Chancengleichheit - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 07 May 2024 05:07:16 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Chancengleichheit - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Kernfrage der Bildung: Was sollen die Schüler lernen und wie lernen sie am besten? https://condorcet.ch/2024/05/kernfrage-der-bildung-was-sollen-die-schueler-lernen-und-wie-lernen-sie-am-besten/ https://condorcet.ch/2024/05/kernfrage-der-bildung-was-sollen-die-schueler-lernen-und-wie-lernen-sie-am-besten/#comments Tue, 07 May 2024 05:07:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=16659

Für den aktuellen und hier publizierten Newsletter der Starken Volksschule zeigt sich die Berufsschullehrerin Marianne Wüthrich verantwortlich. Sie greift die Themen der letzten beiden Wochen auf: Handyverbot, die Bildungsoffensive der Theoretiker in den Büros der Bildungsbürokratie, die konstante Benachteiligung der unterprivilegierten Schichten und die verhängnisvollen Effekte einer falsch verstandenen Selbststeuerung des Schülers.

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Nach der Diskussion über die Abschaffung der Noten steht nun wieder einmal die «Schule ohne Selektionsdruck» im Raum. Wenn es nach der Idee von Schulleiterverbands-Präsident Thomas Minder und weiterer Schulleiterinnen ginge, würde erst nach dem Ende der Oberstufe, also bei den Sechzehnjährigen selektioniert werden. Dabei gehe es um die «Chancengerechtigkeit»: Jugendliche, die in die Sek B oder C eingeteilt werden, würden «für den Rest des Lebens stigmatisiert». Ähnliche Argumente kennen wir bereits in Bezug auf die Einführung von Förderklassen, aber sie laufen an den eigentlichen, den grundsätzlichen Problemen unserer Volksschule vorbei.

Was soll daran gerecht sein, wenn wir Kinder bis zum Schulabschluss in den Regelklassen sitzen lassen, ohne dass sie den Stand ihrer leistungsstärkeren Mitschüler erreichen können?

Mehr Gerechtigkeit ohne Selektion?

Was soll daran gerecht sein, wenn wir Kinder bis zum Schulabschluss in den Regelklassen sitzen lassen, ohne dass sie den Stand ihrer leistungsstärkeren Mitschüler erreichen können? Ist es nicht gerechter, wenn wir jedem die Chance geben, in einer Klassengemeinschaft mit etwa Gleichstarken und in intensiver Lernbeziehung mit der Klassenlehrerin voranzukommen? Wie Daniel Kachel, Vertreter der Sekundarstufe im Lehrerverband, richtig feststellt, wird «mit einer Verschiebung der Selektion das System nicht gerechter». Denn nicht der Buchstabe auf dem Sek-Zeugnis mache es aus, ob jemand eine Lehrstelle findet. Wichtiger sei es, dass die Sekundarschule «die Jugendlichen bestmöglich auf den Beruf oder das Gymnasium vorbereitet».

Das bringt uns zum Kern der Sache. Denn die Diskussionen über Noten, Selektion oder die erwünschte Maturaquote lenken vom Wesentlichen ab, nämlich: Welche Aufgabe hat die Volksschule? Was sollen die Schüler lernen und wie lernen sie am besten? Die damit eng verbundene Frage, welche Ausbildung Lehrerinnen und Heilpädagogen benötigen, damit sie den ihnen anvertrauten Kindern die bestmögliche Bildung mitgeben können, würde den Rahmen des heutigen Newsletters sprengen, wird aber sicher ein andermal Thema sein. Als mahnenden Einstieg dazu empfehlen wir die Geschichte von Alain Pichard («Es trifft immer die Schwächsten»).

Die leistungsstärkeren und zu Hause geförderten Schüler «überstehen» eine solche Schule zum Teil, viele andere aber nicht.

In neun Schuljahren wäre es möglich, lesen und schreiben zu lernen

Die meisten Schulreformen der letzten Jahrzehnte haben nichts zu einer guten Bildung unserer Jugend beigetragen, im Gegenteil. Wie Kritiker schon lange vor der Einführung des Lehrplan 21 eindringlich gewarnt haben, tragen dessen zerstückelte Lerninhalte und oft ideologisch einseitigen Lernziele zu einer Verschlechterung der Schulbildung bei. Mit der weitgehenden Abschaffung eines gut strukturierten Klassenunterrichts werden die Kinder dem selbstorganisierten Lernen SOL, mit einem Lehrer oder einer Hilfskraft als Coach, und damit der Vereinzelung überlassen. Die leistungsstärkeren und zu Hause geförderten Schüler «überstehen» eine solche Schule zum Teil, viele andere aber nicht.

20 bis 25 Prozent unserer Jugendlichen verlassen die Volksschule ohne die nötigen schulischen Grundlagen für ihr Leben.

20 bis 25 Prozent unserer Jugendlichen verlassen die Volksschule ohne die nötigen schulischen Grundlagen für ihr Leben – eine nicht zu verantwortende Katastrophe für ganze Generationen. Insbesondere haben viele in 9 Schuljahren nicht gelernt, einen einfachen Text zu verstehen, einen zusammenhängenden und sinnvoll strukturierten Text zu schreiben und Zusammenhänge in Sachtexten oder literarischen Texten zu erkennen. Damit sind sie für eine Berufslehre oder für das Gymnasium nicht oder nur mit viel Nachhilfe geeignet. Das grösste Hemmnis für das Vorankommen vieler Kinder ist nicht die Note, die unter dem Blatt oder der Datei steht, sondern das Fehlen sinnvoller Korrekturen der Lehrerin und ihrer unverzichtbaren steten und ermutigenden Anleitung zum Lernen.

Ein Beispiel: Mein früheres Nachbarskind aus einer fremdsprachigen Familie, eine Schülerin der 2. Sek B in Zürich, der ich beim Lernen behilflich war, zeigte mir ihren zweiseitigen Aufschrieb, in dem sie von ihren Ferien erzählte: Inhaltlich ohne logische Zusammenhänge und Aufbau, sprachlich äusserst mangelhaft (kaum ein richtig formulierter Satz, karge und oft fehlerhafte Wortwahl, von Grammatik und Rechtschreibung ganz zu schweigen). Einziges «Feedback» der Lehrerin war ein «Sehr gut» am Ende des Textes. Auf meine Bemerkung, die Fehler habe die Lehrerin aber nicht angestrichen, fragte mich die Jugendliche erstaunt: «Hat es denn Fehler?» Wie sollte sie, in deren Familie nicht Deutsch gesprochen wurde, auf diese Weise ihre Sprachkenntnisse verbessern?

Das ist ein Mangel an Chancengleichheit, ein Mangel, der viel schwerer wiegt als eine ungenügende Note oder die Einteilung in die Sek B. Individualisierte Rückmeldungen statt Noten, wie sie Eveline Geiser in ihrem Kommentar («Leistung mit Worten zu beurteilen, ist heikel») thematisiert, lösen das Problem nicht. Was meinem Nachbarskind zu mehr Freude am Lernen und zu besserem Schulerfolg verhalf, waren die regelmässigen Lese- und Schreibstunden, die wir miteinander verbrachten. Mir machte es auch Freude, aber eigentlich wäre das die Aufgabe der Volksschule.

Mehr Hand-Werk, weniger Smartphones

In unserer Textsammlung werden verschiedene zwar altbekannte, aber bisher weitgehend ignorierte Verbesserungsvorschläge für eine förderliche Schulbildung genannt. Schrauben statt über den Bildschirm wischen empfiehlt das Symposium «Perspektive Handwerk», das Carl Bossard zu seinen Überlegungen über den «engen Zusammenhang zwischen Denken und Tun» inspiriert hat. Der Zugang zu den realen Welten darf durch die digitalen Geräte nicht verhindert werden, so Bossard im Einklang mit Lernpsychologen und Handwerkern, denn «an diese realen Welten knüpft das Handwerk an». Wie wahr! Mancher Berufsausbildner muss schon seit Jahren seinen neuen Lehrlingen zuerst zeigen, wie man einen Hammer und einen Nagel hält. Die Grundlagen für das «Greifen und Begreifen» müssen im Kindergarten gelegt und in der Volksschule erweitert werden. Mit vielfältigem manuellem Tun, mit dem Einblick in die musischen Fächer und mit Naturbeobachtungen kann auch die Freude am Kreativen und an den vielen interessanten Dingen dieser Welt entstehen. Da ist kaum Platz für die digitale Scheinwelt. Elektronische Geräte sollten in erster Linie als sinnvolle Hilfsmittel eingesetzt werden, aber nicht in der Primarschule und schon gar nicht im Kindergarten.

Gastautor Jonathan Haidt: Handy-Abstinenz

Klare Forderungen stellt der Sozialpsychologe Jonathan Haidt in seinem NZZ-Interview, mit ergänzender Buchrezension im Tages-Anzeiger, beides sehr lesenswert. Er ruft zur Handy-Abstinenz als Mittel gegen die massiven psychischen und physischen Schäden sowie die soziale Vereinzelung der Kinder und Jugendlichen auf. Haidt plädiert für Handy-freie Schulen und empfiehlt auch zuhause möglichst wenig Handykonsum. Damit wäre tatsächlich schon viel getan. Dem Sozialpsychologen ist klar: «Das Problem kann nicht individuell gelöst werden, sondern erfordert einen gemeinschaftlichen Konsens und eine gemeinschaftliche Anstrengung.»

Nun wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre.

Marianne Wüthrich

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Der Erfahrungsschatz der Praxis wird negiert https://condorcet.ch/2024/04/16375/ https://condorcet.ch/2024/04/16375/#comments Tue, 02 Apr 2024 18:10:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=16375

Der Kommentar des BAZ-Chefredakteurs Marcel Rohr stiess in unserer Leserschaft auf grosses Interesse. Auch die Condorcet-Autorin Christine Staehelin reagierte auf die scharfe Analyse, empfand sie allerdings als zu oberflächlich. Für Condorcet-Autor Felix Hoffmann ist das Versagen des Basler Schulsystems allerdings ein Absturz mit Ansage.: Zu viel Ideologie, zu wenig Sachverstand und das Beiseiteschieben der Lehrkräfteexpertise.

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Die gemiedene Expertise der Profis

Dass die Lehrkräfte mittlerweile verstummt sind, ist absolut richtig, es geht allerdings darüber hinaus. Lehrpersonen wurden eben auch aktiv mundtot gemacht. Insbesondere im linken Basel wurde ihnen unter dem ehemaligen Leiter für Volksschulen, Dieter Baur, untersagt, sich öffentlich reformkritisch verlautbaren zu lassen. Erboste man sich als Lehrkraft dennoch, die eigene Meinung zu publizieren, wurde man zitiert und abgemahnt. – Der Kommunismus mit seiner autoritären Gleichschaltung lässt grüssen. Wer aber soll denn besser geeignet sein, den Schulbetrieb zu beurteilen, als erfahrene und bewährte Lehrkräfte, die täglich ihre Arbeit darin verrichten und die negativen Auswirkungen von Reformen unmittelbar erleben? Doch ausgerechnet die Expertise solcher Lehrpersonen scheut die Bildungspolitik wie der Teufel das Weihwasser. Sie will den Lead, die Deutungshoheit. In der Bildungspolitik agiert oft nicht, wer dafür qualifiziert ist, sondern wer bestimmen will.

So stützte man sich bei Passepartout nicht auf die für alle Lernenden, ob gross oder klein, wichtigen Prinzipien beim Fremdsprachenerwerb[2], sondern auf eine Ideologie.

Felix Hoffmann, BL, Sekundarlehrer, Condorcet-Autor: Keine Expertise der Lehrpersonen erwünscht.

Die Entmenschlichung des Schulbetriebs

Wie Stähelin sehr richtig bemerkt, ist «das pädagogische Tun in seinem Kern eine personale Angelegenheit…» Dies zeigt sich auch im sogenannten pädagogischen Dreieck zwischen  Thema, Lehrenden und Lernenden. Mit andern Worten steht neben der Wissens- und Kompetenzvermittlung letztlich der Mensch im Mittelpunkt des Schulbetriebs. Dieser geriet allerdings vor rund dreissig Jahren[1] aus dem Fokus der Bildungspolitik, und zwar nicht nur die Lehrenden, sondern auch die Lernenden.

So stützte man sich bei Passepartout nicht auf die für alle Lernenden, ob gross oder klein, wichtigen Prinzipien beim Fremdsprachenerwerb[2], sondern auf eine Ideologie, die letzten Endes auf einem unsäglich dümmlichen Irrtum beruhte.[3] Bei der Kompetenzorientierung orientierte man sich an den Bedürfnissen der Wirtschaft. Bei der Digitalisierung liegt die Rentabilität von Firmen wie Apple, Microsoft und Google im Vordergrund. Und beim Frühfranzösisch berief man sich u.a. auf behauptete Erkenntnisse aus der Gehirnforschung, statt sich an der die Lernenden umgebenden Realität zu orientieren: Zu viele fremdländische SchülerInnen sind mit drei Fremdsprachen heillos überfordert. Zu viele Lehrkräfte auf der Primarstufe sind nicht ausreichend für den Französischunterricht qualifiziert, zumal sie ferner auch noch mit den schlechten Passepartout-Lehrmitteln unterrichten. Die Klassen sind wegen der Integration bzw. Inklusion über die Massen heterogen, sodass stets mehr SchülerInnen immer weniger lernen.

Also auch bei dieser Reform standen die Belange der Lernenden nicht im Zentrum.

Selbst bei der so menschlich anmutenden Integration/Inklusion geht es nur vordergründig um das Wohl der Kinder und Jugendlichen. In Tat und Wahrheit dreht es sich auch hier um eine Ideologie, sprich der weltfremden ideologisch behaupteten Gleichheit der Menschen, was nichts anderes bedeutet als Gleichmacherei. Diese ist getarnt durch euphemistische Begrifflichkeiten wie Chancengleichheit, die sich klangheimlich zur nicht minder realitätsfernen Chancengerechtigkeit wandelte. Wie bei Passepartout liegt auch hier letzten Endes ein Irrtum zugrunde: Wenn man die Lernenden nur alle in den gleichen Topf wirft, haben sie alle die gleichen Chancen. Dies unter völliger Ausblendung der real existierenden Individualität der SchülerInnen.

Man darf gespannt sein, ob der neue Basler Erziehungsdirektor in spe, der Linke Mustafa Atici, bereit sein wird, über seinen ideologischen Schatten zu springen, um Förderklassen einzuführen. Dies wäre ausnahmsweise keine Reform, sondern eine längst fällige Korrektur.

Die durch die Ideologie der Integration/Inklusion verursachten Probleme treten insbesondere in Basel überdeutlich zutage, ein gewichtiger Grund für den Lehrkräftemangel und den dortigen schulischen Leistungsabfall. Man darf gespannt sein, ob der neue Basler Erziehungsdirektor in spe, der Linke Mustafa Atici, bereit sein wird, über seinen ideologischen Schatten zu springen, um Förderklassen einzuführen. Dies wäre ausnahmsweise keine Reform, sondern eine längst fällige Korrektur.

Das unsägliche Reformprojekt des  VSLCH

Christine Staehelin bringt es äusserst treffend auf den Punkt: «Es braucht nun keine weiteren Reformen und Massnahmen, um die Schule zu verbessern, sondern die Abkehr von der Idee, dass diese etwas dazu beitragen könnten.» Die vom Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz, (VSLCH) propagierte Abschaffung der Noten und der Selektion – einer weiteren Reform also, die alles auf den Kopf stellen will – könnte in der Folge zu keinem dümmeren Moment kommen. Abgesehen davon, würden die Interessen der Lernenden auch hier einmal mehr unberücksichtigt bleiben. Denn diese wollen Noten, da sie ihnen eine unkomplizierte, leicht verständliche und verlässliche Orientierung zum eigenen Leistungsstand  bieten. Und was die Abschaffung der Selektion betrifft, wurde uns anhand der selektionsbefreiten Basler Orientierungsschule (OS) ein Lehrstück geboten: Schon kurz nach deren Gründung wurde die Selektion durchs Hintertürchen wieder eingeführt über die sogenannten Emos-Klassen[4]. Dies, da die extreme Heterogenität der Regelklassen seitens der Lehrerschaft nicht mehr zu händeln war. Jener Schritt stellte sich jedoch als unzureichende Kosmetik heraus. Denn die OS war grundsätzlich ein integratives Fehlkonstrukt, insbesondere wegen der fehlenden Selektion und der fehlenden Noten. Abgesehen von deren PromotorInnen wollte sie niemand in Basel, weder die Schüler-, Eltern- und Lehrerschaft- noch die Wirtschaft. Nach einer Gesichtswahrungsfrist von etwa 12 Jahren, war sie folglich Geschichte.

Es stellt sich die Frage, in wessen Namen der VSLCH hier eigentlich agiert, im Namen des gesamten Verbands? Oder ist es vielleicht ein eigenmächtiges Projekt der Verbandsspitze um das der Mercator Stiftung nahestehende Geschäftsleitungsmitglied, Jörg Berger? «Das Wort “Mercator” stammt aus dem Lateinischen und bedeutet “Kaufmann” oder “Händler”…Insgesamt bezeichnet “Mercator” also eine Person, die sich mit Handel und Kommerz beschäftigt.»[5] Nomen est Omen! Der Schulbetrieb als Handelsplatz neoliberaler Geschäftsmodelle getarnt im Tarnkappenbegriff der «Reform».

Anstelle von weiteren unsäglichen Reformen brauchen wir einerseits eine Rechenschaftsplicht für ReformerInnen und andererseits die Abschaffung der Gesichtswahrungsfrist. Wären diese beiden Forderungen bereits erfüllt, gäbe es heute u.a. keine Kompetenzorientierung, kein Frühfranzösisch, keine gesundheitsschädigende schulische Digitalisierung in der heutigen Form und keine aus dem Ruder gelaufene Integration/Inklusion.

“Selbst das Wort Schule, das von griechisch scholé (Rast, Ruhe, Muße) herkommt, kann als Widerspruch angesehen werden.” Unbekannt[6]

[1] Als der damalige Zürcher Bildungsdirektor, Ernst Buschor, anfing, die Volksschule nach marktwirtschaftlichen Prinzipien umzugestalten.

[2] Vom Einfachen zum Schwierigen, klar strukturierter Aufbau, systematisches Üben und Repetieren, Lernziele auf Grundlage klar definierter Stoffinhalte, altersgerechte/r Wortschatz bzw. Themen und Texte usw.

[3] Das von den Passepartout-PromotorInnen proklamierte Sprachbad als Grundlage ihrer Ideologie gibt es nicht mit drei Fremdsprachenlektionen pro Woche. Folglich stürzte die ganze Reform wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

[4] Diese waren nichts anderes als “progymnasiale Klassen” für leistungsstarke deutschsprachige SchülerInnen.

[5] https://www.perplexity.ai/search/Was-bedeutet-das-0_qyP6XqSFi7FdzIaAuCiQ

[6] https://www.gutzitiert.de/zitate_sprueche-schule.html

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Rund 90 Prozent aus Familien ausländischer Herkunft – alle schaffen den Abschluss https://condorcet.ch/2023/09/rund-90-prozent-aus-familien-auslaendischer-herkunft-alle-schaffen-den-abschluss/ https://condorcet.ch/2023/09/rund-90-prozent-aus-familien-auslaendischer-herkunft-alle-schaffen-den-abschluss/#comments Sat, 30 Sep 2023 09:56:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=15048

Einer privaten Sekundarschule in Berlin-Wedding gelingt das, woran die staatlichen Nachbarschulen scheitern: Sie bringt alle Jugendlichen zu einem Abschluss – egal, wie wenig Deutsch sie anfangs können oder wie wenig sie in der Grundschule gelernt haben. Was ist ihr Erfolgsrezept? Ein Bericht der Journalistin Freia Peters, der in der WELT erschienen ist.

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Die Jugendlichen, die an diesem Morgen in das unscheinbare Schulgebäude in Berlin-Wedding schlendern, sind nicht anders als die in der Nachbarschule ein paar Straßen weiter: Rund 90 Prozent der Schüler stammen aus Familien nicht-deutscher Herkunft. Ebenso viele sind lernmittelbefreit, sie müssen also keine Zuzahlung für Schulbücher leisten, weil ihre Eltern Arbeitslosengeld, Wohngeld oder weitere Sozialtransfers beziehen.

Gastautorin Freia Peters

Und doch blicken die Schüler der Privatschule im Gewerbegebiet gegenüber der Senffabrik einer etwas rosigeren Zukunft entgegen: Sie haben eine bessere Chance auf einen anerkannten Schulabschluss.

Alle Zehntklässler haben im vergangenen Sommer unsere Schule mit einem Abschluss verlassen“, sagt Schulleiter und Quereinsteiger Pantelis Pavlakidis, 37 Jahre alt. Seit fünf Jahren leitet er die freie Quinoa-Schule, die mehr Chancengleichheit bieten will und damit sehr erfolgreich ist.

An den anderen Sekundarschulen in Berlin-Mitte verfehlten im vergangenen Jahr neun Prozent den untersten Abschluss Berufsbildungsreife. Weit mehr als die Hälfte der Schüler hingegen schaffte sogar den mittleren Schulabschluss auf der Quinoa-Schule. Die ist benannt nach der Pflanze, die auch auf kargem Boden gedeiht.

Gute Beziehung zum Lehrer schafft Lernmotivation

Damit die Leistung der Schüler wächst, so der Leitgedanke der Schule, brauchen sie vor allem eine gute Beziehung zum Lehrer. „Je besser diese ist, desto stärker steigt die Leistung. Denn Bindung schafft Lernmotivation“, erklärt Pavlakidis. „Und die Tragfähigkeit der Beziehung verpflichtet auch dazu, sein Bestes zu geben.“ Also hat jeder der 170 Schüler einen Tutor aus dem pädagogischen Team aus Lehrern, Sonderpädagogen und Lerntherapeuten. Die jeweilige Lehrkraft nimmt sich mindestens alle zwei Wochen Zeit und spricht mit seinem Mentor-Schüler: Wie läuft es?

Schulleiter Pantelis Pavlakidis (Bild: Martin U.K. Lengemann/WELT)

Den Lehrern ist das möglich, weil der Bindungsaufbau als Arbeitszeit anerkannt wird – dafür müssen sie weniger unterrichten, bekommen aber auch weniger Gehalt. „Zudem haben wir hier flache Hierarchien und ein sehr kollegiales Klima.“ Das scheint vielen Lehrern wichtiger zu sein als das Gehalt: Wenn Pavlakidis eine freie Stelle zu besetzen hat, kann er sich den besten Kollegen aus mehreren Bewerbungen herausfischen – und das, obwohl für das Schulbudget ständig aufs Neue geworben werden muss: 75 Prozent deckt der Berliner Senat; für den Rest müssen Spenden akquiriert werden.

„Was aber allen gemein ist: Sie wollen, dass ihre Kinder einen Schulabschluss machen.“

Lerntherapeutin Stefanie Böjty-Ohler nimmt all das gerne in Kauf. „Ich habe in den vergangenen Jahren einen guten Einblick in die türkische und arabische Kultur bekommen“, sagt sie. Lange habe sie in einem gut situierten Viertel gearbeitet, viel mit Eltern zu tun gehabt, die ihrem Kind trotz Lese-Rechtschreib-Schwäche unbedingt die dritte Fremdsprache beibringen wollten. An der neuen Schule ergebe ihre Arbeit mehr Sinn. Sie lerne die Familien kennen, besuche ihre Schüler zu Hause. „Die Eltern reagieren sehr unterschiedlich auf mich und unsere Gespräche“, erzählt sie. „Was aber allen gemein ist: Sie wollen, dass ihre Kinder einen Schulabschluss machen.“

Dahin zu kommen sei keine einfache Aufgabe. „Wenn die Schüler in der siebten Klasse zu uns kommen, sind bei einem Großteil der Schüler – circa 80 Prozent – die Rechtschreibleistung und Lesekompetenz unterdurchschnittlich“, sagt Böjty-Ohler, „und was wir dann oft zu hören bekommen ist: ‚Ich kann das eh nicht, ich bin dumm‘. Meine Aufgabe ist es dann erst mal, das Selbstwertgefühl der Schüler zu stärken und zu bekräftigen: Du schaffst das! Wir schaffen das!“

Erst mal flüssig lesen – auch mit Lücken

Böjty-Ohler steigt die Treppe hinauf, hinein in den Klassenraum, in dem der Grundkurs Deutsch der neunten Klasse stattfindet. Die Jugendlichen sind 14, 15 Jahre alt. An den Tischen sitzen vier Mädchen und acht Jungen – halt, sieben Jungen, der achte ist der Lehrer: Tamer Cinar ist Referendar – sehr jung, schwarzes Jackett, Silberkette, die Haare am Hinterkopf abrasiert.

Gemeinsam lesen sie das Buch „Sonne und Beton“ über Jugendliche in Berlin-Neukölln, die abhängen, kiffen und in ihrer Schule die neuen Computer klauen wollen.

Referendar Tamer Cinar (M.) – Bild: Martin U. K. Lengemann/WELT

Die Schüler (Namen im Folgenden geändert) lesen nacheinander laut ein Kapitel des Buches vor. Kemal spricht leise, während er seinen Kopf in der Schulter vergräbt. Laila liest stockend weiter. Referendar Cinar unterbricht nicht, wenn sie einen Artikel oder das Verb weglässt; oder wenn sie „Computers“ sagt statt „Computer“.

Später wird Cinar erklären, dass er die Schüler nicht korrigiere, weil das primäre Ziel sei, mit ihnen das flüssige Lesen zu üben – was nicht möglich wäre, wenn er dauernd unterbrechen würde. Die „Sprachbooster“ kommen später im Schuljahr.

Vom Diplomatenkind bis zu syrischen Geflüchteten

Cinar ist Referendar kurz vor seinem zweiten Staatsexamen. Einen Teil seiner Ausbildung macht er an der Quinoa-Schule in Berlin-Wedding, einen anderen am altsprachlichen Canisius-Kolleg in freier Trägerschaft des Jesuitenordens. So begegnet er der vollen Bandbreite der Berliner Schüler – vom Diplomatenkind bis zu syrischen Geflüchteten. Ein Mädchen aus der Klasse habe nach der Flucht aus Aleppo drei Jahre lang nicht gesprochen. Seit Kurzem antworte sie, wenn Cinar ihr eine Frage stelle, erzählt er. „Solche Erfolgsmomente geben mir einen großen Motivationsschub.“

Anschließend sollen die Schüler einen Lückentext ausfüllen. Die Schüler sollen die Rolle des Anstifters unter den Schülern in der Geschichte herausarbeiten, er heißt Sanchez. „War es Sanchez‘ Idee, die Computer zu klauen?“, hakt Böjty-Ohler nach. „Ich hab das nicht verstanden“, sagt Larissa. „Wer ist Sanchez noch mal?“

Böjty-Ohler: „Ein Korrigieren der Groß- und Kleinschreibung würde den Rahmen sprengen“

Auch hier sollen die Anforderungen nicht hoch gehängt werden. Es reicht, wenn die Schüler auf die Frage nach dem Standpunkt von Sanchez „war dafür“ hinschreiben. Es muss kein ganzer Satz sein. In der Prüfung zur Berufsbildungsreife ist es vor allem wichtig, dass die Schüler den Text verstanden haben.

„Ein Korrigieren der Groß- und Kleinschreibung würde den Rahmen sprengen“, sagt Böjty-Ohler nach der Stunde. „Die Baustellen sind so riesig, da muss man priorisieren.“ Wenn man nur früher ansetzen könnte, nicht erst mit zwölf Jahren. „Es wäre besser, wir hätten sie schon ab Klasse fünf“, findet auch Schulleiter Pavlakidis.

Auch Eltern müssen an ihre Verantwortung erinnert werden

Berlin und Brandenburg sind die einzigen Bundesländer, in denen die Grundschule sechs Jahre dauert, daran hat sich seit der Nachkriegszeit nichts geändert. Vor allem grüne Bildungsexperten sind nach wie vor von der späten Trennung der Kinder überzeugt, sie vermindere die sozialen Ungleichheiten. Doch bei den Lesefähigkeiten der Grundschüler rangiert Berlin stets auf den hintersten Plätzen.

„Gezielte Förderung nach der fünften Klasse – vor allem im sprachlichen Bereich – würde vielen Schülern einen besseren Abschluss ermöglichen“, resümiert Pavlakidis.

Die Quinoa-Schule in Berlin-Wedding
(Bild:: Martin U. K. Lengemann/WELT)

Auch viele Eltern müssten eher an ihre Verantwortung erinnert werden. „Können Sie mal eine Regel machen, dass die Kinder mit Rucksack in die Schule gehen sollen?“, bat jüngst eine Mutter auf der Elternversammlung. „Meine geht immer nur mit einem kleinen Täschchen los.“ Eine andere Mutter erwiderte: „Aber das ist doch eigentlich Ihre Verantwortung.“

„Ich habe dank dieser Schule das Beste aus mir herausgeholt!“

„Da muss ich zustimmen“, sagte Pavlakidis, nachdem er diese Anekdote erzählt hat. Sie zeige, wie wichtig es sei, die Eltern in die Schularbeit einzubeziehen. „Wir versuchen, den Schüler nicht nur als jungen Menschen zu sehen, dem wir etwas beibringen wollen, sondern auch als Kind seiner Eltern, eben mit all dem, was seine Biografie ausmacht“, sagt Pavlakidis. Der Erfolg gibt ihm recht.

„Ich habe dank dieser Schule das Beste aus mir herausgeholt!“ Mit diesem Satz einer ehemaligen Schülerin wirbt die Schule auf ihrer Website. Sie macht demnach gerade ihr Abitur. Ihr Berufswunsch: Neurochirurgin.

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Wenn private Lernstudios boomen https://condorcet.ch/2023/09/wenn-private-lernstudios-boomen/ https://condorcet.ch/2023/09/wenn-private-lernstudios-boomen/#comments Tue, 26 Sep 2023 08:17:53 +0000 https://condorcet.ch/?p=15029

Die Bildungspolitik will es nicht wahrhaben: Die öffentliche Schule hat sich zu viel zugemutet. Für manche Kinder kommt sie ihrer ureigenen Aufgabe nicht nach; sie wird ihnen schlicht nicht gerecht. Die Folge: Private springen in die Lücke. Das gefährdet die Chancengleichheit, schreibt Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Die Stimmen häufen sich: Lehrerinnen und Lehrer wie Eltern klagen über den aktuellen Zustand der Volksschule. Wie und wo der Schuh drückt – und zwar intensiv –, das zeigte sich bei einem öffentlichen Podium «Lehrerinnen- und Lehrermangel» in Schwyz.[1] Das Interesse war gross und die Debatte intensiv. In der engagierten Diskussion fielen deutliche und klare Voten: zu wenig Zeit für die elementaren Basisfächer Deutsch und Rechnen, kaum mehr Raum zum Üben und Korrigieren, zu viel Unruhe im Schulzimmer als Folge der verstärkten Integration.[2] Dazu kommen zeitraubende Koordinationsaufgaben für die Zusatzkräfte im Unterricht und viel zu viel Bürokratie wegen der vielen Vorgaben und Vorschriften. Ob Schwyz überall ist, lässt sich nicht sagen. Aber eines wurde deutlich: Muss die Schule alles tun, tut sie nichts mehr richtig: Sie entgrenzt sich inhaltlich. Der Basler Bildungsdirektor Conradin Cramer drückt es so aus: «Wenn Lehrer nicht mehr wirksam unterrichten können, ist das ein Alarmzeichen.»[3] Und die Menetekel mehren sich.

Carl Bossard,ehem. Direktor der PH-Innerschweiz: Die Schule hat sich zuviel zugemutet.

Boomende private Lerninstitute

Wer als Eltern diesen Risiken ausweichen will, sucht für seine Kinder heute nicht selten einen externen Lerncoach. Aufgabenhilfe und Zusatzunterricht boomen – vor allem in den städtischen Gebieten.[4] Auch in ländlichen Regionen wachsen die Angebote, zeitlich allerdings etwas verzögert. Das Lern- und Coachingcenter «fit4school» beispielsweise bietet schulergänzende Lernunterstützung und Nachhilfe an 27 Orten der Schweiz an. Die Nachfrage ist gross. In der Stadt Bern verdoppelten sich die Anmeldezahlen seit dem Start im April dieses Jahres im Monatstakt.

Warum dieser Boom? Lernforscherinnen und Bildungsfachleute diagnostizieren, dass selbst intelligente Kinder am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Rechnens und Schreibens oft grosse Lücken aufweisen. Hier liegt mit ein Grund für diesen exponentiellen Anstieg schulexterner Anbieter. Und noch etwas zeigt sich: Wenn Schülerinnen und Schüler diese Grundlagen beherrschen, stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Nachhilfeinstitute dahinter. Eine Google-Recherche zu den Stichworten «Nachhilfe, Gymi-Vorbereitung, Zürich» ergibt eine lange Liste von Angeboten – vom Schwarz- und Graumarkt für Zusatzlektionen nicht zu reden. Die Nachfrage muss gross sein, sonst gäbe es diesen Markt nicht.

Die Chancengleichheit ist gefährdet

Diese Zahlen sind öffentlich: Doch niemand aus der Bildungspolitik und der Bildungsverwaltung hält dagegen. So etwas verwundert und ärgert zugleich. Das verstösst gegen ein elementares Prinzip unserer Gesellschaft: die Chancengleichheit! Hier liegt das Problem. Es ist ein systemisches Problem. Eine solche Situation dürfte es eigentlich gar nicht geben. Die Fakten aber sprechen eine andere Sprache.

Manches ist dazu gekommen – weggenommen wurde kaum etwas. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab; beides aber braucht es fürs Verstehen einer «Sache».

Die Schule hat sich inhaltlich entgrenzt

Manches ist dazu gekommen – weggenommen wurde kaum etwas. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab; beides aber braucht es fürs Verstehen einer «Sache». Viele Dinge werden nur noch flüchtig gestreift. Inhalte lösen einander schnell ab. Sie prägen sich nicht tief ein, werden kaum Erfahrung und bleiben Bruchstück. Fürs notwendige Üben und Automatisieren bleibt kaum Zeit. Unfertiges wird so zum Dauerzustand.

Mit andern Worten: Zu vieles muss heute in zu kurzer Zeit erarbeitet werden – und zwar von den Kindern selber. Eigenverantwortet und selbstgesteuert. Lernschwächere und mittelmässige Schüler sind benachteiligt. Das wissen wir aus der Forschung. Das Viele reduziert die systematische Übungszeit. Um etwas ins Langzeitgedächtnis zu bringen und zu automatisieren, braucht der Mensch sechs bis acht Wiederholungen. Der Moment des Vergessens beginnt im Moment des Merkens. Wiederholen, Vertiefen und Anwenden sind für einen lernwirksamen Unterricht unabdingbar. Das gilt – so antiquiert es klingt – besonders für die Grundfertigkeiten Rechnen, Lesen und fehlerfreies, kohärentes Schreiben: Je mehr wir etwas im täglichen Leben und unter Druck brauchen, desto intensiver müssen wir es trainieren. Diese Zeit fehlt oft.

Eltern wollen nicht als Bildungsverlierer dastehen

Darum haben viele Eltern das Gefühl: Mein Kind kommt nicht voran. Es wird wohl aktiviert, doch es lernt zu wenig und das Erarbeitete bleibt an der Oberfläche. Abends müssen wir mit Nachhilfe vertiefen. Die Eltern wollen nicht als Verlierer der Bildungsreformen dastehen. Im Gegenteil: Die Kinder sollen die sozioökonomische Position ihrer Herkunft zumindest halten. Statusängste sind in erster Linie Zukunftsängste.[5] Darum erwarten sie für ihr Kind eine solide Schulbildung. Diese Erwartungssicherheit schmilzt.

Das trägt mit zum Boom privater Lerninstitute bei. Gratis sind diese Zusatzkurse und Nachhilfestunden nicht. Eltern greifen zum Teil tief in die Taschen. Doch dieses Zusätzliche können sich nicht alle leisten. Das widerspricht der Idee der gemeinsamen Volksschule und gefährdet die Chancengleichheit nicht nur unter Schülerinnen und Schülern, sondern auch unter den verschiedenen Familien.

Dazu zählt eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre des Lernens, dazu gehört intensives Üben, das setzt eine systematisch genutzte Lernzeit voraus – alles Kennzeichen einer Schule mit hoher Lernwirksamkeit.

Private Bildung als lukratives Geschäftsmodell

Das öffentliche Bildungssystem muss lernleistungsfähig bleiben. Nur das verhindert den leisen Exodus von Kindern in die Privatschule und den weiteren Anstieg schulexterner Lernhilfen. Not tut eine Rückkehr zum Eigentlichen und Wesentlichen, eine Besinnung auf den Kernauftrag der Schule. Dazu zählt eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre des Lernens, dazu gehört intensives Üben, das setzt eine systematisch genutzte Lernzeit voraus – alles Kennzeichen einer Schule mit hoher Lernwirksamkeit. Mit genau diesen Attributen aber werben private Anbieter. Und sie stossen bei vielen Eltern auf offene Ohren. Private Bildung wird heute zu einem interessanten Investitionsfeld und darum auch zu einem lukrativen Geschäftsmodell.

Die Signale ernst nehmen

Bildungspolitik und Bildungsverwaltung stehen in der Pflicht. Lange, allzu lange haben sie über die Sorgen und Nöte der Lehrpersonen im pädagogischen Alltag hinweggesehen. Boomende Lerninstitute sind ein deutliches Warnsignal. Das Portemonnaie darf nicht über die Bildung der Kinder entscheiden. Zu hoffen ist, dass die Bildungskarawane nicht einfach weiterzieht und die Stimmen der Basis negiert. Leidtragende sind die Kinder.

 

[1] «Der Zustand der Volksschule wurde stark kritisiert», in: Bote der Urschweiz, 08.09.2023, S. 8.

[2] Vgl. den aufrüttelnden Bericht: https://www.srf.ch/play/tv/reporter/video/integrative-schule—lehrpersonen-stossen-an-ihre-grenzen?urn=urn:srf:video:5c09dab8-dbfa-4ca4-ad94-23406ab704e4

[3] Sebastian Briellmann, Conradin Cramer zur integrativen Schule: «Wir müssen handeln. Und zwar schnell», in: Basler Zeitung, 19.09.2023

[4] Mirjam Comtesse, Überforderte Jugendliche. Eltern schicken ihre Kids zum Lerncoach, in: Berner Zeitung, 20.09.2023.

[5] Heinz Bude (2011), Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München: Carl Hanser Verlag, S. 97.

 

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Wolfgang Kühnels Sonntagseinspruch: Das große Drumherumreden der staatstragenden Bildungswissenschaft. https://condorcet.ch/2022/12/wolfgang-kuehnels-sonntagseinspruch-das-grosse-drumherumreden-der-staatstragenden-bildungswissenschaft/ https://condorcet.ch/2022/12/wolfgang-kuehnels-sonntagseinspruch-das-grosse-drumherumreden-der-staatstragenden-bildungswissenschaft/#respond Sun, 04 Dec 2022 13:28:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=12509

Endlich wieder einmal einer der Sonntagseinsprüche von Professor Wolfgang Kühnel. In seiner Analyse setzt er sich mit den (dokumentierten) sinkenden Schülerleistungen auseinander und seziert die Reaktionen der Bildungsforscher gnadenlos. Und noch etwas ganz Besonderes geht mit diesem Beitrag einher. Es ist der 1000ste Beitrag auf unserem Condorcet-Blog. Für einen "Wenigschreiber" wie Professor Kühnel eine reife Leistung. Aber eben... der Ball ist rund!

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Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet.

Vor wenigen Wochen wurden die Ergebnisse des sog. “IQB-Bildungstrends  2021” in Deutschland vorgestellt, hier der offizielle Bericht:
https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2021

Nun kann man durchaus skeptisch sein, was die dort verwendeten Testaufgaben und den dahinter stehenden Ansatz betrifft. Einige wenige kann man von diesem Link aus anklicken, man hält Multiple-Choice-Aufgaben für das A und O. Auch kann man diese ganze Testerei für verfehlt halten,  aber letztlich muss man konstatieren: Nach den Maßstäben der wichtigen bildungswissenschaftlichen und  schulpolitischen Institutionen im Lande sind diese Tests des sog. “Monitorings” nun mal maßgeblich, und irgendwie sagt zumindest der Trend  solcher wiederholten Tests auch etwas aus, weil die Testitems jedesmal  ähnlich sind.

Die Teste zeigen seit Jahren einen Trend

Und dieser Trend zeigt so katastrophal nach unten, dass es selbst hartgesottenen Politikern erstmal die Sprache verschlug: Innerhalb von nur 10 Jahren rauschten etliche Bundesländer beim Test um 40 und mehr PISA-Punkte nach unten, und das entspricht dann angeblich einem ganzen Schuljahr an Lernfortschritten, im Bundesdurchschnitt waren es 30-40  Punkte, je nach Testdisziplin. Seitdem rätselt die ganze Nation, woran das wohl liegen mag. Gerade diejenigen, die diese Art Testaufgaben immer propagieren, müssten jetzt eigentlich erklären, wie das kommt. Die Corona-Pandemie alleine will niemand dafür verantwortlich machen. Das soll die so oft postulierte “Bildungsrepublik Deutschland” sein? Zumindest bei dem Teil, der Lesen und das allgemeine Textverständnis betrifft, muss man natürlich Deutsch können, und zwar nicht nur ein bisschen von der Umgangssprache, sondern ein bisschen mehr von der sog. Bildungssprache. Auch bei dem Mathematiktest muss man sprachlich verstehen, was in der Aufgabe verlangt wird, also wird das Lesen eigentlich doppelt und dreifach getestet. Das wird auch viel kritisiert, aber die Tester sind davon nicht abzubringen, sie halten das für eine absolut unentbehrliche “literacy”.

40% Migrationshintergrund

Jedenfalls besagen nun leider die offiziellen Statistik-Zahlen, dass von den kleineren Kindern inzwischen ca. 40 % einen  sog. Migrationshintergrund haben, also in der Regel Deutsch nicht als Muttersprache haben, viele haben Deutsch auch nicht als aktuelle Familiensprache, das ist eine neue Feinheit in Statistiken neben der sog. “nichtdeutschen Herkunftssprache”. Wenn die Zuwanderer alle aus Österreich oder der Deutsch-Schweiz kämen, wäre das natürlich kein Problem, aber dem ist nicht so. Sie kommen aus fernen Ländern, in denen Deutsch auch als Fremdsprache kaum gelehrt wird. Ein bisschen Englisch, das können etliche wohl, aber Englisch wird jedenfalls beim Grundschultest nicht getestet. Wenn ich mir vorstelle, man hätte mich zu Grundschulzeiten nach  Frankreich gebracht, mich dort ohne französische Sprachkenntnisse in die Schule geschickt und dann später einen solchen Test auf Französisch absolvieren lassen, derweil meine Eltern weiter nur Deutsch mit mir gesprochen hätten, so fürchte ich, dass meine Ergebnisse auch mager gewesen wären. Reines Rechnen mit Zahlen hätte ich ja noch hinbekommen, weil mir das irgendwie lag, aber die neuen Aufgaben enthalten ja so schrecklich viele Wörter, die man erstmal verstehen muss. Aber genau das macht man mit Kindern aus aller Welt, aus der ganzen EU, aus Russland, aus dem Balkan, dem Vorderen Orient, aus Afrika, Afghanistan und jetzt aus der Ukraine, ein Ende ist nicht abzusehen. Die Gründe für die Migration sind unterschiedlich, aber für diesen Test zählt das nicht, der Test ist unbarmherzig und stur.

Mit rein logischer Betrachtung kommt man auch auf die Idee, dass ein generell sinkendes sprachliches Niveau im Unterricht letztlich alle treffen muss, denn auch gute Schüler erhalten weniger Anregungen, wenn viele sprachlich Schwache in der Klasse sind.

Und dann besagt eben die nüchterne Statistik in Kapitel 8 des Berichts, dass die Ergebnisse der Migrantenkinder sich besonders stark verschlechtert hatten und im Durchschnitt weit hinter den anderen herhinken (z.T. bis zu 100 PISA-Punkten, das entspricht bei dem wirklichen PISA-Test dem Unterschied zwischen Finnland und Mexiko bei den Mittelwerten im Lesen),  wenngleich sich die Nicht-Migranten auch deutlich verschlechtert haben. Mit rein logischer Betrachtung kommt man auch auf die Idee, dass ein generell sinkendes sprachliches Niveau im Unterricht letztlich alle treffen muss, denn auch gute Schüler erhalten weniger Anregungen, wenn viele sprachlich Schwache in der Klasse sind. Umgekehrt werden die schwachen Schüler frustriert, wenn sie nicht mithalten können. Und die Lehrer können nicht zaubern.

Aber diese Ursache darf offiziell nicht zu laut gesagt werden. Vielmehr hat sich als einzig korrekte Terminologie eingebürgert, von einer ubiquitären “Heterogenität” zu sprechen, die irgendwie schleichend, unmerklich, unerwartbar und auf geheimnisvolle und unkontrollierbare Weise über uns gekommen ist so wie das lautlose Schmelzen der Gletscher und die Klimaerwärmung. Diese “Heterogenität” wird jetzt für alles und jedes verantwortlich gemacht, gerade so, als seien die Schulklassen vor 30 oder 50 Jahren noch ziemlich homogen gewesen. Das waren sie natürlich nicht, leistungsmäßig gab es immer riesige Unterschiede, und alle Noten von 1 bis 6 wurden zu allen Zeiten verteilt, arm und reich gab es auch schon immer, intelligente und unintelligente, gebildete und ungebildete Eltern auch.

Prof. Becker-Mrotzek: Lauter nichtssagende Primsätze.

Nun erschien vor wenigen Tagen am 24.11.2022 ein Artikel in der FAZ mit einem längeren Interview mit Prof. Becker-Mrotzek, der nicht irgendwer ist, sondern Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache in Köln und Mitglied in zahlreichen wichtigen Kommissionen, u.a. der StäWiKo der KMK. Er und sein Institut sind federführend bei dem BISS-Programm von Bund und Ländern, das es seit nunmehr 10 Jahren gibt und das sich ausdrücklich die “erfolgreiche Stärkung bildungssprachlicher Kompetenzen der deutschen Sprache” im schulischen und vorschulischen Bereich auf die Fahnen geschrieben hat. Hier ist eine 118 Seiten lange Liste der diversen Aktivitäten in den diversen Bundesländern, von fleißigen Leuten zusammengestellt:
https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2019/2019_12_05-Bildungssprachliche-Kompetenzen.pdf

Man bemüht sich also, die erkannten Defizite anzugehen. Auf den Seiten 94-99 geht es um “Digitalität”, z. B. “DaZ digital” oder “Digitale Lernpfade, die in ein Lernmanagementsystem eingebunden sind.”

Das klingt so richtig zukunftsorientiert. Aber wie passt das alles zu dem schwachen Ergebnis der Tests? Genau das wollte Frau Schmoll in dem FAZ-Interview erfragen, und viele andere würde es auch brennend interessieren. Aber wie das so ist: Der Fragen gibt es viele, aber die Antworten verschwinden irgendwo im Nebel der Allgemeinplätze und Postulate. Bei Politikern ist das noch verständlich, die müssen ständig Dinge erklären, die sie selber nicht genau kennen, aber wenn ein gestandener und prominenter Institutsleiter kurz vor dem Rentenalter nach seinem Spezialgebiet befragt wird, könnte er ja aus seinen wissenschaftlichen Kenntnissen schöpfen und müsste nicht einmal Rücksicht auf die Politik nehmen. Aber davon ist nichts zu sehen.

Dieses “noch immer … zu viele” ist fast schon zynisch angesichts des Trends mit den Testergebnissen: Es werden immer mehr.

Schon die erste Frage “Warum ändert sich an diesem Befund seit Jahren nichts?” wird ausweichend beantwortet: Die wirksamen Maßnahmen, die man habe, seien ja noch gar nicht in der Breite eingesetzt worden, und zum anderen verändere sich die Schülerschaft (mehr mehrsprachige Kinder), wodurch der Lern- und Unterstützungsbedarf steige. Nun ist aber gerade diese mehrsprachige Schülerschaft doch das Hauptthema des Mercator-Instituts (Deutsch als Zweitsprache – DaZ) und ist auch ein Hauptgrund für das ganze BISS-Programm. In einer offiziellen Erklärung zum BISS-Programm

https://www.kmk.org/aktuelles/artikelansicht/deutschlandweit-starten-460-schulen-in-der-bund-laender-initiative-transfer-von-sprachbildung-lese.html

erklärt Herr Becker-Mrotzek ungerührt: “Noch immer (!) verfügen zu viele Schülerinnen und Schüler nicht über die nötigen sprachlichen Kompetenzen, um dem Unterricht folgen und später ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.” Dieses “noch immer … zu viele” ist fast schon zynisch angesichts des Trends mit den Testergebnissen: Es werden immer mehr.

Bereits die in Deutschland als schwach empfundenen Ergebnisse von PISA 2000 hätte man ja auf die vielen “mehrsprachigen” Schüler zurückführen  können, die es auch damals in großer Zahl gab. Das hat man aber nicht getan, man hat vielmehr die “PISA-inkompatiblen” Lehrpläne mit der “Inputorientierung” und der fehlenden “Literacy” sowie das “veraltete” Schulsystem verantwortlich gemacht. Immerhin: Seit 20 Jahren weiß man um das Problem, aber richtig bergauf geht es dennoch nicht.

Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet.

In der Schweiz konnte man eigentlich mit den PISA-Ergebnissen durchweg zufrieden sein, aber seltsamerweise hat sich auch dort ein gewisser Reformeifer breitgemacht mit ebenfalls schwächelnden Ergebnissen, siehe:

https://condorcet.ch/2022/11/immer-mehr-eltern-betrachten-die-schule-als-niedere-serviceleistung-sagt-der-ehemalige-gymilehrer-carl-bossard/

Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet. Auf die Frage von Frau Schmoll nach den ausgebliebenen Effekten eines Sprachförderungsprogramms in Berlin in dreistelliger Millionenhöhe antwortet Herr Becker-Mrotzek mit dem Hinweis auf einige Hamburger Schulen. Dabei ist er Mitglied der Expertenkommission zur Verbesserung der Schulqualität in Berlin. Ich bin selbst in Berlin (West) zur Schule gegangen, aber meine Meinung zur gegenwärtigen Berliner Schulpolitik sollte ich hier nicht schreiben, weil das die Regeln der Höflichkeit verbieten. Wen es interessiert, der schaue in die Wahlprogramme der jetzt regierenden Parteien SPD, Grüne, Linke (auf Landesebene) und in den Koalitionsvertrag von 2021. Es wird ja in Kürze neu gewählt wegen administrativer Unfähigkeit bei der Wahl 2021. Zwei der drei Parteien wollen am liebsten die 5. und 6. Gymnasialklassen abschaffen, und der Koalitionsvertrag möchte in der “Regenbogenhauptstadt” die “lesbische Sichtbarkeit” erhöhen und wünscht mehr “Diversity- und Queerkompetenzen in allen pädagogischen Berufen”.

Die Kita soll es richten, was Sprache betrifft.

Die Heterogenität in den Schulen soll ausdrücklich erhöht (!) werden, auch in sog. Profilschulen, so als sei das eine große Tugend. Nicht untypisch für die Berliner Bürokratie: Als “zentralen Baustein einer neuen Qualitätsstrategie” möchte man ein neues Landesinstitut aufbauen,  das dann vermutlich auch wortreich um die Probleme drumherumreden wird. Die Gymnasien sollen “inklusiv” werden und das Probejahr sowie das “Abschulen” abschaffen. Die “Verbesserung der Sprachförderung durch den Ausbau der Sprachkitas” steht auch drin, aber von solchen nüchternen Themen wie schulische Leistungen oder Lesen, Schreiben, Rechnen in Grundschulen ist nicht die Rede. Die Kita soll es richten, was Sprache betrifft. Regierungen und politische Parteien haben eben eine Sichtweise auf die Dinge von “weiter oben” und nicht die “Froschperspektive” aus den Niederungen des einfachen Volkes. So werden Kernaufgaben der Schule letztlich ausgehöhlt. Und all das liegt schwarz auf weiß auf dem Tisch, auch Herr Becker-Mrotzek weiß es.

Was wird noch in dem Interview geboten? Hier eine kleine Anthologie von Postulaten des Herrn Becker-Mrotzek aus dem Interview:
“Alle Kinder mit Förderbedarf müssen konsequent ein Förder- und Bildungsangebot bekommen”,
“Der Bildungsauftrag der Kita müsste ausbuchstabiert werden”,
“Wir brauchen einen breiten Konsens über den Stellenwert der frühen Bildung”,
“Benötigt wird ein systematischer Schrifterwerb, der den Erstklässlern auch zeigt, wie unsere Schrift funktioniert.”
“Dann muss man noch wissen, dass Hauptwörter großgeschrieben werden und dass einige Wörter anders ausgesprochen als sie geschrieben werden. Wenn man Hund sagt, hört sich das d wie ein t an, Hunde spricht man mit d und schreibt es mit d. Das ist eigentlich schon die ganze Orthographie, die man zu beachten hat.”

Es stellt sich allenfalls die Frage, ob Volksschullehrer vor 100 Jahren das mit dem Üben vielleicht auch schon wussten oder zumindest ahnten.

Das klingt alles nicht so, als müsse man ein hochrangiger institutsleitender Spezialist für den Spracherwerb sein, um das sagen zu können. Wissen das nicht alle Lehrer? Immerhin verrät er uns eine wichtige Erkenntnis: “Das muss man fortwährend beobachten und dann auch entsprechend üben. Ich glaube, dass das Üben von Lesen und Schreiben zu kurz kommt. Das Üben ist über lange Zeit gerade im Deutschunterricht diskreditiert (!) worden.”

So platt wie alte Fussballweisheiten.

Hört, hört! Haben wir hier eine wichtige Ursache für die Misere gefunden? Und wie kam das? Hatte vielleicht die pädagogische bzw. didaktische Wissenschaft das Üben diskreditiert? Ist es etwa von Schulbürokraten im Zuge von Sparmassnahmen wegrationalisiert worden? Oder waren es Außerirdische oder politische Extremisten? Egal, für diesen Satz sollten wir Herrn Becker-Mrotzek wirklich dankbar sein, und beherzigen sollte man ihn auch. Es stellt sich allenfalls die Frage, ob Volksschullehrer vor 100 Jahren das mit dem Üben vielleicht auch schon wussten oder zumindest ahnten. Für Fußballtrainer ist das alles wohl klar, sie wussten schon immer: “Der Ball ist rund, ein Spiel dauert 90 Minuten, und Trainieren ist unverzichtbar für den Erfolg.” Da kann niemand widersprechen.

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag
Wolfgang Kühnel

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Hauptsache Studium? Diese Ausbildungsberufe bringen deutlich mehr Lebenseinkommen https://condorcet.ch/2022/10/hauptsache-studium-diese-ausbildungsberufe-bringen-deutlich-mehr-lebenseinkommen/ https://condorcet.ch/2022/10/hauptsache-studium-diese-ausbildungsberufe-bringen-deutlich-mehr-lebenseinkommen/#respond Mon, 24 Oct 2022 13:39:13 +0000 https://condorcet.ch/?p=12073

In Deutschland wollen immer mehr junge Menschen studieren. Sie versprechen sich davon höhere Gehälter in ihrem Arbeitsleben. Doch das ist nicht garantiert. Eine Studie kommt jetzt zu erstaunlichen Ergebnissen, die das Zeug haben, die Berufswünsche einer ganzen Generation zu beeinflussen. Ein Bericht des WELT-Journalisten Daniel Eckert.

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Daniel Eckert, Welt-Journalist: Die Mischung machts

In der Bevölkerung ist es vielen schon längst bewusst, jetzt gibt es auch eine wissenschaftliche Bestätigung dafür: Die richtige Berufsausbildung ist finanziell häufig die bessere Entscheidung als das Studium. Wer eine Lehre in einem gefragten Gewerbe macht, hat gute Chancen, im Laufe seines Berufslebens zwei Millionen Euro oder mehr zu verdienen. Damit schneiden Erwerbstätige ohne Hochschulabschluss beim Gehalt teilweise klar besser ab als Studierte.

Die wissenschaftliche Aufbereitung stammt vom IAB, dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört. Die Wissenschaftler des Instituts stellen zwar fest, dass sich Menschen mit mindestens vierjährigem Hochschulstudium – im IAB-Sprech „Experten“ – insgesamt ansehnliche Gehälter erhoffen dürfen.

Doch in vielen Berufen stehen ihnen Mitarbeiter mit Berufsausbildung und anschließender Fortbildung – sogenannte „Spezialisten“ – in Deutschland keineswegs nach. Solche berufsspezifischen Fortbildungsabschlüsse sind vor allem der Meister, der Techniker oder der Fachwirt.

Die Forscher identifizieren nicht weniger als 29 Berufsgruppen, in denen kein langes Hochschulstudium nötig ist, um gut zu verdienen.

Besonders deutlich wird das in den MINT-Berufen. Nach IAB-Berechnungen erzielen Spezialisten in naturwissenschaftlich-technischen Jobs über das gesamte Berufsleben hinweg ein Bruttoentgelt von rund 2,7 Millionen Euro. „Sie kommen damit auf ein Lebenseinkommen, das über dem durchschnittlichen Verdienst von Experten liegt“, stellt IAB-Forscher Heiko Stüber fest.

MINT-Berufe setzten Mathematik-, Biologie-, Chemie-, Physik- oder IT-Kenntnisse voraus. Während Spezialisten in MINT-Berufen ein durchschnittliches Brutto-Lebensentgelt von gut 2,7 Millionen Euro erwarten dürfen, liegen viele Hochschulabsolventen darunter.

Wer zum Beispiel mit einem Uni-Abschluss im Tourismus-, Hotel- und Gaststättengewerbe sein Geld verdient, kommt statistisch auf ein Lebensentgelt von 1,6 Millionen Euro. Ähnliches gilt für Akademiker in der Lebensmittelherstellung und -verarbeitung.

Auch in anderen Professionen können Mitarbeiter ohne Uni-Abschluss reüssieren: Die Forscher identifizieren nicht weniger als 29 Berufsgruppen, in denen kein langes Hochschulstudium nötig ist, um gut zu verdienen.

Quelle: Infografik WELT

 

In 13 dieser Berufsgruppen reicht eine abgeschlossene Berufsausbildung, um in einer höheren Gehaltsliga mitzuspielen – hier ist also nicht mal unbedingt ein Meister, Techniker oder Fachwirt nötig.

In vielen europäischen Ländern, ist die Quote von Hochschulabsolventen in den letzten Jahren enorm gestiegen.

„Die Studie sollte an allen deutschen Schulen Pflichtlektüre werden, denn sie bestätigt, was wir aktuell sehen: Nur mit Akademikern werden wir den Fachkräftemangel nicht lösen“, sagt Carsten Brzeski, Chefökonom Deutschland bei der ING. In der Bundesrepublik, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern, sei die Quote von Hochschulabsolventen in den letzten Jahren enorm gestiegen.

Dabei gelte jedoch: „Marketing- oder Philosophiestudenten können uns aber nicht die Wärmepumpe einbauen oder die Solarzellen aufs Dach legen.“ Geistes- oder Sozialwissenschaftler würden auch keine neuen Technologien entwickeln, die für die Energiewende und erneuerbare Energien dringend benötigt werden.

Die Wissenschaftler unterscheiden je nach formaler Qualifikation zwischen vier Gruppen: Neben Experten und Spezialisten gibt es noch Fachkräfte und Helfer. Fachkräfte sind Arbeitnehmer, deren Tätigkeit fundierte Fachkenntnisse und Fertigkeiten voraussetzen, die in der Regel eine zwei- bis dreijährige Berufsausbildung voraussetzen.

Wer im Job wenig komplexe, sich wiederholende Tätigkeiten erledigt, für die in der Regel kein formaler beruflicher Bildungsabschluss benötigt wird, ist in der Nomenklatur der Forscher ein Helfer.

Um das Lebenseinkommen zu berechnen, nehmen die Forscher einen typischen Vollzeitbeschäftigten, der vom 18. bis zum 66. Lebensjahr durchgehend berufstätig war. In Lehrberufen beginnt das Erwerbsleben normalerweise früher als in Jobs, die einen akademischen Abschluss voraussetzen. Die jungen Arbeitnehmer mit abgeschlossener Lehre verdienen häufig schon mit 20 ihr erstes Geld. Akademiker haben ihre erste Stelle nicht selten erst mit Mitte 20.

 Ein Studium garantiert nicht per se einen höheren Lohn

Im Großen und Ganzen zahlt sich Bildung finanziell aus. Im Schnitt erbringen Tätigkeiten, die eine Lehre oder Berufsausbildung voraussetzen, ein Lebensentgelt von 1,7 Millionen Euro. Ergänzt um eine Fortbildung steigt der Wert auf rund 2,4 Millionen Euro.

Akademiker mit mindestens vierjährigem Studium schaffen 2,7 Millionen Euro, also rechnerisch eine Million Euro mehr als durchschnittliche Fachkräfte ohne Meister, Techniker oder Fachwirt und ohne Universitätsabschluss. Wer keine Lehre oder Ausbildung gemacht hat, muss sich im Laufe des Lebens mit 1,3 Millionen Euro brutto begnügen, das sind rechnerisch nur rund 27.000 Euro im Jahr.

Meister oder Techniker lohnen sich

Fast noch aussagekräftiger als die Durchschnittswerte sind die Spannen: Je nach Beruf erzielen Fachkräfte ein Lebenseinkommen zwischen 1,1 und 2,5 Millionen Euro. Mit einer Fortbildung wie Meister oder Techniker steigt das durchschnittliche Bruttoentgelt im Laufe des Berufslebens auf 1,4 bis 2,7 Millionen Euro.

Damit spielen sie in einer Liga mit Beschäftigten, die einen Hochschulabschluss haben, zumal es bei den Akademikern riesige Unterschiede gibt. Den IAB-Daten zufolge erzielen Hochschulabsolventen je nach Studium und Profession ein Lebenseinkommen zwischen einer Million und drei Millionen Euro.

Ein Studium garantiert nicht per se ein höheres Lebensentgelt.

Am schlechtesten verdienen Akademiker abgesehen von Tourismus und Lebensmittelherstellung in Papier- und Druckberufen sowie in der technischen Mediengestaltung mit nur zwei Millionen Euro. Bankkaufleute und andere Beschäftigte im Bereich Finanzdienstleistungen, Rechnungswesen und Steuerberatung schneiden da mit rund 2,4 Millionen Euro besser ab.

Fazit: Ein Studium garantiert nicht per se ein höheres Lebensentgelt. „In bestimmten Berufen erzielen Beschäftigte mit einer niedrigeren formalen Qualifikation Lebensentgelte, die vergleichbar sind mit denen von Personen mit Hochschulabschluss in anderen Berufen“, formuliert es Heiko Stüber in der Sprache der Wissenschaftler.

 

Quelle: Infografik WELT

 

Nichtakademiker dürften in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bei den Einkommensmöglichkeiten vielfach weiter aufholen. Die IAB-Forscher rechnen damit, dass sich die Löhne und Gehälter in Ausbildungsberufen besser entwickeln als im Schnitt: „Aufgrund der steigenden Fachkräfteengpässe ist — zumindest in bestimmten Berufsgruppen — in den nächsten Jahren ein überproportionaler Anstieg der Entgelte von Fachkräften und Spezialisten im Vergleich zur Steigerung der Löhne insgesamt zu erwarten“, heißt es in der IAB-Kurzstudie „Ein Studium garantiert nicht immer das höchste Lebensentgelt“.

Seit 2012 nahmen die Entgelte für Fachkräfte in der Altenpflege um gut 41 Prozent zu.

In einer separaten Studie haben die Forscher herausgefunden, dass die Entgelte für Fachkräfte in der Altenpflege bereits in den zurückliegenden Jahren überproportional gestiegen sind. Seit 2012 nahmen sie um gut 41 Prozent zu. In der Krankenpflege betrug das Plus etwa 29 Prozent. Insgesamt konnten Fachkräfte in Deutschland ihr Einkommen damit um 23 Prozent erhöhen.

Noch sind die Lebenseinkommen von Fachkräften und Spezialisten in medizinischen Gesundheitsberufen etwas geringer als die der am schlechtesten bezahlten Akademiker, aber das könnte sich in den nächsten Jahren ändern.

Auch ING-Ökonom Carsten Brzeski, der sich intensiv mit den Umbrüchen im Erwerbsleben beschäftigt, sieht für viele Ausbildungsberufe Aufholpotenzial: „Die Arbeitswelt verändert sich dramatisch schnell. In einigen Akademikerjobs gibt es jetzt einen Überfluss an Arbeitskräften und in manchen technischen Berufen herrscht Knappheit.“

KI und Roboter mitdenken

Dabei müssten junge Menschen immer auch im Blick haben, welche Tätigkeiten in Zukunft von Künstlicher Intelligenz und Robotern erledigt werden könnten und welche nicht: „Ist ein wenig so wie an den Aktienmärkten: Die Zeit von pauschalen Empfehlungen ist vorbei. Es gibt Branchen, in denen technische Berufe auch in den kommenden Jahren eine hohe Rendite versprechen und andere Berufe, die durch Automatisierung bedroht werden.“

Fahrzeugführer zum Beispiel könnten auf absehbare Zeit durch autonome Systeme ersetzt werden, aber eben keine Handwerker oder Techniker, die Wärmepumpen einbauen. Volkswirtschaftlich bringe es wenig, wenn Deutschland lauter Taxi fahrende Akademiker hervorbringe, aber keine Dachdecker oder Heizungsinstallateure.

„Die Mischung macht’s. Für die aktuelle Generation von Schülern gilt es darum, wegzukommen von dem Gedanken, dass ein Uni-Studium ein Muss ist.“ Es gebe genügend Alternativen für ein gutes Lebenseinkommen. Schon „Die Ärzte“ hätten in einem ihrer Songs immer gefragt: „Junge, warum hast Du nichts gelernt?“

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Die Lernforscherin Elsbeth Stern sagt: «Mindestens 30 Prozent der Mittelschüler gehören nicht ans Gymnasium – weil sie nicht übermässig intelligent sind» https://condorcet.ch/2021/11/die-lernforscherin-elsbeth-stern-sagt-mindestens-30-prozent-der-mittelschueler-gehoeren-nicht-ans-gymnasium-weil-sie-nicht-uebermaessig-intelligent-sind/ https://condorcet.ch/2021/11/die-lernforscherin-elsbeth-stern-sagt-mindestens-30-prozent-der-mittelschueler-gehoeren-nicht-ans-gymnasium-weil-sie-nicht-uebermaessig-intelligent-sind/#comments Thu, 25 Nov 2021 20:41:18 +0000 https://condorcet.ch/?p=9916

Elsbeth Stern ,ordentliche Professorin für Lehr- und Lernforschung der ETH Zürich, gab der NZZ ein Interview über Gymnasialquoten, die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Unterrichts und Frauenförderung. Dabei sprach sie äusserst umstrittene Tabuthemen an, wie zum Beispiel die Intelligenz der heutigen Gymnasiasten oder die unterschiedliche Unterrichtsqualität in den Gymnasien und der Volksschule.

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Die Lernforscherin Elsbeth Stern: Man kann sich seinen Primarlehrer nicht aussuchen.

Frau Stern, Sie sind auf einem Bauernhof in Hessen aufgewachsen, heute sind Sie Professorin an der ETH Zürich. Wäre ein solcher Werdegang weiterhin möglich?

Möglich schon, aber weniger wahrscheinlich. Ich bin in einer Zeit der Bildungsexpansion gross geworden. Der Anteil der Gymnasiasten nahm jedes Jahr zu. Da war es kein Problem, dass leistungsfähige Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern ans Gymnasium kamen.

Ist das heute anders?

Es ist Konsens, dass die Gymnasialquoten in Deutschland und in der Schweiz

Zürcher Gymmerquote: Das Boot ist voll!

nicht erhöht werden sollen. Das Boot ist voll. Doch für Akademikereltern ist es schwer zu akzeptieren, dass ihre Kinder nicht ans Gymnasium gehen sollen. Also unternehmen sie sehr viel, damit es trotzdem klappt. Das kann zulasten von jenen Kindern gehen, die die Intelligenz eigentlich mitbringen, deren Eltern aber nicht den Hintergrund haben, um sie zu unterstützen.

Sie haben die Mathematikaufgaben der Zürcher Gymiprüfung einmal als willkürlich und zu anspruchsvoll kritisiert. Eine Aufgabe fürs Langgymnasium vom vergangenen Frühling lautet: 125 × 6,408. Ist das derart schwierig, dass man dafür einen teuren Vorbereitungskurs braucht?*

Hier ist geschicktes Rechnen gefragt. Dazu muss man verstanden haben, wie man Zahlen zerlegt. Viele der Textaufgaben, die ich gesehen habe, sind sehr verschlungen. Intelligente Kinder, die guten Mathematikunterricht hatten und so etwas einmal geübt haben, können das lösen. Aber wenn man Mathematikunterricht hatte, der nicht darauf angelegt war, einen vernetzten Zahlenraum aufzubauen, ist man benachteiligt.

Und so gibt es immer wieder Kinder, die die Aufnahmeprüfung nicht schaffen, obwohl sie das Zeug fürs Gymnasium hätten. Und es gibt Kinder, die so getrimmt werden, dass sie durchkommen, obwohl sie nicht übermässig intelligent sind.

Die Prüfungskommission stellt sich auf den Standpunkt, dass die Aufnahmeprüfung auf Primarschulstoff beruhe. Man könne sie auch ohne spezielles Training bestehen.

Theoretisch ist das so – wenn alle Kinder gute Lerngelegenheiten hätten. Aber die Kollegen wissen auch, dass es im Mathematikunterricht grosse Unterschiede gibt. Einer der Verantwortlichen hat mir vor einem Jahr gesagt: «Wir müssen sicherstellen, dass die Kinder solche Aufgaben einmal gesehen haben in der Schule.» Und so gibt es immer wieder Kinder, die die Aufnahmeprüfung nicht schaffen, obwohl sie das Zeug fürs Gymnasium hätten. Und es gibt Kinder, die so getrimmt werden, dass sie durchkommen, obwohl sie nicht übermässig intelligent sind.

Akademikereltern sehen, wenn in der Schule wenig anregende Aufgaben durchgenommen werden – und sorgen rechtzeitig dafür, dass das Kind zusätzliches Training erhält.

Dann liegt das Problem eher am Mathematikunterricht und weniger an der Prüfung?

Genau. Man kann sich seinen Primarlehrer nicht aussuchen. Akademikereltern sehen, wenn in der Schule wenig anregende Aufgaben durchgenommen werden – und sorgen rechtzeitig dafür, dass das Kind zusätzliches Training erhält. Nichtakademikereltern können das vielleicht nicht erkennen. Sie sehen nur die guten Noten und sind dann erstaunt, wenn ihr Kind durch die Prüfung fällt.

Dieses Jahr haben es in Zürich 4661 Schülerinnen und Schüler versucht, 8 Prozent mehr als 2020. Bestanden haben 48,7 Prozent – 3 Prozent weniger als im Jahr davor. Mehr Prüflinge, mehr Durchgefallene: Das spricht für die Gymiprüfung.

Die Prüfung muss schwer sein. Aber schwierige Aufgaben allein sind kein Indikator für einen guten Test. Wenn die Hälfte der Kinder einen Test besteht und die andere Hälfte nicht, hängt viel vom Zufall ab, ob man die Hürde gerade so überspringt oder nicht. Die Gymiprüfung sollte die intellektuelle Leistungsfähigkeit von Kandidaten vorhersagen, die alle die gleichen Lerngelegenheiten hatten.

Die Prüfungen müssen schwierig sein.

Und wenn eine Schülerin besonders fleissig ist und vor allem deswegen durchkommt?

Mit Fleiss allein funktioniert das nur bis zu einem gewissen Alter. Je anspruchsvoller der Schulstoff wird, desto weniger kann man später kompensieren. Das sehen wir auch in den ersten Semestern an der ETH. Für die Prüfungen muss man gute geistige Voraussetzungen mitbringen. Wir müssen dafür sorgen, dass beim Zugang zum Gymnasium Intelligenz und Begabung zählen und nicht die soziale Herkunft.

Ein bekanntes Problem. Haben Sie eine Lösung dafür?

Ein guter Ansatz wäre: keine kommerziellen Kurse mehr – dafür bekommen alle Kinder mit guten Leistungen in der Primarschule die Gelegenheit, mit dafür ausgebildeten Lehrpersonen für die Gymiprüfung zu lernen. Dafür sollte man Geld in die Hand nehmen.

Und bei Zweifelsfällen, wenn die Lehrerin ein Kind nicht für geeignet hält, die Eltern hingegen schon oder umgekehrt: was dann?

Dann sollte man einen Intelligenztest machen. Das wäre eine Entscheidungshilfe.

Was bedeutet Intelligenz?

Geistige Flexibilität, schlussfolgerndes Denken, sich auf ein Ziel konzentrieren können. Irrelevante Informationen ausblenden, relevante aktivieren.

Es gibt auch intelligente Jugendliche, die Lust auf eine Lehre haben.

Solange sie das freiwillig machen, gerne. Aber ist es richtig, wenn kluge Köpfe Gymnasium, Matura und Studium gar nicht erst in Erwägung ziehen? Und wenn sich stattdessen andere durch Mittelschule und Uni schleppen und am Ende in einem Job landen, für den sie nicht geeignet sind? Die Schweiz kann sich den Luxus der tiefen Maturandenquote nur leisten, weil sie fehlende Akademiker im Bedarfsfall aus dem Ausland holen kann.

Wie viele Schüler sind im Gymnasium, die nicht dahin gehören?

Eine konservative Schätzung lautet: 30 Prozent.

30% gehören nicht ans Gymnasium.

Und an den Universitäten? An der ETH Zürich gibt es Brückenkurse für Studienanfänger in Mathematik und Programmieren und vielleicht bald in Chemie und Physik.

Das ist etwas anderes. Die Kurse sollen Defizite aus dem Gymnasium beheben, die auf einen schlechten Unterricht zurückzuführen sind, nicht auf mangelnde Intelligenz. Lehrermangel in Mathematik und Physik ist ein grosses Problem. Die Leute haben Alternativen. Viele Absolventen unserer Lehrerausbildung sagen mir im Abschlussgespräch: «Vielleicht unterrichte ich später mal, aber zuerst gehe ich in die Industrie.» Die Schulen müssen häufig Behelfslösungen finden mit Leuten, die noch nicht einmal einen Abschluss haben.

Was wäre zu tun, damit die besten Köpfe trotzdem Gymnasiallehrer würden?

Es kann sehr befriedigend sein, ein Fach weiterzugeben, das man mag. Forschung ist wichtig, aber Lehrer leisten einen genauso wichtigen Beitrag in der Gesellschaft. Das versuchen wir an der ETH zu vermitteln.

Es geht darum, Konzepte so zu erläutern, dass sie verstanden werden.

Was macht guten Unterricht aus in diesen Fächern?

Es geht darum, Konzepte so zu erläutern, dass sie verstanden werden. Also nicht einfach mit Formeln wie «Kraft = Masse × Beschleunigung» operieren, sondern ausgiebig besprechen, wie sich der Kraftbegriff in der Physik vom Kraftbegriff im Alltag unterscheidet. Oder dass jede Kraft eine Gegenkraft hat – eine abstrakte Vorstellung, die man der Klasse trotzdem näherbringen sollte, anstatt einfach zu sagen: «Das ist nun mal so.» Sonst verlieren intelligente Schüler das Interesse. Vor allem junge Frauen wollen verstehen und wenden sich dann anderen Fächern zu.

Das heisst, man sollte mit anschaulichen Beispielen arbeiten – wie bei der Frage, warum ein schweres Schiff aus Stahl schwimmt?

Das ist Primarschulstoff, am Gymnasium muss man abstrakte Konzepte vermitteln, die sehr erklärungsmächtig sind, aber keine Eigenschaften unserer wahrnehmbaren Welt haben. Gold hat die Farbe Gelb, aber das Goldatom hat keine Farbe. Minus mal minus ist plus. Das ist nicht intuitiv, aber Maturanden sollten verstanden haben, dass es eine innermathematische Logik gibt, die keine Alternative zulässt.

Das ist Primarschulstoff, am Gymnasium muss man abstrakte Konzepte vermitteln, die sehr erklärungsmächtig sind, aber keine Eigenschaften unserer wahrnehmbaren Welt haben.

Logik klingt gut. Aber wie berechnet man die Steigung einer linearen Funktion schon wieder?

Die Steigung des Graphen einer linearen Funktion ist der Quotient aus der Differenz der Koordinaten auf der y-Achse und jener der Koordinaten auf der x-Achse – für zwei beliebige Punkte auf dem Graphen. Klingt kompliziert. Aber das Entscheidende ist: Es geht um die Rate der Veränderung. Wenn man dieses Konzept verstanden hat, kann man es auf Stückpreise, Geschwindigkeit, Beschleunigung oder alles Mögliche anwenden.

Aber ein Text aus Wörtern und Sätzen hat schon Vorteile, weil er leichter zu verstehen ist als Formeln und mathematische oder physikalische Gesetze.

Das kommt auf den Text an. Lesen Sie mal einen Text zur Relativitätstheorie.

Touché. Aber auch da geht es um Physik!

Mathematik und Physik sind schwierig – auch weil die Inhalte in diesen Fächern stark aufeinander aufbauen. In Geschichte etwa kann man sich auf die Neuzeit konzentrieren, ohne alle anderen Epochen im Detail zu kennen. Man kann schlecht in Englisch sein und sich im Alltag trotzdem einigermassen verständigen. Aber wenn man in Mathematik und Physik bestimmte Konzepte nicht verstanden hat, hat man eigentlich gar nichts verstanden.

Die Schweiz braucht Fachkräfte. Wird es mit den zahlreichen Initiativen für guten Unterricht in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (Mint) eines Tages gelingen, diesen Mangel zu entschärfen?

Das ist ein Motiv, es ist aber längst nicht das einzige. Schule soll vor allem helfen, die Welt zu verstehen. Aber die ETH hat natürlich nichts dagegen, wenn ihre Studenten bereit sind fürs Studium. Auch deshalb investieren wir in die Lehrerbildung. Wir möchten nicht, dass Maturanden bestimmte Optionen von vornherein ausschliessen, weil sie falsche Vorstellungen davon haben. Wir haben aber auch den Anspruch, dass Leute, die nicht Naturwissenschaften und Mathematik studieren, eine Idee davon haben, wie ein iPhone funktioniert und was alles passiert, bis der Strom aus der Steckdose kommt. Oder was exponentielles Wachstum ist. Das sollte man wissen, gerade in einer Pandemie, um Entwicklungen der Fallzahlen einordnen zu können.

Sollte man mit diesen Grundlagen schon in der Primarschule ansetzen?

Naturwissenschaftliche Themen unbedingt auf der Primarstufe behandeln.

Unbedingt. Eine Langzeitstudie unseres Lernzentrums an der ETH hat gezeigt, dass Achtjährige physikalische Fragen deutlich besser verstehen als Zwölfjährige, wenn sie altersgerechten naturwissenschaftlichen Unterricht bereits gehabt haben.

Darf man von einer Primarlehrerin erwarten, dass sie ihren Schülern neben Schreiben, Rechnen, Englisch, Französisch, Natur, Mensch, Gesellschaft auch Physik beibringt?

Man muss. Man kann sich auf wenige Themen beschränken wie Schwimmen und Sinken. Oder dass Schall ein Medium braucht, um sich auszubreiten. Dafür gibt es gute Unterrichtsmaterialien, die man allerdings einüben muss in der Aus- oder der Weiterbildung. Das geht nicht von allein im Unterricht.

Ist es sinnvoll, dass Primar- und Sekundarlehrer an den PH und Gymnasiallehrer weiterhin vor allem an Universitäten ausgebildet werden?

Diese riesige Diskrepanz ist ein Problem. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Gymnasiallehrer haben sehr viel Fachwissen, lernen aber relativ wenig über Pädagogik. Und an den PH ist es genau umgekehrt. Das führt zu Berührungsängsten und manchmal auch zu einer Arroganz bei Gymnasiallehrern, die sagen: «Volksschullehrer können ja nix.» Dagegen kämpfen wir an.

Wie?

Eine meiner Mitarbeiterinnen macht gerade ein Seminar, wo Lehrerstudenten Sekundar- und Primarschulen besuchen und dort auch unterrichten müssen. Auch um zu sehen, was die Kinder bereits können und was die Kollegen dort mit ihnen machen.

Solange wir Defizite haben in Mathematik und Naturwissenschaften, sollte man nicht noch mehr Fächer ins Gymnasium packen.

Ein Ansatz für die Zukunft?

Ja, Gymnasiallehrer sollten vermehrt über die eigene Schulstufe hinausblicken.

Psychologie soll zusammen mit Philosophie und Pädagogik bald auch in Zürich zu einem neuen Schwerpunkt für Maturanden werden. Eine gute Idee?

Nein. Da ist noch zu viel im Wandel. Solange wir Defizite haben in Mathematik und Naturwissenschaften, sollte man nicht noch mehr Fächer ins Gymnasium packen.

Sind Gymnasiasten in der Lage, interdisziplinär zu denken – so wie sich die Hochschulen das von ihren künftigen Studierenden wünschen?

Alle Menschen neigen dazu, Wissen so zu nutzen, wie sie es erworben haben – und nicht in einem anderen Kontext. Dabei ist Schulwissen dazu da, um breit aufgestellt zu sein.

Bildung ist wie ein Garten – er kann im Frühjahr noch so schön gewesen sein, die Arbeit dazu muss bereits im Herbst gemacht werden, immer wieder.

Ist das schlimm?

Nein, man muss nur daran arbeiten. Im Übrigen stehen Gymnasien in der Schweiz viel besser da als in vielen anderen Ländern. Der Punkt ist: Bildung ist wie ein Garten – er kann im Frühjahr noch so schön gewesen sein, die Arbeit dazu muss bereits im Herbst gemacht werden, immer wieder. Es braucht Zeit, bis etwas Neues wächst. Und man muss sich immer überlegen, was man besser machen kann.

Was zum Beispiel?

Man sollte die jungen Leute nicht so früh dazu zwingen, sich entweder für Sprachen oder für Mathematik zu entscheiden. Diese Glaubensfrage führt dazu, dass sich gerade junge Frauen von Mathematik und Naturwissenschaften abwenden und andere Interessen entwickeln.

Auch an den Universitäten werden Mathematik und Technik weiterhin von Männern dominiert. Das ist auch ein kulturelles Problem.

Ja. Wie sind Höchstleistungen zu erklären? Frauen gelten als fleissig, Männer hingegen als brillant. Das Stereotyp, dass Frauen halt doch nicht ganz so intelligent sind wie die besten Männer und es deshalb nicht bis ganz nach oben schaffen, ist ausgeprägt. Und so werden die Leistungen von Frauen häufig übersehen. Das haben alle Frauen erlebt, die akademische Karriere machen. Und alle haben es irgendwann überwunden.

Wie war das bei Ihnen?

Ich hatte Förderer. Aber wenn ein Männergremium eine begehrte Stelle neu besetzen muss, geschieht das oft nach dem «Similar to me»-Prinzip: Männer wählen Männer, weil sie glauben, in ihnen weiterzuleben oder was auch immer. Kandidatinnen, die genauso gut sind, müssen sich nach der Absage dann Unverschämtheiten anhören wie, man sei halt eine schwierige Person. Auch das haben alle Frauen in Spitzenposition erlebt, auch ich. Und ich bin bestimmt nicht schwierig.

Sehen Sie sich als Vorbild für andere Frauen?

Ich weiss nicht, ich habe keine Kinder. Das macht vieles leichter. Aber ich habe schon relativ viele Frauen zu Professorinnen gemacht, die bereits Kinder hatten . . . Ich habe mich selber glaub nicht als Vorbild gesehen, aber vielleicht war ich’s manchmal.

Ihre wichtigste Botschaft für junge Wissenschafterinnen?

Lasst euch nicht entmutigen. Viele Frauen können nicht mit unangenehmen Situationen umgehen. Sie waren sehr gute Schülerinnen, sie hatten wenig Widerstand. Und wenn sie später mit «bösen» Männern zu tun haben, kommen sie nicht damit zurecht. Oder wenn eine Publikation abgelehnt wurde. Da gibt es nur eines: weitermachen!

Warum wollten Sie Professorin werden und nicht Lehrerin? In einem Klassenzimmer wären Sie viel näher dran am Lernen.

Ich wusste schon mit 16 Jahren, dass ich Psychologieprofessorin werden wollte. Ich wollte etwas über Intelligenz und das menschliche Denken herausfinden. Das ist der Vorteil von nichtakademischen Elternhäusern: Es redet einem niemand drein.

Lernforschung für die Lehrer

R. Sc. · Elsbeth Stern ist ordentliche Professorin für Lehr- und Lernforschung der ETH Zürich und Leiterin des Instituts für Verhaltenswissenschaften am dortigen Departement für Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften. Die Psychologin beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit didaktischen und lerntechnischen Fragen im Mathematikunterricht und in den Naturwissenschaften. Dies unter anderem auch in einem Studiengang für angehende Gymnasiallehrer an der ETH. Am Mint-Lernzentrum der Hochschule können sich Lehrerinnen und Lehrer auch punktuell weiterbilden lassen.

Ein weiterer Schwerpunkt der 63-jährigen Deutschen ist die Intelligenzforschung. Ihr Buch «Intelligenz: Grosse Unterschiede und ihre Folgen» aus dem Jahr 2013 enthält einige deutliche Botschaften. Zum Beispiel diese: Fleiss, Disziplin und Kreativität sind kein Ersatz für Intelligenz.

* Für die zitierte Mathematikaufgabe 125 × 6,408 gibt es einen Trick. 125 = 1000 : 8, also kann man rechnen: 6,408 × 1000 : 8 = 801. Für diesen Weg gab es an der Gymiprüfung die volle Punktzahl.

Dieser Artikel istzuerst  in der NZZ erschienen (24.11.21)

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Die Schulvorbereitungspflicht ist für offene Gesellschaften unumgänglich https://condorcet.ch/2021/11/die-schulvorbereitungspflicht-ist-fuer-offene-gesellschaften-unumgaenglich/ https://condorcet.ch/2021/11/die-schulvorbereitungspflicht-ist-fuer-offene-gesellschaften-unumgaenglich/#comments Wed, 24 Nov 2021 14:30:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=9902

Markus Waldvogel setzt bei der Forderung nach mehr Chancengerechtigkeit und Bildung für alle bei der Familie an. Seiner Ansicht nach könne es der Staat nicht hinnehmen, wenn immer mehr Kinder gar nicht mehr schulfähig sind.

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Dr. Markus Waldvogel, pens. Gymnasiallehrer in Biel, Philosoph, Gründer der Philosophietage in Biel

In philosophischen Kreisen gehört es zum guten Ton, sich der Frage, wie es wäre, gebildet zu sein, zu stellen. Mit viel Verve wird über Halbbildung, wahre Bildung und die Ware Bildung gestritten. Dahinter steckt meist ein Bild vom Menschen, der aufnahmefähig, motiviert und «frei» ist, was einengende Traditionen, religiöse Dogmen, familiäre Traumata oder Genderfragen betrifft. Angesichts dieser Voraussetzungen ist es klar, dass das Profil der Allgemeinbildung im Verhältnis zur «blossen» Ausbildung resp. die humanistische Bildung und die grossen Wünsche an die Bildung, wie sie etwa der Lehrplan 21 zum Ausdruck bringt, im Vordergrund stehen. Ins Auge sticht aber, wie wenig die Bedingungen für die Möglichkeit von Bildung und damit auch von Persönlichkeitsentwicklung untersucht werden. In der Presse wurde in den letzten Wochen darüber berichtet, dass laut einer repräsentativen deutschen Studie 40 Prozent der Kinder, die seit 2010 geboren wurden -also die Kinder der sogenannten Generation Alpha- Auffälligkeiten im sprachlichen Bereich, 19 Prozent im motorischen Bereich und 30 Prozent pens. im sozialen Bereich zeigen würden. Das ist traurig. Doch ist es zwingend?

Carl Oechslin (1916-1971) Unternehmer, Denker, Wirtschaftshumanist: Wo das Leben sich frei entfalten kann, sind die Gegenätze auch offen da.

Carl Oechslin schrieb 1958, dass die lebendige Meisterung von Konflikten eine hohe kulturelle Aufgabe sei. «Wo das Leben sich frei entfalten kann, sind die Gegenätze auch offen da. Das Problem besteht darin, sie zu einer … Einheit zu führen und nicht, sie hinter Schein-Lösungen weiterfressen zu lassen … oder aber sie überhaupt zu unterdrücken!» Das geschilderte Phänomen der Scheinlösungen, des vorauseilenden Abfederns von Widersprüchen oder die Scheu vor pointierten Auseinandersetzungen in einer aufs Funktionieren getrimmten Gesellschaft, hat sich natürlich in den letzten 60 Jahren massiv verändert. Wir sind tatsächlich in der globalisierten Welt mehr denn je auf Kompromisse aus. Ob das Scheinlösungen sind, bleibe dahingestellt. Doch wer in offenen Gesellschaften die Schule als Voraussetzung für die Demokratie bezeichnet, muss sich mit Gottfried Kellers «Zu Hause muss beginnen, was im Staate leuchten soll …» (frei zitiert) beschäftigen, weil er sonst entwicklungspsychologische Fakten, was das Aufwachsen und Werden «kleiner Persönlichkeiten» und das Gewicht der ersten Lebensjahre betrifft, schlicht unter den Tisch wischt und Schulen und Kindergärten «von Beginn weg» im Regen stehen lässt.

Die damit verbundene Chance, offen über Wertevermittlung und Demokratie zu reden, wird allerdings oftmals -auch aufgrund berechtigter Ängste- nicht genutzt, gerade weil die Wertekonzepte zwischen Schule und Elternhaus zunehmend divergieren.

Bildung baut auf die Familie.

Das wiegt schwer, weil das demokratische Bildungskonzept immer schon auf Allgemeinbildung ausgerichtet war. Allgemeinbildend meinte ursprünglich „nicht nur die reinen Kulturtechniken betreffend“. Bildung sollte Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln und zusätzlich den Blick in die Welt öffnen. Und das für jedermann. Genauso, wie man bis in die 70er-Jahre die Vielfalt der Presse als Bannwald der Demokratie bezeichnete, hatte die Volksschule (idealerweise) das Fundament der Demokratie sicherzustellen. Dies in engster Zusammenarbeit mit den Familien. Diese Verlinkung blieb von Beginn weg ein Sorgenkind der allgemeinen Schulpflicht. Immerhin konnten die Pädagogen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in wenn auch zweifelhafter Übereinstimmung mit den Werten vieler Elternhäuser agieren. Niemand trauert allerdings den Auswüchsen dieser Zeit nach. Literarisch wurden sie u.a. von Hermann Hesse in „Unterm Rad“, Friedrich Torberg im „Schüler Gerber“ oder Robert Musil in „Der Zögling Törless“ eindrücklich bearbeitet. Die autoritäre Pädagogik hat hierzulande in den letzten Jahrzehnten viel Terrain verloren. Die damit verbundene Chance, offen über Wertevermittlung und Demokratie zu reden, wird allerdings oftmals -auch aufgrund berechtigter Ängste- nicht genutzt, gerade weil die Wertekonzepte zwischen Schule und Elternhaus zunehmend divergieren. Werte können zugegebenermassen nicht einfach so eingefordert, sie dürfen aber keinesfalls ignoriert, überspielt werden.

Die Zivilgesellschaft muss grundsätzlich festlegen, welche ethischen und politischen Werte die Schule zu vertreten hat und sie muss den Lehrpersonen in diesen Fragen den Rücken stärken.

Es braucht eine permanente Auseinandersetzung und deutlich mehr als nur Anknüpfungspunkte wie «Wir wollen, dass unsere Kinder Karriere machen» oder «Bildung verhilft zu Reichtum» oder »Die Schule ist allein für die individuelle Förderung da». Wenn eine verantwortungsvolle Bildung beispielsweise auf gleichberechtigte Geschlechter oder laizistische Werte Gewicht legt, führt das rasch zu derartigen Spannungen mit Kindern und Eltern, dass schulinterne oder kommunale Lösungen nicht mehr ausreichen.  Die Zivilgesellschaft muss grundsätzlich festlegen, welche ethischen und politischen Werte die Schule zu vertreten hat und sie muss den Lehrpersonen in diesen Fragen den Rücken stärken. Damit werden Energien frei für die ureigenste Aufgabe von Schule, nämlich Interessen zu wecken. Schüler*innen, die über ein mathematisches, natürliches, sprachliches oder soziales Phänomen staunen, die sich begeistern lassen, sind vom wichtigsten Virus befallen, den Erziehung und Schule verbreiten kann. Diese „Krankheit“ hat die Nebenwirkung, dass Befallene mehr wissen möchten.

Der Wissensdurst muss gestillt werden. Schulen, die sich mit der Neugier und dem Wissensdrang –auch unter der Last der Verhältnisse- schwertun, verpassen die Erfüllung ihres staatspolitischen Auftrages ebenso, wie wenn sie sich nicht um jene kümmern, die aus soziologischen, pädagogischen oder psychologischen Gründen ihre Bildung nur stolpernd unter die Füsse nehmen.

Bild: Pietro Masztalerz aus Schlaue Bilder, Lappan

Der Wissensdurst muss gestillt werden. Schulen, die sich mit der Neugier und dem Wissensdrang –auch unter der Last der Verhältnisse- schwertun, verpassen die Erfüllung ihres staatspolitischen Auftrages ebenso, wie wenn sie sich nicht um jene kümmern, die aus soziologischen, pädagogischen oder psychologischen Gründen ihre Bildung nur stolpernd unter die Füsse nehmen. Es wäre ein verheerender Irrtum, in diesem Spektrum schwergewichtig entscheiden zu wollen.  Natürlich haben die Schulen auch einen Erziehungsauftrag, primär sind sie aber der Bildung verpflichtet. Keine Schule kann es sich langfristig leisten, andauernd gröbere Abstriche vorzunehmen, wenn es darum geht, auf intelligente, schöpferische und anspruchsvolle Weise zu unterrichten. Das erzieherische Anliegen aber wird sofort, wenn die Eltern resp. die Erziehungsbevollmächtigten damit überfordert sind, zu einer schwergewichtigen und teuren Angelegenheit. (Carlos lässt grüssen). Auf alle Fälle ist es ein gefährlicher Weg, wenn die Gründe für eine beschränkte Schulfähigkeit systematisch nicht analysiert werden. Trotz aller Schulsozialarbeit kann Schule nämlich in sehr vielen schwierigen Fällen nur Feuerwehr spielen. Bei einer Anhäufung von beschränkter Schulfähigkeit liegt nicht ein pädagogisches Malaise vor, sondern ein gesellschaftliches. Dieses nicht beim Namen zu nennen und politisch nicht anzupacken, kann nicht im Interesse der Bürger*innen sein.

Wenn die Anzahl der beschränkt schulfähigen Kinder stetig ansteigt, liegt ein Notstand vor.

Im Interesse der Schulen ist es ebenfalls nicht, mit Notmassnahmen den Betrieb aufrecht erhalten zu wollen. Die Zahl der erschöpften Aussteiger*innen aus dem Lehrberuf spricht da eine deutliche Sprache. Wenn die Anzahl der beschränkt schulfähigen Kinder stetig ansteigt, liegt ein Notstand vor. Diesen zu verdrängen in der Hoffnung, sozial aufgerüstete Schulen würden es richten, ist keine längerfristige Problemlösestrategie. Es gibt eben nicht nur die Schulpflicht. Es gibt auch eine Schulvorbereitungspflicht, die Erziehung eben. Die Haltung, die den Staat fast völlig aus elementaren Fragen der Erziehung heraushalten will, ist historisch gewachsen, nachvollziehbar und sie war während längerer Zeit praktikabel. Aber genauso, wie beispielsweise die allgemeine Schulpflicht eine historische Notwendigkeit war, wird die Schulvorbereitungspflicht -im Interesse aller Beteiligten- eine geschichtliche Tatsache werden. Die westlichen Gesellschaften können es sich nicht mehr lange leisten, ihre Schulen dafür büssen zu lassen, dass Vorschulprobleme politischen, kulturellen und soziologischen Ursprungs nicht als öffentliche Angelegenheit betrachtet werden. Die Kinder mit Lungenkrankheiten in den vom Smog geplagten Grossstädten des 19. Jahrhunderts wären auch nicht gesünder geworden, hätte man in den Schulen mehr Ärzte angestellt. Es ist an der Zeit, Familienpolitik und Bildungspolitik in ihrer jeweiligen Eigenheit zu betreiben, und zwar als mitunter gleich wichtige öffentliche Themen. So ist beispielsweise die tendenziell frühere Einschulung der Kinder nicht mehr als eine sinnvolle Massnahme in Richtung der Persönlichkeitsbildung. Eine massiv intensivierte Elternarbeit wird folgen müssen. Mit dieser steht und fällt jegliches spätere Unterrichtsgeschehen mit allen gängigen Themen wie Allgemeinbildung, Digitalisierung der Schule oder verbesserte Bildungschancen für alle.

Dieser Artikel ist zuerst in den Schaffhauser Nachrichten erschienen (20.11.21)

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Chancengerechtigkeit in Schule und Job https://condorcet.ch/2021/11/chancengerechtigkeit-in-schule-und-job/ https://condorcet.ch/2021/11/chancengerechtigkeit-in-schule-und-job/#respond Mon, 08 Nov 2021 14:19:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=9740

Die Debatte um die Chancengerechtigkeit wird sehr oft ideologisch geführt. Thomas Ragni setzt in seinem umfangreichen und anspruchsvollen Beitrag vor allem auf Empirie und zeigt: Von echter Chancengerechtigkeit sind wir weit entfernt.

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  1. Empirie der Chancengleichheit
Thomas Ragni, 62 Jahre, ehemals Lehrer an Handels-, Berufsschule und Gymnasium, heute wissenschaftlicher Mitarbeiter am SECO, verantwortlich für Konjunkturprognosen und Sozialpolitik, freier Mitarbeiter der Zeitschrift VPOD-Bildungspolitik.

Nachfolgend will ich in Abbildungen einige Kennzahlen darstellen, die Hinweise geben auf das Ausmass und die Entwicklung faktisch bestehender Chancenungleichheiten bei der schulischen Selektion, die für den individuellen Bildungserfolg bestimmend ist und so die spätere Jobkarriere vorspurt. Leider sind empirische Daten für die Schweiz nur sehr spärlich und lückenhaft verfügbar. Zeitreihen ohne statistische Brüche existieren nur sehr selten. Aus ‚Geldmangel‘ – sprich: aus Mangel an politischem Interesse aufgrund fehlenden öffentlichen Drucks – nahm die Schweiz auch nicht an neueren Projekten der OECD teil, die etwas Licht auf Fragen der Chancengerechtigkeit werfen könnten. International harmonisierte Indikatoren für einen belastbaren Ländervergleich unter Einschluss der Schweiz sind daher auch nicht verfügbar. Immerhin habe ich zwei verstreute Statistiken entdeckt, die einen Hinweis auf die Lage in der Schweiz geben können:

Abbildung 1: Studierende nach höchster abgeschlossener Ausbildung der Eltern
Quelle: BFS – Soziale und wirtschaftliche Lage der Studierenden (SSEE), eigene Darstellung

Erwartet habe ich – und in aller Deutlichkeit bestätigt hat sich – , dass in jedem einzelnen Erhebungsjahr mit steigender erreichter Ausbildungsstufe der Eltern der Anteil der Studierenden an universitären Hochschulen zunimmt. Dass aber auch über die Erhebungsjahre der Anteil der Studierenden an universitären Hochschulen bis zuletzt weiter ansteigt, deren Eltern bereits die höchste Ausbildungsstufe erreicht haben, ist prima vista sehr erstaunlich. Spiegelbildlich ist zwischen 2005 und 2016 der Anteil der Studierenden weiter gesunken, deren Eltern bloss die obligatorische Schule abgeschlossen haben. Bei diesem empirischen Befund könnte man zum Schluss gelangen, dass die intergenerationelle Bildungsmobilität zwischen 2005 und 2016 in der Schweiz deutlich abgenommen hat. Diese Schlussfolgerung wäre aber nur dann korrekt, wenn die Anteile der jeweils höchsten abgeschlossenen Ausbildung der Eltern über den betrachteten Zeitraum hinweg konstant geblieben wären. Das ist aber klarerweise nicht der Fall.

Spiegelbildlich ist zwischen 2005 und 2016 der Anteil der Studierenden weiter gesunken, deren Eltern bloss die obligatorische Schule abgeschlossen haben.

Man muss also versuchen, einen Indikator der intergenerationellen Bildungsmobilität zu konstruieren, welcher den Trend zu höheren Bildungsabschlüssen in der Elterngeneration der universitären HochschülerInnen mitberücksichtigt:

Abbildung 2: Über- / Unterrepresentation (+ / -) der HochschülerInnen bezüglich höchster abgeschlossener Ausbildung der Elterngeneration (in %)
Quelle: BFS – SSEE, SAKE, eigene Darstellung und eigene Berechnung.

Lesebeispiel: In 2005 hatten die Eltern von 8.8% aller HochschülerInnen nur die obligatorische Schule als höchsten Bildungsabschluss. Im gleichen Jahr hatten aber 15.8% der gesamten Elterngeneration der 45-54-jährigen Erwerbspersonen höchstens einen obligatorischen Bildungsabschluss. Somit waren die HochschülerInnen mit dieser niedrigsten Bildungsherkunft um -7.0 Prozentpunkte (PP) unterrepräsentiert. Weil aber diese Gruppe mit niedrigstem Bildungsabschluss anteilsmässig z.T. viel kleiner ist als jene der anderen Bildungsgruppen, unterschätzt die Unterrepräsentation in absoluten Prozentpunkten (PP) die effektive Unterrepräsentation in Bezug zu relativen Kleinheit dieser Gruppe im Vergleich zu den z.T. viel grösseren Gruppen mit höherem Bildungsabschluss. In Bezug zur eigenen Bildungsgruppe entspricht die absolute Unterrepräsentation von -7.0 PP einer relativen Unterrepräsentation von -80%: -7.0 PP sind knapp -80% von 8.8 PP.

Universität St. Gallen: Wohlstand der Eltern entscheidend

Was lässt sich daraus nun für die intergenerationelle Bildungsmobilität ablesen? Von 2005 bis 2016 hat die relative (prozentuale) Unterrepräsentation der universitären HochschülerInnen, deren Eltern höchstens einen obligatorischen Schulabschluss haben, deutlich weiter zugenommen (in absoluten Beträgen ausgedrückt), nämlich von -80% auf
-114%. In der gleichen Zeit hat die relative Überrepräsentation der HochschülerInnen, deren Eltern bereits einen Hochschulabschluss erreicht haben, abgenommen, von +70% auf +57%. Zwischen 2005 und 2016 ist somit die relative Überrepräsentation in der höchsten Bildungsherkunftsgruppe um 13% gesunken, während die relative Unterrepräsentation der niedrigsten Bildungsherkunftsgruppe um 34% gestiegen ist. Dies weist zusammengenommen auf eine eher gesunkene intergenerationelle Bildungsmobilität zwischen 2005 und 2016 hin. Sicher aber ist sie nicht spürbar angestiegen.

In der nächsten Abbildung 3 wird sichtbar, dass im Zeitraum 1995 bis 2019 die Selektionsquoten von weiblichen Jugendlichen in weiterführende Schulen mit ‚erweiterten Ansprüchen‘ durchgängig höher ist als die Selektionsquoten von männlichen Jugendlichen. Ist diese Tatsache ein Reflex der (un-) bewusst ablaufenden institutionellen Diskriminierung / Diskrimination der männlichen Schüler in den Schulen der Sekundarstufe I (z.B. aufgrund der sich immer weiter ausprägenden Mehrheit der Lehrerinnen gegenüber den Lehrern in der Primarschule)? Empirische Studien weisen darauf hin, dass die systematisch besseren Test scores bei der Selektion in ‚weiterführende Schulen‘ von Mädchen gegenüber Jungen u.a. mit den höheren Bildungsaspirationen der Mädchen zusammenhängen. Diese Aspirationen wiederum sind abhängig von genderspezifisch unterschiedlichen Einflussstärken von objektiven sozioökonomischen und subjektiven sozialisierenden Determinanten.[1] D.h., der systematisch bessere Bildungserfolg der Mädchen gegenüber Jungen ist im Wesentlichen nicht erklärbar durch institutionelle Diskriminierung und Diskrimination von Jungen innerhalb des Bildungswesens, sondern ist das Resultat von genderspezifisch unterschiedlich stark wirkenden gesellschaftlichen Einflüssen, die aber nicht eindeutig als gesellschaftliche Diskrimination zu qualifizieren sind. – Der nochmals deutlich grössere Unterschied der Selektionsquoten zwischen schweizerischen und ausländischen Kindern könnte die Kombination zweier Effekte zeigen: einerseits jenen der institutionellen Diskriminierung / Diskrimination in den Schulen der Sekundarstufe I, anderseits jenen der ‚reinen‘ Chancenungleichheit aufgrund sozioökonomischer und -kultureller Merkmale (des tieferen Wohlstands bzw. der grösseren ‚Bildungsferne‘ der Eltern…).

Abbildung 3: Selektion der SchülerInnen auf der Sekundarstufe I nach Geschlecht und Nationalität, 1995/96–2018/19 in weiterführende Schulen mit ‚erweiterten Ansprüchen‘; in % der SchülerInnen der 8. Klasse (10. Schuljahr HarmoS) in öffentliche Bildungsinstitutionen
Quelle: BFS

Der Verdacht der entscheidenden Rolle des Wohlstands der Eltern für den Selektionserfolg der Sprösslinge kann noch weiter erhärtet werden: Wenigstens für den Kanton Zürich existieren statistische Erhebungen auf Gemeindestufe, die es erlauben, den durchschnittlich realisierten ‚Bildungserfolg‘ der SchülerInnen mit dem durchschnittlichen Wohlstand der Eltern in Verbindung zu setzen. Für das letzte verfügbare Jahr 2018 zeigt sich nämlich Folgendes:

Abbildung 4: Zusammenhang zwischen durchschnittlichem Wohlstand der Haushalte und durchschnittlicher Maturaquote der Zürcher Gemeinden
Quelle: Statistisches Amt Kanton Zürich, Erhebung 2018, eigene Berechnung und eigene Darstellung; gestrichelte Linie = Trendlinie (polynomisch)

Im Kanton Zürich hängt der durchschnittliche ‚Bildungserfolg‘ der SchülerInnen der Gemeinden mit dem durchschnittlichen ‚Wohlstand‘ der privaten Haushalte der Gemeinden augenscheinlich sehr eng zusammen.[1] Verklausuliert spricht man meistens nicht platt direkt vom unterschiedlichen ‚Wohlstand‘ der Elternhaushalte, sondern distinguiert von ihrer ‚Bildungsnähe / -ferne‘, weil auch im internationalen Vergleich empirisch robust nachzuweisen ist, dass der mit dem höchsten erworbenen symbolischen Bildungstitel gemessene ‚Bildungserfolg‘ mit dem ‚Wohlstand‘ der Erwerbspersonen, gemessen mit ihrem Nettoeinkommen, sehr hoch korreliert ist:

Abbildung 5: Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und Nettoeinkommen 2018 in der Schweiz im Vergleich zu den Nachbarländern (nicht verfügbar: Italien) und vier ähnlichen Ländern (hinsichtlich Wohlstand pro Kopf und Einwohnerzahl)
Quelle: OECD, Education at a glance 2020, Erhebung 2018, eigene Berechnung und eigene Darstellung; Nettoeinkommen indexiert (100 / rote Linie = ‚Below upper secondary‘ = höchstens obligatorischer Schulabschluss)

[1] Im Wesentlichen ergeben sich dieselben Resultate, wenn nicht alle Haushalte, sondern nur die Nicht-Einpersonenhaushalte berücksichtigt und die Zeitreihen beider Variablen nicht nur indexiert, sondern ihre Varianzen zusätzlich noch normalisiert werden. Sehr ähnliche Ergebnisse ergeben sich auch, wenn als Proxy für den ‚durchschnittlichen Wohlstand‘ in den Gemeinden statt des Steuerertrags pro Haushalt das steuerbare Einkommen pro Haushalt oder die Steuerkraft pro EinwohnerIn herangezogen wird.

Bei je gleichen schulisch bewerteten Skills (d.h. bei statistischer Kontrolle der schulischen Performance der Kinder) ist der sozioökonomisch und -kulturell unterschiedliche Bildungserfolg in der Bildungskarriere abhängig von bewussten institutionellen Diskriminierungen und unwillkürlich und unbemerkt bleibenden Diskriminationen, die via die ‚feinen Unterschiede‘ im sozioökonomischen und -kulturellen Habitus (Pierre Bourdieu) in diesbezüglich je unterschiedliche Selektivitäten transformiert werden. Der Bildungserfolg in der Bildungskarriere ist aber auch von den wie auch immer ‚objektivierbar‘ zu messenden schulisch bewerteten Skills abhängig, die ihrerseits von sozioökonomischen und -kulturellen Determinanten beeinflusst werden. (Im PISA-Projekt ist der Anspruch, dass die verzerrenden Einflüsse der Notengebung durch die Lehrpersonen dank standardisierten schul- und länderübergreifenden Tests z.B. bei der Beurteilung der Lesekompetenz ganz zu neutralisieren sind.) Diese Determinanten sind nicht Reflex der institutionellen Diskrimination innerhalb des Bildungswesens, sondern der Reflex gesellschaftlicher Diskrimination, die sich in unterschiedlichen Startchancen im Bildungswesen niederschlagen. Gemäss einer jüngst publizierten empirischen Untersuchung[1] hat aber auch noch die ‚subjektive‘ Selbstzuschreibung der eigenen schulischen Skills einen Effekt auf die ‚objektiv‘ gemessene schulische Performance. Weil dadurch der Einfluss der ‚rohen‘ sozioökonomischen und -kulturellen Determinanten auf die schulische Performance verändert wird, kann man rückschliessend argumentieren, dass das über den sozialen Status vermittelte grössere oder kleinere ‚Selbstvertrauen‘ und die ebenso vermittelte stärkere oder schwächere ‚Selbstsicherheit‘ und die entsprechende ‚Anspruchshaltung‘ ein weiterer indirekter Kanal der Diskrimination ist, das einerseits von einem ‚Signalling‘ auf die Lehrpersonen herrührt (damit einen Teil der institutionellen Diskrimination darstellt), das anderseits aber auch mit steigendem sozialen Status einen objektiven positiven bzw. mit sinkendem sozialen Status einen objektiven negativen ‚Leistungs‘-effekt auf die schulisch bewerten Skills ausübt (damit einen Teil der gesellschaftlichen Diskrimination darstellt). Beide Arten der Diskrimination, die institutionelle und die gesellschaftliche, bestimmen zusammen genommen das totale Ausmass der Chancenungleichheit.

Abbildung 6: Einfluss von sozioökonomischen und -kulturellen Determinanten (ESCS) auf die Lesekompetenz
Quelle: OECD Database, eigene Darstellung

Erläuterungen:

ESCS = total effect of the PISA index of economic, social and cultural status (ESCS)

total effect of ESCS represents the score-point change in reading performance that is associated with a one-unit change in ESCS when accounting for gender

ESCS effect when accounting for the indirect effect of self-perception of reading performance represents the score-point change in reading performance that is associated with a one-unit increase in ESCS when accounting for gender and self-perception.

In der Schweiz ist der totale Effekt der mittels ESCS erfassten sozioökonomischen und -kulturellen Determinanten auf die Leseperformance nach Frankreich am zweitstärksten (graue Balken) im Vergleich der vier Nachbarländer und vier weiteren mit der Schweiz vergleichbaren Ländern. Dieser objektive Effekt von ESCS reduziert sich in der Schweiz unter den Vergleichsländern am drittschwächsten (nach Italien und den Niederlanden), wenn um den Einfluss der subjektiven Selbstwahrnehmung der eigenen Leseperformance auf die objektiv gemessene Leseperformance kontrolliert wird (schwarze Balken). D.h., der zusammengenommene Einfluss des ‚Signalling‘ des sozialen Status auf die Lehrpersonen und des objektiv positiven Einflusses des mit dem sozialen Status steigenden Selbstvertrauens ist in der Schweiz zwar noch immer hochsignifikant, aber vergleichsweise relativ schwach ausgeprägt.

Wieso eigentlich ist der Median des Bruttoerwerbseinkommens (BEE) der Hilfsarbeitskräfte robust knapp dreimal kleiner als jener der höchstqualifizierten Berufe
  1. Empirie des Individualismus

Im Bereich der Bildung ist die Humankapitaltheorie der Ausdruck der individualistischen ‚Leistungs‘-ideologie. Eine ganz naive Frage zu Anfang: Wieso eigentlich ist der Median des Bruttoerwerbseinkommens (BEE) der Hilfsarbeitskräfte robust knapp dreimal kleiner als jener der höchstqualifizierten Berufe (exklusive ‚Führungskräfte‘, Abbildung 6)? Nicht-ÖkonomInnen werden mit ihrem ‚gesunden Alltagsverstand‘ vermutlich meritorisch argumentieren: weil z.B. SpitalärztInnen eine viel anspruchsvollere und längere Ausbildung genossen haben als das Reinigungs- und Hilfspflegepersonal des Spitals, und weil ihre Berufstätigkeit viel verantwortungsvoller und komplexer ist, etc., etc.

Der in Franken exakt messbare faktische Markterfolg ist eine strikt objektive, empirisch exakt messbare Grösse, die wie ein Naturfaktum keinen ‚Sinn‘ – insbesondere auch keinen meritorisch zu legitimierenden ‚Sinn‘ – hat (z.B. wie die Messung der Oberflächentemperatur auf der Venus)

So argumentieren auch alle Berufsverbände und JobanbieterInnen in Branchen, die nicht unmittelbar den Marktkräften ausgesetzt sind (also v.a. in vielen Bereichen des Service public). Mainstream-ÖkonomInnen entgegnen: Sowohl irgendeine – gesellschaftlich noch so verantwortungsvolle, wohltätige, komplexe oder ehrenvolle… – Tätigkeit als auch die dafür benötigte – persönlich noch so anspruchsvolle, anstrengende, schwierige… – Ausbildung haben per se noch gar keinen ökonomischen (Markt-) Wert, sondern sind zunächst einmal bloss Aufwand bzw. Kosten. Die erwiesene ‚Leistung‘ in der Bildungskarriere, die sich in den errungenen symbolischen Bildungstitel und in den Abschlusszeugnissen bemisst, lässt sich nämlich nicht eins-zu-eins in ‚Leistungs‘-resultate der Berufs- bzw. Erwerbskarriere transferieren. ‚Leistung‘ bzw. Bildungserfolg lässt sich im Bildungswesen mit den erzielten Noten und bestandenen Prüfungen empirisch messen und so angeblich exakt objektivieren. Doch in der rein monetären kapitalistischen (Markt-) Wirtschaft bemisst sich ‚Leistung‘ allein am faktisch realisierten, exakt quantifizierbaren (Lohn- oder Gewinn-) Einkommen bzw. an der realisierten Rendite. Der in Franken exakt messbare faktische Markterfolg ist eine strikt objektive, empirisch exakt messbare Grösse, die wie ein Naturfaktum keinen ‚Sinn‘ – insbesondere auch keinen meritorisch zu legitimierenden ‚Sinn‘ – hat (z.B. wie die Messung der Oberflächentemperatur auf der Venus), und die deshalb nicht erst durch ein rekonstruierbares Sinnverständnis (Max Weber) zu einem Phänomen der gesellschaftlichen Realität wird. Das bringt die Humankapitaltheorie auf den Punkt: Ausbildung verwandelt sich erst in dem Moment von einem Aufwand in ein Investment, wenn es die / der UnternehmerIn ihrer selbst gelingt, dank der Ausbildung während der Erwerbskarriere einen relativ höheren Geldertrag als ohne Ausbildung zu erzielen. Erst dann transformiert sich die ausgebildete Arbeitskraft in eineN TrägerIn von (nicht transferierbarem bzw. ‚verkörpertem‘) Humankapital. Genauer: Allein der Nettoertrag – Zusatzertrag dank Ausbildung minus Ausbildungsaufwand – ist massgeblich für den ökonomischen Wert des Humankapitals. Würde perfekte Chancengleichheit herrschen, die bei perfektem Marktwettbewerb (ohne ‚Marktversagen‘) wie von selbst realisiert wäre, müsste die mittlere Humankapitalrendite für HilfspflegerInnen und für ÄrztInnen im Marktgleichgewicht in allen ‚Privat‘-spitälern genau gleich gross sein. Rückschliessend bedeutet das, der Ausbildungsaufwand für ÄrztInnen in ‚Privat‘-spitälern ‚müsste‘ gemäss Abbildung 6 knapp dreimal grösser sein als für Hilfspflegepersonal. – Dieses völlig kontraintuitive analytische Resultat ist aber das Rationale der Mainstream-Ökonomik für die Arbeitsangebotsseite des Arbeitsmarktes, sprich: für die Seite der Jobnachfrager. Noch kontraintuitiver, mit noch massiverem Holzhammer argumentiert: Sven ist Busfahrer in Schweden und Ram ist Busfahrer in Indien. Beide ‚verdienen‘ den landesüblichen Durchschnittslohn für Busfahrer, und beide sind im realwirtschaftlichen Produktionsprozess gleich produktiv, weil sie die gleichartige betriebliche Tätigkeit ausüben und täglich gleich viele Personen transportieren. Allerdings hat Ram erheblich grösseren Stress im Verkehrschaos der indischen Grossstädte auszuhalten. Doch Sven ‚verdient‘ fast fünfzigmal so viel wie Ram.[1]

Abbildung 7: Standardisierte Bruttoerwerbseinkommen (BEE) der höchst- und tiefstqualifizierten Berufe nach ISCO, umgerechnet in Frankenwerte 2019
Quelle: BFS (SAKE, LIK), eigene Darstellung und eigene Berechnung
  1. Chancengerechtigkeit im Kapitalismus

Wäre Chancengerechtigkeit zwischen den Individuen im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt perfekt und umfassend realisiert, und würde dadurch die intergenerationelle Bildungs-, Status- und Einkommensmobilität stark ansteigen, müssten in der Gesellschaft weder der schulische und berufliche Konkurrenzkampf noch die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung allmählich verschwinden.[1] Im Gegenteil, sie könnten beide weiter ansteigen – mit zunehmenden ‚Neben‘-folgen, die schon seit einiger Zeit zu beobachten sind: (a1) eine sozial sich immer weiter desintegrierende Gesellschaft, (a2) die immer weitere Ausbreitung des sozialen Leidens auf der abgeschatteten Seite der hellen Vergnügungs- und Erlebnisgesellschaft, (b) die definitiv zerstörte Hoffnung auf ein endlich emanzipatorisches Bildungswesen.

Das (öffentliche) Bildungswesen ist zwar keine eigenständig treibende Kraft der sozialen Desintegration und des daraus entstehenden oft versteckten sozialen Leidens, aber es ist auch kein dämpfender Faktor, im Gegenteil ein mächtiger Transmissionsriemen.

(a1) Mit den säkular stagnierenden Tendenzen der globalen Wirtschaft ab Mitte der 70er-Jahre des 20. Jhs – nur temporär unterbrochen und überdeckt vom spätestens in 20 Jahren wieder verpufft sein werdenden Effekt des China-Booms seit der Jahrtausendwende[1] – ist die sozioökonomische Ungleichheit immer weiter angestiegen. Die sich vertiefende strukturelle Spaltung in der Weltgesellschaft und in immer mehr nationalen Gesellschaften hat tiefgreifende Folgen der sozialen Desintegration. Das (öffentliche) Bildungswesen ist zwar keine eigenständig treibende Kraft der sozialen Desintegration und des daraus entstehenden oft versteckten sozialen Leidens, aber es ist auch kein dämpfender Faktor, im Gegenteil ein mächtiger Transmissionsriemen.

(a2) Wieso? Nun, im Zuge der steigenden Pro-Kopf-Wohlstands und der damit verbundenen allgemeinen Bildungsexpansion kommt ein Bildungswettlauf in Gang, der den Konkurrenzkampf um die höchsten Status- und Einkommenspositionen in der Gesellschaft ständig verschärft. Die bei steigendem Pro-Kopf-Wohlstand autonom ablaufende Bildungsexpansion nährt das Nullsummenspiel eines positionalen Wettkampfes (Fred Hirsch), der auf der Kehrseite des Trends zur generellen ‚Overeducation‘ immer mehr VerliererInnen und Ausgestossene produziert, wodurch sich das soziale Leiden immer weiter ausbreitet. Und die Bildungsexpansion dämpft keineswegs die Zunahme der sozioökonomischen Ungleichheit ab, selbst wenn sie sich unter dem Vorzeichen perfekter Chancengerechtigkeit vollzöge. Darum vermag sie auch nicht der sozialen Desintegration entgegenzuwirken.

(b) Indem der bürgerlich initiierte Bildungsprozess nach dem ‚Take-off‘ der ‚modernen‘ Industrialisierung im Laufe des 19. Jhs immer mehr in den Strudel der entstehenden kapitalistischen Wachstumsdynamik gerät, entfernt er sich immer weiter von den ursprünglichen aufklärerischen Idealen der Emanzipation. Das ist eine unvermeidliche ‚Neben‘-folge davon, dass das öffentliche Bildungswesen auf Dauer seine Existenzberechtigung im globalen Standortwettbewerb der ‚Nationen‘ nur dadurch zu behaupten vermag, dass es in den einzelnen ‚Nationen‘ zu einer immer effizienter organisierten und immer fokussierter ausgerichteten Produktionsstätte von (betriebsunspezifischem) Humankapital ausgestaltet wird.

Der gesamte Text mit allen Fussnoten ist in vpod-Bildungspolitik zu finden: http://vpod-bildungspolitik.ch/wp-content/uploads/2021/07/222_h.pdf

 

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Eine Replik auf die Pseudo-Kritik von Pichard/Schmutz: Hier wird das Geschäft der Rechten betrieben. https://condorcet.ch/2021/08/eine-replik-auf-die-pseudo-kritik-von-pichard-schmutz-hier-wird-das-geschaeft-der-rechten-betrieben/ https://condorcet.ch/2021/08/eine-replik-auf-die-pseudo-kritik-von-pichard-schmutz-hier-wird-das-geschaeft-der-rechten-betrieben/#comments Fri, 06 Aug 2021 19:41:51 +0000 https://condorcet.ch/?p=9138

Am 18. Juli stellte der Redaktor des VPOD-Bildungsmagazins, Johannes Gruber, seine Idee einer linken Bildungspolitik vor (Warum «linke Bildungspolitik» vonnöten ist und warum sie nicht ausreicht). In Ihrer Replik vom 25. Juli kritisierten die Condorcet-Autoren Schmutz und Pichard den Beitrag und warfen ihm sogar Falschaussagen vor. Nun reagiert Thomas Ragni, im SECO tätig und freier Mitarbeiter von VPOD-Bildungspolitik, auf die Kritik und wirft den Autoren seinerseits eine verzerrende Darstellung der Aussagen von Johannes Gruber vor. Wir freuen uns auf Ihre Reaktion und erhoffen uns einen fruchtbaren Austausch.

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Thomas Ragni, ehemals Lehrer an Handels-, Berufsschule und Gymnasium, heute wissenschaftlicher Mitarbeiter am SECO, verantwortlich für Konjunkturprognosen und Sozialpolitik, freier Mitarbeiter der Zeitschrift VPOD-Bildungspolitik.

Ich möchte im Folgenden nicht Stellung nehmen auf die inhaltlichen Einwände, die Alain Pichard und Felix Schmutz (nachfolgend: die Autoren) im Namen ihrer ‚ideologiefreien‘ und ‚pragmatischen‘ Bildungspolitik gegen Johannes Grubers Beitrag vorbringen, wieso eine ‚linke‘ Bildungspolitik vonnöten sei. Ich könnte – selbstverständlich aus meiner ganz eigenen ‚Perspektive‘ (Friedrich Nietzsche) – einige (m.E. überzeugende) Argumente vorbringen, wieso ihre Einwände unbegründet oder falsch sind (z.B. Kompetenzziele als angeblich besonders leichte Einfallstüren für schulische Indoktrination; ein angeblich fundamentaler Widerspruch zwischen ‚égalité‘ und ‚liberté‘ der Französischen Revolution, die eine angeblich bloss zeitbedingte Bedeutung hatten; ein grundlegend falsches, ‚verschwörerisches‘ Verständnis der Bourdieu’schen Theorie der ‚feinen Unterschiede‘, welche erklärt, wieso das Bildungswesen dazu beiträgt, einmal etablierte Privilegienstrukturen stabil zu halten – und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil in ihm das ‚meritorische‘ Selbstverständnis eines strikt geltenden ‚Leistungs‘-prinzips vorherrscht).

Keine echte Kritik

Weil die Autoren meistens keine echte Kritik an den Aussagen von Johannes Gruber (nachfolgend: JG) vorbringen, kann auch ich darauf nicht in kritischer Weise inhaltlich-argumentativ antworten. Trotzdem möchte ich nicht im gleichen Stil wie sie reagieren, sondern kühl-analytisch darlegen, was an ihrer Pseudo-Kritik alles schiefläuft.

Das Ziel der Autoren ist offenbar nicht, in einem konstruktiven offenen Debattenstreit mit Informationen und Argumenten gemeinsam zu präzisieren Erkenntnissen und neuen Einsichten zu gelangen.

Das Ziel der Autoren ist offenbar nicht, in einem konstruktiven offenen Debattenstreit mit Informationen und Argumenten gemeinsam zu präzisieren Erkenntnissen und neuen Einsichten zu gelangen. Sie wollen ihr prinzipiell überlegenes, weil schon vollkommenes Wissen demonstrieren. So erkläre ich mir, wieso ihre ‚Replik‘ nur an ganz wenigen Stellen wenigstens echte Kritik ist, auch wenn sie selbst dann durchwegs schlecht, weil grob pauschalisierend ist. Meistens jedoch handelt es sich bloss um Pseudo-Kritik.

Wenn man den Text von JG liest, erkennt man schnell, dass das gezeichnete Bild der Autoren einfach nur grotesk verzerrend ist.

Felix Schmutz, Baselland: Die Kritik ist diffamierend und grob verzerrend.

Wenn man den Text von JG liest, erkennt man schnell, dass das gezeichnete Bild der Autoren einfach nur grotesk verzerrend ist. Praktisch alle Textstellen von JG, auf die sie sich explizit in meist bloss scheinbar kritischer Weise beziehen, lesen die Autoren auf möglichst verzerrende Weise. Der Grund ist, dass sie ihre ‘Replik’ dazu missbrauchen, ihr dogmatisch einbetoniertes Wissen den LeserInnen vor die Füsse zu werfen. Dabei entgeht ihnen offenbar völlig, dass sie mit ihrer Pseudo-Kritik das Geschäft jener ‘Rechten’ betreiben, die die universelle Geltung der egalitären Menschenrechte grundsätzlich bestreiten. Das wirklich ärgerliche Ergebnis ihrer Pseudo-Kritik ist aber, dass sie damit gute Chancen haben, das zarte Pflänzchen der Debattenkultur sofort wieder auszutilgen.

Einige Beispiele ihrer fast ausnahmslos mutwillig verzerrenden Interpretation des Textes von JG:

  • In ihrem zweiten Hauptpunkt präsentieren die Autoren ein Paradebeispiel einer Pseudo-Kritik: Ihre scheinbare argumentative Entgegnung ist einfach nur eine Darlegung ihres Credos, was gute Schule ist und wie sie in der Schweiz ihrer Meinung nach realisiert ist – ohne jeden Bezug zum Text von JG. Ihre Einsichten kulminieren im Satz, die Schule sei «politisch ein kaleidoskopartiges Abbild der politischen Landschaft». – Ja schön, wenn man dieser Überzeugung ist, deren inhaltliche Aussage aber sehr nebulös bleibt, so dass sie auch nicht irgendwie belegbar ist. Aber das ist auch nicht ihr Zweck. Vielmehr soll sie einen möglichst drastisch aussehenden Gegensatz aufzeigen zu einer gerade anschliessenden, in Zitatzeichen gesetzten wörtlichen Wiedergabe einer Textstelle von JG, der behaupte, dass die Schule «einseitig gesellschaftliche Verhältnisse zementieren hilft». Das Problem ist nur, dass sich dieses scheinbar wörtliche Zitat im Text von JG nirgends finden lässt. Ich will einfach nicht glauben, dass die Autoren hier eine böswillige Manipulation vorgenommen haben. Ich hoffe, sie haben die auf irreführende Weise kolportierte Textstelle von JG als eine harmlose, nicht wörtliche, aber sinngleiche Paraphrase interpretiert, und dass sie mit den Zitatzeichen bloss ihre eigene frühere Textstelle wörtlich zitieren wollten, die bereits auf den Text von JG auf nicht wörtliche Weise Bezug genommen hatte. Man sieht, ich muss hier recht virtuos herumturnen, um ihnen weiterhin ‘bona fide’ unterstellen zu können …
Brachliegende Ressourcen?
  • In ihrem dritten Hauptpunkt setzen die Autoren selber wieder in Zitatzeichen, was sich so wörtlich im Text von JG nirgends finden lässt: Die von Linken mitgestaltete Bildungspolitik lasse nichts unversucht, die «brach liegenden menschlichen Ressourcen» der wenig privilegierten Schichten zu mobilisieren. An diesem Massstab gemessen, bewerten die Autoren die vielen schweizerischen Reformbemühungen der Schulstrukturen der letzten 50 Jahre auf sehr positive Weise. Ich will einmal davon absehen, dass sie sich damit in einen klaren Widerspruch zu ihrer eigenen Behauptung bringen, wonach gemäss einer breit angelegten Studie, auf die sie sich vorbehaltlos zustimmend beziehen, «die Schulstruktur einen kleinen Einfluss auf die Wirksamkeit von Schule ausübt». (Ich habe hier korrekt wörtlich zitiert.) Entscheidend ist hier vielmehr, dass die Autoren das angeblich wörtliche Zitat, das sie aber auf nicht wörtliche Weise korrekt paraphrasieren (wörtlich spricht JG davon, «dass es Ressourcenverschwendung ist, Bildungspotentiale brachliegen zu lassen»), völlig aus dem Zusammenhang reissen und so eine eklatante Sinnverzerrung begehen, die ich leider nicht anders als einen mutwilligen Winkelzug verstehen kann. JG spricht an dieser Stelle von der bildungsökonomischen Denkweise, die Chancengleichheit eben nicht aus normativen Gründen verbessern will, sondern weil damit die ökonomische Effizienz unseres Wirtschaftssystems weiter optimiert werden soll. Wenn diese beiden Ziele nie in einen Zielkonflikt gerieten, wäre aus Sicht auch der ‘linken’ Bildungspolitik nichts gegen ökonomische Effizienzoptimierung einzuwenden. Doch gerade hier liegt ein Kernanliegen ‘linker’ Bildungspolitik: Chancengleichheit unter rein ökonomistischen Gesichtspunkten herzustellen, bedeutet bloss, dass es ein ‘Instrument’ unter vielen anderen ist, den Erwerb von Humankapital weiter zu optimieren. Eine ganz andere Art von Chancengleichheit ist gemeint, wenn es um eine essentielle Voraussetzung für egalitäre Chancen zu einer emanzipierend wirkenden Bildung geht, die für eine menschenwürdige freie Lebensgestaltung essentiell ist. Eine solche Art von Bildung kann nicht in einer platten instrumentellen Logik ‘optimiert’ werden. Der entscheidende Punkt ist, dass eine emanzipierende Bildung ganz unter die Räder fallen muss, wenn sich das öffentliche Bildungswesen unter Anleitung der Mainstream-Bildungspolitik bloss noch als Zudienerin zu den unwägbar wechselnden ‘Bedürfnissen’ der Wirtschaft versteht und damit die rein ‘technischen’ Fragen des möglichst effizienten Erwerbs von Humankapital allein noch im Fokus der Bildungspolitik ist. (Früher war das mal der Ansatzpunkt für eine Kritik der ‘technokratischen’ Optimierungslogik.)
Johannes Gruber, Redaktor VPOD-Bildungspolitik: Seine nüchtern analytischen Aussagen wurden bewusst verzerrt oder falsch zitiert.
  • Einen traurigen Höhepunkt an deplatzierter Polemik erleben wir im vierten Hauptpunkt ihrer angeblichen Kritik. Wieder ohne jeden Bezug zum nüchtern-ausgewogenen Text von JG lassen sich die Autoren ausführlich über das «ideologisch geprägte( ) Zerrbild» vom Menschen aus (eines «aus Ton formbaren prometheischen Geschöpfes»), das sie bei den ‘Linken’ diagnostizieren zu können glauben und das sie ‘daher’ auch JG unterstellen – wie gesagt ohne jeden Textbeleg. Auch hier kann ich nicht anders als den Autoren zu unterstellen, dass sie den Text von JG mutwillig krass verzerrend dargestellt haben. Was nur ist ihre Motivation? Wollen sie, dass man ebenso haltlos polemisch auf ihre Pseudo-Kritik reagiert? Was versprechen sie sich von offenbar herbeigewünschten unversöhnlich geführten ideologischen Grabenkämpfen? Etwa eine wertvolle gemeinsame Lernerfahrung, die einer besseren Bildungspolitik dienen kann?

Ist das alles nur der Reflex realitätsblinder und überambitionierter Eltern und der Hirngespinste der Kinder?

  • Die Autoren wollen bei JG einen «etwas altmodischen Bildungsdünkel» ausgemacht haben, wenn er auf die herkunftsabhängige Selektivität zu den allgemeinbildenden weiterführenden Schulen hinweist. Schlichte Gegenfrage: Wie ist es zu erklären, dass Eltern, je wohlhabender desto häufiger, ihre Schützlinge immer früher in ‘privaten’ Förderunterricht schicken (eine ausgesprochene Boombranche in allen reichen Ländern weltweit)? Und wie ist es zu erklären, dass ihre Sprösslinge selbst immer öfter davon überzeugt sind, die erhofften Lebenschancen und -perspektiven definitiv aufgeben zu müssen, wenn sie nicht in sog. ‘höhere’ Schulen selegiert werden? Ist das alles nur der Reflex realitätsblinder und überambitionierter Eltern und der Hirngespinste der Kinder? Wenn ja, dann frage ich mich, wie die Entstehung dieser Überambitioniertheit und dieser Hirngespinste zu erklären ist. – Anstatt hier JG «Bildungsdünkel» und eine «ideologische Brille» zu unterstellen und sich in wilden Mutmassungen über die Unterschichtung durch immer neue Migrationswellen und «die Nachfrage nach neuen ‘Arbeitssklaven’» zu ergehen (wo wird bei JG auf Migration im Kontext der Bildungsmobilität Bezug genommen?), sollten einfach mal die unzähligen Belege der ‘intergenerationellen Bildungsmobilität’ zur Kenntnis genommen werden, mit welcher das Ausmass der herkunftsbestimmten Selektivität in der ‘Schulkarriere’ empirisch zu messen ist. (Ich habe in der VPOD-Bildungspolitik Nr. 222 von Juni 2021 auf S. 7 bis 10 ein paar eigene entsprechende empirische Auswertungen für die Schweiz präsentiert.) – Aber klar, das ist natürlich auch wieder nur «eine einseitige Interpretation von statistischen Daten», die sie schon JG pauschal vorgeworfen haben.
  • Die Autoren haben sicher Recht, wenn sie ‘einwenden’, gerade in der Schweiz hätten Berufsleute (vorläufig noch!) auch ohne Matura einer allgemeinbildenden Schule intakte Chancen, dank berufsbezogenen Qualifikationen und Weiterbildungen gute bis sehr gute Einkommen während ihrer Berufskarriere zu erzielen. Trotzdem erzielen, statistisch belegbar, ‘Akademiker’ im Mittel halt immer noch signifikant höhere Einkommen, und vor allem: Sie geniessen ein markant höheres gesellschaftliches Prestige als (hoch) qualifizierte Berufsleute ohne ‘akademischen’ Abschluss (z.B. ein Assistenz- oder Oberarzt ohne Leitungsfunktion an einem x-beliebigen Spital im Vergleich zu einem Techniker oder Ingenieur mit Abschluss an einer höheren technischen Fachschule). Aber auch der rein ökonomische (Geldeinkommens-) Wert höherer Berufsbildungsabschlüsse wird in Zukunft immer mehr erodieren, wenn auch in der Schweiz die Tertiärabschlussquote sich jener im Ausland annähern wird, was schon heute klar absehbar ist (was auch mit statistischen Indkatoren belegbar ist).
  • Jean-Marie de Condorcet: Bildung hat das Ziel der Mündigkeit.

    Weiter beziehen sich die Autoren auf eine Textstelle von JG, wonach sich Mündigkeit nicht in der Aneignung von Wissen erschöpfe, sondern auch das Vermögen beinhalte, Anerzogenes und Gelerntes in Frage zu stellen. Die Autoren halten diese sehr allgemeine Definition von JG allerdings für noch zu eng gefasst. Denn sie müsse auch für «die von den Linken so vehement verteidigten Kompetenzziele» gelten, welche aber, «als Kompetenzen beurteilt und gemessen, in eine schulische Indoktrination führen mit diktatorischen Ansprüchen.» Wie kommen die Autoren nur dazu, sich zunächst mit der Mündigkeitsdefinition von JG einverstanden zu erklären, dann aber zu bemängeln, JG schliesse nicht die «holistischen Kompetenzziele» in seine Definition ein, nur um in einer weiteren logischen Volte heftig gegen die Aufnahme von Kompetenzzielen in die Lehrpläne zu polemisieren. Ich vermute, den Autoren geht es hier primär darum, ihre Aversion gegen Kompetenzziele zu zelebrieren, die nota bene JG in seinem Text mit keinem Wort erwähnt. Auch bei dieser ‘Replik’ der Autoren kann es sich darum nur um eine Pseudo-Kritik handeln.

Diese international vergleichbare ILO-Kennzahl betrug 2019 nicht 2.2%, sondern 8.0%.

  • Zum glaubensdogmatisch verhärteten Streit um die PISA-Ergebnisse Finnlands will ich an dieser Stelle nichts beitragen, sondern nur auf ein (vermutlich nicht absichtlich) irreführend präsentiertes Faktum hinweisen, das die Autoren im Kontext des angeblich «etwas altmodischen Bildungsdünkel(s)» von JG als Gegenargument mobilisieren: «Und eine Zahl gibt enorm zu denken: Die Jugendarbeitslosigkeit in Finnland betrug 2019 fast 19% (Schweiz 2.2%).» Fakt ist, dass die von den Autoren zitierte Jugendarbeitslosigkeit der Schweiz im Jahr 2019 von 2.2% falsch ist, wenn sie mit der finnischen von 19% verglichen wird. Für internationale Vergleiche muss gemäss spezifisch schweizerischer Terminologie die ILO-harmonisierte ‘Jugenderwerbslosigkeit’ herangezogen werden (die in Österreich und Deutschland ‘Jugendarbeitslosigkeit’ genannt wird). Diese international vergleichbare ILO-Kennzahl betrug 2019 nicht 2.2%, sondern 8.0%, und 2018 betrug sie 7.9%. Die in der Schweiz so genannte ‘Arbeitslosigkeit’ (2.5% im Jahr 2018, 2.2% im Jahr 2019) ist eine Schweizer Besonderheit, die international nicht vergleichbar ist. (Sie zählt die bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren [RAV] als ‘stellensuchend’ gemeldeten Personen, die sich nicht in einer sog. arbeitsmarktlichen Massnahme oder in einem lohnsubventionierten Zwischenverdienst befinden. Bei stellensuchenden Jugendliche ist die Meldequote bei den RAV besonders tief.) Deshalb ist auch ihre an anderer Stelle aufgestellte Behauptung schon rein faktisch falsch: «Das duale Bildungssystem bewirkt eine gegenüber dem Ausland rekordverdächtig geringe Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen nach Ende der Schulzeit.» Aus der frei zugänglichen Datenbank der OECD lässt sich zeigen, dass die Schweiz bei der Jugendarbeitslosigkeit (nach spezifisch schweizerischem Wording: bei der ‘Jugenderwerbslosigkeit’) unter den 33 reichen westlichen OECD-Ländern ‘bloss’ den 7. Rang im Jahr 2018 eingenommen hat. Keine Rede also von einer «rekordverdächtig geringe(n) Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen» in der Schweiz im Vergleich zum Ausland. Die zitierte Aussage der Autoren ist aber nicht nur rein faktisch falsch, sondern sie taugt auch nicht als Gegenbeispiel zu Finnland, weil dieses Land, wie erwähnt, auch ein duales Bildungssystem wie die Schweiz kennt, welches erst noch durchlässiger ist als das schweizerische. Damit erweist sich auch ihre kausal gemeinte Behauptung als unbelegte Spekulation, das duale Bildungssystem ‘bewirke’ eine rekordverdächtig geringe Arbeitslosigkeit. Das stimmt weder für die Schweiz noch für Finnland.

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