Gänsefüsschen bei «intelligent» streichen?

Man schreibt der Maschine ein Vermögen zu, das sich aus einer Schwäche des Menschen ableitet.

Mit solchen Fragen stecken wir mitten in einem dornigen Problemnest. Es ist so alt wie die KI selbst. Einer ihrer theoretischen Pioniere, der Mathematiker Alan Turing, stellte vor gut 70 Jahren die Frage: Können Maschinen denken? Turing gab keine direkte Antwort, sondern schlug ein sogenanntes Imitationsspiel vor, in dem eine Jury prüft, ob die Maschine den Menschen so imitieren kann, dass dieser zur Überzeugung gelangt, sie denke. Je weniger dies dem Menschen gelingt, als umso intelligenter kann man die Maschine betrachten. Der definitorische Trick ist offensichtlich: Man schreibt der Maschine ein Vermögen zu, das sich aus einer Schwäche des Menschen ableitet: seiner Neigung, gefoppt zu werden.

Kernauftrag durch Informationstechnologie herausgefordert

Seither investieren Computerwissenschaftler, Kognitionsforscher und Philosophen eine Menge Hirnschmalz in die Aufgabe, den Output künstlicher Hirne zu «entlarven». Und vermehrt sehen Lehrerinnen und Lehrer ihren Kernauftrag durch die Imitationstechnologie herausgefordert. Wir befinden uns auf der Schwelle zu einer neuen technischen Ära. Die KI-Systeme sind nicht mehr bloss Werkzeuge. Schüler und Studenten sollen Kompetenzen lernen. Nun begleiten sie ständig lernende Artefakte, die vielleicht sogar gelehriger sind als Menschen. Sie «emanzipieren» sich vom Hilfsmittel zum künstlichen Schüler. Sie wollen «erzogen» werden. Das heisst, Grundeinheit des Unterrichtens ist heute Schüler-plus-Chatbot – ein Hybrid aus Mensch und Maschine. Man prüft nicht den Schüler, sondern dieses Hybrid. Einen Aufsatz schreiben? Einen Roman zusammenfassen? Einen Text auf logische Stringenz überprüfen? «There’s an app for that»..

In der ganzen Entwicklung liegt eine tiefe Ironie.

Das hat Folgen, die man noch kaum bedenkt, bedenken kann. In der ganzen Entwicklung liegt eine tiefe Ironie. Mittel- und Hochschulen feierten die digitalen Medien als Initiatoren für selbstgesteuertes Arbeiten. Nun stellt sich die Frage: Wer oder was ist dieses Selbst? Prüfungs-, Matura-, Seminar-, Masterarbeiten – von wem stammt der geschriebene Text, vom Schüler oder vom ChatGPT? Wem attestieren wir welche Kompetenzen? Wie unterscheiden und verteilen wir sie? Fragen, die wohl über kurz oder lang zum Standard des Unterrichts gehören dürften. Die Schule mutiert von der Lehranstalt zur Turing-Test-Anstalt.

Es droht ein digitales Katz- und Maus-Spiel

Wie immer gibt es die vorschnelle technische Lösung. Schon arbeitet OpenAI an Test-Programmen, die in den ausgegebenen Wortfolgen von ChatGPT heimliche statistische Muster und andere Indizien ihrer Künstlichkeit entdecken. Ein Programm zur «Entlarvung» von Programmen. Inwieweit ist darauf Verlass? Die Testläufe zeigen mässigen Erfolg.[1] Ein nicht unwahrscheinliches Szenario zeichnet sich ab: Der Schüler rüstet sich mit immer raffinierterer Schreib-Software aus, der Lehrer mit entsprechend ausgeklügelter Entlarvungs-Software. Eine digitale Katz-und-Maus-Schleife, in dem nicht unbedingt der Lehrer obenaus schwingen wird. Bis er sich die fatale Frage stellt, ob es sich überhaupt noch lohne, Schreiben zu unterrichten.

Erodiert der vitale Boden des Unterrichtens?

Nun war die Schule ja schon immer das Übungsfeld von Schummelei. Zum herkömmlichen Verdachtsmoment des Plagiats tritt jetzt das neue der technischen Imitation hinzu. Und damit erodiert der vitale Boden des Unterrichtens: das gegenseitige Vertrauen von Lehrer und Schüler. «Ein Rückgriff auf konventionelle Arbeits- und Prüfungsformen scheint derzeit die einzige Möglichkeit zu sein», schreibt der Deutschlehrer Andreas Pfister kürzlich: «Dazu gehören die 45-Minuten-Prüfung, der 90-Minuten-Aufsatz, die Mündlichprüfung. Denn wer möchte Schülerarbeiten mit dem grundsätzlichen Misstrauen begegnen, es habe ein Co-Autor mitgeschrieben?» [2]

Den Blick auf die menschlichen Kompetenzen neu kalibrieren

Es gibt eine optimistischere Perspektive. Sie lässt sich zusammenfassen mit dem Motto «Wiederentdeckung verdrängter Selbstverständlichkeiten». Wozu ist Sprache da? Welche Kompetenzen fördert man mit ihr eigentlich? Das heisst, wir sollten unsere Aufmerksamkeit von der Maschine lösen und sie auf den Menschen richten. Gerade weil die Maschine so gut menschliche Kompetenzen performen kann, hält sie uns an, den Blick auf unsere Kompetenzen neu zu kalibrieren. Was ist daran das genuin Menschliche? Eigentlich sollten wir dem Computer danken dafür, dass er uns die Möglichkeit verschafft, eine solche Frage zu stellen; unser Können in der «Kommunikation» mit der Maschine wieder kennen zu lernen oder vielleicht erst zu entdecken.

Neue Aussichten auf die Bildung eröffnen sich. Der ChatGPT bietet sich geradezu als ein massgefertigtes Tool an. Aber nicht im Sinn von «Text auf Knopfdruck». Vielmehr andersrum: Das Leichte ins Schwierige verkehren. Das Leichte ist das Generieren eines Textes. Das kann ausserhalb des Unterrichtens stattfinden. Der Schüler eignet sich individuell sein Wissen und seine Kompetenzen an, mit welcher KI-Technologie auch immer. Aber was er abliefert, ist nichts Endgültiges, sondern Ausgangsmaterial, anhand dessen er nun seine Kompetenzen «coram publico» vorzuführen hat: im realen Gespräch mit dem Lehrer und den anderen Schülern, von Angesicht zu Angesicht. Das ist das Schwierige.

Trivialitäten gewinnen im Rahmen eines massiv technisierten Unterrichts an pädagogischem Gewicht.

Die verdrängte Selbstverständlichkeit, die hier zum Vorschein kommt, lautet: Schreiben ist mehr als Textgenerieren – Schreiben ist ein Handwerk. Es verlangt das Erlernen und Einüben von Routinen; Geduld, Disziplin und Liebe im Umgang mit der Sprache; das vertiefte Studium eines Themas; das Einschätzen von Behauptungen; das Zusammenfügen von Wissensgebieten; den Ausdruck von Ideen in klarer, kohärenter Sprache. Daraus entwickelt sich im besten Fall eine innere Bindung an den Text. Das klingt trivial, aber genau solche Trivialitäten gewinnen im Rahmen eines massiv technisierten Unterrichts an pädagogischem Gewicht. Der Philosoph Odo Marquard hat vom «Homo compensator» gesprochen. Der «ausgleichende» Mensch, der in all dem, was heute die Maschinen für ihn tun, sich selber, seine eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen wiederentdeckt und neu bewertet. Und die Schule definiert sich als Ort dieses Ausgleichens.

Wohin geht der Homo sapiens?

Wir treten ein in eine neue Runde der Selbstbegegnung. Was kann der Computer, was kann der Mensch? Diese Unterscheidungsfrage wird zu einer vordringlichen Bildungsaufgabe. Und sie hechelt der Technologie hinterher.

[1] https://www.nzz.ch/wissenschaft/chat-gpt-erfinder-praesentieren-eine-programm-das-erkennen-soll-ob-texte-von-maschinen-geschrieben-wurden-ld.1724050

[2]  https://www.nzz.ch/meinung/chatgpt-wird-das-bildungswesen-auf-eine-harte-probe-stellen-ld.1721909

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https://condorcet.ch/2023/03/die-schule-als-turing-test-anstalt/feed/ 2
Warum von Hand schreiben die Kinder gescheiter macht https://condorcet.ch/2020/12/warum-von-hand-schreiben-die-kinder-gescheiter-macht/ https://condorcet.ch/2020/12/warum-von-hand-schreiben-die-kinder-gescheiter-macht/#respond Tue, 01 Dec 2020 17:18:26 +0000 https://condorcet.ch/?p=7092

Neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung zeigen, dass Kinder, welche von Hand schreiben, mehr lernen und das Gelernte besser speichern können. Gleichzeitig setzen wir in der Schule mehr und mehr auf digitalen Unterricht, welcher das Schreiben von Hand verdrängt. Ein Beitrag von Condorcet-Autor Urs Kalberer.

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Urs Kalberer, Sekundarlehrer: Erklärt noch einmal seine Skepsis

Ergebnisse mehrerer Studien haben gezeigt, dass sowohl Kinder als auch Erwachsene beim Schreiben von Hand mehr lernen und sich besser daran erinnern.

Jetzt bestätigt eine aktuelle Studie diese Befunde. Audrey van der Meer von der norwegischen technisch-naturwissenschaftlichen Universität in Trondheim (NTNU) veröffentlichte eine Arbeit, bei der sie die Gehirnaktivität bei zwölf jungen Erwachsenen und zwölf Kindern untersuchte. Dies ist das erste Mal, dass Kinder an einer solchen Studie teilnahmen.

Die Ergebnisse zeigen, dass das Gehirn sowohl bei jungen Erwachsenen als auch bei Kindern beim Schreiben von Hand viel aktiver ist als beim Tippen auf einer Tastatur. «Die Verwendung von Stift und Papier gibt dem Gehirn mehr ‘Haken’, an denen sie ihre Erinnerungen festhalten können», sagt van der Meer. Das Schreiben von Hand ist sehr sinnlich: Wir halten den Stift in den Händen, bewegen diese, riechen die Tinte, sehen wie sich ein Wort auf dem Papier bildet und hören, wie der Stift übers Papier gleitet. Dieser ganze Prozess öffnet unser Gehirn und macht den Schreibprozess nachhaltiger, weil verschiedenste Areale des Gehirns aktiviert werden.

Mal abgesehen von der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit eines handgeschriebenen Texts, geht es beim Schreiben auch ums Lernen und Memorieren.

Audrey van der Meer: «Handschrift braucht mehr Zeit und ist anstrengender, aber es ist wichtig, dass die Kinder da durchgehen.» Photo: NTNU / Microsoft

Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass die Handschrift Qualitäten besitzt, welche von der Tastatur nicht erreicht werden. Mal abgesehen von der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit eines handgeschriebenen Texts, geht es beim Schreiben auch ums Lernen und Memorieren. Studien zeigen, dass Studenten, die in der Vorlesung ein handschriftliches Skript verfassen, den Inhalt der Veranstaltung besser behalten als diejenigen, die mit ihrem Laptop arbeiten.

Van der Meer befürchtet, dass wir die Fähigkeit, von Hand zu schreiben verlieren könnten. Die heutige digitale Realität ist, dass Tippen, Wischen und Bildschirmzeit einen grossen Teil des Alltags von Kindern und Jugendlichen ausmacht.

In der Schweiz besitzen 99 Prozent der 12 – 19 Jährigen ein eigenes Handy, welches sie wochentags während 2,5 Stunden und am Wochenende während 3 Stunden nutzen. Dazu besitzen 73 Prozent noch einen eigenen Computer/Laptop. (Zahlen: James-Studie, 2018). Zu diesen beiden hohen Werten kommt nun zusätzlich ein steigender Anteil von Bildschirmzeit an den Schulen.

Abschreckende Kulturtechniken wie die Handschrift werden auf das vordergründig Funktionale reduziert.

Weniger Frust mit Tastaturschreiben?

Tippen und klicken nimmt immer mehr Zeit der Kinder und Jugendlichen in Anspruch, Bild: NTNU/Microsoft

Der Lehrplan 21 sieht bereits im 1. Zyklus (Kindergarten bis 2. Primar) vor, dass die Kinder «mit den grundlegenden Elementen der Bedienungsoberfläche eines Textprogramms umgehen» können. In der Debatte über Handschrift oder Tastaturgebrauch in der Schule glauben einige Lehrer, dass Tastaturen weniger Frustration für Kinder verursachen. Sie weisen darauf hin, dass Kinder längere Texte früher schreiben könnten und grundsätzlich motivierter zum Schreiben seien. Ausserdem sei das Schreiben mit Tastatur weniger ermüdend. Demgegenüber betont van der Meer die Wichtigkeit, dass Kinder die anstrengende Phase des Lernens von Hand durchlaufen. Die komplizierten Handbewegungen und die Formgebung von Buchstaben seien in mehrfacher Hinsicht von Vorteil. Und der Philosoph Liessmann doppelt nach: Abschreckende Kulturtechniken wie die Handschrift würden auf das vordergründig Funktionale reduziert. Dies werde erkauft mit dem Verzicht auf die Möglichkeit, souverän über unterschiedliche Techniken des Erzeugens und Lesens von Texten zu verfügen. Für die Schule kann dies nur heissen: Stärkung der Handschrift in der Primarschule und vermehrter Einsatz der Schreibtastatur erst ab der Sekundarstufe.

 

Urs Kalberer, 25. November 2020

Quellen:

Eva Ose Askvik, F. R. (Ruud) van der Weel, Audrey L. H. van der Meer. The Importance of Cursive Handwriting Over Typewriting for Learning in the Classroom: A High-Density EEG Study of 12-Year-Old Children and Young AdultsFrontiers in Psychology, 2020; 11 DOI: 10.3389/fpsyg.2020.01810

https://www.zhaw.ch/storage/psychologie/upload/forschung/medienpsychologie/james/2018/Ergebnisbericht_JAMES_2018.pdf

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https://condorcet.ch/2020/12/warum-von-hand-schreiben-die-kinder-gescheiter-macht/feed/ 0
Dialogisches vor Digitalem! https://condorcet.ch/2020/05/dialogisches-vor-digitalem/ https://condorcet.ch/2020/05/dialogisches-vor-digitalem/#respond Thu, 07 May 2020 16:07:48 +0000 https://condorcet.ch/?p=4876

Digitales Lernen erweist sich in der Corona-Quarantäne als wichtiges Werkzeug. Manche wollen es nun ins Zentrum des Schulalltags rücken. Gefordert wird Lernen 4.0. Was dabei nicht vergessen gehen darf, darauf verweist Condorcet Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard: Wirkwerte sind minim.

Wer in diesen Tagen mit jungen Menschen digital unterwegs ist, wer Fernunterricht praktiziert und mit Lernenden in virtuellen Räumen kommuniziert, der staunt über die technischen Zaubereien. Die digitale Vielfalt fasziniert. Beim Zoom-Meeting Arbeitsaufträge erteilen, die Teilnehmer in Gruppen schicken, mit ihnen chatten, ihnen Bilder zeigen und die Folien erklären und darüber diskutieren – das alles kann man, und vieles mehr. Verführerisch leicht kommt es daher. Doch wirkt das alles auch? Und was bewirkt der Unterricht aus dem Homeoffice? Das beschäftigte den Autor dieser Zeilen nach jeder Digitalsequenz.

Wie steht es um digitale Lerneffekte?

„What works best in school?“ Diese Frage steht für den renommierten empirischen Bildungsforscher John Hattie im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Er stellte sie auch für das virtuelle Klassenzimmer. Bringt die Digitalisierung des Unterrichts einen pädagogischen Mehrwert? Und wie wirkt sich das E-Learning auf die Lerneffekte aus?

John Hattie: „What works best in school?“

Die Frage ist bedeutsam, weil der Ruf nach der digitalen Schule laut und apodiktisch erschallt, ganz so als könnten alte (Lern-)Probleme mit neuen Medien neu oder überhaupt erst gelöst werden. So mindestens lauten die Versprechen der IT-Industrie, die mit enormen Investitionen in die Bildung drängt und sich auf einen milliardenschweren Zukunftsmarkt vorbereitet. Der Kampf ist längst lanciert.

Empirischen Daten dämpfen die IT-Euphorie

Die Technik revolutioniere das Lernen, heisst es fast mantramässig. Von den konkreten Lerneffekten des digitalen Unterrichts aber hört man wenig. Man muss in nüchterne wissenschaftliche Studien eintauchen; hier zeigt sich ihr wirklicher Wert. Doch die empirischen Daten dämpfen die Euphorie. Das „Webbasierte Lernen“ beispielsweise, die individuelle Arbeit mit dem Internet und dem propagierten selbstwirksamen Lernen, erhält bei John Hattie eine sehr geringe Effektstärke.[1]

Auch die sogenannte „Programmierte Instruktion“ hält nicht, was sie verspricht.

Das Gleiche gilt für das Online-Lernen, für die Laptop-Einzelnutzung oder für den Einsatz von Powerpoint. Ihre Wirkwerte sind minim; sie tendieren gegen null. Dem digitalisierten Fernunterricht geht es nicht besser. Auch die sogenannte „Programmierte Instruktion“ hält nicht, was sie verspricht. Den angepriesenen Potenzialen hinkt sie weit hinterher. Bessere Resultate erzielen die Computerunterstützung im Unterricht und interaktive Lernvideos.

Die OECD als fleissiger Bildungsmodernisierer musste einräumen, dass Schulen mit wachsenden Investitionen in ihre digitale Infrastruktur eher schlechter wurden.

Ernüchternde Befunde der technikaffinen OECD

Steve Jobs: Schickte seine Kinder in die Waldorf-Schule

Diese Befunde decken sich mit der Aussage von Andreas Schleicher, dem OECD-Bildungsdirektor. Er stellte schon vor länger Zeit ernüchtert fest: „Wo Computer in Klassenzimmern genutzt werden, sind ihre Auswirkungen auf die Leistung von Schülern bestenfalls gemischt.“ Die OECD als fleissiger Bildungsmodernisierer musste einräumen, dass Schulen mit wachsenden Investitionen in ihre digitale Infrastruktur eher schlechter wurden.[2] Die Realität bleibt hinter den Versprechen der Technologie zurück. So kam die amerikanische Westpoint Academy zum Ergebnis, dass Studenten ohne Laptop und Tablet um zwanzig Prozent bessere Leistungen erzielen.[3]

Es ist wohl kein Zufall, dass der ehemalige Apple-CEO Steve Jobs und der Microsoft-Gründer Bill Gates ihre Kinder in digitalfreie Waldorf-Schulen schickten. Sie sind auffallend ‚low-tech‘ ausgerüstet und arbeiten noch mit Kreidetafel und Bleistift.

Nicht selten bleibt die Digitalisierung auf einer Ersatzebene für bisherige Medien stecken: Der PC als Lexikonersatz, das Tablet als Arbeitsblattersatz, das Smartboard als Tafelersatz.

Vorzüge von Computern und Tablets im Unterricht (noch) nicht belegt

Warum erzielt die Digitalisierung keinen grösseren Effektwert auf die schulischen Leistungen der Lernenden? Das Aufrüsten der Schulen mit Computern, Tablets und Smartphones allein revolutioniert Lernen nicht.[4] Programme, die in die Schulklassen kommen, sind häufig überfrachtet – akustisch wie optisch. Das Blinken hier und Ploppen dort führt zu einem „cognitive overload“ und damit zu einer Überlastung des Arbeitsgedächtnisses. Nicht selten bleibt die Digitalisierung auf einer Ersatzebene für bisherige Medien stecken: Der PC als Lexikonersatz, das Tablet als Arbeitsblattersatz, das Smartboard als Tafelersatz. Die neuen Medien bleiben Informationsträger.

Kinder brauchen ein inspirierendes und korrigierendes und damit vital präsentes Gegenüber.

Kognitive Prozesse anregen und damit nachhaltige und positive Effekte auf das Lernen ausüben – das bleibt das Ziel. Das ist anspruchsvoll. Auch beim Programmieren von Programmen. Entscheidend ist und bleibt neben dem systematischen Wissens- und Könnensaufbau das konstruktive persönliche Feedback. Darum brauchen die meisten Lernenden auch beim raffiniertesten Digitalprogramm und bei der modernsten Technik ein analoges Du – ein inspirierendes und korrigierendes und damit vital präsentes Gegenüber.

Lernen bleibt Arbeit und ist anstrengend

Und dieses spürbare Vis-à-Vis muss den Schülerinnen und Schülern eines klar machen: Denk- und Lernprozesse sind für den Einzelnen selten etwas Leichtes. Das suggerieren nur gewisse Technikkonzerne und zeittrendige Bildungsexperten. Lernen ist immer anstrengend. Wer lernt, muss an seine Grenzen gehen und sie überwinden. Das gehört zu den menschlichen Konstanten. Seit Generationen!

Aus der Lernforschung wissen wir: Jugendliche und junge Menschen brauchen fürs Lernen klare Ziele. Sie benötigen strukturierte Lernumgebungen, Phasen des bewussten und gezielten Übens. Sie sind zudem auf ein regelmässiges und sprachlich differenziertes Feedback angewiesen sowie auf eine intensive und positive Lehrer-Schüler-Beziehung. Das alles erzielt hohe Effektwerte, aber es tönt banal. Darum geht es in der digitalen Welt vielfach vergessen.

Der Ort schulischer Bildung ist die Interaktion zwischen Menschen

E-Learning ergänzt den Unterricht; doch E-Learning revolutioniert das Lernen nicht, wie viele IT-Protagonisten behaupten. Die empirischen Daten sprechen eine andere Sprache. Vermutlich waren gute und pädagogisch engagierte Lehrpersonen darum nicht perfekt auf den ruckartig erfolgten Wechsel vom analogen Unterricht ins virtuelle Klassenzimmer vorbereitet. Als Praktiker stehen sie den hehren Heilsversprechen der Digitalkonzerne und der Bertelsmann-Stiftung schon länger skeptisch gegenüber.

Dazu wissen sie anerkannte Bildungsforscher wie John Hattie, Andreas Helmke[5] oder Klaus Zierer auf ihrer Seite: Nach ihnen gehen Lerneffekte von Lehrpersonen und ihrem Unterricht aus. Der Ort schulischer Bildung ist eben nie die Struktur allein, nie die Methode allein und auch nie das (digitale) Medium allein. Der Ort schulischer Bildung ist die Interaktion zwischen Menschen. Dieses „Dazwischen“ macht das Konstitutive des Unterrichts aus. Und dieses Dazwischen droht im Moment vergessen zu gehen: Es fehlt die zwischenmenschliche Energie, es fehlt das Augenzwinkernde und Spontane, es fehlt das Pulsierende des Klassenraums. Es ist das Dialogisch-Sokratische. Genau das vermisst der Autor im einsamen Homeoffice.

 

[1] Vgl. Zierer Klaus (2018), Lernen 4.0. Pädagogik vor Technik. Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 49.

[2] In: OECD (2015), Students, Computers and Learning: Making the Connection, PISA. Paris: OECD Publishing, S. 3f.

[3] Thomas Thiel, Lernen im Chatroom, in: FAZ, 13.10.2018.

[4] John Hattie & Klaus Zierer (2017), Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 65.

[5] Andreas Helmke (2015). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. Seelze-Velber: Klett Kallmeyer.

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Bildung 4.0 – über die Reduktion auf das Zweidimensionale https://condorcet.ch/2019/05/digitalisierung/ https://condorcet.ch/2019/05/digitalisierung/#respond Wed, 01 May 2019 22:41:29 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=835

Politik, Industrie und Verwaltung fordern, Kindergärten und Schulen mit allerlei digitalen Wunderwaffen zu überhäufen. Christine Staehelin, Primarlehrerin in Basel-Stadt, erhebt Einspruch,

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Industrie 4.0, Arbeit 4.0 und Gesellschaft 4.0: Die Digitalisierung breitet sich zunehmend in alle Lebensbereiche aus. Obwohl sich deren Auswirkungen erst im Nachhinein feststellen lassen werden, soll die Schule nun auf diese Industrie-, Arbeits- und Gesellschaftsveränderungen vorbereiten. Die so genannte Bildung 4.0 steht im Raum – ein neuer Bildungsbegriff ist geschaffen. Doch was ist damit eigentlich gemeint?

Es bleibt offenbar keine Zeit, darüber nachzudenken. Denn wenn man die aktuellen Entwicklungen an den Schulen beobachtet, scheinen jene, welche diese vorantreiben, schon genau zu wissen, was Bildung 4.0 ist und wie man diese vortrefflich umsetzt: Auf die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche glaubt man sich an den Schulen am besten unmittelbar mit einer immer intensiveren und vielfältigeren Nutzung digitaler Geräte und Lehrmittel vorbereiten zu müssen. Und da man davon ausgeht, dass die Nutzung digitaler Medien auch Gefahren mit sich bringt – wobei der übermässige Gebrauch an sich schon eine darstellt –, soll die Schule auch gleichzeitig vermitteln, wie man sich, auch in der Freizeit, dagegen schützt. Das nennt man heute Medienkompetenz.

Doch treten heute nach einer von zunehmendem digitalem Medienkonsum geprägten Kleinkind- und Vorschulzeit teilweise Kinder in den Kindergarten ein und verstehen nicht, wovon eine erzählte Geschichte handelt. Es fehlt ihnen an Imagination. Mangelndes Vorstellungsvermögen und mangelnde Anstrengungsbereitschaft führen dazu, dass sie nicht mehr in der Welt des Spielens und des konkreten Tuns versinken können. Geprägt von digitalen Bildern, die allein als glänzende Oberflächen erscheinen, können sie den Bezug zur realen Welt nicht mehr herstellen. Mit dem Schulbeginn lernen sie, Buchstaben zu Wörtern zu verbinden und diese auch zu erlesen. Doch der Sinn hinter vielen Wörtern, Sätzen und Texten erschliesst sich ihnen nicht, da ihnen ein Erinnern und die entsprechende Imagination fehlen. Und Ziffern bleiben Ziffern, dass sich dahinter konkrete Mengen und Ordnungen verbergen, wird ihnen nicht ersichtlich.

Wenn sich die Welt nur zweidimensional zeigt, dann geht dabei jener Raum verloren, der es erlaubt, sich selbst dazu in eine Beziehung zu setzen, sich von der Welt an sich berühren und beeindrucken zu lassen. Ein Ort, wo es darum geht, verstehen zu wollen, zu denken und nachzudenken, zu fragen und zu hinterfragen, sich von Problemen und Widersprüchlichkeiten herausfordern zu lassen und manchmal auch zu verzweifeln, weil es Dinge gibt, die sich nicht so einfach erschliessen lassen. Das ist anstrengender als jeder Klick. Es führt aber dazu, dass die Lernenden sich die Welt in einer Form aneignen, die sie zu einem Teil ihres Selbst werden zu lassen.

An den Schulen war es bis anhin die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer, diese Weltzugänge zu ermöglichen, indem sie sich Gedanken darüber machten, wie die Zugänglichkeit über Anschauung, Auswahl, Reduktion und Anschlussmöglichkeiten an bereits Gelerntes geschaffen werden kann. Das bedeutet, dass sie einerseits selbst über das entsprechende Wissen verfügen müssen und andererseits aber auch ihre Begeisterung und Leidenschaft für die Welt teilen und weitergeben sowie Horizonte eröffnen wollen. Ansonsten bleibt das Wissen, auch wenn es noch so gut «aufbereitet» ist, leblos. Wissensvermittlung über digitale Medien geschieht in einer Form, die keine offenen Anschluss- und Bearbeitungsmöglichkeiten bietet, wie dies im personalen Austausch und in der Begegnung mit dem Gegenstand an sich noch möglich ist. Gesteuert, vermessen und kontrolliert wird das Lernen über die Software. Der Lehrerin bleibt es einzig und allein vorbehalten, als so genannter Coach bei der Lösung von Aufgaben behilflich zu sein. Das raubt der Lehrerin ihren Ort, weil zwischen der digital aufbereiteten Welt und den Lernenden kein gestaltbarer Raum mehr besteht.

Die Schule bietet nicht nur den Raum für Weltzugänge, sondern auch jenen für Begegnungen unter Menschen. Sie ist der Ort, an welchem Schülerinnen und Schüler aufeinandertreffen, die sich zuvor nicht gekannt und die jene Gruppe, die sie nun bilden, auch nicht gewählt haben. Sie nehmen wahr, dass es die Anderen gibt, die sich unterscheiden, die unterschiedlich reden, handeln und urteilen und eigene Perspektiven einbringen. Wenn Kinder in die Schule eintreten, ist dies ein Schritt hinein in eine halböffentliche Sphäre, die sich klar von jener der familiären unterscheidet. Hier lernen sie verschiedene Gegenüber kennen, die mit ihnen nicht privat, sondern allenfalls freundschaftlich, möglicherweise aber auch gar nicht verbunden sind. Die Schule bietet jenen Raum, in welchem sich das Zusammenleben bestens erlernen lässt; wo man sich einigen oder im Dissens verharren lernt, wo man sich begegnet und wieder auseinandergeht, ohne sich zu nahe zu treten. Wenn man jedoch unter Lernen an der Schule nur noch ein individuell angepasstes Aufgabenlösen am Bildschirm versteht, dann führt dies zu einer totalen Vereinzelung. Es bleibt allein der Selbstbezug, dagegen hilft auch das gemeinsame Lösen von digital gestellten Problemen nichts.

Heute muss sich die Schule der Frage stellen, ob sie ein Ort sein will, an welchem die Reduktion der Welt auf die Oberfläche des digitalen Mediums und eine drohende Vereinnahmung durch die Digitalisierung selbst stattfindet; dann macht sie die Lehrerinnen und Lehrer, das Lernen im Kollektiv und schliesslich sich selbst längerfristig überflüssig.

Oder sie versucht weiterhin, unmittelbare Weltzugänge zu schaffen und unter dem Lernen eine personale Angelegenheit zwischen Lernenden und Lehrenden bzw. Lernenden und der Welt sowie den Lernenden untereinander zu verstehen. Dies kann sie nur leisten, wenn sie dafür einen Raum bietet, in welchem die Aneignung von Welt in vielfältiger Weise – verbunden ­mit Anstrengung, Imagination und Reflexion – stattfinden kann. Damit schafft sie auch einen Raum für Neues, Unvorhergesehenes, welches die Schülerinnen und Schüler einbringen.

Wenn aufgrund der Digitalisierung aller Lebensbereiche die Unterscheidung zwischen der realen und der virtuellen Welt verschwindet; wenn sich kein Raum mehr zeigt zwischen dem Menschen an sich und der Welt, wie sie ihm erscheint, und zwischen den Menschen, weil sie sich als Verschiedene begegnen, dann stellt sich die Frage, wo die Gestaltungsräume bleiben, in welchen wir uns der Freiheit vergewissern können, weder vom Weltgeschehen an sich noch von Herrschenden vollständig bestimmt zu werden.

Wenn die Schule in erster Linie auf das Lernen mittels digitalisierter Medien setzt, dann schafft sie sich als öffentliche Institution längerfristig selbst ab. Oder sie setzt digitale Medien altersgemäss und je nach Bedarf dort ein, wo es didaktisch angebracht ist, und bleibt ansonsten ein Ort, wo die realen Begegnungen mit der Welt und den Anderen im Zentrum stehen und der dreidimensionale Raum die Möglichkeiten offenlässt, um zu lernen, zu verstehen, zu gestalten und Neues entstehen zu lassen. Denn wenn man die Kinder auf etwas Neues vorbereitet, «schlägt man den Neuankömmlingen ihre eigene Chance des Neuen aus der Hand“, wie Hannah Arendt[1] schon vor Jahrzehnten anmerkte.

 

Christine Stähelin, Primarlehrerin, Basel-Stadt

 

[1] Arendt, H. (1994). Zwischen Vergangenheit und Zukunft. München: Piper, S. 258

 

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