Coach - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 18 Sep 2022 20:31:29 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Coach - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Lehrermangel als Quittung für übersteigerte gesellschaftliche Erwartungen an die Volksschule https://condorcet.ch/2022/09/lehrermangel-als-quittung-fuer-uebersteigerte-gesellschaftliche-erwartungen-an-die-volksschule/ https://condorcet.ch/2022/09/lehrermangel-als-quittung-fuer-uebersteigerte-gesellschaftliche-erwartungen-an-die-volksschule/#comments Sun, 18 Sep 2022 18:52:43 +0000 https://condorcet.ch/?p=11631

Auch unser Doyen, Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz, beschäftigt sich mit den tieferen Ursachen des Lehrkräftemangels. Er kommt zum Schluss, dass nicht nur die Demographie eine Rolle spielt, sondern die verfehlte Reformpolitik der vergangenen Jahre.

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Hanspeter Amstutz: In den vergangenen gut zwei Jahrzehnten sind die Erwartungen an die Volksschule stetig hochgeschraubt worden.

Man kann den aktuellen Lehrermangel mit den steigenden Schülerzahlen und der fehlenden Bereitschaft der jüngeren Lehrerschaft zu Vollzeitarbeit begründen. Doch das greift zu kurz. Die im Vordergrund stehenden Gründe verstellen den Blick auf die tieferen Ursachen des Lehrermangels. Dieser ist keine nur temporäre Personalknappheit, sondern Ausdruck einer nicht länger zu beschönigenden Krise der Volksschule.

In den vergangenen gut zwei Jahrzehnten sind die Erwartungen an die Volksschule stetig hochgeschraubt worden. Im Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten hat der Stellenwert guter Bildung enorm an Bedeutung gewonnen. Die gestiegenen Anforderungen in der modernen Wirtschaft führten unweigerlich zur Frage, ob die Volksschule mit ihren bisherigen Lernkonzepten und ihrem traditionellen Bildungskanon den neuen Herausforderungen gewachsen sei.

Bildungsexperten lösten mit grossen Versprechungen eine Reformflut aus

Die Unruhe wuchs, als unserer Volksschule beim internationalen Pisa-Ranking in einigen Bereichen nur durchschnittlich Leistungen bescheinigt wurden. Geradezu panikartig riefen einige Bildungspolitiker nun dazu auf, die Volksschule gründlich umzubauen. Man überbot sich mit Reformideen, die rasche Erfolge versprachen. In den neu gegründeten Forschungsabteilungen der Pädagogischen Hochschulen wurden unzählige Reformprojekte entwickelt, die mit hohen Erwartungen verknüpft waren. Die neuen Ideen wurden von umtriebigen Bildungspolitikern dankbar aufgenommen und ungeprüft als grosser Fortschritt gepriesen. Wer nicht freudig mitmachte oder sich gar kritisch äusserte, wurde als hoffnungslos rückständig eingestuft.

Kaum jemand fragte, wie es um die Praxistauglichkeit der Reformprojekte stand.

Die Versprechungen der Bildungsexperten blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Eltern. Die Vorstellung, dass eine modernisierte Schule sehr viel mehr als bisher erreichen könnte, befeuerte die Schuldiskussionen im ganzen Land. Fortschrittliche Gemeinden führten neue Schulmodelle ein und die Zürcher Bildungspolitik mit Ernst Buschor an der Spitze liess keinen Stein mehr auf dem andern. Die Presse berichtete von grossartigen ersten Resultaten beim frühen Fremdsprachenunterricht, auch wenn die Schüler erst zwei Wochen Englischunterricht hatten. Die Dynamik des Fortschrittglaubens hatte die Volksschule erfasst, doch kaum jemand fragte, wie es um die Praxistauglichkeit der Reformprojekte stand. Überprüft wurde wenig, und dort, wo sich negative Befunde zeigten, verschwanden die unerfreulichen Resultate in den tiefen Schubladen der Bildungsbürokratie.

Es ist Zeit, eine unbeschönigte Bilanz zu ziehen

Es dürfte aufschlussreich sein, eine kurze Bilanz der Reformvorhaben im Licht der Gegenwart zu ziehen. Haben die einzelnen Reformen die Erwartungen erfüllt? Und welche bedeutenden Nebenwirkungen auf das gesamte Schulsystem sind feststellbar? Viele der umstrittenen Reformen sind im neuen Lehrplan verankert worden, deshalb kommt diesem sogenannten Jahrhundertwerk eine Ausnahmestellung in der Schulgeschichte zu. Wieweit diese Reformen die aktuelle Schulkrise mitverursacht haben, wird in der nachfolgenden Übersicht erläutert.

Zentralistische Steuerung des Bildungsprogramms erweist sich als ineffizient

Die Schwierigkeit liegt nicht im Erfassen von Daten zu den Schülerleistungen, sondern im Umsetzen von nötigen Konsequenzen.

Kompetenzraster: Mehr Wunschdenken

Die Vorstellung, man könne durch eine regelmässige Überprüfung von festgelegten Bildungsstandards die Qualität unserer Volksschule heben, ist mehr Wunschdenken als Realität. Sicher ist es aufschlussreich, durch wissenschaftliche Erhebungen in ausgewählten Schulen einen Überblick über den Bildungsstand in einzelnen Fächern zu erhalten. Doch wie sich deutlich abzeichnet, ist es einfacher, Schwächen aufzudecken als diese nachher zu beheben. Dass ein Fünftel unserer Schulabgänger kaum einfachste Texte versteht, war das Resultat einer der zentralen Erhebungen. Doch ein Monitoring bleibt ohne grossen Nutzen, wenn eine Studie wie in diesem Fall weitgehend totgeschwiegen wird.

Bildungssteuerung lässt sich nicht durch Knopfdruck von oben bewerkstelligen. Die Schwierigkeit liegt nicht im Erfassen von Daten zu den Schülerleistungen, sondern im Umsetzen von nötigen Konsequenzen. Doch da fehlt den Planungsstäben meist der Mut, die eigenen Fehler einzugestehen und gescheiterte Vorhaben abzubrechen. Lehrpersonen sehen meist sehr deutlich, wo Änderungen nötig sind. Ihr Engagement für praxisnahe Reformen wäre der effizienteste Weg, um Fehler zu korrigieren. Wird diese Initiative aber durch ein unnötiges Gängelband einer obrigkeitlichen Steuerung eingeschränkt, geht viel pädagogische Initiative verloren.

Der Lehrplan als wegweisender Bildungskompass sorgt für Frustration

Rückmeldungen aus den Schulen zeigen, dass das umfangreiche Werk des neuen Lehrplans seine Funktion als Orientierungshilfe bei der Jahresplanung nicht erfüllt. Der Lehrplan mit seiner Fülle an Kompetenzzielen ist überladen und erschwert die Vertiefung wesentlicher Bildungsinhalte. Es ist den Lehrplanverantwortlichen nicht gelungen, sich auf Kernanliegen der Bildung zu einigen und den Lehrpersonen genug Freiheit für ihr Unterrichtsprogramm zu gewähren. Lehrinnen und Lehrer benötigen klare Bildungsziele, eine Unmenge an detaillierten Vorgaben jedoch ist nur hinderlich und sorgt für Frustration.

Hauptvorwurf bleibt, dass beim Lehrplan der Faktor Zeit in der Pädagogik unterschätzt wurde. Mit unzähligen Bildungsversprechungen hat man den Karren überladen und die Illusion genährt, mit einer leicht erhöhter Lektionenzahl bewältige die Schule das Programm schon. Dies hat dazu geführt, dass in manchen Schulzimmern unnötige Hektik Einzug gehalten hat.

Zur Schadensbegrenzung mussten Lehrmittel mit umstrittenen Methoden entsorgt und durch Bücher mit klar strukturierten Lernkonzepten ersetzt werden.

Die abenteuerliche Didaktik der frühen Mehrsprachigkeit ist gescheitert

Manche Schüler haben die Freude am Sprachenlernen verloren, und bei den Grundkenntnissen im Deutsch wachsen die Defizite.

Das frühe Erlernen zweier Fremdsprachen ist zu einer grossen Belastung in der Mittelstufe geworden. Viele Schüler haben in mindestens einer der beiden Fremdsprachen längst abgehängt, wenn sie in die Sekundarschule übertreten. Seriöse Erhebungen deckten auf, dass ein Grossteil der Primarschüler durch die vielgerühmte immersive Didaktik und das sprachliche Nebeneinander im Unterricht stark verunsichert ist. Zur Schadensbegrenzung mussten Lehrmittel mit umstrittenen Methoden entsorgt und durch Bücher mit klar strukturierten Lernkonzepten ersetzt werden.

Der Preis für den Tanz auf drei Hochzeiten beim frühen Sprachenlernen ist hoch. Neben der ernüchternden Leistungsbilanz vor allem im Französisch gibt es erhebliche Nebenwirkungen. Manche Schüler haben die Freude am Sprachenlernen verloren und bei den Grundkenntnissen im Deutsch wachsen die Defizite. Völlig ausgeblendet wurde der grosse zeitliche Aufwand für die Ausbildung der Primarlehrkräfte in den beiden Fremdsprachen. Die Zeche dafür bezahlt die Realiendidaktik, wo kulturbildende Fächer wie Geschichte oder Geografie klar zu kurz kommen.

Das überstrapazierte Integrationsmodell ist der grösste Belastungsfaktor

Wohl die grösste Belastung für Schulklassen und deren Lehrkräfte sind Schüler, welche über jedes erträgliche Mass hinaus den Unterricht stören. Bei der vorschnellen Abschaffung der Kleinklassen haben die Bildungsexperten nicht einkalkuliert, dass der Betreuungsaufwand für verhaltensauffällige Schüler sehr hoch ist. Es genügt bei weitem nicht, einen schwierigen Schüler während drei Stunden pro Woche durch eine Heilpädagogin zu betreuen und die restliche Zeit der Klassenlehrerin zu überlassen.

Die Politik glaubte, aus dem Ruder gelaufene Klassen durch den Einsatz zusätzlicher Fachlehrpersonen stabilisieren zu können.

Die Ankündigung, das neue Integrationsmodell grenze niemanden mehr aus und schaffe mehr Gerechtigkeit, kam anfänglich in der Bevölkerung gut an. Doch schon bald stellte sich heraus, dass einzelne Schüler es schafften, ganze Klassen durcheinanderzubringen. Die Politik glaubte, aus dem Ruder gelaufene Klassen durch den Einsatz zusätzlicher Fachlehrpersonen stabilisieren zu können. Doch Personalmangel, dogmatisches Festhalten am Integrationskonzept und viel bürokratischer Aufwand verhinderten akzeptable Lösungen.

Die Frage der Chancengerechtigkeit ist zweifellos ein zentrales Anliegen der Volksschule. Es führt aber entschieden zu weit, wenn von den Klassenlehrkräften erwartet wird, sie hätten auch schwerste Erziehungsdefizite einzelner Schüler zu korrigieren. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass solche Aufträge die Lehrpersonen überfordern und zu heillos langen Diskussionen mit Eltern führen.

Individualisierungsträume erschweren die Organisierbarkeit des Unterrichts

Massgeschneiderte Lernprogramme weckten die Hoffnung, dass auch Schüler mit mittelmässigen Leistungen ans Gymnasium übertreten könnten.

Das gemeinsame Lernen unter Führung einer empathischen Lehrperson bleibt von zentraler Bedeutung.

Der neue Lehrplan erachtet eine individualisierte Lerngestaltung als zentrales Element einer modernen Schule. Schülerinnen und Schüler sollten möglichst in ihrem eigenen Lerntempo vorankommen und eine breite Grundbildung erhalten. Individualisierung war das Zauberwort, um mehr Chancengerechtigkeit erreichen zu können. Viele waren überzeugt, dass eine Schule mit einem fortschrittlicheren Bildungskonzept mehr aus den Kindern «herausholen» könne. Entsprechend hoch war der Druck auf die Lehrpersonen, den Unterricht grundlegend zu individualisieren. Massgeschneiderte Lernprogramme weckten die Hoffnung, dass auch Schüler mit mittelmässigen Leistungen ans Gymnasium übertreten könnten. Dabei sollte das Spielerische im Unterricht selbstverständlich nicht zu kurz kommen.

Das Vermitteln von Bildungsinhalten in parallellaufenden individuellen Lernprozessen ist organisatorisch aufwändig. Wer glaubt, der Verzicht auf kollektives Lernen mache die Schule erfolgreicher, täuscht sich. Die bekannte Hattie-Studie hat eindrücklich bewiesen, dass direkte Instruktion im gemeinsamen Klassenunterricht gegenüber individualisierten Lernformen effizienter ist. An dieser Feststellung werden auch neue digitale Lernprogramme kaum viel ändern, da das gemeinsame Lernen unter Führung einer empathischen Lehrperson von zentraler Bedeutung bleibt.

Das neue Lehrerbild von der betreuenden Lehrperson hat einen hohen Preis

Heute sehen sich viele Lehrerinnen primär als eine Lernbegleiterin, die sich selbst stark zurücknimmt und so den Kindern mehr Spielraum geben möchte. Diese Haltung steht in diametralem Gegensatz zur Vorstellung, Lehrerinnen würden durch begeisterte Stoffvermittlung und klare Führung den Unterricht in ihrer Klasse prägen. Der in der Lehrerbildung empfohlene Rollenwechsel von der Stoffvermittlerin zur Lernbegleiterin ist in der Praxis äusserst umstritten. Vor allem Männer scheinen sich mit der Vorstellung, ein Lehrer sei in erster Linie ein einfühlsamer Lernbegleiter, schwer zu tun. Die Zahlen bei den männlichen Stellenbewerbern für die Primarschule sprechen da eine deutliche Sprache. Das Wegbrechen fast einer ganzen Generation junger Lehrer trifft die Primarschule in ihrer Gesamtentwicklung empfindlich und verschärft den Lehrermangel in hohem Mass.

Gesellschaftliche Forderungen nach einer Volksschule mit erweiterter Betreuungsfunktion haben nicht nur auf das Lehrerbild Auswirkungen. Lektionenzahlen wurden erhöht, damit die Kinder in garantierten Präsenzzeiten gut betreut werden. Meist werden in den zusätzlichen Randstunden voll ausgebildete Lehrpersonen eingesetzt, was zu einer Verknappung des Lehrpersonals in den Hauptfächern führt. Wenn nun auch noch gefordert wird, es seien mehr Lehrpersonen mit professioneller Ausbildung zur Schülerbetreuung beim Mittagstisch einzusetzen, wird sich die Situation bei der Unterrichtsverpflichtung sicher nicht verbessern.

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Ermutigende Lehrerpersönlichkeiten verbessern die Chancengerechtigkeit mehr als farblose Lerncoachs https://condorcet.ch/2021/11/ermutigende-lehrerpersoenlichkeiten-verbessern-die-chancengerechtigkeit-mehr-als-farblose-lerncoachs/ https://condorcet.ch/2021/11/ermutigende-lehrerpersoenlichkeiten-verbessern-die-chancengerechtigkeit-mehr-als-farblose-lerncoachs/#respond Mon, 01 Nov 2021 15:17:45 +0000 https://condorcet.ch/?p=9688

Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz unterstützt Carl Bossard (siehehttps://condorcet.ch/2021/10/wenn-bildungsreformen-die-bildungsschere-weiten/ 27.10.21) in seiner Einschätzung der zentralen Rolle der Lehrerin oder des Lehrers, die sie in Sachen Chancengleichheit spielen.

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Hanspeter Amstutz:
Farblose Coachs sind Gift für eine Pädagogik der Ermutigung.

Carl Bossard ist in seinem hervorragenden Condorcet-Beitrag auf unkonventionelle Weise der Frage nachgegangen, was am meisten zu mehr Chancengerechtigkeit in unserem Bildungssystem beiträgt. Der Autor bringt es auf den Punkt: Nicht ausgeklügelte Bildungsprogramme, sondern Lehrerinnen und Lehrern mit Begeisterung für ihre pädagogische Aufgabe fördern die Entwicklung von Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Herkunft am wirkungsvollsten.

In den aktuellen Bildungsdiskussionen dreht sich sehr vieles um digitale Lernprogramme, um eigenverantwortliches Lernen und um neue Lehrerrollen in begleitender Funktion. Digitale Programme sorgen dafür, die Lernmuster von Schülern zu erkennen und Aufgaben im passenden Schwierigkeitsgrad zu stellen. Dank digital bestens ausgestatteter Schulzimmer glaubt man, nicht zuletzt bei schwächeren Schülern den grossen Sprung nach vorn machen zu können. Doch was theoretisch Erfolg verspricht, zeigt in der Praxis nur eine beschränkt positive Wirkung. Schüler ohne bereits vorhandene intrinsische Lernmotivation werden von künstlicher Intelligenz nicht in der Tiefe angesprochen. Sie werden zwar die gestellten Aufgaben lösen, aber die Motivation für eine gründliche Auseinandersetzung mit einem Thema bleibt in der Regel begrenzt.

Um Schülerinnen und Schüler für eine Sache zu begeistern, sind die Schulen auf Lehrerpersönlichkeiten angewiesen, die Bildungsinhalte attraktiv vermitteln und mit didaktischem Geschick vertiefen können.

Lehrerpersönlichkeiten, die Bildungsinhalte attraktiv vermitteln

Um Schülerinnen und Schüler für eine Sache zu begeistern, sind die Schulen auf Lehrerpersönlichkeiten angewiesen, die Bildungsinhalte attraktiv vermitteln und mit didaktischem Geschick vertiefen können. Eine Lehrerin, welche die wechselvolle Geschichte des Frauenstimmrechts packend gestalten kann, Goethes Erlkönig feinsinnig interpretiert und von Zeit zu Zeit grosse Fragen des Lebens in literarischer Form aufgreift, wird auf Resonanz stossen. Jugendliche erkennen die sinnstiftende Grundhaltung eines Gegenübers erstaunlich schnell und öffnen sich in einem oft spannenden Dialog. Die Schülerinnen und Schüler wünschen sich in den Klassenzimmern keine grauen Mäuse, die nur eine beratende Funktion ausüben. Die Vorstellung, gute Lehrer würden nicht vor der Klasse, sondern neben arbeitenden Schülern stehen, ist bei Jugendlichen weit weniger beliebt, als man aufgrund der aktuellen didaktischen Modeströmungen glauben könnte.

Es ist die Authentizität, welche Jugendliche anspricht und das Interesse für Bildung und Kultur weckt.

Kinder und jüngere Teenager suchen sich erwachsene Vorbilder mit Wissens- und Erfahrungsvorsprung, auch wenn sie dies nicht immer gleich offen zugeben. Sie suchen die Begegnung mit einem lebendigen Gegenüber, das ihnen neue Welten eröffnet. In jedem Schulhaus weiss man, wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer in einem Wissensgebiet stark ist oder über besondere Fähigkeiten verfügt. Ein Lehrer, dessen Forschungsgebiet die Amphibien sind und seine Schüler an Ufern von Weihern in sein Reich blicken lässt, übt Faszination aus. Eine Lehrerin, welche die Engländer von ihrem langjährigen Aufenthalt in London kennt, kann in ihren Englischlektionen oft mehr über britische Lebensart vermitteln als mancher ausgebildete Geografielehrer. Es ist die Authentizität, welche Jugendliche anspricht und das Interesse für Bildung und Kultur weckt.

Es braucht Freiheit.

Carl Bossard weist noch auf etwas anderes hin, das zentral ist. Lehrerinnen und Lehrer mit pädagogischer Berufung werden ihr Fachgebiet und nicht ihre Person in den Mittelpunkt stellen. Sie machen ihr Wissen transparent und wollen es weitergeben.

Sie freuen sich riesig, wenn der Funke springt und unternehmen alles, um bei ihren Schülerinnen und Schüler gründliche Lernprozesse zu fördern. Lehrerpersönlichkeiten haben den Blick für die vorhandenen Begabungen. Sie ermutigen die Jugendlichen, daraus etwas zu machen und sie fordern sie, indem sie Erwartungen aussprechen. Schülerinnen und Schüler nehmen in der Regel diesen pädagogischen Dialog positiv auf und steigern sich in ihren Leistungen.

Diese für den späteren Lebensweg so wichtigen Motivationsprozesse können sich aber nur entwickeln, wenn den Lehrerinnen und Lehrern eine Rolle als gestaltende pädagogische Kraft ausdrücklich zugebilligt und ausreichend Zeit für den Aufbau von Lernbeziehungen eingeräumt wird. Die aktuelle Hektik in den Schulzimmern durch all die verzettelten Lernziele, die schmalen Unterrichtsblöcke infolge der Pensenaufsplitterungen und nicht zuletzt die unsinnige Degradierung der Lehrpersonen zu farblosen Coachs sind Gift für eine Pädagogik der Ermutigung. Will man die Chancengerechtigkeit entscheidend verbessern, so muss zuerst beim Bildungsprogramm und bei den grundlegenden Vorstellungen zum Lehrerberuf der Hebel angesetzt werden. Da besteht dringender Handlungsbedarf.

Hanspeter Amstutz

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Anmerkungen zur Schulreform im Zeitalter der Digitalisierung – Teil 2 https://condorcet.ch/2021/10/anmerkungen-zur-schulreform-im-zeitalter-der-digitalisierung-teil-2/ https://condorcet.ch/2021/10/anmerkungen-zur-schulreform-im-zeitalter-der-digitalisierung-teil-2/#respond Tue, 12 Oct 2021 15:43:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=9496

Im 2. Teil seiner Ausführungen "Anmerkungen zur Schulreform im Zeitalter der Digitalisierung" beschäftigt sich Professor Jürgen Oelkers mit dem "selbstregulierten Unterricht" und relativiert dessen Wirksamkeit. Ausführlich geht er auf die Meta-Studie von John Hattie ein.

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Jürgen Oelkers, emer. Professor der Universität Zürich: Schulen haben das Monopol der Wissensvermittlung verloren, sind aber für Bildungsprozesse nicht überflüssig.

3. Selbstorganisiertes Lernen

In der neueren Literatur zur Schulentwicklung und Didaktik werden Lehrerinnen und Lehrer oft als „Coach“ bezeichnet, um damit einen entscheidenden Unterschied und eine Zukunftsoption auszudrücken. Der Duden sieht inzwischen auch die «Coachin» vor, wenn es sich um eine weibliche Person handelt. (7)

  • Ein Coach/eine Coachin begleitet den individuellen Lernprozess einer Person oder einer Gruppe vom Beginn bis zum Ziel.
  • •Lehrerinnen und Lehrer unterrichten eine Klasse in einem Fach oder einem Lernbereich gemäss Zielen, die weder der Lehrer/die Lehrerin noch die Klasse sich selbst setzen kann.

Mindestens gilt das für den Unterricht in staatlichen Schulen, die Lehrpläne voraussetzen, die Lernzeit regulieren und den Ort des Lernens vorgeben. Aber warum sollen dann Lehrerinnen und Lehrer plötzlich zu «Coaches» werden? Ein zentraler Grund ist, dass sie ein Lernen begleiten sollen, das sich selbst gestaltet.

Die neuen Medien aber brauchen keinen Coach, sondern nur Selbstinstruktion.

Ein „Coach“ ist eine Art Mentor, der nicht über Jahre unterrichtet und versucht, nach Plan Lernen anzuregen, sondern der individuelle Projekte begleitet, die befristet sind und den Mentor nur zu bestimmten Zwecken brauchen. Gelernt wird dann nicht mehr in einer begrenzten schulischen Lernumgebung, sondern frei, an jedem Ort und zu jeder Zeit. «Deschooling society» nannte das Ivan Illich vor nunmehr fünfzig Jahren.

Die neuen Medien aber brauchen keinen Coach, sondern nur Selbstinstruktion. Ihnen ist gemeinsam, dass sie sofort und ganz individuell genutzt werden können, ihre Lernwege sind leicht und weitgehend voraussetzungsfrei, verlangen also praktisch keine Qualifikation. Auch verfolgen sie keine eigenen Ziele, ausgenommen die Beeinflussung und Bindung des Nutzungsverhaltens. Was sie inhaltlich bieten, ist beliebig erneuerbar und kennt weder Wissenshierarchien noch Barrieren wie die soziale Herkunft oder mangelhaftes Vorwissen. Smartphones sind sozusagen kinderleicht.

Zudem gibt es – anders als in der traditionellen Schule – keine bestimmte Autorität mehr, die das Niveau der Auseinandersetzung vorgeben und kontrollieren könnte. Die historisch beispiellose Beschleunigung des Lernens und der Wahrnehmung (8) bei schnell wechselnden Themen und scheinbar gefahrlosem Löschen verhindert auch eine Verantwortungskontinuität. Eine Diskussion im Netz hat keinen definitiven Ertrag, weil es kein Ende mehr gibt; es kann immer nur weitergehen. Mit einem Bonmot könnte man sagen: „To be is to be updated”. (9)

Andere Entwicklungen brauchen Schulen, aber werden sie vollständig auf den Kopf stellen. Ein kommender Technologiesprung wird mit dem System der „Blockchains“ gegeben sein, also einem System dezentraler Datenbanken, die für verschiedene Zwecke eingesetzt werden. Die Möglichkeiten reichen von alternativen Währungen und Zahlungssystemen über intelligente Verträge, Buchführung, persönliche Dokumentation bis hin zum E-Voting und der Prognose der Finanzen.

Das ist mehr als nur Theorie: Am 22. September 2017 hat die Regierung von Malta in Gestalt des Bildungsministeriums einen Vertrag mit der Firma Learning Machine Technologies geschlossen, mit dem das erste nationalstaatliche Pilotprojekt von „blockchain credentials“ auf den Weg gebracht wird. Wer dem Projekt beitritt, also potentiell jeder, der in Malta lernt und arbeitet, kann alle Dokumente des lebenslangen Lernens an einem Ort aufbewahren und verwalten, zudem kann jeder nachweisen, dass die Dokumente ihm gehören und sie zugleich mit jedem in der Welt teilen. (10)

Was man lernt, wird auf einem Konto festgehalten und in „edublocks“ dokumentiert, wobei „Lernen“ formell wie informell erfolgen kann. Mit dem Konto ist man überall kreditwürdig, wo Lernen angeboten wird, man kann selbst wählen und Schulen wären dann ein Anbieter unter vielen. Das Schlagwort lautet: „Learning is earning“.

Edublocks: überall kreditwürdig

Blockchains, die mit der Alternativwährung Bitcoins entwickelt wurden, (11) werden inzwischen vom World Food Programme (WFP) der Vereinten Nationen zur Erleichterung des Zahlungsverkehrs eingesetzt und sind auch im Bildungsbereich zunehmend spürbar. Was man lernt, wird auf einem Konto festgehalten und in „edublocks“ dokumentiert, (12) wobei „Lernen“ formell wie informell erfolgen kann. Mit dem Konto ist man überall kreditwürdig, wo Lernen angeboten wird, man kann selbst wählen und Schulen wären dann ein Anbieter unter vielen. Das Schlagwort lautet: „Learning is earning“.

Das ist für pädagogische Ohren ziemlich schockierend und das bestimmende Schlagwort in der heutigen Schulreformdiskussion sind denn auch nicht – oder noch nicht – „edublocks“, sondern „selbstreguliertes“ oder „selbstgesteuertes“ Lernen, das mit dem Konstruktivismus aufgekommen ist.

Das Auswendiglernen etwa, das oft verpönt wird, spielt in der Festigung der Kognitionen eine wichtige Rolle, ebenso das Üben, was man erst merkt, wenn es niemand mehr macht.

Was ist der Preis?

Das „selbstorganisierte Lernen“ spielt in der heutigen Unterrichtsentwicklung auch in der Schweiz eine zentrale Rolle. Aber stimmt die Annahme, dass sich dadurch der Unterricht auf breiter Basis verbessern würde? Die Antwort lautet: nicht einfach als Schlagwort und auch als Konzept nicht ohne einen Preis.

Das Auswendiglernen etwa, das oft verpönt wird, spielt in der Festigung der Kognitionen eine wichtige Rolle, ebenso das Üben, was man erst merkt, wenn es niemand mehr macht. Das gilt als «konservativ», aber wäre in Musik oder Sport ziemlich desaströs und hätte auch bei einer Theaterprobe Grenzen. Es kommt also immer darauf an, auf welche Praxis man eine Methode bezieht und was dabei zur Bewältigung der Aufgaben erforderlich ist.

Selbstorganisieres Lernen ist kein einfaches Konstrukt.

Das gilt auch für das «selbstorganisierte Lernen» (Miller/Oelkers 2021). Die Bandbreite ist gross, sie reicht von erweiterter Hausaufgabenbetreuung bis zum Lernen nach eigenem Tempo und freier Suche bei gegebenen Zielen. Aber in keinem Fall entscheiden die Schülerinnen und Schüler selbst darüber, was sie lernen. Eher geht das Bemühen dahin, sie stärker und nachhaltiger am Lernprozess zu beteiligen. Und heute sind «SOL»-Phasen zumeist eingebunden in eine Tagesstruktur, die auch «Inputs» der Lehrpersonen kennt. Purismus führt nicht weiter, man muss den richtigen Mix finden.

Die empirischen Arbeiten und das Theoriekonzept stammen aus der Psychologie. Oft wird dabei folgende Bestimmung zugrunde gelegt:

„Selbstreguliertes Lernen ist ein aktiver, konstruktiver Prozess, bei dem der Lernende sich Ziele für sein Lernen selbst setzt und zudem seine Kognitionen, seine Motivation und sein Verhalten in Abhängigkeit von diesen Zielen und den gegebenen äusseren Umständen beobachtet, reguliert und kontrolliert“ (Otto/Perels&Schmitz 2011, S. 34). (13)

Im Rahmen dieser allgemeinen Definition, die nicht auf die staatliche Schule zugeschnitten ist, wird deutlich, dass «selbstreguliertes Lernen» kein einfaches Konstrukt ist, sondern aus einer Vielzahl von Variablen besteht, die zusammenspielen müssen, wenn das Lernen effektiv sein soll.

Aber selbst wenn das der Fall ist, muss der Kontext der Schule berücksichtigt werden, also nicht einfach nur die Psychologie:

  • Die Ziele sind vorgegeben und werden nicht frei gewählt, wie dies in der allgemeinen Definition des selbstregulierten Lernens angenommen wird.
  • •Die jeweilige Lernsituation ist nicht je neu und einmalig, sondern geprägt von Vorerfahrungen und gekennzeichnet von Routinen, die Anpassungsleistungen an die Institution Schule darstellen.
  • Die Lernenden befinden sich in der Rolle von Schülerinnen und Schülern, sie sind abhängig und müssen lernen, was der staatliche Lehrplan vorgibt.
Die Schülerinnen und Schüler können auch nur so tun, als ob sie „selbstreguliert” arbeiten.

Dabei gibt es natürlich grosse Spielräume für das, was dann tatsächlich im Unterricht realisiert wird. Andererseits wird der institutionelle Rahmen oft vernachlässigt, wenn in der didaktischen Literatur von „selbstreguliertem“ Lernen die Rede ist. Und der Begriff deckt noch eine andere ganz andere Seite ab, die in der Didaktik ebenfalls nicht vorgesehen ist.

  • Im Rahmen der Institution lernen die Schülerinnen und Schüler auch subversiv, nämlich wie die Anforderungen des Unterrichts umgangen werden können,
  • oder strategisch, nämlich wie sich mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Ertrag erreichen lässt.
  • Das Lernen ist „selbstreguliert“, aber nicht im Sinne der Schule.

Weiter bilden die Schülerinnen und Schüler über „Schule“ und „Unterricht“ informelle Meinungen heraus, die das tatsächliche Lernen oft mehr beeinflussen als das offizielle Lernsetting der Schule. Es handelt sich dabei um hoch elaborierte Kognitionen, die vor allem in der Peer-Kommunikation gebildet und stabilisiert werden, also nicht greifbar sind für die Lehrenden (Chiapparini 2012).

Die Anstrengungsbereitschaft verteilt sich nicht einfach mit dem Interesse, wie oft angenommen wird, sondern reagiert auch auf Notlagen.

Die Schülerinnen und Schüler können auch nur so tun, als ob sie „selbstreguliert arbeiten“. Andererseits werden sie im Blick auf die Ziele den notwendigen Ressourceneinsatz kalkulieren und keineswegs immer „intrinsisch motiviert“ vorgehen, schon weil kaum eine Schülerin und kaum ein Schüler sich für das gesamte Angebot der Schule gleich interessiert. Sie machen immer einen Unterschied, was sie gerne lernen und was nicht.

Die Anstrengungsbereitschaft verteilt sich nicht einfach mit dem Interesse, wie oft angenommen wird, sondern reagiert auch auf Notlagen, etwa auf die Folgen der Nichterreichung von Lernzielen oder die drohenden Selektionen an den Schnittstellen. Motivation durch Noten könnte man das nennen, und sie sichert nicht selten den Schulerfolg oder die Berechtigung.

Probleme wie diese werden in der didaktischen Literatur gemieden oder normativ bestritten, obwohl sie nicht verschwinden werden und das Lernen mehr oder weniger stark beeinflussen. Auch im Falle der Lernstrategien überwiegen Modellannahmen, die unabhängig vom tatsächlichen Erfahrungsraum „Schule“ gedacht werden. Strategisch sind auch Subversionen, die die Ziele der Schule unterlaufen oder den Anliegen ihrer Leitbilder widersprechen.

4. Zur Frage der Wirksamkeit

Hattie-Studie: ziemlich unkritisch rezipiert, gleichwohl bedeutend

Auf der anderen Seite sind der Lehrer und die Lehrerin der zentrale Garant für die Wirksamkeit des Unterrichts, den wir alle kennen. Das weiss man eigentlich seit längerem und diese Gewissheit ist bekanntlich durch die Hattie-Studie auch empirisch bestätigt worden. Diese Studie, die vor fünfzehn Jahren erschienen ist, erregte grosses Aufsehen und wurde stürmisch, aber auch ziemlich unkritisch rezipiert.

Inzwischen gibt es fünf hauptsächliche Kritikpunkte: (14)

  • Grundlage der Metastudie sind viele einzelne Studien, die wesentlich auf die angelsächsischen Bildungssysteme ausgerichtet waren.
  • Ausgewertet wurde nur die englischsprachige Literatur.
  • Der Fokus lag allein auf quantitativen Leistungsdaten in wenigen Fächern.
  • •Die Unterschiede in den nationalen Bildungskulturen spielten keine Rolle.
  • •Digitale Klassenzimmer gab es in den Studien noch nicht.

Gleichwohl sind die Ergebnisse beachtenswert, auch wenn sie vielfach auf eine Botschaft verengt worden sind, die in der Professionsliteratur immer schon eine grosse Rolle gespielt hat, nämlich dass es «auf den Lehrer ankommt». Die Formel stammt aus dem 19. Jahrhundert, daher besteht kein Genderproblem.

Der Unterricht macht den Unterschied, aber unterrichtet wird verschieden und nicht alle Lehrpersonen sind gleich erfolgreich in der Beförderung des Lernens.

Doch wenn heute – auch unabhängig von Hattie – in der angelsächsischen Diskussion gesagt wird, „teachers make the difference“ (15), dann ist das zunächst nur ein Mantra. Der Unterricht macht den Unterschied, aber unterrichtet wird verschieden und nicht alle Lehrpersonen sind gleich erfolgreich in der Beförderung des Lernens.

Nicht alle Lehrpersonen sind gleich erfolgreich in der Beförderung des Lernens.

Bestimmte Lehrkräfte erfüllen die Aufgaben besser als andere und die kritische Frage ist, bis zu welchem Grad das der Fall ist. Hattie sagt das auch deutlich: Nicht alle Lehrerinnen und Lehrer unterrichten „effektiv“, nicht alle sind „Experten für Lernen“ und nicht alle haben grossen Einfluss auf die Lernenden. Die wichtige Frage ist, in welchem Ausmass sie Einfluss auf die Leistungen haben und was den grössten Unterschied macht. (16) Es geht also um die Qualität der Lehrpersonen und nicht um das Mantra.

Dieses Feld der Qualität umfasst bei Hattie acht Punkte. Die ersten drei werden wie folgt bestimmt:

Worauf es ankommt, ist:

  • die Qualität des Unterrichts, so wie die Schülerinnen und Schüler sie wahrnehmen,
  • die Erwartungen der Lehrpersonen an sich selbst und die Lernenden,
  • •die Konzeptionen der Lehrpersonen über Unterricht, Leistungsbeurteilung sowie über die Schülerinnen und Schüler.

Der letzte Punkt bezieht sich auf die Sichtweisen (views) der Lehrerinnen und Lehrer, etwa ob sie glauben, dass alle Schülerinnen und Schüler Fortschritte machen können und ob die Leistungen sich ändern können oder stabil bleiben. Ein Problem ist auch, wie der Lernfortschritt von den Lehrpersonen verstanden und artikuliert wird, also wem oder was sie den Fortschritt zuschreiben und wie die Lernenden davon in Kenntnis gesetzt werden. Wenn der entscheidende Faktor etwa in der sozialen Herkunft gesehen wird, dann ziehen Lehrkräfte andere Schlüsse, als wenn sie primär die Begabung in den Vordergrund stellen.

Die fünf weiteren Punkte für den Einfluss der Lehrkräfte auf die Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler sehen so aus:

  • die Offenheit der Lehrkräfte oder wie sie darauf eingestellt sind, sich überraschen zu lassen,
  • •das sozio-emotionale Klima im Klassenzimmer, wo Fehler und Irrtümer nicht nur toleriert werden, sondern willkommen sind,
  • die Klarheit, mit der die Lehrpersonen Erfolgskriterien und Leistungsanforderungen artikulieren,
  • die Unterstützung der Lernanstrengung,
  • das Engagement aller Schülerinnen und Schüler.

(Hattie 2009, S. 34).

Das sind Idealisierungen und der «ideale Lehrer» bestimmt in verschiedenen – meistens männlichen – Ausrichtungen die Professionsliteratur seit dem 17. Jahrhundert. Die Frage könnte dann auch lauten, warum immer das Ideal betont wird und keine Diskussion ohne ein Ideal auskommt. Das gilt auch für die Ideale des Unterrichts, einschliesslich denen der Förderung.

Deutsche Studien zeigen, dass offene Lerngelegenheiten im Blick auf individuelle Förderung, wenn überhaupt, dann eher im affektiven Lernbereich wirksam sind und kognitive Kompetenzen dadurch kaum beeinflusst werden (Klieme/Warwas 2011). Fördern kann man auf verschiedene Weisen, die aber nie einfach als Konzept überlegen sind; auch Formen des Trainings oder adaptiver Unterricht sind im Blick auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler nur dann wirksam, wenn sie didaktisch durchdacht und gut strukturiert sind.

Wenn es «auf den Lehrer» ankommt und historisch rasant zunehmend auch «auf die Lehrerin», dann hat das auch mit der «vertieften inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand» zu tun und nicht nur mit Merkmalen wie eine effiziente Klassenführung.

Zu diesem Schluss kommt auch eine deutsche Metastudie zum Einfluss der Lehrpersonen auf den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler (Lipowsky 2006): Ein Unterricht, der durch stärker schülerorientierte Arbeitsformen gekennzeichnet ist, kann dann in seiner Effektivität gesteigert werden, wenn die Schülerinnen und Schüler «über Techniken, Strategien und Kompetenzen verfügen, ihre Arbeitsprozesse zu strukturieren und zu steuern» (ebd., S. 64/65). Das Konzept der «Selbststeuerung» für sich genommen ist nur rhetorisch von Bedeutung.

Wenn es «auf den Lehrer» ankommt und historisch rasant zunehmend auch «auf die Lehrerin», dann hat das auch mit der «vertieften inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand» zu tun (17) und nicht nur mit Merkmalen wie eine effiziente Klassenführung. Zu der inhaltlichen Auseinandersetzung im Unterricht gehören etwa «eine interessante, klare, verständliche und vernetzte Präsentation neuer Inhalte und Konzepte, die Aktivierung des vorhandenen Vorwissens der Schüler, das Evozieren kognitiv anspruchsvoller Tätigkeiten, die Kultivierung eines diskursiven Unterrichtsstils, der Einsatz geeigneter Repräsentationsformen, die Förderung der Bewusstheit für das eigene Lernen sowie die Vermittlung von Strategie zur Strukturierung und Elaboration des Unterrichtsgegenstands» (ebd., S. 64).

Das sind auch Idealnormen, die vor dem Hintergrund einer Praxis verstanden werden sollten, die die Ideale oft verfehlt, was auch an den Idealen liegen kann. Der Projektunterricht etwa entspricht in der Realität, also in der Wahrnehmung der Lehrenden und Lernenden, gar nicht dem, was in der einschlägigen Literatur angenommen wird, nämlich „selbstgesteuertem Lernen“ (Traub 2011).

Vielfach wird gar nicht gemacht, was das Konzept versprochen hatte, nur die Bezeichnung wird verwendet. In der Theorie wird oft nicht antizipiert, dass sich die Lernleistungen auch im Projektunterricht unterschiedlich verteilen und entsprechend die Profite für die Lernenden keineswegs identisch sind.

Wenn Unterricht Erfolg haben soll, dann dürfen sie (die Schüler und Schülerinnen) nicht davon ausgehen, dass sie erst lernen, wenn sie ausreichend motiviert worden sind, was auch heissen würde, dass sie die Dosis des „Motiviertwordenseins“ bestimmen.

Hattie plädiert für die Normalform eines von der Lehrperson vorbereiteten, strukturierten und realisierten Unterrichts. Der Lehrer und die Lehrerin wird nicht in die Rolle eines konstruktivistischen Beobachters versetzt, für den bekanntlich schon Maria Montessori ziemlich erfolglos plädiert hatte; die Lehrperson darf und soll agieren, wobei für ihn oder für sie als Qualitätsannahme gilt, dass er oder sie „with the eyes of the students“ wahrnehmen kann (Hattie 2009, S. 238) und mit seinem Unterricht ihrem Lernen dienlich ist. Das ist nicht einfach dann der Fall, wenn man „selbstorganisiert“ lernt.

Auf der anderen Seite müssen sich die Schülerinnen und Schüler sich als die „Lehrer ihrer selbst“ verstehen und können die Verantwortung für den Lernerfolg nicht auf die Schule abwälzen. Wenn Unterricht Erfolg haben soll, dann dürfen sie nicht davon ausgehen, dass sie erst lernen, wenn sie ausreichend motiviert worden sind, was auch heissen würde, dass sie die Dosis des „Motiviertwordenseins“ bestimmen.

Auch die Basis vieler heutiger Konzepte der Didaktik stellt Hattie in Frage. Die Psychologie des Konstruktivismus ist für ihn eine Form des Wissens und nicht des Unterrichtens (ebd., S. 243). In der Lehrerbildung und der Fachdidaktik dagegen wird die „konstruktivistische Wende“ (18), weiterhin als Grundlage angenommen.

Die damit begründeten Konzepte lassen sich mit der „child centered education“ der Zwischenkriegszeit in Verbindung bringen. Wieder entdeckt wird heute der Dalton-Plan von Helen Parkhurst (1922), der bereits das Lernen nach eigenem Tempo betont hat, Freiheit im Blick auf das Erreichen der Ziele setzte und dem der Begriff „Lernjobs“ zu verdanken ist. Das war vor genau hundert Jahren und die Frage ist, warum sich das bisher nicht durchgesetzt hat.

Man könnte auf die Praxis verweisen: Was mit solchen Konzepten noch nie erfasst wurde, sind die Alltagserfahrungen der Lehrpersonen, also Handeln unter Zeitdruck, steigende Belastungen, Kampf gegen Lernunwilligkeit, Entscheidungen mit juristischem Risiko oder Stress durch Reformen, die sich nicht lohnen.

Die digitale Transformation der Schulen ist absehbar und sie wird sich in den nächsten Jahren auch massiv beschleunigen. Die Frage ist, wie weit der Wandel geht und welche Probleme sich damit besser lösen lassen.

Schluss des 2. Teils

 

 

(7) Duden | Coachin | Rechtschreibung, Bedeutung, Definition, Herkunft: https://www.duden.de/rechtschreibung/coachin

(8) Vgl. die Studie von Wajcman (2015).

(9) New York Review of Books Vol. LXIII, No. 11 (June 23 – July 13, 2016), S. 36. Siehe die Darstellung von Hui Kyong Cin (2016).

(10) „Employers and others can instantly verify that a credential is authentic using independent blockchain verification, saving significant time and money. This allows institutions to prevent fraud and protect their brands while giving learners and workers full control of their official records”. https://www.newswire.com/news/governmentofmaltalauncheslearningmachinesblockchainrecords 19978449

(11) Narayanan et al. (2016)

(12) http://hackeducation.com/2016/04/07/blockchaineducationguide

(13) Siehe Boekhaerts (1999).

(14) Etwa: Meraner 2013/2014, 2014, 2014a.

(15) Etwa: http://www.buckleyparkco.vic.edu.au/page/176/TeachersMakeTheDifference

(16) „Not all teachers are effective, not all teachers are experts, and not all teachers have powerful effects on students. The important consideration is the extent to which they do have an influence on students achievements, and what it is that makes the most difference” (Hattie 2009, S. 34).

(17) Die Studie bezieht sich auf Untersuchungen in Mathematik und den Naturwissenschaften. Ausgewertet werden deutsche und englische Forschungen.

(18) Vgl.  Diesbergen (2000).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Dr. phil. Beat Kissling, Gymnasial- und Volksschullehrer, Psychologe und Erziehungswissenschaftler, hielt am Freitag, 17. September 2021, im Rebstock in Wil einen Vortrag zu dem Thema dialogisches Lernen. Edwin Rupf, Schulleiter und Mitglied der Starken Schule St. Gallen fasst die Aussagen von Beat Kissling für den Condorcet-Blog zusammen.

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Beat Kissling, pens. Gymnasiallehrer, Mitherausgeber von Einspruch: Lernen ist immer ein vorwiegend sozial basiertes und auch vermitteltes Geschehen.
Edwin Rupf, Schulleiter der Privatschule Tobli: Brennend aktuelle Problematik.

Selbstorganisierte Lernateliers anstelle des gemeinsamen Klassenunterrichts

Wer die Gelegenheit hat, in ein heutiges Schulzimmer zu schauen, wundert sich vermutlich über die Gestaltung des Klassenzimmers. Die Stühle und Bänke der Schülerinnen und Schüler sind in Form von Nischen angeordnet, die voneinander abgetrennt sind. Im Fachjargon spricht man von Lernateliers. Der gemeinsame Unterricht ist in einem solchen Schulzimmer kaum vorgesehen. «Individualisierung» lautet einer der Kernbegriffe in der heute verordneten Schulpraxis. Der als modern apostrophierte «schüler-», statt «lehrerzentrierte» Unterricht baut auf einer Theorie auf, die den gemeinsamen, geführten Unterricht rundweg als falsch bzw. für die Lernenden mehr oder weniger als Zumutung erscheinen lässt. Gemäss der in reformpädagogischen Kreisen populären Vorstellung des radikalen Konstruktivismus  haben wir Menschen keine gemeinsame Welt. Jeder Mensch habe laut dieser Theorie einen eigenen Zugang, ein eigenes Verständnis der Realität. Lehren bzw. der lehrende Unterricht sei demnach gar nicht möglich und komme deshalb einer Art geistiger Vergewaltigung der Schüler gleich. Nach dieser pointierten, kritischen Einleitung lauschten alle gespannt auf die weiteren Ausführungen des Zürcher Erziehungswissenschaftlers.

Der Lehrer soll auf das eigentliche Unterrichten verzichten.

Die Metamorphose des Lehrers zum Lerncoach und Moderator von Lernprozessen

Mit den Schulreformen der letzten 20–25 Jahre sei eine ausgesprochen individualistisch orientierte Form des Unterrichts entstanden, der den didaktisch-pädagogisch wirkenden Lehrer durch den Lernbegleiter, Moderator von Lernprozessen, Coach – um einige der Neusprech-Bezeichnungen zu nennen – ersetzt habe. Der Lehrer soll auf das eigentliche Unterrichten verzichten. Die Verantwortung für das Weiterkommen im Lernen falle mit den neuen Lernformen des selbstorganisierten Lernens (SOL) vollumfänglich auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler zurück, ein pädagogisch gesehen höchst bedenklicher Umstand, der jeden unsicheren, schwachen Schüler in grösste psychische Nöte versetzen kann. Begünstigt wird diese individualistische Form von Schule durch die Digitalisierung, die heute bereits möglichst früh, also im Kindergarten, gefördert wird.

Der Lehrer oder die Lehrerin ist kein Coach.

Was sind die wirklich förderlichen Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen?

In seinem Vortrag fragte Beat Kissling, was die Erkenntnisse der anthropologischen Wissenschaften heute zur Frage zu sagen haben, nämlich wie die optimalen Voraussetzungen für das schulische Lernen grundsätzlich sind. Anhand einer Reihe führender Wissenschaftler aus der evolutionären Anthropologie, aus Entwicklungs- und Lernpsychologie sowie aus der Schulpädagogik und den Erziehungswissenschaften, deren Einsichten der Referent insbesondere anhand von aussagekräftigen Zitaten zu Wort kommen liess, entstand die Einsicht, dass Lernen immer ein vorwiegend sozial basiertes und auch vermitteltes Geschehen ist. Sozusagen vom ersten Atemzug an könne beobachtet und über die gesamte Kindheit hinweg verifiziert werden, dass der Säugling, das Kleinkind, die Kinder im Kindergarten und dann die Schulkinder auf die Lehre ihrer kulturellen Mentoren vertrauen und ihre Anleitung und Orientierung suchen, damit sie selbst auch in die Lage kommen können, als Teil der (Familien-, Kindergarten-, Schul-, Freundschafts-) Gemeinschaften bzw. des sozialen Miteinanders mitzumachen. Die grosse Bedeutung der Lehrpersonen als Bindungs- und Orientierungsperson für jedes einzelne Kind bzw. jeden Jugendlichen, die sich aus diesen Einsichten offensichtlich erschliesst, veranschaulichte Kissling am Beispiel des Literaturnobelpreisträgers, Schriftstellers und Philosophen Albert Camus, der in tiefer Dankbarkeit die ersten Worte nach Erhalt des Preises nebst seiner Mutter an seinen ehemaligen Volksschullehrer richtete, der ihm die Welt eröffnet hatte. Wäre dieser «Erste Mensch» (Titel seiner Biografie) nicht in sein Leben getreten, hätte es diese hochgeschätzte Persönlichkeit nicht gegeben.

Als Coach und Lernbegleiter kann ein Lehrer nicht für sein Fach brennen und dem Schüler vermitteln, dass er grossen Wert darauf legt, dass dieser das Vermittelte lernt, er es ihm zutraut und ihm auch gerne bei der Bewältigung hilft, sofern erforderlich.

Literaturnobelpreisträger Albert Camus: Seinen (Bildungs-)Erfolg verdankt er einzig und allein seinem Lehrer Bernard.

Die herausragende Bedeutung der Lehrer-Schüler-Beziehung

Schon diese Einsichten lassen die Abschaffung der pädagogisch-didaktisch aktiven Lehrerpersönlichkeit in einem seltsamen Licht erscheinen. Als Coach und Lernbegleiter kann ein Lehrer nicht für sein Fach brennen und dem Schüler vermitteln, dass er grossen Wert darauf legt, dass dieser das Vermittelte lernt, er es ihm zutraut und ihm auch gerne bei der Bewältigung hilft, sofern erforderlich (frei nach Zitat Prof. Dr. Roland Reichenbach, Lehrstuhlinhaber Universität Zürich). Kommt hinzu, wie Kissling weiter aufzeigte, dass die Schüler die Schule als Ort des Zusammenseins und -arbeitens als Gemeinschaft – vorausgesetzt die Stimmung, das Klassenklima ist positiv-konstruktiv – ausserordentlich schätzen. Spätestens seit dem ersten Lockdown vor über einem Jahr sollte dies für jedermann evident geworden sein, als man aus zahlreichen Familien, in Zeitungen und anderen Medien laufend lesen und hören konnte, wie sehr die meisten Schülerinnen und Schüler das soziale Zusammensein in der Schule vermissten.

Keine Form des Lernens erweist sich als vergleichbar effektiv und nachhaltig für alle Beteiligten als diejenige, die in Form des verantwortlichen Gespräch bzw. Dialogs stattfindet.

Der Wind dreht – zumindest schon mal in den angelsächsischen Ländern

Offensichtlich laufen die schon länger in der Schweiz kaum diskutierten, sondern topdown von Schulfunktionären und pädagogischen Hochschulen mit internationaler Ausrichtung (OECD) implementierten Schulreformen diesen Einsichten vollkommen zuwider. Doch, wie Kissling optimistisch erläuterte, scheint man ausgerechnet in den angelsächsischen Ländern, woher ursprünglich die ganze Kaskade an Reformen in unseren Schulen kam, etwas erwacht zu sein. Eine ganze Reihe schulpädagogischer Experten an verschiedenen universitären Forschungsinstituten (USA, Australien, GB u. a.) haben die enorme Bedeutung und das umfassende Potential des Klassenunterrichts entdeckt, der heute als Lernen im Kollektiv bzw. aktuell sogar als dialogisches Lernen bezeichnet wird. Keine Form des Lernens erweist sich als vergleichbar effektiv und nachhaltig für alle Beteiligten als diejenige, die in Form des verantwortlichen Gespräch bzw. Dialogs stattfindet – so die Kerneinsicht dieser Forschungsbemühungen. Allerdings erfordert dieser unterrichtliche Dialog den Aufbau einer Gesprächskultur, die auf klaren Verbindlichkeiten aufbaut, so z. B. darauf, dass der Unterricht zwar vom Lehrer geführt, aber zugleich Sache der Schüler selbst werden muss. Sie müssen insbesondere lernen, laut zu denken, und mit Engagement und im Bewusstsein ihrer Verantwortung dazu beitragen, das vertiefte gemeinsame Nachdenken zu ermöglichen. Vieles, was im gemeinsamen dialogischen Lernen beschrieben wird, erinnert daran, wie vor einigen Jahrzehnten in der Schweizer Lehrerbildung der fragend-entwickelnde Unterricht den angehenden Lehrerspersonen vermittelt wurde.

Die Schweizer Schule war früher auf Kurs – darauf muss dringend wieder aufgebaut werden

Diese Form des Klassenunterrichts war so gut entwickelt und wurde in der Lehrerbildung geschult, sodass die Schweizer Schulen beispielsweise von Lehrern, Schulleitern und auch Didaktikprofessoren aus England regelmässig besucht und ihr strukturierter gemeinsamer Unterricht regelrecht bewundert wurde. Kissling endete mit dem Grundgedanken: Will man den Gemeinsinn, die Sensibilität für soziale Werte wie Respekt, Rücksichtnahme, Toleranz und Kooperationsbereitschaft fördern, Werte, die konstitutiv für eine demokratische Gesellschaft sind und die im gesellschaftlichen Leben der Schweiz aktuell erstaunlich geschwächt erscheinen, so kommt man nicht darum herum, sich angesichts der heutigen Schulentwicklung mit der Frage zu befassen, wie ein grundlegender Kurswechsel möglichst rasch erwirkt werden kann.

Edwin Rupf, Starke Volksschule SG

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Die empirische Forschung hat sich verselbständigt https://condorcet.ch/2020/03/die-empirische-forschung-hat-sich-verselbstaendigt/ https://condorcet.ch/2020/03/die-empirische-forschung-hat-sich-verselbstaendigt/#respond Tue, 31 Mar 2020 19:27:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=4374

Eine neue Autorin aus Deutschland, Inge Konradi, Studienrätin in Mathematik, Physik und Spanisch, besuchte im Dezember 2019, eine Fachtagung Mathematik, die von der KMK, dem IQB und dem Leibniz-Institut organisiert wurde. Daraufhin hat die Lehrervertreterin 6 Thesen verfasst, die sie dem Condorcet-Blog zur Verfügung stellt.

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Im Dezember 2019 fand ein von der KMK, dem IQB und dem Leibniz-Institut für Naturwissenschaften (IPN) in Kiel koordinierter Fachtag Mathematik in Berlin statt, an dem ich teilgenommen habe.

Anstelle eines Berichtes habe ich mich für eine Zusammenstellung meiner Eindrücke in Form von 6 Thesen entschieden, die im Folgenden aufgeführt werden.

  1. Die empirische Forschung hat sich verselbständigt.
Kernaufgaben des IQB: Nationale Bildungsstandards inhaltlich weiter entwickeln und methodisch präzisieren.

Im Zuge der Ökonomisierung der Bildung, der Unterwerfung von Bildungseinrichtungen unter betriebswirtschaftliche Prinzipien und der angeblichen Objektivierung der Resultate, kommt der quantitativen Erhebung und dem darauf basierenden Ranking eine solche Bedeutung zu, dass diese Erhebungs- und Evaluationsstudien die inhaltliche Ausrichtung von Prüfungen und Lehrinhalten steuern.

Das beste Beispiel für die Verselbständigung der quantitativen Messung ist das IQB (Institut für Qualitätssicherung) mit Sitz in Berlin, berühmt-berüchtigt für bundesweite Lernstanderhebungen wie Vera 3 bzw. Vera 8 und Abituraufgabenformate (EPAs).

Neben der Krake IQB gibt es zahlreiche empirische Forschungsinstitute an den Universitäten. Die dort Arbeitenden haben ein ganz persönliches Interesse am Fortbestand dieses Zweiges der Bildungsforschung. Um weitere Gelder zu adquirieren und ihre Stellen zu sichern, müssen sie deshalb natürlich immer darauf verweisen, dass sie noch größere Stichproben bzw. weitere Aspekte untersuchen müssten, um stichhaltige Aussagen liefern zu können, wie konkret am Fachtag immer wieder geschehen. Doch der Wert dieser Studien für die Unterrichts- oder Lehrpraxis ist äußerst fraglich.

Um weitere Gelder zu adquirieren und ihre Stellen zu sichern, müssen sie deshalb natürlich immer darauf verweisen, dass sie noch größere Stichproben bzw. weitere Aspekte untersuchen müssten, um stichhaltige Aussagen liefern zu können, wie konkret am Fachtag immer wieder geschehen.

  1. Praktische Erfahrungen der Lehrenden werden ignoriert.
Schüler sind nicht dümmer als früher.

Alle von Praktikern vorgebrachten Aussagen und Vorschläge zu den Inhalten der Lehrpläne bzw. zum problematischen Einsatz digitaler Medien, die darauf zielten, den Kenntnisstand der Abschlussklassen in Mathematik zu verbessern, wurden stereotyp mit zwei Totschlagargumenten zurückgewiesen:

  • Die Lehrenden haben schon immer über die Defizite der Lernenden geklagt.
  • Die Schüler sind nicht dümmer als früher.

Entgegen dem ansonsten formulierten Anspruch der Bildungsforscher nach handfesten Belegen wurde die erste Behauptung durch historische Zitate sehr allgemeiner Art, die zweite weder durch Argumente noch durch empirische Studien belegt.

  1. Die empirische Bildungsforschung behindert eine Verständigung zwischen Lehrern in den Schulen und Lehrenden in den Hochschulen.

Bekannter Weise klaffen die Leistungen vieler Schulabgänger in Mathematik und die Eingangsvoraussetzungen der Hochschulen in den MINT-Fächern und den Ingenieurwissenschaften weit auseinander.
Aus zwei Bundesländern, Niedersachsen und Baden-Württemberg, wurde berichtet, dass diesbezüglich gemeinsame Tagungen zum Austausch zwischen Lehrkräften und Lehrenden an den Hochschulen einberufen worden seien, auf denen sehr schnell ein Grundkonsens über die Anforderungen der Universitäten bzw. Fachhochschulen und der inhaltlichen Vorbereitung der Schulen auf ein MINT-Studium hergestellt werden konnte. Ein Teilnehmer einer solchen Runde aus Baden-Württemberg berichtete, dass Lehrer und Lehrende schnell einig geworden wären, behindert würde die Einigung ausschließlich durch „die Bildungsverwaltung“[1].

  1. Standards und Kompetenzen sind Spiegelbilder ökonomischer Kennziffern.

Im Gegensatz zur industriellen Fertigung, bei der der Herstellungsprozess gedanklich in viele Einzelteile zerlegt, vermessen und planbar ist, lässt sich der Erkenntnisprozess des Menschen nicht genau steuern und erfassen, denn er verläuft nicht eindimensional, sondern macht Umwege. Der Mensch ist eben keine Maschine!

Erkenntnisprozesse lassen sich nicht genau steuern.

Deshalb sollten wir Pädagogen im Interesse der Schüler und der Gesellschaft die Souveränität über das Unterrichtsgeschehen zurückerobern, indem wir uns auf die pädagogische Freiheit berufen.

Abgesehen davon könnten die Schulen die Ressourcen und Stellen, die die empirische Forschung und speziell das IQB verschlingen, gut und sogar nützlicher im realen Unterricht gebrauchen.

Dasselbe gilt auch für die Lehrkräfte, die hochdotierte Stellen in der Schulinspektion innehaben – ein Arbeitsbereich, der erst der betriebswirtschaftlichen Sicht auf Schule und der indirekten Steuerung entsprungen ist.

Die Forderungen:

  • Abschaffung des IQB!

  • Wiedergewinnung der Autonomie der Lehrenden!

  • Freiheit der Lehre!

 

  1. Die Folgen der Kompetenzorientierung sind eine hirnlose Standardisierung der Aufgabenformate und quantitative statt qualitative Bewertungsraster.

Noch auffälliger als in Mathematik oder den Naturwissenschaften finden die Bildungsstandards und die vorgegebene Objektivierung der Bewertungskriterien ihren Niederschlag in den Sprachen. Die kleinschrittigen standardisierten Aufgabenformate des schriftlichen Abiturs z.B. werden weder dem Inhalt der Texte bzw. Lektüren gerecht noch regen sie zu einer tieferen Analyse an.

Stellwerktest Schweiz:
hirnlose Standardisierung.

Durch die Verallgemeinerung und den Gleichschritt (Inhaltsangabe, Vergleich eines Textaspektes mit einem ähnlichen Aspekt einer Lektüre, die zum Lesekanon gehört, und dem „kreativen“ Schreiben beispielsweise in der Form eines Tagebucheintrags oder Leserbriefs) geht der intellektuelle Anreiz verloren, die kognitiv-anregende und kreativ-erotische Komponente der Auseinandersetzung mit der Literatur bleiben außen vor.

  1. Die „moderne Schule“ ist eine Schule, die sich selbst abschafft.

Eine fast logische Folge von Bildungsstandards, Kompetenzrastern, standardisierten Aufgabenformaten und quantitativen statt qualitativen Bewertungskriterien ist das Konzept des Lernbegleiters – eine Idee, die als Begleitung oder Kontrolle eines Produktionsprozesses (z.B. am Fließband) sinnvoll sein mag, in der Schule, wo es auf soziale Beziehungen, didaktisches und pädagogisches Handeln ankommt, ist sie hingegen nicht nur völlig kontraproduktiv, sondern auch wenig weitsichtig, denn:

Die Zukunft des Lernbegleiters ist der digitale Algorithmus, d.h. der Computer kann verhältnismäßig problemlos den Lernbegleiter ersetzen – jedoch den Lehrer, bei dem die humane Interaktion im Mittelpunkt steht, sicher nicht.

[1] Sinngemäße Aussage eines Teilnehmers

Dieser Artikel erschien zuerst auf der Webseite der GBW, unseres Partnerblogs in Deutschland

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Einsam lernen: 30 Schüler und kein Lehrer https://condorcet.ch/2019/10/einsam-lernen-30-schueler-und-kein-lehrer/ https://condorcet.ch/2019/10/einsam-lernen-30-schueler-und-kein-lehrer/#comments Tue, 22 Oct 2019 20:31:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=2533

Der Condorcet-Blog hat eine doppelte Premiere. Einerseits schreibt eine junge 21-jährige zukünftige Lehrerin aus Deutschland für unseren Blog, was wir sehr begrüssen. Andererseits möchte sie dies nur unter einem Pseudonym tun, was uns sehr leid tut. Der Text entfaltet zwar eine äusserst kritische Sicht auf den heutigen Unterricht und damit auch auf die Ausbildung der zukünftigen LehrerInnengeneration, verstösst aber keineswegs gegen irgendwelche Vertraulichkeitsprinzipien, wodurch sich hier die Behörden gezwungen sähen, Massnahmen gegen die Autorin zu ergreifen. Es ist zweifelsohne besorgniserregend und sagt viel über den heutigen Zeitgeist aus, wenn sich junge Lehramtsabsolventinnen gezwungen sehen, kritische Texte nur anonym zu veröffentlichen. Der richtige Name und die Person sind der Redaktion bekannt.

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Modernes Klassenzimmer
Bild: api

Frontal ausgerichtete Bankreihen, eine Kreidetafel, der allseits gefürchtete Lehrerkalender mit den Notenlisten – all diese Erinnerungen werden geweckt, wenn ich nach Jahren wieder einen Grundschulklassenraum betrete. Das dachte ich zumindest, als ich, Lehramtsstudentin, den ersten Schritt in meine Hospitationsklasse setzte. Doch in Wahrheit waren alle diese Dinge aus dem modernen Klassenzimmer verschwunden. Die Kreidetafel ist einer hochmodernen interaktiven Tafel gewichen. Noten gibt es in den ersten zwei Jahren auch keine mehr und die Schulbänke stehen nicht mehr frontal zur Tafel, sondern verteilt im Raum und heißen nun „Lernbüros“.

Sofort werde ich von Lena angesprochen, die im gleichen Moment wie ich den Klassenraum betritt. Nach der Begrüßung geht sie zielstrebig zu ihrem Lernbüro. Aufmerksam beobachte ich, wie sie ihren Wochenplanhefter herausnimmt. „Hier sind alle Aufgaben drin, die ich diese Woche in Deutsch und Mathe machen muss“, erklärt sie mir geduldig. Timo am Nachbartisch setzt gerade einen dicken Haken hinter seine abgearbeitete Aufgabe im Arbeitsheft.

Arbeitsblätter abarbeiten
Bild: AdobeStock

Die früher selbstverständlichen Tätigkeiten des Lehrers, nämlich Lernbegeisterung und Wissen zu vermitteln, rücken durch dieses neue Selbstverständnis der Lehrkraft in den Hintergrund. Getreu der konstruktivistischen Sichtweise auf die Kindheit ist das erklärte Ziel, dass die Kinder zunehmend ihr Lernen selbst steuern sollen. Dies bedeutet, dass der Lernbegleiter im Gegensatz zum Lehrer eine vorrangig betreuende Funktion einnimmt. Er stellt für die Kinder eine Lernumgebung in Form von Materialien bereit, in der sich die Kinder vorwiegend selbst mit den Themen beschäftigen sollen. Nicht der Lernbegleiter gibt allumfassend vor, was im Unterricht gemacht werden soll, sondern er bespricht mit dem jeweiligen Kind die nächsten Schritte auf dem individuellen Lernweg.

Offener Unterricht, Wochenplanarbeit und Lernwerkstätten lauten die verheißungsvollen Elemente des individualisierten Unterrichts, der bereits die bundesdeutschen Klassenzimmer erobert. Dank dieser Unterrichtsform soll jedes Kind die Möglichkeit bekommen, auf seinem Niveau und in seinem Tempo die Aufgaben zu erledigen, ohne dabei dem Zwang und dem Druck des gemeinschaftlichen Klassenunterrichts ausgesetzt zu sein. Das Kind mit seinen individuellen Stärken und Schwächen soll verstärkt in den Vordergrund schulischen Lernens rücken. Genährt wird diese Entwicklung durch die zunehmende Heterogenität der Schulklassen, die angeblich nur durch eine Individualisierung des Lernprozesses zu bewältigen sei.

Horizonterweiterung durch vereinzeltes Lernen?

Bild: Spiegel

Wenn ich mich umblicke und die ganz alleine mit unterschiedlichen Dingen beschäftigten Kinder betrachte, dann ist die Schlussfolgerung simpel, dass das individualisierte Lernen einen Unterricht im Klassenverband unmöglich macht. Vielmehr sollen die mit dem Lernbegleiter besprochenen Arbeitspläne erledigt werden. In der Realität führt der Weg konsequenterweise zu einem starren Abarbeiten von stupiden und auf das Nötigste reduzierten Arbeitsheften, Arbeitsblättern, Karteien und Spielchen. Es ist allerdings fraglich, ob solche für den Zweck der selbstständigen Bearbeitung nivellierten Materialien einen lebendigen Unterricht durch die Lehrkraft ersetzen können.

 

Werden die Arbeitsblätter zu kritischem Hinterfragen anleiten und ganz andere, abstrakte Horizonte eröffnen können?

Wenn Kinder sich selbstständig mit dem zu erlernenden Stoff auseinandersetzen, werden sie dann größere Bezüge herstellen, als es ihr bisheriger Horizont zulässt? Werden die Arbeitsblätter zu kritischem Hinterfragen anleiten und ganz andere, abstrakte Horizonte eröffnen können? Ist es nicht der Lehrer, der durch seinen Wissensvorsprung und das Gespräch mit den Kindern in der Lage ist, den Stoff in einen viel breiteren Sinnkontext einzubetten, als es die Kinder je mit Hilfe der Arbeitsblätter können? Lehren bedeutet, sein Wissen zu nutzen, um Neues hervorzuheben, in neue Zusammenhänge und zur Diskussion zu stellen. Gerade diese Aufgaben des Lehrers wurden im Zuge der Umetikettierung zum Lernbegleiter wegrationalisiert!

Lernunterschiede verstärken sich

Mein Blick fällt auf Julian, der nun schon seit gefühlten zehn Minuten resigniert sein Dasein vor seinem Arbeitsblatt fristet. Julian ist verzweifelt, denn er versteht das Arbeitsblatt nicht. Wenn er nicht weiter weiß, soll er sich an ein anderes Kind wenden, das diese Aufgabe schon gelöst hat. Doch das Kind konnte ihm auch nicht helfen. Nun sitzt er da und macht nichts. Die Lernbegleiterin scheint noch mit anderen Schülern beschäftigt zu sein.

Individualisierter Unterricht
Bild: LP BW

„Jeden Schüler mit seinen eigenen Stärken und Schwächen wertschätzen, fordern und fördern“, heißt das chorische Narrativ der harmonischen Imagefilme, die für „individualisiertes Lernen“ werben. Die Frage drängt sich auf, ob dieses ambitionierte Ziel in Hinblick auf die äußerst große Heterogenität überhaupt erreichbar ist. Stimmt es wirklich, dass diese Art des Unterrichts, wie so oft behauptet, zu mehr Gerechtigkeit führt? Eher scheint es der Fall zu sein, dass sich die Leistungsunterschiede der Kinder immer weiter verstärken. Kinder, die über die nötige Selbstbeherrschung und Konzentration sowie Intelligenz zum Abarbeiten der Aufgaben verfügen, können deutlich mehr erreichen, als ein Kind mit Konzentrationsstörungen.

Schleichender Sinkflug

Gerade bei schwächeren oder langsameren Schülern besteht die Gefahr, dass sie bei selbstständiger Arbeit nicht motiviert werden, schneller oder mit größerer Bereitschaft zu arbeiten.Kann die Resignation der Umgebung vor dem derzeitigen Leistungsvermögen des Kindes als unterlassene Hilfeleistung interpretiert werden? Kann sich so das individualisierte Lernen wegen mangelnder Zuwendung und Druckes von außen in mancher Hinsicht als Grund für einen schleichender Sinkflug von Schülerleistungen enttarnen?

Aufbewahrende Beschäftigung

Julian hat sich in der Zwischenzeit doch noch einmal an ein anderes Kind gewandt. Geduldig diktiert Fritz ihm nun die Lösungen. Ist es wirklich der beste Weg, dass Kinder in ihrer eigenen Lernzeit andere Kinder unterrichten? Die Leistungsspitze der Klasse wird beim eigenen Arbeiten gestört, weil sie in ihrer eigenen, dringend benötigten Lernzeit andere Schüler unterrichten muss. Des Weiteren werden sie aufbewahrend beschäftigt, wenn sie ihr Aufgabenpensum erledigt haben.

Leistungsstarke Schüler als Lehrerersatz

Gegenseitige Unterstützung kann und soll – dosiert eingesetzt – durchaus zur Vertiefung und Festigung eines Themas beitragen. Zu sehr scheint hier jedoch die systemimmanent notwendige Entlastung des Lernbegleiters sowie die Beschäftigung leistungsstarker Schüler im Fokus zu stehen. Ist es dann sogar möglich, dass unter dem Deckmantel der Förderung von angeblich so wichtigen sozialen Kompetenzen bei Gruppenarbeiten und Projekten eher versucht wird, die Leistungsunterschiede (besonders durch deren Benotung) wieder zu vereinheitlichen?

Die freie Arbeitszeit neigt sich dem Ende zu, und die Kinder finden sich im Sitzkreis zusammen, um ihre Aufgaben zu präsentieren und über ihre Arbeit zu reflektieren. Während Lena stolz ihre Geschichte vorliest, ist Julian mit seinen Gedanken ganz woanders. Wie viel er wohl heute gelernt hat?

Immer mehr ertappe ich mich dabei, ein Bereitschaftswächter zu werden, der sicherstellt, dass die Kinder sich ohne Widerspruch dem Sachzwang der Arbeitsblätter unterwerfen. Begeisterung und Leidenschaft sind nur störend in der Kompetenzarena, in der es vorrangig auf die einmalig geleistete Handlung ankommt.

Ich nutze die Zeit, um meine Eindrücke zu verarbeiten. So richtig wohl fühle ich mich in meiner neuen Rolle als Mini-Lernbegleiter nicht. Immer mehr ertappe ich mich dabei, ein Bereitschaftswächter zu werden, der sicherstellt, dass die Kinder sich ohne Widerspruch dem Sachzwang der Arbeitsblätter unterwerfen. Begeisterung und Leidenschaft sind nur störend in der Kompetenzarena, in der es vorrangig auf die einmalig geleistete Handlung ankommt. Dass dieses Können nicht nachhaltig gelernt ist, scheint in einer Welt, in der alles Wissen im Internet verfügbar ist, nicht zu stören. Wissen ist überall – auf den Charakter kommt es an. Sich Wissen zu eigen machen, Emotionen und Leidenschaft damit zu verbinden, all das stört die trostlose Welt der Output-Orientierung. Gefragt sind sozial kompetente Wesen, die sich anpassungsfähig und hoch motiviert, jedoch ohne Reflexion, auf die ihnen auferlegten Aufgaben stürzen. Weshalb beschäftige ich mich mit diesem Gegenstand? Mit welchem Ziel? Wahrscheinlich wird hier nicht der gelernte Inhalt für die Kinder zum Ziel, sondern das abgearbeitete Arbeitsblatt.

Von der Autoritätsperson zum Arbeitsblatt

Das eigentliche Ziel von Schule sollte es sein, den Menschen zum selbstständigen Denken und Handeln zu befähigen. Doch auch hier liegt der Teufel im Detail. Selbstständigkeit wird bei dieser Form des Lernens in gewissem Maße vorausgesetzt. Individuelles Lernen verlangt Selbstregulation und das Treffen von Entscheidungen. Die Frage bleibt, ob die Kinder in diesem Alter dazu schon in der Lage sind. Können die Kinder entscheiden, wann sie ein Thema verstanden haben? Werden den Kindern selbst Details auffallen, und werden sie diese hinterfragen?

Lehren bedeutet für mich unter anderem, mein Wissen zu nutzen, um anleitend Neues hervorzuheben, auf Details aufmerksam zu machen, Widersprüche aufzuzeigen und Kinder zum Nachdenken anzuregen. Wurden nicht gerade diese Aufgaben des Lehrers im Zuge der Umetikettierung zum Lernbegleiter wegrationalisiert? Und dies vor allem deswegen, weil der Lehrer als Autoritätsperson verschwinden soll? Doch wurde die Autorität nicht ausgelöscht, sondern einfach nur verlagert? Weg von einer greifbaren, realen Person, einem Vorbild, hin zu einem neutralen, versteckten Zwang von Arbeitsblatt und Wochenplan?

Frei und selbstständig sind die Kinder kaum mehr als früher, denn anstatt den Anweisungen der Lehrer zu folgen, folgen sie nun den Anweisungen der Arbeitsblätter, die wertneutral und ohne Vorbildfunktion daherkommen. Unterricht lebt von Anspannung und Entspannung, von Staunen und Üben sowie Anleitung und Selbstständigkeit. Es ist dieses Wechselspiel, das Unterricht spannend und bedeutsam macht. Kann man einfach so ein Element aus dem Gefüge nehmen, ohne dass dem Unterricht eine wichtige Säule genommen wird? Schule sollte jungen Menschen „die Augen für das [öffnen], was sie noch nicht sehen“ (Hans Schmid). Wird die Schule dieser Aufgabe nicht mehr gerecht, dann verliert sie erst recht an Bedeutung für die junge Generation.

Mir hat diese Reflexion gezeigt, dass ich für meine Schüler eine Identifikationsfigur werden möchte, die nachhaltig Sachinteresse, Faszination und Begeisterung wecken kann, aber auch Halt und Orientierung vermittelt. Ich möchte Lehrerin werden – kein Lernbegleiter.

 

Anna Stahl ist 21 Jahre alt und studiert Grundschullehramt in Deutschland. Sie schreibt unter einem Pseudonym. Ihr richtiger Name ist der Redaktion bekannt.

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Selbstgesteuertes Lernen, ein fragwürdiges Konzept? https://condorcet.ch/2019/07/selbstgesteuertes-lernen-ein-fragwuerdiges-konzept/ https://condorcet.ch/2019/07/selbstgesteuertes-lernen-ein-fragwuerdiges-konzept/#respond Sun, 07 Jul 2019 13:30:52 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1573

Unter dem Titel "Selbstgesteuertes Lernen, ein fragwürdiges Konzept?" sendete SWF Kultur in der Aula vom 30. Juni 2019 um 08.30 Uhr einen Vortrag der Freiburger Erziehungswissenschaftlerin Nicol Vidal (BRD). Ihre Überlegungen gehen von einem Schulbesuch aus, bei dem sie eine jahrgangsübergreifende Klasse des 3. und 4. Schuljahres beobachtete, die selbstorganisiert an Lernposten das Sachthema Brücken bearbeitete. Condorcet-Autor Felix Schmutz hat die Sendung gehört und für Sie zusammengefasst.

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Felix Schmutz, Baselland,

Nicol Vidal erläutert zunächst das pädagogische Konzept, das den Kindern zwar eine Lernumgebung vorgibt, ihnen jedoch die Freiheit lässt, selbst zu entscheiden, woran und wie sie arbeiten wollen. Die Lehrerin hält sich als Coach im Hintergrund. Die Kinder überprüfen auch die Ergebnisse ihrer Arbeit selbst. Die Lernstationen lösen Aktivitäten aus, die den Kompetenzformulierungen im Lehrplan entsprechen: z.B. das Verstehen von Konstruktionsprinzipien unterschiedlicher Brücken, indem die Kinder selbst Brücken bauen.

Antwort auf den PISA-Schock!

Solche schülerzentrierte Lernarrangements seien die Antwort auf den PISA-Schock und die wachsende Heterogenität der Klassen. Man hofft, von der unergiebigen Wissensvermittlung durch Frontalunterricht wegkommen, die Problemlösefähigkeit der Kinder besser fördern und das Lernen individueller gestalten zu können.

Vidal fragt, wie gut diese Formen des selbstgesteuerten Lernens wissenschaftlich abgesichert sind. Lehrpersonen holen sich ihre Anregungen aus Ratgebern. Diese beziehen die Legitimation und die theoretische Begründung aus popularisierten und teilweise fragwürdigen Darstellungen der Hirnforschung, die darauf hinauslaufen, dass sich bei subjektiv anregender Atmosphäre das Lernen als anthropologische Konstante von selbst vollzieht. Die theoretische und empirische Abstützung durch Lern- und Unterrichtsforschung fehlt jedoch.

Die Ratgeber erläutern hauptsächlich Methoden, Arbeitstechniken und Kompetenzraster zur Selbstevaluation, welche die Schüler(innen) zur Selbstständigkeit führen und die Lehrperson weitgehend überflüssig machen sollen.

Dominiert werden die Stunden von Materialien, dem Abarbeiten von Stationen, dem Ausfüllen von Blättern, dem Abhaken von Rastern.

In der praktischen Umsetzung zeigen sich die Tücken des Arrangements: Dominiert werden die Stunden von Materialien, dem Abarbeiten von Stationen, dem Ausfüllen von Blättern, dem Abhaken von Rastern. Anspruchsvollere Stationen mit dem Visieren von Videoclips und Quizfragen verlieren schnell ihren anfänglichen Reiz. Unklar ist, ob die Sache, um die es eigentlich geht, verstanden wurde, ob Transferfähigkeiten entstanden sind. Empirische Forschungen zeigen, dass die Fokussierung auf Materialien die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Sache und die Arbeitsergebnisse aufs Nebengleis abdrängt. Kinder erachten die Überprüfung der Ergebnisse als irrelevant, schreiben Lösungen von Lösungsblättern ab und korrigieren Fehler, ohne diese verstanden zu haben.

Nicol Vidal: «Der Bildungsauftrag vollzieht sich mitnichten im Selbststeuerungsmodus.»

Der Zwang zur kontinuierlichen Selbstreflexion mittels Kompetenzrastern und Portfolios verbindet den reformpädagogischen Ansatz mit dem neoliberalen Selbstoptimierungsgebot. Das setzt Lernende ebenso unter Druck wie der traditionelle Unterricht mit der Fremdevaluation durch die Lehrperson. Schüler(innen), die der Norm des selbstständig Lernenden nicht entsprechen, werden schnell als aufmerksamkeitsdefizitär oder undiszipliniert pathologisiert.

Fazit von Nicol Vidal (wörtliches Zitat aus dem Vortragsmanuskript):

«Falsch ist nicht die Idee, dass Kinder im Laufe ihrer Schulzeit in zunehmendem Maße unabhängig werden, sondern die Vorstellung, dass Kinder von Natur selbstständige Lerner sind und sich deshalb die Funktion von Lehrkräften im Bereitstellen von interessanten Lernumgebungen erschöpft. Doch genau dieser Eindruck wird in den Praxisratgebern zuweilen vermittelt. In diesem Sinne ist auch die Neudefinition der Lehrkraft als „Moderator“ oder „Coach“ kritisch zu sehen, denn sie wird der Verantwortung professioneller Pädagoginnen und Pädagogen nicht gerecht. Die Schule hat einen Erziehungs- und Bildungsauftrag – und der vollzieht sich mitnichten im Selbststeuerungsmodus.»

 

Zusammenfassung von Felix Schmutz, 01.07.2019

 

Quelle (Audio und Manuskript):

https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/selbstgesteuertes-lernen/-/id=660374/did=21970104/nid=660374/1i5kuwy/index.html

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Wenn Widerstand zur Pflicht wird https://condorcet.ch/2019/06/wenn-widerstand-zur-pflicht-wird/ https://condorcet.ch/2019/06/wenn-widerstand-zur-pflicht-wird/#respond Fri, 28 Jun 2019 09:54:33 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1547

Kämpfe zwischen Schulleitung und Lehrpersonen häufen sich. Massive Direktiven von oben stossen auf pädagogische Praxis unten. Schulleitungen bleiben, Lehrer kündigen; Leidtragende sind die Schüler. Condorcet-Autor Carl Bossardt ordnet die Geschehnisse ein und benennt, was wir schon alle wissen: Der Umbau der Öffentlichen Schule ist im Gang.

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Carl Bossard

Die Muster gleichen sich: Neue Schulleitungen kommen und mit ihnen neue Konzepte. Angekündigt sind grosse Reformen. Das Bisherige interessiert wenig; eine klare Analyse der Situation vor Ort fehlt meist, ebenso eine fundierte empirische Datenbasis. Schulpräsidien und Aufsichtskommissionen lassen sich nicht selten von schönen Innovations-Worten und Changemanagement-Vokabeln blenden und ziehen mit. So geschehen in der Thurgauer Schulgemeinde Wigoltingen, so passiert an manch andern Orten der Schweiz. „Verwerfungen an Schulen häufen sich auffällig – von der Volksschule bis zur Hochschule. Mittendrin finden sich jeweils die Schulleitungen und Rektorate“, schrieb die NZZ vor Kurzem.[i]

Pädagogisch-didaktische Einseitigkeiten

Auch wenn die aktuellen Konflikte unterschiedliche Hintergründe haben, scheint den verschiedenen Geschehenskomplexen eines gemeinsam: Im subtilen Gleichgewicht schulischen Lehrens und Lernens wurden Einseitigkeiten favorisiert und „durchgeboxt“. Das dynamische Dreieck zwischen Strategie (Was wollen wir gemeinsam erreichen?), Kultur (Wer sind wir als Schulteam?) und Struktur (Wie machen wir’s als Lehrerkollegium?) geriet so aus der Balance.

 

Es kam zu Konflikten mit unüberbrückbaren Fronten. Gesiegt hat in allen aktuellen Fällen das System mit dem Rektorat und den Aufsichtskommissionen. Die Schulleitung behielt ihr Amt, Lehrpersonen gingen; zurück blieben Scherben. Leidtragende sind Kinder und Jugendliche. Ihretwegen aber wagten verschiedene Lehrpersonen den Widerstand.

Schule ist kein Entweder-Oder; guter und lernwirksamer Unterricht ist ein Sowohl-als-Auch.

Vermischung von strategischer und operativer Ebene

Nationales Echo löste der Fall an der Sekundarschule im thurgauischen Wigoltingen aus. Zwei neue Leiter übernahmen auf Anfang des Unterrichtsjahres 2018/19 das Regiepult der Volksschulgemeinde. Beide kamen aus privatwirtschaftlich geführten Schulen. Ihre erste Handlung: Was existierte und funktionierte, wurde sofort als reformbedürftig problematisiert. Das schuf vordergründigen Reformbedarf und einen Innovationsdruck.

Mit an Bord waren die Schulbehörden und ihre Präsidentin Nathalie Wasserfallen. Die strategischen Vorgesetzten verbündeten sich mit den beiden operativ Verantwortlichen. Das erwies sich als problematisch. Eine spätere Distanz war kaum mehr möglich. Dazu zeigte sich eine völlige Indifferenz der politischen Ebene gegenüber widersprüchlichen, weil undurchdachten Zielsetzungen des Reformierens.

Poster im Lehrerzimmer des OSZ-Orpund
Bild: api

Reformdiktat von oben

Sehr schnell wurde von oben her umgebaut und der Primarschulunterricht auf 2019/20 von bisherigen Jahrgangsklassen auf altersdurchmischtes Lernen AdL umgestellt – mit geplantem Weiterzug auf die Sekundarstufe. Der Arbeitsaufwand für Lehrpersonen ist gross, der Wirkwert auf Schülerseite dagegen gering, sozial wie kognitiv. Das zeigt die Forschung. Skeptischen Stimmen wurde der Weggang nahegelegt. „Wir haben eine Richtung und dann schauen wir, wer mitmachen will“, so die Schulleitung.[ii] Die Lehrer seien nur ausführende Kraft; geführt werde die Schule wie ein KMU-Unternehmen – mit Weisungen von oben.[iii]

 

„Bringe mir nichts bei!“

Letztlich ist es ein Methodenstreit um das autonome Arbeiten, der zum Zerwürfnis geführt hat. Die neue Schulleitung verlangte eine absolute Dominanz des selbstorganisierten Lernens SOL mit der Lehrperson als Lerncoach. Ein solcher Unterricht kündigt das pädagogische Grundverhältnis zwischen Lehrer und Schüler auf und macht Kinder zu isolierten Lernplanbewältigern. Diese Methode wird u.a. vom Ostschweizer Schulentwickler Peter Fratton mit seinem Credo „Lehrer, bringe mir nichts bei! Erkläre mir nicht!“ gepredigt. Ein krudes Verbot, letztlich ein Lehrverbot! Der neue Wigoltinger Schulleiter Mirko Spada verfolgt diese Spur konsequent, obwohl sie einem wissenschaftlichen Diskurs kaum standhalten dürfte.

Diesem unbedingten methodischen Imperativ widersprach auch die Professionsempirie langjähriger Pädagogen. Sie wiesen darauf hin, dass Lehrer eben mehr als nur Lernbegleiter wären und dass gutes Lernen ein pädagogisch-didaktisches Beziehungsgeschehen zwischen Menschen sei. Solche Lehrerinnen und Lehrer wissen, dass erfolgreicher Unterricht ein hohes Mass an themen- und sachbezogener Schüleraktivität mit einem hohen Mass an schülerorientierter Lehrersteuerung verbindet. Schule ist kein Entweder-Oder; guter und lernwirksamer Unterricht ist ein Sowohl-als-Auch.

 

Kampf zwischen Rektorat und Prorektorat

Auch das zweite Beispiel führt in den Kanton Thurgau. An der Pädagogischen Hochschule Thurgau in Kreuzlingen kam es zum Konflikt zwischen der Hochschul-Rektorin Priska Sieber als Repräsentantin des Systems und ihrem Prorektor Matthias Begemann. Ein klassischer Kampf zwischen Ordnung und Freiheit, zwischen der Präferenz für Regelungen bzw. Controlling auf Seiten der Rektorin und dem Wunsch nach Freiraum für neue Ideen und pädagogisches Wirken von Seiten des Prorektors. Die Rektorin setzte auf Verordnung, der Prorektor auf Freiheiten.

Klar ist, wer gewinnen musste: Wenn Individuum und System in Konflikt geraten und aufeinanderprallen, siegt im Regelfall das System. Und die Aufsichtskommissionen stehen meist auf der Seite des Systems. Sollte es einmal anders sein, nennt man diese Individuen „Helden“ oder, im tragischen Fall, „Märtyrer“. Prorektor Martin Begemann musste gehen.

 

Zwei Kräfte kann man nicht gleichzeitig maximieren

Für alle diese Fälle gilt: Niemand kann zwei gegensätzliche Kräfte – im Fall Kreuzlingen ist es Freiheit auf der einen und Controlling auf der anderen Seite – gleichzeitig maximieren. Das geht nicht. Wer einen Strang wie jenen der Vorschriften maximiert, reduziert und minimiert den andern Vektor, jenen der Freiheit. Die Balance geht verloren. Schulisch positives Wirken resultiert stets aus der Dynamik eines Sowohl-als-Auch. Es ist die Resultante aus beiden Kräften zugleich.

 

Einseitigkeiten sind verheerend

„Bildungspolitiker ignorieren die Erkenntnisse der Wissenschaft“, schrieb DIE ZEIT vor Kurzem.[iv] Das gilt auch für die politische Ebene der Aufsichtskommissionen. Wie anders ist es zu erklären, dass so viele Schulbehörden schönen Schalmeien aufsitzen und Schulleitungen stützen, die ihre gewagten Theorien und inkonsistenten Konzepte gegen langjährige operative Praxiserfahrung durchdrücken? Die Schule Wigoltingen mit dem Narrativ des „autonomen Lernens“ ist kein Einzelfall. Leidtragende sind die Kinder. Sie aber haben ein Recht auf einen lernwirksamen Unterricht. Hier wird Widerstand zur moralischen Pflicht.

[i] Jörg Krummenacher, An den Schulen lebt der Filz, in: NZZ 23.06.2019, S. 14.

[ii] Sabrina Bächi, Mehr Niveau für die Schüler, in: St. Galler Tagblatt 04.01.2019, S. 29.

[iii] Dies., Wigoltinger Lehrer fordern Schulleiter zur Kündigung auf, in: St. Galler Tagblatt, 05.04.2019.

[iv] Nina Kolleck, Das grosse Desinteresse, in: DIE ZEIT, 27.09.2018, S. 67.

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Bildung 4.0 – über die Reduktion auf das Zweidimensionale https://condorcet.ch/2019/05/digitalisierung/ https://condorcet.ch/2019/05/digitalisierung/#respond Wed, 01 May 2019 22:41:29 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=835

Politik, Industrie und Verwaltung fordern, Kindergärten und Schulen mit allerlei digitalen Wunderwaffen zu überhäufen. Christine Staehelin, Primarlehrerin in Basel-Stadt, erhebt Einspruch,

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Industrie 4.0, Arbeit 4.0 und Gesellschaft 4.0: Die Digitalisierung breitet sich zunehmend in alle Lebensbereiche aus. Obwohl sich deren Auswirkungen erst im Nachhinein feststellen lassen werden, soll die Schule nun auf diese Industrie-, Arbeits- und Gesellschaftsveränderungen vorbereiten. Die so genannte Bildung 4.0 steht im Raum – ein neuer Bildungsbegriff ist geschaffen. Doch was ist damit eigentlich gemeint?

Es bleibt offenbar keine Zeit, darüber nachzudenken. Denn wenn man die aktuellen Entwicklungen an den Schulen beobachtet, scheinen jene, welche diese vorantreiben, schon genau zu wissen, was Bildung 4.0 ist und wie man diese vortrefflich umsetzt: Auf die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche glaubt man sich an den Schulen am besten unmittelbar mit einer immer intensiveren und vielfältigeren Nutzung digitaler Geräte und Lehrmittel vorbereiten zu müssen. Und da man davon ausgeht, dass die Nutzung digitaler Medien auch Gefahren mit sich bringt – wobei der übermässige Gebrauch an sich schon eine darstellt –, soll die Schule auch gleichzeitig vermitteln, wie man sich, auch in der Freizeit, dagegen schützt. Das nennt man heute Medienkompetenz.

Doch treten heute nach einer von zunehmendem digitalem Medienkonsum geprägten Kleinkind- und Vorschulzeit teilweise Kinder in den Kindergarten ein und verstehen nicht, wovon eine erzählte Geschichte handelt. Es fehlt ihnen an Imagination. Mangelndes Vorstellungsvermögen und mangelnde Anstrengungsbereitschaft führen dazu, dass sie nicht mehr in der Welt des Spielens und des konkreten Tuns versinken können. Geprägt von digitalen Bildern, die allein als glänzende Oberflächen erscheinen, können sie den Bezug zur realen Welt nicht mehr herstellen. Mit dem Schulbeginn lernen sie, Buchstaben zu Wörtern zu verbinden und diese auch zu erlesen. Doch der Sinn hinter vielen Wörtern, Sätzen und Texten erschliesst sich ihnen nicht, da ihnen ein Erinnern und die entsprechende Imagination fehlen. Und Ziffern bleiben Ziffern, dass sich dahinter konkrete Mengen und Ordnungen verbergen, wird ihnen nicht ersichtlich.

Wenn sich die Welt nur zweidimensional zeigt, dann geht dabei jener Raum verloren, der es erlaubt, sich selbst dazu in eine Beziehung zu setzen, sich von der Welt an sich berühren und beeindrucken zu lassen. Ein Ort, wo es darum geht, verstehen zu wollen, zu denken und nachzudenken, zu fragen und zu hinterfragen, sich von Problemen und Widersprüchlichkeiten herausfordern zu lassen und manchmal auch zu verzweifeln, weil es Dinge gibt, die sich nicht so einfach erschliessen lassen. Das ist anstrengender als jeder Klick. Es führt aber dazu, dass die Lernenden sich die Welt in einer Form aneignen, die sie zu einem Teil ihres Selbst werden zu lassen.

An den Schulen war es bis anhin die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer, diese Weltzugänge zu ermöglichen, indem sie sich Gedanken darüber machten, wie die Zugänglichkeit über Anschauung, Auswahl, Reduktion und Anschlussmöglichkeiten an bereits Gelerntes geschaffen werden kann. Das bedeutet, dass sie einerseits selbst über das entsprechende Wissen verfügen müssen und andererseits aber auch ihre Begeisterung und Leidenschaft für die Welt teilen und weitergeben sowie Horizonte eröffnen wollen. Ansonsten bleibt das Wissen, auch wenn es noch so gut «aufbereitet» ist, leblos. Wissensvermittlung über digitale Medien geschieht in einer Form, die keine offenen Anschluss- und Bearbeitungsmöglichkeiten bietet, wie dies im personalen Austausch und in der Begegnung mit dem Gegenstand an sich noch möglich ist. Gesteuert, vermessen und kontrolliert wird das Lernen über die Software. Der Lehrerin bleibt es einzig und allein vorbehalten, als so genannter Coach bei der Lösung von Aufgaben behilflich zu sein. Das raubt der Lehrerin ihren Ort, weil zwischen der digital aufbereiteten Welt und den Lernenden kein gestaltbarer Raum mehr besteht.

Die Schule bietet nicht nur den Raum für Weltzugänge, sondern auch jenen für Begegnungen unter Menschen. Sie ist der Ort, an welchem Schülerinnen und Schüler aufeinandertreffen, die sich zuvor nicht gekannt und die jene Gruppe, die sie nun bilden, auch nicht gewählt haben. Sie nehmen wahr, dass es die Anderen gibt, die sich unterscheiden, die unterschiedlich reden, handeln und urteilen und eigene Perspektiven einbringen. Wenn Kinder in die Schule eintreten, ist dies ein Schritt hinein in eine halböffentliche Sphäre, die sich klar von jener der familiären unterscheidet. Hier lernen sie verschiedene Gegenüber kennen, die mit ihnen nicht privat, sondern allenfalls freundschaftlich, möglicherweise aber auch gar nicht verbunden sind. Die Schule bietet jenen Raum, in welchem sich das Zusammenleben bestens erlernen lässt; wo man sich einigen oder im Dissens verharren lernt, wo man sich begegnet und wieder auseinandergeht, ohne sich zu nahe zu treten. Wenn man jedoch unter Lernen an der Schule nur noch ein individuell angepasstes Aufgabenlösen am Bildschirm versteht, dann führt dies zu einer totalen Vereinzelung. Es bleibt allein der Selbstbezug, dagegen hilft auch das gemeinsame Lösen von digital gestellten Problemen nichts.

Heute muss sich die Schule der Frage stellen, ob sie ein Ort sein will, an welchem die Reduktion der Welt auf die Oberfläche des digitalen Mediums und eine drohende Vereinnahmung durch die Digitalisierung selbst stattfindet; dann macht sie die Lehrerinnen und Lehrer, das Lernen im Kollektiv und schliesslich sich selbst längerfristig überflüssig.

Oder sie versucht weiterhin, unmittelbare Weltzugänge zu schaffen und unter dem Lernen eine personale Angelegenheit zwischen Lernenden und Lehrenden bzw. Lernenden und der Welt sowie den Lernenden untereinander zu verstehen. Dies kann sie nur leisten, wenn sie dafür einen Raum bietet, in welchem die Aneignung von Welt in vielfältiger Weise – verbunden ­mit Anstrengung, Imagination und Reflexion – stattfinden kann. Damit schafft sie auch einen Raum für Neues, Unvorhergesehenes, welches die Schülerinnen und Schüler einbringen.

Wenn aufgrund der Digitalisierung aller Lebensbereiche die Unterscheidung zwischen der realen und der virtuellen Welt verschwindet; wenn sich kein Raum mehr zeigt zwischen dem Menschen an sich und der Welt, wie sie ihm erscheint, und zwischen den Menschen, weil sie sich als Verschiedene begegnen, dann stellt sich die Frage, wo die Gestaltungsräume bleiben, in welchen wir uns der Freiheit vergewissern können, weder vom Weltgeschehen an sich noch von Herrschenden vollständig bestimmt zu werden.

Wenn die Schule in erster Linie auf das Lernen mittels digitalisierter Medien setzt, dann schafft sie sich als öffentliche Institution längerfristig selbst ab. Oder sie setzt digitale Medien altersgemäss und je nach Bedarf dort ein, wo es didaktisch angebracht ist, und bleibt ansonsten ein Ort, wo die realen Begegnungen mit der Welt und den Anderen im Zentrum stehen und der dreidimensionale Raum die Möglichkeiten offenlässt, um zu lernen, zu verstehen, zu gestalten und Neues entstehen zu lassen. Denn wenn man die Kinder auf etwas Neues vorbereitet, «schlägt man den Neuankömmlingen ihre eigene Chance des Neuen aus der Hand“, wie Hannah Arendt[1] schon vor Jahrzehnten anmerkte.

 

Christine Stähelin, Primarlehrerin, Basel-Stadt

 

[1] Arendt, H. (1994). Zwischen Vergangenheit und Zukunft. München: Piper, S. 258

 

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