Bologna - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 09 Mar 2024 13:05:51 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Bologna - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Humboldt geht es an den Kragen https://condorcet.ch/2024/03/humboldt-geht-es-an-den-kragen/ https://condorcet.ch/2024/03/humboldt-geht-es-an-den-kragen/#respond Sat, 09 Mar 2024 13:05:51 +0000 https://condorcet.ch/?p=16109

Mit der „Bologna-Erklärung“ begann im Jahr 1999 die große Umwälzung des deutschen Hochschulsystems. Seither geht es jedoch nicht nur in puncto Freiheit bergab. Auch die Qualität bleibt auf der Strecke – und das kritische Denken. Pat Christ, Journalistin von Cicero, analysiert die Wirkung dieses Reformprojekts schonungslos.

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Viele Studenten fühlen sich ständig unter Druck. Nach der Klausur ist vor der Klausur. Ununterbrochen heisst es, sich mit Wissen vollzupumpen und Credit Points nachzujagen. Zwischenrein macht das Studium sicherlich noch Spass; wird es interessant sein. Nur eines ist es nicht mehr: frei. Dafür sorgte ein Prozess, der im Jahr 1999 mit der Unterzeichnung der „Bologna-Erklärung“ eingeleitet wurde. Seither geht es jedoch nicht nur in puncto Freiheit bergab. Auch die Qualität bleibt auf der Strecke. Und das kritische Denken.

Gastautorin Pat Christ, Journalistin beim Cicero

Von dem, was da komme, sei einstweilen nur so viel erkennbar, dass es “mit dem herkömmlichen, uns Älteren noch wohlvertrauten Universitätsleben nichts mehr zu tun haben wird”. Das schrieb Konrad Adam, ehemals Bildungsredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2008 in einem Beitrag zum Bologna-Prozess unter der Überschrift “Hochschule als Warenhaus”. Damals, als der Umgestaltungsprozess noch in vollem Gange war, hagelte es bereits vielerorts Kritik.

Im selben Jahr, als Adam auf das in seinen Augen “gefährliche” Unternehmen Bologna-Prozess hinwies, protestierte auch der Deutsche Hochschulverband. Der forderte eine Reform der Reform, da er die “konkrete Umsetzung des Bologna-Prozesses, wie sie in Deutschland betrieben wird, als weitgehend misslungen “ansah. Zum Beispiel, weil man es, anders als erwartet, nicht geschafft habe, die Zahl der Studienabbrecher zu senken.

“Aus dem aktuellen Bildungsbericht von Bund und Ländern geht hervor, dass an einer Universität 25 Prozent der Bachelor-Studierenden ihr Studium aufgeben, an der Fachhochschule sind es sogar 39 Prozent,” hiess es im Brandbrief von 2008. Die Situation ist keineswegs besser geworden. Dies geht aus einer im August 2022 präsentierten Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) hervor. Demnach wird das Studium noch immer sehr oft geschmissen.

Viele Abbrecher an Unis und FHs

Von jenen Studenten, die 2016 und 2017 ins Bachelor-Studium einstiegen, brachen laut DZHW 28 Prozent ab. Besonders eklatant waren die Abbrecherzahlen an den Unis: Sie betrugen 35 Prozent. An den FHs beendeten 20 Prozent ihr Bachelor-Studium nicht. Theodor Berchem gehört zu jenen Hochschulmenschen, die den Bologna-Prozess von Anfang an erlebt haben. Der heute 88-Jährige stand von 1975 bis 2003 an der Spitze der Uni Würzburg. “Am Bologna-Prozess war ich zu Beginn beteiligt”, erzählt der ehemalige Vizepräsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz.

Bereits in den 80ern machte sich der Romanist Gedanken über neue Modelle der akademischen Ausbildung. Das unterschiedliche Niveau des Abiturs sah er als Crux an. Theodor Berchem trat für ein propädeutisches Jahr zwischen Gymnasium und Beginn des regulären Studiums ein. Daran sollten sich zwei Jahre Fachstudium anschließen: “In diesen zwei Jahren hätte man die Studenten auch noch an die Leine nehmen sollen.”

“Freiheit ist unerlässlich”

Auf der soliden Basis eines viersemestrigen Fachstudiums hätte man nach seinem Modell dann zwei Jahre lang völlig frei studieren können. Ganz “nach Gusto und Fähigkeiten”, so Berchem. Und übrigens ganz im Sinne des Humboldtschen Bildungsideals. Für Wilhelm von Humboldt war Freiheit die Conditio sine qua non im ganzheitlichen Bildungsprozess. Davon schrieb er zum Beispiel 1792 in seinem Aufsatz „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen (im Original; Anm. d. Red.) der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“. Wörtlich heisst es: “Der wahre Zweck des Menschen (…) ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung.“

Torre Asinelli (der höhere Turm) und Torre Garisenda (der kleinere, schiefere Turm) im Herzen der Stadt Bologna

Durch den Bologna-Prozess wurde das Studium verschult und das Niveau schlechter, beklagt Theodor Berchem. Obwohl er schon lange emeritiert ist, steht er noch in lebendigem Austausch mit Uni-Kollegen. Nicht zuletzt interessiert ihn, wie sich deren Studenten entwickeln. Gar nicht gut, erfährt er: “Viele meiner Kollegen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen.”

Es braucht Freiräume

Theodor Berchem selbst hatte ab 1956 in Genf, Köln und Paris ad libitum Romanistik, Anglistik und Slawistik studiert: “Wir durften machen, was wir wollten, am Ende mussten wir halt alle Scheine vorlegen können.” Niemand hätte ihm vorgeschrieben, dass er nun drei Kapitel Flaubert oder zwei Kapitel Balzac lesen müsse. Theodor Berchem ging in völliger Freiheit seinen Interessen nach. Er vertiefte sich in die französische Sprache. Lernte Russisch und Polnisch: “Auch in Sanskrit hab ich reingerochen.”

“Wir haben eine sehr brave Generation, das kann gefährlich sein.”

Theodor Berchem, ehemaliger Rektor Universität Würzburg

 

Nun erschöpft sich die Freiheit im Studium nicht darin, sich, ohne gegängelt zu werden, neue Kenntnisse einverleiben zu können. Freiräume sind wichtig, um einmal länger über ein Problem nachzudenken. Angehende Akademiker sollten sich auch nicht nur in ihrem engen Fachgebiet den nötigen Durchblick verschaffen. Es braucht Freiräume, um sich, etwa vor der cum tempore beginnenden Vorlesung, mit Kommilitonen und Dozenten über das, was in der Welt geschieht, auszutauschen. Nicht zuletzt die Entwicklung eines kritischen Denkens scheint durch “Bologna” auf der Strecke zu bleiben. “Wir haben eine sehr brave Generation, das kann gefährlich sein”, meint Theodor Berchem.

Eine Mammutaufgabe

Die neuen, gestuften Studiengänge einzuführen, hatte für die Universitäten eine Mammutaufgabe bedeutet. Viele halfen mit, damit das gelang. Auch der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), dessen Präsident Berchem einst war, hatte von 2004 bis 2013 eine entsprechende Expertengruppe. Die unterstützte die Fakultäten bei der Studiengangsgestaltung, der Modularisierung und der Nutzung von ECTS-Instrumenten.

Vom Gros dieser Experten kassierten die Bologna-Macher kurz vor Auflösung des Gremiums Kritik. Hochschulen, erklärten sie, seien Orte zur Bildung der wissenschaftlichen Persönlichkeit. Sie dürften nicht “allzu sehr auf die unmittelbare Verwertbarkeit von Qualifikationen am Arbeitsmarkt reduziert” werden. Die Bildungsziele der Hochschulen, hieß es in einem Bericht, der im DUZ – Magazin für Wissenschaft und Gesellschaft erschien, seien “vielfach mit dem Qualifikationsbedarf der Wirtschaft als mehr oder weniger identisch gehandelt” worden.

Ausgerichtet am Bedarf

Für die Wirtschaft läutete der Bologna-Prozess dagegen eine positive Entwicklung ein. “Dadurch ist nichts schlechter geworden”, betont Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der VBW – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, gegenüber Cicero. Einiges habe sich vielmehr verbessert. So gebe es nun zusätzliche Bildungsangebote: “Der Bachelor-Abschluss bietet allen einen qualifizierten Abschluss, die nicht oder nicht gleich zum Master übergehen.”

Studierende kämen durch Bologna früher auf den Arbeitsmarkt: “Davon profitieren unsere Unternehmen für ihre Fachkräftesicherung.” Wichtig ist Brossardt nun, dass “die Stossrichtung durch die Bologna-Reform” entschlossen weiterverfolgt wird. Die Hochschulen müssten “noch stärker an den Arbeitsmarktbedarfen” ausgerichtet werden.

Kritik der Hochschullehrer

Das Volk der Dichter, Denker und Pädagogen drohe bildungspolitisch “in die Falle des blanken Verwertungsdenkens” zu tappen, warnte im selben Jahr, als sich die DAAD-Expertengruppe kritisch zu Wort meldete, Josef Kraus. Der Gymnasiallehrer war einst Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Auch er monierte die Verschulung und Standardisierung durch Bologna. An die Stelle einer Orientierung an Wissenschaft trete “eine modulare workload- und credit-point-Orientierung an Bildungshäppchen”. Wilhelm von Humboldt gehe es “endgültig an den Kragen”.

Hans-Georg Weigand, Mathe-Professor an der Uni Augsburg, gehört zu jenen Wissenschaftlern, die den Bologna-Prozess, wenngleich nicht ohne jedes Wenn und Aber, von Anfang an befürworteten. Er, der schon immer viel auf Achse war, musste, wie er erzählt, früher im Ausland immer wieder das Diplom erklären. Das kannte kein Mensch: “‘Bachelor’ und ,Master‘ hingegen waren in der internationalen Szene stehende Begriffe.” Nachdem Weigand dem Diplom wie auch dem Staatsexamen schon immer kritisch gegenüberstand, fand der Mathe-Didaktiker die internationale Vergleichbarkeit der Abschlüsse von Anfang an gut.

Explosion der Studiengänge

Doch nicht nur als wissenschaftlicher Weltbürger befürwortete er, anders als, wie er zugibt, viele seiner Kollegen, die Reform des Studiums. Durch Bologna zählten nun endlich alle während des Studiums erbrachten Leistungen, erläutert er. Früher habe nur gezählt, was am Ende des Studiums geleistet worden war. In punkto “Freiheit “habe sich das Studium der Mathematik ebenso wie das der Informatik kaum verändert. Im Master könne man zwischen verschiedenen Optionen wählen. Nur im Grundstudium nicht. Doch schon früher seien die Veranstaltungen in den ersten sechs Semestern ziemlich genau festgelegt gewesen: “Das mag bei den Geisteswissenschaften anders sein.”

An den Unterschieden zwischen Geistes- und Naturwissenschaften liegt es vor allem, warum Bologna für die einen ein schmerzvoller Abschied von etwas war, das sie als weitgehend gut empfunden hatten, während andere Vorteile aus der Reform zogen. Ein Studium der Germanistik ist nun mal nicht mit einem Mathe- oder Medizinstudium vergleichbar. Was allerdings auch Hans-Georg Weigand kritisch sieht, ist die Explosion der Studiengänge. Über 19’000 gibt es inzwischen. Vielfalt werde jedoch nur vorgegaukelt: “Viele unterscheiden sich kaum”, sagt Weigand.

Ein “Riesenbürokratieaufwand”

Auch wenn er vieles kritisch sieht, wäre es für Andreas Goerdt, Professor für theoretische Informatik an der TU Chemnitz, fatal, würde man den Bologna-Prozess wieder rückgängig machen. Die Rückabwicklung, äussert er gegenüber Cicero, würde neuerlich einen “Riesenbürokratieaufwand” nach sich ziehen. Letztlich, meint Goerdt, komme es auf das System ohnehin nicht an. Dürfte er sich eine Nachbesserung wünschen, würde dies den Studienaufbau betreffen. “Die Möglichkeit, seinen Bachelor in einem Fach zu machen und dann den Master in irgendetwas Verwandtem, ist nicht sinnvoll”, sagt er. Ein Fach, das seinen Namen als Wissenschaftsgebiet verdient, habe einen inneren Aufbau.

Anders, als versprochen, ist zum Beispiel der Bachelor in Geschichte kein Abschluss, der in der Praxis für einen Beruf als Historiker qualifiziert.

Lars Adler, Honorarprofessor für mittelalterliche Geschichte an der TU Darmstadt

 

Lars Adler, seit 2020 Honorarprofessor für mittelalterliche Geschichte an der TU Darmstadt, hat selbst noch im alten System studiert. Nun lehrt er unter Bologna-Bedingungen. Er kann also beide Systeme miteinander vergleichen. Bei seinen Kollegen, die anfangs durchaus positiv in den Bologna-Prozess hineingegangen seien, nimmt er mehrheitlich Enttäuschung wahr. Aber auch Studenten seien enttäuscht. Anders, als versprochen, sei zum Beispiel der Bachelor in Geschichte kein Abschluss, der in der Praxis für einen Beruf als Historiker qualifiziere. Für den gehobenen Dienst in einem Archiv brauche man mindestens den Master. Dasselbe gelte für Bibliotheken.

Qualitativer Rückschritt

Die Klage darüber, dass Freiheit verloren ging und es zur Verschulung und Reglementierung kam, ist nach Lars Adlers Beobachtungen durchaus richtig. Mit Blick auf die zu erbringenden Studienleistungen sei es im Fach Geschichte gleichzeitig zu einem “qualitativen Rückschritt” gekommen. Was Adler diesbezüglich berichtet, frappiert. Studenten, erklärt er, müssen nicht mehr jene handwerklichen Fähigkeiten entwickeln, die es ihnen ermöglichen würde, sich kritisch mit Lehrinhalten auseinanderzusetzen. Das betrifft vor allem die Befähigung zum Quellenstudium.

Studenten lernen Adler zufolge im Geschichtsstudium nicht mehr, Handschriften zu lesen. Der  Umgang mit Originalquellen sei im Curriculum nicht mehr vorgesehen: “Das geschieht höchstens über Honorarprofessoren und Gastdozenten.” Nicht selten schlössen Studenten nach zwölf Semestern ihr Masterstudium in Geschichte ab, ohne jemals im Archiv gewesen zu sein: “Auch für akademische Arbeiten wird kein Quellenstudium mehr gefordert.” Die Auseinandersetzung mit Sekundärliteratur genüge.

“Früher hat man Studenten handwerkliche Kompetenzen beigebracht und sie dann zu ihrer Meinung zum jeweiligen Thema gefragt. Heute heisst es, lest dies oder jenes durch und erzählt mir, was ihr verstanden habt.”

Lars Adler, Honorarprofessor für mittelalterliche Geschichte an der TU Darmstadt

 

Lars Adler begann seine Lehrtätigkeit vor genau zehn Jahren. Seither habe er eine einzige Doktorarbeit, vier Bachelorarbeiten und eine Masterthesis mit archivalischem Quellenmaterial bekommen. Das Gros der Geschichtsstudenten gehe mit publizierten Quellen um. Verständlich sei dies angesichts der Forderung, nach sechs Monaten mit der Arbeit fertig zu sein: “Bei quellengestützten Themen ist das nicht machbar.” Deutschlandweit sinke der Anteil von Promotionen in der Geschichtswissenschaft mit unveröffentlichten Quellen.

Früher habe man Studenten handwerkliche Kompetenzen beigebracht und sie dann zu ihrer Meinung zum jeweiligen Thema gefragt. “Heute heisst es, lest dies oder jenes durch und erzählt mir, was ihr verstanden habt”, so Lars Adler. Der Wille, sich kritisch mit Inhalten auseinanderzusetzen, habe spürbar nachgelassen. Das verschulte Studium komme den jungen Leuten entgegen. Kritische Rückmeldungen zu Lehrinhalten seien ihm während den zehn Jahren seiner Lehrtätigkeit noch nicht begegnet.

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Nicht nur einflussreich, sondern auch sterbenslangweilig https://condorcet.ch/2024/01/nicht-nur-einflussreich-sondern-auch-sterbenslangweilig/ https://condorcet.ch/2024/01/nicht-nur-einflussreich-sondern-auch-sterbenslangweilig/#respond Wed, 03 Jan 2024 12:47:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=15611

Condorcet-Autor Bernhard Krötz, Mathematik-Professor in Paderborn, eröffnet das Jahr 2024 in unserem Bildungsblog mit einem Beitrag über den Bertelsmann-Konzern und erklärt uns den Einfluss der Bertelsmann-Stiftung auf die Bildungsreformen der vergangenen Jahre.

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Schweizer Maturität – Quo vadis? https://condorcet.ch/2022/09/schweizer-maturitaet-quo-vadis/ https://condorcet.ch/2022/09/schweizer-maturitaet-quo-vadis/#respond Fri, 02 Sep 2022 12:50:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=11345

Praktisch geräuschlos läuft im Moment eine Vernehmlassung im Rahmen der sogenannten „Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität“ (WEGM). In einem ersten Schritt geht es um die Reform des Maturitätsanerkennung-Reglements resp. der -Verordnung (MAR/MAV, im Grunde deckungsgleich). Ein weiterer Reformschritt wird in einem Jahr folgen, wenn es um einen neuen gesamtschweizerischen Rahmenlehrplan (RLP) gehen wird, wofür lediglich noch eine „Anhörung“ geplant ist. Wieso diese Reformen? Gastautor René Roca analysiert diese neuste Reformbestrebung und stellt sie in einen grösseren Zusammenhang.

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Reformen ohne Not

René Roca, Gymnasiallehrer für Geschichte in Basel: Die bisherigen Reformen der Volksschule und auch der „Bologna-Prozess“ an den Hochschulen müssen kritisch hinterfragt werden.

Die massgebenden Akteure dieses Reformprozesses, das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), begründen die Reformschritte damit, dass sich „das schweizerische Bildungssystem in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend verändert“ habe. Das ist durchaus der Fall. In diesem Kontext wird explizit auf das Harmos-Konkordat, auf die neuen sprachregionalen Lehrpläne der obligatorischen Schule (u.a. Lehrplan 21) und auf den Bologna-Prozess an den Hochschulen verwiesen. Als „letzter Baustein“ muss nun noch die Sekundarstufe II, also neben den Berufsschulen und dem KV auch die Maturitätsschulen ins neue System „eingepasst“ werden. Diese Einpassung, so WBF und EDK, sei nötig,

da sich die Grundlage der gymnasialen Ausbildung seit der letzten Reform 1995 kaum weiterentwickelt hätte. Zudem werden „Megatrends“ wie die Globalsierung und Digitalisierung als Rechtfertigung für die WEGM angeführt, um Reformkritiker gleich vorweg als Ewiggestrige und Technikfeinde abzukanzeln. Die WEGM erfolgt notabene zu einem Zeitpunkt, der die gravierenden Mängel und katastrophalen Auswirkungen der oben erwähnten Reformen deutlich vor Augen führt und deshalb immer mehr Kritiker auf den Plan ruft, die mittlerweile auch in den Medien Gehör finden.

In den letzten 25 Jahren gab es immer wieder sinnvolle Teilrevisionen des MAR (z.B. Einführung von Informatik als obligatorisches Fach). Eine grundlegende Reform ist absolut nicht zwingend, die Reform erfolgt also ohne Not.

Entscheidend für ein Gelingen des Bildunsprozesses ist die zentrale Rolle der Lehrperson; diese wird aber mit den Reformen weiter geschwächt.

Ausrichtung auf Kompetenzen

Der Entwurf zur Maturreform tangiert das Selbstverständnis von Bildung im weitesten Sinne.

Die Schweizer Maturität hat weltweit vorläufig noch einen sehr guten Ruf. Wieso aber werden die Reformen trotzdem durchgezogen? Insgesamt unterwirft sich die WEGM unkritisch den genannten „Megatrends“, um eine Internationalisierung der Bildung zu erreichen. Sie ist letztlich eine blosse Anpassung an das bereits gescheiterte angelsächsische Modell, das den Fokus nur noch auf Kompetenzen legt und den Bildungs- und Wissensbegriff weiter entleert. So wird die Ausrichtung auf Kompetenzen im MAR erstmals erwähnt und initialisiert; für den neuen, völlig überfrachteten RLP sind Kompetenzen schlicht die Grundlage. Wohin führt das? Entscheidend für ein Gelingen des Bildunsprozesses ist die zentrale Rolle der Lehrperson; diese wird aber mit den Reformen weiter geschwächt. Zweifellos führen diese auch zu mehr Kontrolle und Steuerung, also zu mehr Gängelung von Oben und einer Vertiefung der Top-Down-Strategie. Das ist gut für die Bildungsbürokratie des Bundes und der Kantone, aber schlecht für die Lehrpersonen. Die nächsten Reformschritte, so etwa die grundsätzliche Infragestellung des Fächerkanons (ähnlich wie bei der KV-Reform), sind schon in der Pipeline.

Ablehnung der WEGM – eine Grundsatzdiskussion ist nötig

Die ganze Reform läuft nach einem bewährten Strickmuster ab: ein überrissenes Reformpaket wird durch kurzfristig terminierte „Konsultationen“ und eine Vernehmlassung gejagt. Das Paket wird dann etwas abgespeckt, der Rest wird aber durchgedrückt, ein letztlich intransparentes und undemokratisches Verfahren. Was tun?

Falls das erste Ziel der gymnasialen Maturität, nämlich der „prüfungsfreie Zugang zu den universitären und pädagogischen Hochschulen“ schweizweit auf lange Sicht weiterhin erreicht werden soll, müssen die bisherigen Reformen der Volksschule und auch der „Bologna-Prozess“ an den Hochschulen kritisch hinterfragt werden. Die alleinige Fixierung auf letztlich ideologisch motivierte „Kompetenzen“ ist zu revidieren und Lernziele sind wieder mit einem vernünftigen Wissensbegriff klarer zu fassen. Nur so kann ein humanistischer Bildungsbegriff zurück gewonnen werden, der die Qualität der Gymnasien langfristig sichert und die kontinuierliche Niveausenkung stoppt. Zudem würde so auch das zweite Ziel der gymnasialen Maturität, die „vertiefte Gesellschaftsreife“, wieder in greifbarere Nähe rücken.

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Zitat der Woche: Hans Ulrich Gumbrecht https://condorcet.ch/2020/05/zitat-der-woche-hans-ulrich-gumbrecht/ https://condorcet.ch/2020/05/zitat-der-woche-hans-ulrich-gumbrecht/#respond Mon, 04 May 2020 13:47:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=4825

Hans Ulrich Gumbrecht ist ein deutsch-amerikanischer Romanist, Literaturwissenschaftler und Literaturhistoriker, Hochschullehrer und Publizist. Er war bis 2018 Inhaber des Lehrstuhls Komparatistik an der Stanford University. Das Zitat stammt aus einem NZZ-Podium vom 23.5.2019

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Es gibt in Europa eine Philosophie des gemütlichen Lebens. Alles, was anstrengend ist, wird Stress genannt, um es zu vermeiden. Eine solche Mentalität hat eine Affinität zur Disphorie. Das Gegenteil davon sehe ich an sogenannten Eliteuniversitäten, wie Stanford oder Oxford oder Cambridge, wo die Leute 16 Stunden pro Tag ausgelastet sind, um das Studium zu bestehen. Aber diese positive Überbelastung erzeugt sehr oft Euphorie.

Es gibt nach dem Brexit keine Weltklasse-Universitäten mehr in Europa. Die Bologna-Reform hat jedes nationale universitäre Bildung schlechter gemacht. Die Bologna-Reform war ein Institut der Nivellierung.

Hans-Ulrich Gumbrecht, NZZ-Podium, 23.5.2019

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Aus der Schatzkiste: Norbert Bolz’ Dankesrede 2013 https://condorcet.ch/2020/03/aus-der-schatzkiste-norbert-bolz-dankesrede-2013/ https://condorcet.ch/2020/03/aus-der-schatzkiste-norbert-bolz-dankesrede-2013/#respond Wed, 18 Mar 2020 09:55:55 +0000 https://condorcet.ch/?p=4300

Professor Norbert Bolz, Berlin, Medienwissenschaftler, hielt 2013 eine bemerkenswerte Rede anlässlich der Verleihung des Tractat-Preises. Der bekennende Konservative spannt einen Bogen über Bologna, Kompetenzorientierung bis zum Anpassertum der heutigen Intellektuellen. Man muss nicht mit allem einverstanden sein, aber ein grosser Teil seiner Ausführungen entspricht auch unserer Einschätzung der Bildungsreformen.

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20 Jahre Bologna: Brisante Aussagen eines Basler Professors in der NZZ https://condorcet.ch/2019/09/20-jahre-bologna-brisante-aussagen-eines-basler-professors-in-der-nzz/ https://condorcet.ch/2019/09/20-jahre-bologna-brisante-aussagen-eines-basler-professors-in-der-nzz/#respond Sun, 01 Sep 2019 10:49:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=2143

Bruno Frey ist ständiger Gastprofessor an der Universität Basel. In der NZZ (30.9.2019) zog er ein ernüchterndes Fazit anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der umstrittenen Hochschulreform. Condorcet-Autor Alain Pichard fasst zusammen.

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Staatssekretär Kleiber
Bild: 20 Minuten

Sie erinnern sich: Vor 20 Jahren unterzeichnete Staatssekretär Charles Kleiber im Auftrag des Bundesrates in Bologna die als Hochschulreform bekannten Bologna-Verträge. Als Bologna-Prozess wird eine auf europaweite Vereinheitlichung von Studiengängen und -abschlüssen sowie auf internationale Mobilität der Studierenden zielende transnationale Hochschulreform bezeichnet, die auf die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums gerichtet ist.

«Kein Akademiker wollte die Bologna-Reform wirklich», sagt Antonio Loprieno. Er war bis 2015 Präsident der Schweizer Hochschulrektorenkonferenz. Die Schweizer Universitäten waren von Anfang an in Aufruhr, als sich der europäische Hochschulraum abzeichnete.

«Kein Akademiker wollte die Bologna-Reform wirklich» Antonio Loprieno

Die Unterzeichnung erfolgte ohne Zustimmung des Parlaments oder gar einer Volksabstimmung. Wesentliche Elemente des gemeinten Konvergenzprozesses sind ein zweistufiges System berufsqualifizierender Studienabschlüsse (typischerweise in der Form von Bachelor und Master) und die durchgängige Etablierung des European Credit Transfer System (ECTS). (Wikipedia)

Ziele wurden nicht erreicht

Menschen sollten jünger in den Arbeitsmarkt, Absolventen sollten «arbeitsmarktfähiger» werden, die Bildungskosten sollten sinken. Unter anderem diese Ziele setzte sich die Schweiz, als sie 2001 begann, die Bologna-Reform in ihren Hochschulen einzuführen. Sie sind allesamt nicht erreicht.

  1. Das Alter der Universitäts-Absolventen bewegt sich, wie eh und je, um die 27 Jahre. Auch an Fachhochschulen ist das Alter nur geringfügig gesunken: von 26,8 Jahre im Jahr 2001 auf 26,6 Jahre im Jahr 2015.
  2. Absolventen von Universitäten werden von Konzernen nicht als praxisnah wahrgenommen, vor allem nicht die Bachelor-Absolventen. Eine Anfrage von «ECO» bei Swisscom, Roche, ABB und Zurich Versicherung zeigt: Erst die Praxiserfahrung macht Absolventen interessant (s. unten).
  3. Die Bildungsausgaben pro Person in der Schweiz sind fast um die Hälfte gestiegen. In der Tertiärstufe fallen durchschnittlich 31 000 Franken pro Kopf an. (Info “ECO” srf)

Abgesehen davon, dass das Humboldtsche Ideal des Forschens und Lernens der verschulten angelsächsischen Ausbildung geopfert wurde, zeigt auch Professor Bruno Frey (NZZ 31.8.19) auf, dass man auch die anderen Ziele verfehlt hat.

Frey: «An Universitäten und Fachhochschulen schaffen heute rund 60 Prozent der Studierenden ihre Ausbildung bis zum B. A. Zuvor (1975–2001) schlossen 70 Prozent mit einem Lizenziat oder Diplom ab. Beim M. A. beträgt die Abbruchquote 8 Prozent. In dieser Hinsicht ist der Erfolg der Bologna-Reform eher bescheiden.»

In Wahrheit, so Frey weiter, würden sich die heutigen Studenten an Schweizer Universitäten aber wie jene der Vor-Bologna-Ära verhalten. Sie schliessen in 9 von 10 Fällen einem Bachelor einen Master an. Sie verbleiben zu 75 Prozent an derselben Universität. Und zwei Drittel von ihnen macht in demselben Fach weiter.

Die Studienzeit habe sich entgegen der Absicht von Bologna sogar verlängert. Die internationale Mobilität wurde zwar von 16% (2002) auf 21% gesteigert, was aber mehr am Erasmusprogramm gelegen habe, bei denen ein Studierender je nach Zielland zwischen 380 und 440 Fr. pro Monat erhält.

Der verantwortliche Bundesrat Couchepin und sein Staatssekretär Kleiber sind mittlerweile in Pension gegangen.

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Treibhäuser der Konformität https://condorcet.ch/2019/06/treibhaeuser-der-konformitaet/ https://condorcet.ch/2019/06/treibhaeuser-der-konformitaet/#comments Thu, 20 Jun 2019 20:57:11 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1435

Norbert Bolz, der streitbare Medienwissenschaftler aus Deutschland, hat uns diesen Beitrag zukommen lassen. Und wir freuen uns wieder einmal über eine hochstehende Analyse aus unserem nördlichen Nachbarland.

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Norbert Bolz, emer. Professor Universität Berlin

Philosophie ist das einsame und freie Denken. Aber sie war natürlich immer auch schon institutionalisiert, eingebettet in Paradigmen, gebunden an Denkstile. Heute präsentiert sie sich zumeist universitär, d.h. als Sache von Beamten und ein Departement der Wissenschaften. Dazu passt die antiphilosophische Signatur unserer Bildungsanstalten, die gar nicht mehr bilden, sondern unterweisen wollen. Studienpläne sanieren den Geist und bringen das Denken in Stromlinienform. Gerade an Universitäten bekommt man den Eindruck, dass Philosophie genau das ist, was die europäischen Strategen der Bildungsproduktion als Flausen aus den Köpfen der Studenten auszutreiben versuchen.

Der Humboldt-Universität macht der Fortschritt den Bologna-Prozess.

Max Scheler hat recht behalten: Die heutige Universität ist keine „universitas“ mehr, sondern eine Summe von Fachhochschulen. Sie bietet uns eine Philosophie ohne Geist, eine Psychologie ohne Seele und eine Soziologie ohne Menschen. Einsamkeit und Freiheit – beides wird heute bekämpft. Der Humboldt-Universität macht der Fortschritt den Bologna-Prozess. Ganz selbstverständlich und unverfroren tituliert man die Studentenschaft als „Generation Praktikum“, weil es niemand mehr wagt, die rigorose Berufsbezogenheit des Studiums in Frage zu stellen. Das verwaltete Studium findet eifrige Verfechter mittlerweile auch bei den Studenten, um deren Zurichtung es den Bildungsplanern geht. Die Angst um den Job ruft nach handfestem, abfragbarem Wissen.

Es war niemand geringeres als Jürgen Habermas, der für die Universitäten einmal die Institutionalisierung der Unzeitgemäßheit forderte: „Freiheit ist etwas Altmodisches“. Doch damals, vor gut einem halben Jahrhundert, erinnerten sich eben noch einige daran, dass der Gelehrte einmal in einer Art bürgerlicher Askese den Dienst an der Wissenschaft leistete – Helmut Schelsky zum Beispiel. Für seinen Helden Wilhelm von Humboldt war die Universität der Schauplatz, auf dem der Mensch – durch und in sich selbst – Einsicht in die reine Wissenschaft findet. „Zu diesem SelbstActus im eigentlichsten Verstand ist nothwendig Freiheit, und hülfereich Einsamkeit.“ Freiheit ist notwendig, Einsamkeit ist hilfreich. Das kann man als zweite Urszene des freien Geistes neben Kants Aufklärungsmodell des Höhlenausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit stellen.

Zwei gut gemeinte Utopien haben die europäische Universität zerstört. Da gab es zunächst die erstmals durch die Studentenbewegung vorgetragene Utopie von innen, nämlich die Demokratisierung von Lehre und Forschung durch Mitbestimmung und Gruppenuniversität. Es zeigte sich aber sehr rasch: Mehr Demokratie wagen heißt, mehr Bürokratie in Kauf zu nehmen. In allen Lebensbereichen erzeugt mehr Demokratie mehr Bürokratie, weil sich die Leute über ihre Ansprüche definieren, die der Staat als Rechte schützen soll.

Die europanormierte Technisierung von Lehre und Forschung

Die Universität ist heute von dem geprägt, was Franz Ronneberger einmal „die emanzipierte Verwaltung“ genannt hat. Selbstverwaltung hatte das Ziel der Autonomie, aber das Ergebnis der Bürokratie. Dem politischen System ist das durchaus recht. Denn die Ministerialbürokratie hat sich in den Universitäten mit der „Selbstverwaltung“ einen Ansprechpartner geschaffen, mit dem man flüssig kommunizieren kann. Der einzelne Professor mit seinem Eigensinn kann hier nicht mehr störend dazwischenkommen. So wurden aus Dekanaten „Service-Center“. Dabei übersieht man geflissentlich, dass sich der enorme Arbeitsaufwand einer kompetenten Selbstverwaltung nicht mit seriöser theoretischer Arbeit verträgt. Jeder engagierte Dekan kann ein Lied davon singen.

Selbstverwaltung hatte das Ziel der Autonomie, aber das Ergebnis der Bürokratie.

Die zweite gut gemeinte Utopie, die die deutsche Universität zerstört hat, ist eine Utopie von außen und heute an den schönen Namen Bologna geknüpft. Gemeint ist die europanormierte Technisierung von Lehre und Forschung durch Module und Projekte. An der Idee Humboldts gemessen handelt es sich hier ganz schlicht um eine Verstaatlichung des Geistes. Und da sich die Forschung zumal eines Geisteswissenschaftlers nicht so gut organisieren und überwachen lässt wie die Lehre, erklingt überall die Einschüchterungsvokabel „Drittmittel“. In der Tat verwandelt sich die Universität immer deutlicher in eine Welt der Drittmittel und der Gefälligkeitsgutachten.

Von den verantwortlichen Politikern erfährt man, dass es sich bei den Kritikern dieses Prozesses um „ewig Gestrige“ handelt. Die Euphorie des Studiums, die Freude am „psychosozialen Moratorium“, zu Deutsch: das Leuchten in den Augen der Studenten – das gehört einer längst vergangenen Zeit an. Wer nicht blind und gefühllos ist, spürt an den Bologna-Universitäten eine Atmosphäre der Freudlosigkeit und geistige Sterilität.

Gewinner sind aber auch die Professoren, die lieber Lehrer sein möchten, und die Studenten, die lieber Schüler bleiben wollen.

Von dem Lateiner Bert Brecht haben wir gelernt, zu fragen: Cui bono? Wer sind die Gewinner des Bologna-Prozesses? Zu den Gewinnern gehören die Verwaltung, deren Bedeutung ins Groteske angewachsen ist, und die Wissenschaftsfunktionäre in den Gremien. Was Dietrich Schwanitz vor Jahrzehnten darüber in seinem Roman „Campus“ schrieb, ist nach wie vor die reine Wahrheit – nur fällt es heute schwer, die Sache mit Humor zu nehmen. Gewinner sind aber auch die Professoren, die lieber Lehrer sein möchten, und die Studenten, die lieber Schüler bleiben wollen. Verklärt wird das Ganze durch die konsumistische Rhetorik vom Studenten als Kunden.

Man muss nicht mehr erwachsen werden, man wird emanzipiert

Den Hauptgewinn aber streichen die Politisch Korrekten ein. Sie haben den Politikern erfolgreich eingeredet, Universitäten seien pluralistische Institutionen, die nach Proporz und Quote besetzt werden müssten. Das neue Stichwort „Diversity“ heißt nämlich nichts anderes als: Bevorzugung bestimmter politisch organisierter Gruppen, die Erhöhung von Gruppenanteilen. Die ideologische Färbung eines Bewerbers wiegt viel schwerer als seine Qualität.

Studenten und Professoren haben vor allem an geisteswissenschaftlichen Fakultäten heute eine gute Chance, in ein Treibhaus der Weltfremdheit hineinzugeraten.

Studenten und Professoren haben vor allem an geisteswissenschaftlichen Fakultäten heute eine gute Chance, in ein Treibhaus der Weltfremdheit hineinzugeraten. Man muss nicht mehr erwachsen werden, man wird emanzipiert. Das ist vielleicht die schwerste Folgelast der Studentenbewegung. Sie wiederholt sich heute als die Farce der Politischen Korrektheit. Ihr „Diskurs“ setzt sich zusammen aus „Demobürokratie“ (Niklas Luhmann) und Sprachhygiene, aus Moralismus und Heuchelei, aus Sozialkitsch und einer politisch gefährlichen Perversion der Toleranz. Der Ton wird übrigens immer schärfer. Denn man wird politisch aggressiv, wenn man theoretisch nicht mehr weiter weiß.

Der Ton wird übrigens immer schärfer. Denn man wird politisch aggressiv, wenn man theoretisch nicht mehr weiter weiß.

Eine Gesellschaft, die sich weder an Religion noch an bürgerlicher Tradition und gesundem Menschenverstand orientieren kann, wird zum willenlosen Opfer eines Tugendterrors, der in Universitäten, Redaktionen und Antidiskriminierungsämtern ausgebrütet wird. Man darf ihn übrigens nicht offiziell als Politische Korrektheit ansprechen – das wäre politisch unkorrekt. Alan Charles Kors und Harvey A. Silverglate haben in ihrem eindrucksvollen, beklemmenden Report über den akademischen Verrat an der Freiheit, „The Shadow University“, die heutige Universität als den größten Feind der freien Gesellschaft bezeichnet, weil sie die Studenten nicht mehr als Individuen sondern als Verkörperungen von Gruppenidentitäten behandelt und sie entsprechend in Gruppenrechten unterrichtet.

Die neuen Ingenieure der Seele arbeiten mit Sprachcodes, Gruppenidentitätszuschreibungen und Trainingscamps für „sensitivity“ und „awareness“. Wer das Wort „Individuum“ benutzt, weckt den Verdacht, gegen den heiligen Geist der Gruppe zu sündigen. In dieser „Schattenuniversität“ der Politischen Korrektheit ist die offene Diskussion freier Individuen längst durch Zensur, Einschüchterung und Indoktrination ersetzt worden. In der Vergangenheit diskriminierte Gruppen sollen durch positive Gegendiskriminierung Wiedergutmachung erfahren. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht. Das ist der Sieg von Herbert Marcuse über John Stuart Mill.

Alexander von Humbold, Denkmal in Berlin, An die Stelle von Humboldts „Einsamkeit und Freiheit“ ist dort längst das „soziale Lernen“ getreten. Bild: AdobeStock

Wissenschaft im Dienst des Gruppenkults

Der Ungeist der Gruppe breitet sich vor allem in den Bildungsanstalten aus. An die Stelle von Humboldts „Einsamkeit und Freiheit“ ist dort längst das „soziale Lernen“ getreten. Systematisch betreibt die Gruppe an Schulen und Universitäten die Austreibung der Einsamkeitsfähigkeit. Unsere moderne Massendemokratie scheint prinzipiell schutzlos gegen diesen Konformismus zu sein. Sie überbetont die sozialen Tugenden der Kooperation und zerstört die nur im Privatleben entfaltbare Kultur der Einsamkeit dessen, der alleine für eine Sache kämpft. Einsamkeit ist nämlich der Preis der Freiheit und Einsamkeitsfähigkeit deshalb die Bedingung der Freiheit.

BIld: api

Die Wissenschaft ist längst in den Dienst des Gruppenkults getreten. Und an dem typischen Campus-Phänomen der Politischen Korrektheit kann man sehen, dass heute nicht mehr die Wissenschaft verfolgt wird, sondern sie selbst die Verfolgung des häretischen Geistes organisiert. Auch an Universitäten darf man heute dumm sein, aber man darf nicht von der Parteilinie abweichen. Viele Professoren reagieren darauf mit innerer Emigration und/oder einer Flucht in die außeruniversitäre Reputation. Zumeist verwirklicht der Professor dann seine akademische Freiheit als Bockigkeit.

„Der Staat als Leitstern der Bildung!“ – das war Nietzsches höhnische Formel für den Hass auf den Geist, für die Angst vor der Philosophie. Die Formel ist aktueller denn je; nur dass der Leitstern heute nicht mehr Preußen sondern Brüssel heißt. Dort werden die Direktiven eines neuen Konformismus ausgegeben, der sich kurioserweise mit seinem Antonym benennt: Diversität. Für einen guten Europäer gibt es ja nichts Wertvolleres als die Meinungsfreiheit. Das Recht auf Meinungsfreiheit und Redefreiheit stellt aber gerade die abweichende Meinung, den Dissens, ins Zentrum der Freiheitsidee. Von dieser Einsicht ist die Elite der europäischen Politik unendlich weit entfernt. Abweichende Meinungen werden heute schärfer sanktioniert als abweichendes Verhalten. Diese Sanktionen laufen zumeist nicht über Diskussionen, sondern über Ausschluss.

Nun könnte man denken, dass ja immerhin noch die Gedanken frei sind. Aber es ist ein Irrtum, zu glauben, dass derjenige, dem man das Sprechen und Schreiben beschneidet, noch frei denken könne. Es gibt keine Freiheit des Denkens ohne die Möglichkeit einer öffentlichen Mitteilung des Gedachten. Und das gilt nicht nur für die wenigen Schreiber, sondern gerade auch für die vielen Leser. Gedankenfreiheit bedeutet für die meisten Menschen nämlich nur die Möglichkeit, zwischen einigen wenigen Ansichten zu wählen, die von einer kleinen Minderheit öffentlich Redender und Schreibender verbreitet worden sind. Deshalb zerstört das Zum-schweigen-bringen abweichender Meinungen die Gedankenfreiheit selbst.

Den abweichend Meinenden als unmoralisch verurteilen

Die neuen Jakobiner berufen sich darauf, dass viele Meinungsäußerungen Ehre, Scham und Anstand verletzen. Mit dem Vorwurf der Volksverhetzung ist man in Deutschland sehr rasch bei der Hand. Doch auch die Immoralität einer Meinung ist kein Grund dafür, ihr Bekenntnis und ihre Diskussion zu beschneiden. Auch wenn nur ein einziger eine abweichende Meinung hat, gibt das der überwältigenden Mehrheit nicht das Recht, ihn zum Schweigen zu bringen.

Wer eine Diskussion zum Schweigen bringt, beansprucht für sich selbst Unfehlbarkeit. Im Anspruch der Unfehlbarkeit steckt aber die Unfähigkeit, einen Irrtum zu korrigieren – und irren ist menschlich. Zur Korrektur eines Irrtums reicht Erfahrung nicht aus; man muss die Erfahrung auch interpretieren, und dazu braucht man die Diskussion. Deshalb darf es keine Einschränkung der Freiheit zum Widerspruch und zur abweichenden Meinung geben.

Der Politischen Korrektheit geht es nicht darum, eine abweichende Meinung als falsch zu erweisen, sondern den abweichend Meinenden als unmoralisch zu verurteilen. Man kritisiert abweichende Meinungen nicht mehr, sondern hasst sie einfach. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht. Silencing nennt man das im angelsächsischen Sprachraum. Die Passage über das Zum-Schweigen-bringen der abweichenden Meinung gehört zu den großartigsten und aktuellsten in John St. Mills Freiheits-Essay.

Nonkonformismus ist kein kognitives Problem. Es geht um Mut und Angst. Und hier ist es in der Moderne zu einer charakteristischen Verschiebung gekommen. Früher fürchteten sich die Menschen, das Unwahre zu sagen, also die unrichtige Meinung zu haben. Heute fürchten sie sich nur noch davor, mit ihrer Meinung allein zu bleiben. Kierkegaard nennt das die Angst davor, ein Einzelner zu sein. Sie ist für die moderne Massendemokratie charakteristisch; ihr Thema ist die Gruppe, das Team; ihr Anathema ist der Einzelne, der Eigensinnige.

Der Gruppe und den Medien zu trotzen – nur wenigen ist heute die Freiheit wichtig genug, um dieses Wagnis einzugehen. Ein Einzelner zu sein, ist die Häresie unserer Zeit. Der Berliner Philosoph Peter Furth, der die linke Szene wie kein zweiter kennt, hat in seiner brillanten Abschiedsvorlesung den hier entscheidenden Zusammenhang benannt: Politische Korrektheit ist die Macht des Konformismus, die andere zum Heucheln zwingt. Sich diesem Zwang zur Heuchelei zu entziehen, erfordert heute den Mut, den man Zivilcourage nennt.

Norbert Bolz

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