Aufklärung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 06 Feb 2022 17:04:35 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Aufklärung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Rousseau – Naturevangelium der Pädagogik https://condorcet.ch/2022/02/rousseau-naturevangelium-der-paedagogik/ https://condorcet.ch/2022/02/rousseau-naturevangelium-der-paedagogik/#respond Sun, 06 Feb 2022 17:04:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=10478

Nichts ist wichtiger als die Kunst, Menschen zu bilden. Und doch fehlt es überall an Einsicht und an Methoden, die einer naturgemässen Menschenbildung entsprechend wären. Dem Gang der Natur zu folgen, muss die erste Sorge des echten Erziehers sein – wenn man die Natur des Kindes nicht kennt, werden sich Irrwege nie vermeiden lassen. Dies waren die Überzeugungen von Jean-Jacques Rousseau (1712 - 1778). Unser Haushistoriker Peter Aebersold erinnert an das pädagogische Vermächtnis dieses Aufklärers. Dies ist sicher angebracht, auch wenn Rousseau in Condorcet-Kreisen durchaus auch umstritten ist.

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Sein preisgekröntes Werk «Discours» («Abhandlung über die Wissenschaften und Künste») hatte 1750 zu einer kulturellen Erschütterung geführt und der zweite «Discours» («Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen») sprengte zusammen mit dem «Gesellschaftsvertrag» das absolutistische Prinzip und das monarchische Regime in die Luft und bereitete den Boden für die Französische Revolution. Er hatte den Mut, gemäss seinem Grundsatz «Das Leben der Wahrheit weihen!», gegen seine ganze Epoche anzukämpfen.

Bibel der modernen Pädagogik

Zwischen dem zweiten Discours und dem Gesellschaftsvertrag erschien «Julie ou la nouvelle Héloise», die die Aufnahme des epochemachenden «Emile oder über die Erziehung» von 1762 vorbereitete. Mit «Emile» schuf Rousseau in achtjähriger Arbeit die «Bibel» der modernen Pädagogik, die seinen Ruf als pädagogischer Reformator in Windeseile durch ganz Europa verbreitete.

Erziehung als Problem

«Emile» ist das Idealbild, das Rousseau einer entnervten und verweichlichten Kultur entgegenhielt. Menschliche Entgleisungen schrieb er, im Sinne der «Westschweizer Naturrechtsschule», gesellschaftlichen Fehlentwicklungen und nicht der Natur des Menschen zu. Die «naturgemässe Erziehung» sollte mit der bisherigen Tradition brechen und die Erziehung als Problem in das Bewusstsein der Zeitgenossen rücken: «Mein Thema war trotz Lockes Buch völlig neu und ich befürchte sehr, dass dasselbe es auch noch nach dem meinigen bleiben wird».

Achtjährige Arbeit

Emil gab den Anstoss für den bewunderungswürdigen Erziehungseifer des 18. Jahrhunderts, dem die moderne Pädagogik unendlich viel zu verdanken hat: Basedow, Wolke, Campe, Salzmann und Pestalozzi traten in die Fusstapfen des «Citoyen de Genève». Im 20. Jahrhundert hat die moderne Anthropologie Rousseaus naturrechtlichen Ansatz weitgehend bestätigt.

Rousseau

Jean-Jacques wurde 1712 als Sohn eines Uhrenmachers in Genf geboren. Seine Mutter starb bei der Geburt und oft weinten Vater und Sohn zusammen über den gemeinsamen Verlust. Mit seinem Vater, der die Werke Plutarchs und Tacitus liebte, las er abends Romane und wissenschaftliche Schriften, «bis die Vögel am Morgen zwitscherten». Als Achtjähriger wurde er zu einem Pfarrer in Pension gegeben, wo er «neben Latein den ganzen Plunder lernte, den man dranhängt, als sogenannte Erziehung». In Genf lernte er Schreiber und Graveur und ging auf Wanderschaft. 1728 nahm Madame de Warens in Savoyen den 15jährigen in ihre Obhut. Sie unterstützte ihn bei seiner autodidaktischen Bildung und er las Werke von Locke, Leibniz, Malebranche, Descartes, Bayle, La Bruyère, Larochefoucauld usw.

Er verlangte die volle Autorität über die Kinder, versicherte aber, diese niemals für körperliche Züchtigung zu verwenden, da man «keinen entehrenderen Gebrauch von seiner Hand machen könne, als wenn man sie zur Misshandlung eines Kindes verwendet.»

Rousseau als Erzieher

Später wurde er Erzieher (Hofmeister) in Lyon, wo er einen «Erziehungsplan» mit seinen pädagogischen Grundsätzen vorlegte, der den künftigen Verfasser des Emil ahnen liess: Er verlangte die volle Autorität über die Kinder, versicherte aber, diese niemals für körperliche Züchtigung zu verwenden, da man «keinen entehrenderen Gebrauch von seiner Hand machen könne, als wenn man sie zur Misshandlung eines Kindes verwendet.» Nicht die Furcht sollte die Kinder leiten, sondern die Liebe. Wichtiger als die Verstandesbildung sei die Bildung des Herzens, weil diese die Grundlage für jene abgibt. Die eigentliche Erkenntnis sollte immer von der lebendigen Anschauung ausgehen. Der Zögling muss die Welt kennen lernen, wobei Natur, Kunst und Handwerk ein reiches Feld der Beobachtung bieten würden, dass schon dem Kind erschlossen werden soll.

Paris der Aufklärung

Rousseau war nicht der Mann der erzieherischen Praxis und so zog er 1742 nach Paris, wo er in den Salons die Repräsentanten der Aufklärung Voltaire, Montesquieu, Diderot, Holbach und Grimm kennen lernte und sich den «Enzyklopädisten» anschloss. In Montmorency entstanden die Werke, die seinen Ruhm begründeten.

Staat und Kirche in Paris und Genf sahen in «Emil» jedoch ein revolutionäres Pamphlet, das das «Reich der Irreligion» errichten würde und liessen das Buch durch den Henker öffentlich zerreissen und verbrennen. Gegen den Verfasser wurde ein Haftbefehl erlassen, dem er sich 1762 nur durch die Flucht in die Schweiz entziehen konnte, wo er sich in Neuchâtel und auf der Petersinsel in Sicherheit bringen musste. In seinem «Briefe vom Berge» verteidigte er sich gegen den Vorwurf der Irreligiosität und trat für religiöse Toleranz ein.

Emile

Im Emile nimmt Rousseau den Kampf gegen die herrschende Erziehung und für eine naturgemässe Erziehung auf, die dem Gang der Natur folgt. Die Grundlage jeglicher Erziehung wird nach Rousseau durch die Natur vorgegeben. Die Kräfte und Organe des Körpers müssen ausgebildet werden, weil hierauf alle spätere seelische und geistige Entwicklung beruhe. Die Kinder müssen zu «Naturmenschen» erzogen werden und nicht zu einem bestimmten Beruf oder einer gesellschaftlichen Funktion, sondern zu nichts anderem als zum Menschen. Indem das Kind zum Menschen wird, ist es in der Lage, sich in jeder Lebenslage zu behaupten.

Ohne mütterliche Pflege stirbt das Herz des Kindes, bevor es noch zum Leben erwacht ist.

Erziehung im Elternhaus

Für ihn war die Mutter am besten geeignet, sich in die natürlichen Gegebenheiten der kindlichen Entwicklung einzufühlen, darum sei sie die erste und hauptsächliche Erzieherin der Kinder: Es sei eine Unsitte, die Kinder in den ersten Monaten ihres Lebens einer Amme zu übergeben. Ohne mütterliche Pflege stirbt das Herz des Kindes, bevor es noch zum Leben erwacht ist. Die Mütterlichkeit bestehe nicht darin, dass die Mutter das Kind zu ihrem Abgott mache. Jede Verwöhnung und Verweichlichung bedeute für das Kind nichts Gutes, weil es dadurch später zahlreichen Gefahren ausgesetzt wird, die es nicht bewältigen werden könne. Verzärtelte Kinder üben ihre Widerstandskraft nicht, die Verwöhnung macht sie zum Tyrannen, der eher an sich als an seine Mitmenschen denkt. Die Schlechtigkeit der Menschen liegt nicht in der Natur, sie ist nur ein Produkt der verfehlten Erziehung.

Die Aufgabe des Vaters ist es, seinen Kindern der eigentliche Lehrer zu sein. Beruf und Pflichten sind nicht so wichtig wie die Erziehung des Kindes. Ein bezahlter Erzieher wird selten die Erziehung mit jener restlosen Hingabe betreiben, die zur wahren Menschenbildung notwendig ist. Wenn ein Vater diese Aufgabe nicht übernehmen kann, soll er sie einem befreundeten Hofmeister überlassen. «Emil» ist demnach ein Lehrbuch der «Hofmeister-Erziehung».

Frühe Kindheit

Die Eindrücke der ersten Lebensjahre bedingen die ganze spätere Entwicklung des Kindes. In der frühen Kindheit müssen in wenigen Jahren unzählige Erfahrungen gesammelt und verarbeitet werden. Das Kind muss sich in der Welt zurechtfinden und die menschliche Sprache erlernen. Man muss sich auf den Standpunkt des Kindes stellen, um es zu verstehen und ihm ein Ausleben seiner Kräfte zu ermöglichen. Wo die Natur den Zeitpunkt für gekommen erachtet, wird sich das Kind von selbst auf seine Füsse stellen und sich auch der Sprache bedienen: «Unsere pedantische Unterrichtswut verleitet uns stehts, den Kindern das beizubringen, was sie von selbst viel besser lernen würden, und das zu übersehen, was sie allein durch uns erfahren können.»

Eine Erziehung durch Strenge, Befehl, Härte und Strafe bringe nur unterwürfige Sklaven, nicht aber freie Menschen hervor.

Obwohl der Heranwachsende seiner spielerischen Kindlichkeit überlassen wird, ist er bereits als Persönlichkeit zu achten. Eine Erziehung durch Strenge, Befehl, Härte und Strafe bringe nur unterwürfige Sklaven, nicht aber freie Menschen hervor. Nicht Gehorsam sondern Einsicht ist die Losung des guten Erziehers. Weder Gewalt noch Drohungen, weder Schmeichelei noch Versprechungen erziehen zur menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit. Es gibt kaum einen Fehler am Menschen, von dem man nicht zeigen könnte, wie er in das Menschenherz hineingekommen ist, und immer wieder werden wir dabei auf die Erziehung hingewiesen.

Einführung in die intellektuelle Welt

Der spätere Unterricht soll mit geschärften Sinnen rechnen können. Wenn Emil das Alter von zwölf Jahren erreicht hat, so ist er «auf dem Wege der Natur durch das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung bis an die Grenze der kindlichen Vernunft geführt.» Die eigentliche Periode des Lernens und Studierens dauert bei Rousseau vom 12. bis zum 15. Jahre, wenn er über die grosse Fassungskraft verfügt, damit er in die intellektuelle Welt eingeführt werden kann. Ein vielfältiges Anschauungsmaterial liefern Industrie und Handwerk.

Der Jugendliche soll nicht in einer Religion erzogen werden, sondern «wir wollen ihn nur in den Stand setzen, die zu wählen, zu welcher ihn der beste Gebrauch der Vernunft führen muss.»

Pubertät

Die Pubertät ist eine «zweite Geburt oder zweite Kindheit» und die Umsicht und Sorgsamkeit muss auf dieser Stufe wiederholt werden. Die Erziehung darf hier nicht aufhören, weil erst jetzt die entscheidende Aufgabe beginnt, ihn mit den gesellschaftlichen Verhältnissen vertraut zu machen: Erst in diesem Alter darf man ihn in der Religion unterweisen, weil sich die religiösen Begriffe dem kindlichen Verständnis noch entziehen und es deshalb sinnlos ist, ihm von «Gott» und «Geist» zu erzählen. Der Jugendliche soll nicht in einer Religion erzogen werden, sondern «wir wollen ihn nur in den Stand setzen, die zu wählen, zu welcher ihn der beste Gebrauch der Vernunft führen muss.» Auf die Fragen nach den geschlechtlichen Verhältnissen ist Emil seit seiner Kindheit entsprechend seinem Fassungsvermögen offen und rückhaltlos geantwortet worden. Darum hat er Vertrauen zu seinem Erzieher und wird ihm nichts verheimlichen.

Petersinsel: Hier entstand sein epochales Werk “Emile”

Der Mensch Rousseau

Der Lebenslauf Rousseaus zeigt, dass auch ein Mensch unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen zu einem überaus wertvollen Mitglied der Gemeinschaft werden und ihr mehr Positives bieten kann, als viele gekrönte Häupter zusammen. Wie war es möglich, dass jemand der ohne Mutter aufwachsen musste, aus einfachem Haushalt kommend, zeit seines Lebens in Armut lebte, so dass er nicht einmal seine eigenen Kinder ernähren konnte und von Kirche und Staat verfolgt wurde, einen derart positiven Einfluss auf die Entwicklung der Menschheit haben konnte? Seine Resilienzfaktoren waren Menschen, die an ihn glaubten: sein bemühter Vater, der mit ihm schon früh wertvolle Bücher las, eine gebildete Frau, die ihn in ihrem Hause aufnahm und seine autodidaktischen Studien unterstützte und eine offene Gelehrtengesellschaft, der es nicht auf die Herkunft, sondern auf den innovativen Beitrag zur Aufklärung ankam. Für Goethe hat das Buch «Emile» einen aussergewöhnlich positiven Einfluss zur Entwicklung der modernen Erziehungsidee ausgeübt, das er ein «Naturevangelium der Pädagogik» nannte.

Quellen:

https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/rousseau.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Westschweizer_Naturrechtsschule

 

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Unser Wunsch für das kommende Jahr: Back to Enlightenment – zurück zu Vernunft und Toleranz https://condorcet.ch/2021/12/unser-wunsch-fuer-das-kommende-jahr-back-to-enlightenment-zurueck-zu-vernunft-und-toleranz/ https://condorcet.ch/2021/12/unser-wunsch-fuer-das-kommende-jahr-back-to-enlightenment-zurueck-zu-vernunft-und-toleranz/#respond Fri, 31 Dec 2021 07:48:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=10237

Liebe Leserinnen und Leser, wir schicken Ihnen unsere besten Wünsche für das kommende Jahr. Unser Condorcet-Autor Alain Pichard hat diese in einem Bild festgehalten. Vernunft und Toleranz, Diskurs und das Bemühen um Wahrheit sollen uns in diesen schwierigen Zeiten weiterhin die Richtschnur sein!

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John Locke – Gedanken über Erziehung https://condorcet.ch/2021/12/john-locke-gedanken-ueber-erziehung/ https://condorcet.ch/2021/12/john-locke-gedanken-ueber-erziehung/#respond Wed, 08 Dec 2021 11:26:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=10081

Die Leugnung angeborener Ideen, verbunden mit der Lehre von der Psyche als «tabula rasa» bei der Geburt, die prinzipielle Einsicht, dass alle Erkenntnis der Erfahrung entstamme und dass die Erfahrung selbst nur durch Sinnesorgane zustandekomme, diese tragenden Säulen der rationalistischen Philosophie hat John Locke errichtet. Unser Haushistoriker Peter Aebersold stellt ihn vor.

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John Locke (1632 -1704) war ein englischer Arzt sowie einflussreicher Philosoph und Vordenker der Aufklärung. Locke gilt allgemein als Vater des Liberalismus. Er ist zusammen mit Isaac Newton und David Hume der Hauptvertreter des britischen Empirismus (Wikipedia)

Eine lebendige und lebensnahe Schule

100 Jahre nach dem Erscheinen der «Essais» greift Locke die Forderungen Montaignes nach einer lebendigen und lebensnahen Schule, in der Welt- und Menschenkenntnis, Selbstdenken und Sittlichkeit gelehrt werden, wieder auf. Die Erziehungsmethoden des Mittelalters, die in die beginnende Neuzeit übernommen worden waren, hatten in Montaigne ihren ersten Kritiker gefunden. Locke war in Holland auf Montaignes Schrift gestossen, nachdem er sich schon seit Jahrzehnten mit dem Erziehungsproblem beschäftigt hatte. Die Mängel des englischen Erziehungswesens hatte er in seinen Schuljahren und selbst in Oxford zur Genüge erfahren. Einen eigentlichen Lehrerstand gab es nicht und der Unterricht vermittelte bestenfalls fragmentarische Kenntnisse der lateinischen und griechischen Vokabeln und bedeutete für die Schüler quälende Langeweile. Die Rute wurde so häufig verwendet, dass sie im Schulgeld eingerechnet wurde. Deshalb setzte Locke anstelle der Schule auf den Privatunterricht (Hofmeister-Erziehung).

In dieser Epoche des verwahrlosten Erziehungswesens haben Lockes «Gedanken über Erziehung» den Zeitgenossen die Wichtigkeit der pädagogischen Probleme klargemacht, entscheidende Anregungen für die neuzeitliche Pädagogik geliefert und sind dem «Emil» Rousseaus mit Montaignes «Essais» Pate gestanden.

John Locke

Der 1632 geborene Locke wurde von seinem Vater, einem Anwalt, sorgfältig erzogen, der ihm mit 14 Jahren die Aufnahme in die Westminster School ermöglichte. Das Studium der Schriften Bacos von Verulam und René Descartes veranlasste Locke in Oxford nach den «klassischen Wissenschaften» noch Medizin und Staatswissenschaften zu studieren. Nach einer Deutschlandreise als englischer Gesandtschaftssekretär liess er sich in Oxford nieder, wo ihn Lord Ashley Cooper, der spätere 1. Graf von Shaftesbury, als Leibarzt und Erzieher seines Sohnes in sein Haus aufnahm. Als sein Gönner in Ungnade fiel, suchte Locke Zuflucht in Holland. 1693 erschienen seine «Gedanken über Erziehung» die aus Ratschlägen an seinen Freund für die Erziehung des Sohnes hervorgegangen waren.

Gedanken über Erziehung: Wie Wasser, das man in Kanäle leitet.

Gedanken über Erziehung

Die «Gedanken über Erziehung» sind ein «Handbuch» der Privaterziehung, der Unterricht sollte – ähnlich wie später bei Rousseau – durch den universalen Hofmeister erfolgen.  Nur so, glaubte Locke, könne die Individualität des Zöglings genügend berücksichtigt werden: «Von allen Menschen, denen wir begegnen, sind neun unter zehn das, was sie sind, gut oder böse, brauchbar oder unnütz, durch die Erziehung; das ist es eben, was die grossen Verschiedenheiten unter den Menschen hervorbringt. Die kleinen, fast unmerklichen Eindrücke auf unsere zarte Kindheit haben sehr wichtige und dauernde Folgen; und es ist hier wie bei den Quellen gewisser Flüsse, wo ein leises Anlegen der Hand die lenksamen Wasser in Kanäle leitet, welche ihnen einen ganz verschiedenen Lauf geben, durch diese unmerkliche Leitung, welche man ihnen gleich bei der Quelle gibt, empfangen sie dann verschiedene Richtungen und langen zuletzt an entfernten und auseinanderliegenden Orten an.»  Damit legte er sein erzieherisches Credo einer fast unbegrenzten Erziehbarkeit des Menschen ab.

Weil das höchste Ziel des menschlichen Strebens die Glückseligkeit ist, liegt der Sinn der Erziehung darin, den Menschen zur Erreichung seines Glücks zu befähigen, in dem man Körper und Geist bildet.

Unbegrenzte Erziehbarkeit

Der Mensch ist erziehbar, weil seine Psyche von Geburt an den Eindrücken der Aussenwelt ausgesetzt ist, die sich in die Psyche einschreiben, wie in ein Stück unbeschriebenes Blatt Papier und damit die psychische Prägung und den Charakter bestimmen. Alle Vorstellungsinhalte des Menschen entstammen den Erfahrungen und Erlebnissen, die damit seine Handlungen und sein Willen determinieren. Es liegt in der Hand der Erziehung durch Vermitteln bestimmter Vorstellungen, auf die Ausbildung des Charakters, auf Sittlichkeit und Vernunft, Einfluss zu nehmen.  «Wir sind geboren», sagt Locke, «um, wenn wir es wollen, vernünftige Menschen zu sein, aber nur Gebrauch und Übung machen uns dazu, und wir sind es wirklich nur bis zu dem Grade, als Nutzung und Fleiss uns gefördert haben.»

Weil das höchste Ziel des menschlichen Strebens die Glückseligkeit ist, liegt der Sinn der Erziehung darin, den Menschen zur Erreichung seines Glücks zu befähigen, in dem man Körper und Geist bildet. Juvenals «Mens sana in corpore sano» muss das Grundprinzip jeder echten Erziehung sein. Die leibliche Gesundheit der Heranwachsenden muss erhalten und gefördert werden. Statt Kinder zu verhätscheln und zu verzärteln sollten sie wie Bauernkinder erzogen werden. Ausreichender Schlaf und gesunde, einfache Nahrung sind die Grundlagen körperlicher Entwicklung.

Dem Willen muss die Richtung auf die Tugend gegeben werden, die nichts anderes als die Selbstbeherrschung ist.

Um wahrhaft gut zu sein, muss man Herr über sich selber werden.

Geistige Erziehung

Die geistige Erziehung ist die Ausbildung von Wille und Verstand. Dem Willen muss die Richtung auf die Tugend gegeben werden, die nichts anderes als die Selbstbeherrschung ist. Nur wer sich seine Wünsche versagen kann, ist fähig, den Gesetzen der Vernunft zu folgen. Um wahrhaft gut zu sein, muss man Herr über sich selber werden. Die Erziehung zur Sittlichkeit muss früh beginnen, wenn sie das Leben beherrschen und bestimmen soll. Je früher mit der planmässigen Erziehung begonnen wird, desto erfolgreicher kann sie werden. Über falsches Verhalten hinwegzusehen, weil es ja noch ein Kind sei oder sich darüber als Eigenart zu freuen, macht den Menschen später unfähig, sich dem Diktat seiner Vernunft zu unterstellen. Man darf sich dann nicht wundern, wenn aus dem tyrannischen Kind, später ein ebensolcher Erwachsener wird.

Dazu muss zwischen Erzieher und Zögling ein unerschütterliches Vertrauen herrschen.

Nach Plato ist die Wahrhaftigkeit der Anfang einer grossen Tugend. Um das Kind zur Wahrhaftigkeit erziehen zu können, darf seine Aufrichtigkeit und Offenheit durch nichts eingeschränkt werden. Dazu muss zwischen Erzieher und Zögling ein unerschütterliches Vertrauen herrschen. Das Kind soll zu einem höflichen und anständigen Benehmen gegenüber denjenigen erzogen werden, die dem Range nach unter ihm stehen: «Man sollte nicht dulden, dass Kinder die Wertschätzung der menschlichen Natur über dem zufälligen Unterschied der sozialen Rangstellung aus den Augen verlieren. Je mehr sie besitzen, um so freundlicher sollte man sie lehren im Verkehr zu sein und um so mitleidiger und sanfter gegen diejenigen ihrer Brüder, die niedriger stehen und denen ein kärglicherer Anteil zugefallen ist.» Der Mensch muss für die Gemeinschaft gebildet werden, den das Glück seines Lebens hängt von der Einfügung in das gesellschaftliche Ganze ab, die durch Wohlerzogenheit, Höflichkeit und feine Bildung erleichtert wird.

Erziehung zur Persönlichkeit

Der Erzieher muss mit grösster Sorgfalt und Umsicht ausgewählt werden. Damit er dem Kind solche Werte vermitteln kann, muss er selbst wohl erzogen sein und von der Familie besonders geachtet werden. Je höher die Wertschätzung des Erziehers, umso sicherer sein erzieherischer Erfolg. Kein Geld ist so nützlich angewendet, wie das für die Kindererziehung. Besser man hinterlässt den Kindern ein kleineres Vermögen und eine grössere Bildung.

Diese Ziele sind nur erreichbar, wenn der Erzieher in vorbildlicher Weise das ist, was der Zögling werden soll: eine Persönlichkeit.

Zur sittlichen Erziehung gehört unumgänglich, dass der Zögling ein Welt- und Menschenkenner werde. Der Erzieher muss ihm ein weltmännisches Benehmen beibringen und ihm den Nachahmungstrieb für alles wecken, was ausgezeichnet und lobenswert ist. Diese Ziele sind nur erreichbar, wenn der Erzieher in vorbildlicher Weise das ist, was der Zögling werden soll: eine Persönlichkeit. Dabei muss seine Individualität berücksichtigt werden und man soll das Kind als freien und gleichberechtigten Menschen behandeln. Fehler und Verirrungen sollen mit ihm vernünftig besprochen werden. Schelten, Schläge oder Belohnungen irgendwelcher Art sind von der Erziehung fern zu halten.

Bildung ist der Anfang des Gentleman, aber Lesen, gute Gesellschaft und Nachdenken müssen ihn vollenden.

Erziehung muss zu Resilienz führen.

Intellektuelle Bildung

Die intellektuelle Bildung ist auf Sittlichkeit und Lebenstüchtigkeit auszurichten. «Das Geschäft der Erziehung in Bezug auf das Wissen», schreibt Locke, «ist, denke ich, nicht einen Schüler in allen oder in einer Wissenschaft fertig zu machen, sondern seinem Geist jene Freiheit, jene Beschaffenheit, jene Gewohnheit mitzuteilen, die ihn in den Stand setzen könnte, jede Art von Wissen, auf die er sich legt oder die ihm im Laufe seines Lebens nötig wird, zu erlangen.» Wissen zu vermitteln, ist gegenüber der Schulung der Urteilskraft eine zweitrangige Aufgabe. Wenn man den Schüler niemals etwas auf blosse Autorität hin glauben lässt, fördert man seine Wahrheitsliebe und seinen Scharfsinn. Erst wenn der Schüler sich die Kenntnisse der Natur und des Menschen angeeignet und durch Reisen seinen Horizont erweitert hat und somit als wahrer Welt- und «Gentleman» gelten darf, kann der Erzieher seine Arbeit als beendet betrachten. Und wenn «dem jungen Herrn die Ehe in naher Aussicht steht, ist es an der Zeit, ihn seiner Gebieterin zu überlassen».

Bedeutender liberaler Influencer

Lockes zahlreiche Errungenschaften hatten einen nachhaltigen Einfluss auf die moderne Welt: Nicht nur auf die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, die Verfassung der Vereinigten Staaten, die Verfassung des revolutionären Frankreichs und der meisten Verfassungen liberaler Staaten sondern auch auf deren öffentliches Bildungswesen. Dass er an den freien Willen glaubte, darf ihm nicht angekreidet werden, wurde «Das Unbewusste» doch erst 200 Jahre später durch Pierre Janet, Freud und Adler entdeckt. Im Gegensatz zu den Forschern, die immer noch die Intelligenz-Gene suchen oder rätseln, ob die Intelligenz zu 30 oder 80 % vererbt sei, war für den Rationalisten Locke ebenso wie später für den Psychologen Alfred Adler und den Anthropologen Adolf Portmann klar, dass der Mensch nicht mit psychischen Eigenschaften auf die Welt kommt, weil er durch die Erziehung erst Mensch wird.

Quelle:

John Locke: Gedanken über Erziehung https://www.projekt-gutenberg.org/locke/erzieh/erzieh.html

John Locke. Eine Einführung zu Leben und Werk

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Johann Ludwig Vives – Begründer der neuzeitlichen Pädagogik https://condorcet.ch/2021/08/johann-ludwig-vives-begruender-der-neuzeitlichen-paedagogik/ https://condorcet.ch/2021/08/johann-ludwig-vives-begruender-der-neuzeitlichen-paedagogik/#respond Sun, 08 Aug 2021 19:34:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=9156

Niemand in der Redaktion kannte Juan Luis Vives (1492–1540), den Humanisten, Lehrer und Aufklärer. Es ist erneut unserem Haushistoriker Peter Aebersold zu verdanken, dass wir wieder einmal eine bedeutende Persönlichkeit der Pädagogikgeschichte kennenlernen.

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Johann Ludwig Vives, 1492 – 1540, Humanist, Philosoph und Lehrer: die Natur selbst befragen.

Warum können uns Reformer weismachen, das Bisherige sei veraltet und das Neue sei immer besser? Neues kann sich normalerweise nur durchsetzen, wenn es tatsächlich besser ist. Weil das vielfach nicht der Fall ist, wird oft versucht, das Alte abzuwerten, um das (angeblich) Neue im besseren Licht erscheinen zu lassen.

Ein Beispiel dafür ist der pejorative Begriff «Frontalunterricht», der vom Schulreformer und Alt-Nazi Peter Petersen in den 1960er Jahren erfunden wurde, um seine Methoden hervorzuheben und die Sozialform des Klassenunterrichts durch Abwertung zu verdrängen. Seit dem Humanismus haben uns grosse Erzieher und Menschenkenner in ihren Werken ein Mass von Erziehungsweisheit hinterlassen, das heute noch gültig ist, weil der Mensch sich seither nicht verändert hat. Da dieses Wissen heute kaum mehr bekannt ist, kann es uns immer wieder als «neue» Erkenntnis verkauft werden.

Männer wie Galilei, Kepler, Kopernikus, Bacon, Descartes, Newton, Boyle, Leonardo da Vinci usw. schufen das geistige Fundament der Neuzeit.

Mit der Reformation im 16. Jahrhundert erwachte das Interesse an den Naturwissenschaften. Dies führte zu bahnbrechenden Errungenschaften auf allen Gebieten des menschlichen Wissens. Die neue Philosophie stellte die Erfahrung und das vernünftige Erfassen des Weltganzen in den Mittelpunkt, was innert wenigen Jahrzehnten zu philosophisch-wissenschaftlichen Fortschritten von grösster Tragweite führte. Männer wie Galilei, Kepler, Kopernikus, Bacon, Descartes, Newton, Boyle, Leonardo da Vinci usw. schufen das geistige Fundament der Neuzeit.

Zu ihnen gehört auch Johann Ludwig Vives, der als Begründer der neuzeitlichen Pädagogik gilt. Er gehörte zu den ersten, die die Fesseln der Schriftgelehrsamkeit abstreiften und die Natur selbst befragen wollten. Experiment und Erfahrung allein würden die menschliche Einsicht in das Naturgeschehen vertiefen. Vives entwarf Pläne zur Reform der Wissenschaften und wandte sich den grundlegenden Erziehungsproblemen zu, denen er seine bedeutendsten Schriften widmete.

Vives wurde 1492 in Valencia geboren. Sein Vater wurde als Jude während der Inquisition verbrannt.

Der 1492 in Valencia geborene Vives war ein spanischer Humanist, Philosoph und Lehrer. Er entstammte einer angesehenen, gebildeten spanischen Familie. Seine Verehrung galt besonders der Mutter, die er in seinen Schriften als Vorbild weiblicher Bildung darstellte. Als Kind von Marranen stand er im Schatten der spanischen Inquisition, die seinen Vater auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Er studierte 1508 Philosophie und Theologie an der Sorbonne in Paris und zog nach dem Abschluss des Studiums nach Brügge, wo er als Privatlehrer seine zukünftige Frau unterrichtete. Dort begegnete er Erasmus, der ihn zu einer humanistischen Schulung durch das Studium der alten Literatur anregte.

In seiner Schrift «Von der Unterstützung der Armen» verlangte er als Erster eine staatliche Fürsorge und forderte, dass der Reichtum der Kirchen dafür eingesetzt werde.

Zur Zeit des Türkenansturms versuchte Vives mit Briefen an die Könige und den Papst einen europäischen Frieden und eine gemeinsame Front gegen die Türken zu bilden. Den Friedenswillen wollte er durch Aufklärung und Schulung des Volkes festigen. In seiner Schrift «Von der Unterstützung der Armen» verlangte er als Erster eine staatliche Fürsorge und forderte, dass der Reichtum der Kirchen dafür eingesetzt werde. Er wollte die Wissenschaft als Mittel anwenden, um die Unzulänglichkeiten der bestehenden politischen und sozialen Einrichtungen aufzudecken.

Die Gelehrten könnten jedoch nur Bedeutsames erschaffen, wenn sie vom Willen der Wahrheit beseelt seien.

Vives überwand die platonische Lehre von den «angeborenen Ideen» (Ideenlehre).

Als Universalgelehrter sah er den Ursprung der Wissenschaften darin, dass der Mensch seine Hilflosigkeit in der Natur überwinden wollte. Die Gelehrten könnten jedoch nur Bedeutsames erschaffen, wenn sie vom Willen der Wahrheit beseelt seien. Er wies auf die Gefahren des Unwesentlichwerdens in allen Disziplinen hin. Alle Erkenntnis müsse darauf ausgerichtet sein, den Menschen besser zu machen und ihn sittlich zu fördern. In seiner Schrift «Von der Seele und vom Leben» betonte er, dass die Basis der Pädagogik auf einem psychologischen Fundament ruhe und dass man das Wesen der Seele nur in ihren Äusserungsformen, also empirisch, studieren könne. Die platonische Lehre von den «angeborenen Ideen» (Ideenlehre) hatte er überwunden, indem er der Seele ein Streben nach Wahrheit, nicht aber deren angeborenen Besitz zuschrieb. Hier war Vives besonders fortschrittlich, wenn man bedenkt, dass die Vererbungslehre von Platon auch heute noch selbst bei Fachleuten weit verbreitet ist. Der Mensch zeichne sich durch das Sprechen-Können zusammen mit der Vernunft aus. Da die Sprache die Beziehungen der Menschen untereinander ermögliche, bedürfe sie der grösstmöglichen Pflege und Ausbildung.

Mit seinen «Bemerkungen über die Methode des Lernens» verdient Vives auch heute noch unsere uneingeschränkte Bewunderung.

Mit seinen «Bemerkungen über die Methode des Lernens» verdient Vives auch heute noch unsere uneingeschränkte Bewunderung. Lehren heisst für ihn, dasjenige, was man selbst wisse, einem anderen, der es noch nicht wisse, zu vermitteln. Der Lernende werde dadurch geistig bereichert und der Lehrende selbst auch, da der Unterricht auch sein Wissen vermehre, anrege und fördere. Ähnlich der Sonne, die mit ihren Strahlen die Keime erwecke, müsse auch der Lehrer am Schüler alles zu entwickeln versuchen, ohne ihn in eine bestimmte Bahn abzudrängen. Die drei Etappen des Lernens sind für ihn die Empfindung, die Vorstellung und das Denken. Durch das Vorbild des Lehrers erlange der Schüler Ausdauer und Fleiss, ohne die er in den Wissenschaften nichts zustande bringen könne. Darum müsse der Lehrer das Ideal des Lernenden sein, von seiner Persönlichkeit gehen mehr Wirkungen aus als von seinen Kenntnissen. Der Lehrer habe die Funktion, die Persönlichkeit seiner Schüler zu bilden, die weit über das Vermitteln blosser Verstandeskultur hinausreiche. 500 Jahre nach Vives bestätigt John Hattie mit seiner Meta-Studie, dass die Erkenntnisse von Vives weltweit Gültigkeit haben.

500 Jahre nach Vives bestätigt John Hattie mit seiner Meta-Studie, dass die Erkenntnisse von Vives weltweit Gültigkeit haben.

Vives hat in seiner Schrift «Von der Schulung in den Wissenschaften» seine Pädagogik ausführlich dargelegt. Sein Idealbild einer Schule umfasst die ganze wissenschaftliche Ausbildung vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter. Die Schule sollte dort stattfinden, wo die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder gewährleistet werde und nicht im Trubel von Residenzstädten. Der Staat solle die Lehrpersonen schulen und bezahlen. Sie müssten ideal gesinnte Persönlichkeiten sein, die die Jugend zu fördern wünschten, indem jeder gemäss seiner Individualität behandelt werde. Der Schüler müsse deshalb in allen seinen Betätigungen in Arbeit und Spiel genau beobachtet werden und diese Beobachtungen müssten an Lehrerkonferenzen ausgetauscht werden, um festzulegen zu können, wie jeder einzelne zu führen sei.

Die lateinische Sprache sollte unterrichtet werden, weil diese die einzige Weltsprache der Gelehrten sei.

Darum muss der Lehrer das Ideal des Lernenden sein, von seiner Persönlichkeit gehen mehr Wirkungen aus als von seinen Kenntnissen.

Die lateinische Sprache sollte unterrichtet werden, weil diese die einzige Weltsprache der Gelehrten sei. Die Pflege der Muttersprache lag ihm besonders am Herzen. Für den Sprachunterricht vom siebten bis zum fünfzehnten Lebensjahr legt er Wert auf die Selbsttätigkeit der Schüler, die mit Fragen und Antworten Beiträge zu den Lektionen liefern sollten. Die Geschichte gilt ihm als Lehrmeisterin der Lebensklugheit, aus historischen Studien könnten die Menschen Schlüsse für die Gegenwart ziehen. Die Heranwachsenden sollten mit der historischen Entwicklung des Menschengeschlechts als Kulturgeschichte vertraut gemacht werden, wobei man sich nicht bei äusseren Ereignissen (Schlachten, Eroberungen) aufhalten sollte, weil diese im Vergleich zur friedlichen Entwicklung der Völker nicht ins Gewicht fallen. Die Werke des Friedens und die Lehren von hochgebildeten, rechtschaffenen Männern mit ihren Worten, Taten und ihre ehrenvollen Absichten sollten zum Vorbild genommen werden. Die Naturwissenschaften sollten gründlich gelehrt werden, wobei die Schüler durch Beobachtung der verschiedensten Berufe Erfahrungen sammeln sollten (Autopsie).

Seine Auffassung, dass auch die Frau ein Recht auf angemessene Bildung habe, trug Wesentliches zur Emanzipation der Frau in der Neuzeit bei.

Mit seinem Buch «Erziehung der christlichen Frau» war Vives der eigentliche Bahnbrecher der Mädchenerziehung und einer vielseitigen weiblichen Bildung, deren Endziel, die Sittlichkeit, für das Gemeinwesen von grundlegender Bedeutung sei. Seine Auffassung, dass auch die Frau ein Recht auf angemessene Bildung habe, trug Wesentliches zur Emanzipation der Frau in der Neuzeit bei. Der Humanist Vives gilt mit Recht als Begründer der neuzeitlichen Pädagogik. Seine Anregungen, reichen weit in die folgenden Jahrhunderte hinein und beeinflussten unter anderen Neander, Ratich, Comenius und Locke.

Wie können wir vom Rückblick in die Vergangenheit profitieren? Wir können eine Standortbestimmung vornehmen: Was haben wir in den 500 Jahren seit Vives in der Schule erreicht? Wie steht es mit der Persönlichkeitsbildung, der Friedenserziehung, dem Geschichtsunterricht usw.? Wo befinden wir uns heute: auf dem Fort- oder Rückschritt? Wie ist der Stellenwert der Pädagogik in Praxis und Ausbildung heute und wie derjenige der Psychologie, die Vives als Fundament der Pädagogik ansah? Gibt es dabei Zusammenhänge mit den in verschiedenen Studien und Pisa seit 2012 festgestellten Leistungsverschlechterungen in der Schule?

Peter Aebersold

Quellen:

Gregorio Marañón: Vives humaniste espangnol, Paris 1941

Susanne Zeller: Juan Luis Vives (1492–1540). Wiederentdeckung eines Europäers, Humanisten und Sozialreformers jüdischer Herkunft im Schatten der spanischen Inquisition. Lambertus, Freiburg im Breisgau 2006, ISBN 3-7841-1648-5.

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Michel Foucault: die Entzauberung einer akademischen Ausnahmeerscheinung https://condorcet.ch/2021/05/michel-foucault-die-entzauberung-einer-akademischen-ausnahmeerscheinung/ https://condorcet.ch/2021/05/michel-foucault-die-entzauberung-einer-akademischen-ausnahmeerscheinung/#respond Sun, 09 May 2021 09:42:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=8512

Der Condorcet-Blog ist dem Philosophenpaar Sophie und Jean-Marie de Condorcet verpflichtet und seine Autorinnen und Autoren vertreten die Idee der Aufklärung. Deswegen haben wir immer wieder philosophische Beiträge in diesem Blog veröffentlicht. Der nun folgende Beitrag steht schon seit längerer Zeit in unserer «Pipeline». Es ist eine differenzierte Auseinandersetzung um die Diskursanalyse von Michel Foucault. Michel Foucaults Werk, und das macht seine Causa für uns interessant, ist von einer aufklärungskritischen Haltung geprägt. Die plötzlich aufgekommene Debatte um den angeblichen sexuellen Missbrauch von Jugendlichen hat uns dazu bewogen, mit der Veröffentlichung des Beitrags der Zürcher Professorin für forensische Psychologie, Henriette Haas, zuzuwarten. Wir wollten nicht in den Verdacht geraten, uns auch noch an diesem Integritätsdiskurs zu beteiligen. Inzwischen hat sich aber auch Eduard Käser in einem Beitrag («Riesen zur Schnecke machen – weite Teile der Cancel-Culture sind das Symptom einer intellektuellen Misere» 2. Mai 2021) gemeldet. Er plädiert für den «argumentativen Streit im Schlichten von Meinungsverschiedenheiten». Dies ist auch für uns eine Richtschnur. Der nun folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Geltung einer Aussage und nicht mit deren Urheber. Oder um es mit Eduard Käser auszudrücken: «Denken ist eine soziale Tätigkeit. Ein untrügliches Indiz des Denkens ist deshalb die Beobachtung, dass andere auch denken.» Henriette Haas schreibt zum ersten Mal für den Condorcet-Blog.

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Henriette Haas, Zürcher Professorin für forensische Psychologie: Diskursanalyse enthält schwere Mängel

Mit der von ihm selber geschaffenen «Werkzeugkiste» wird Michel Foucault, der meistzitierte Autor in den Kulturfächern, derzeit moralisch «dekonstruiert». Es geht nicht mehr um den Gehalt seiner Schriften, sondern nur darum, in welche Machtstrukturen er eingebettet war. Sorgfältiges Analysieren und das Rekonstruieren eines nuancierten Porträts sind nicht mehr nötig, sondern man entscheidet anhand einer Gut-Böse-Schablone: Sollten sich weitere Zeugen für sexuellen Missbrauch finden, wird er zum Paria werden, andernfalls zum Märtyrer. Beides ist falsch.

Unbestritten ist, dass er spannende sozialkritische Themen in origineller Weise aufs Tapet brachte und Themen setzte, die ohne Zweifel relevant sind.

Für Bildungsfachleute und -Interessierte sind m. E. andere Fragen wichtiger: Wer war Michel Foucault und wie steht es um die Wissenschaftlichkeit seiner Diskursanalyse? Zur ersten Frage erfährt man viel in der hervorragend recherchierten Biografie von James Miller.[1] Foucault gilt als Nihilist, es wird ihm u. a. auch vorgeworfen, er verherrliche Gewalt. Von vielen Menschen wird er aber als engagierter Ethiker angesehen und bewundert. Unbestritten ist, dass er spannende sozialkritische Themen in origineller Weise aufs Tapet brachte und Themen setzte, die ohne Zweifel relevant sind – so etwa sich verselbständigende Diskurse und fein verästelte Machtstrukturen.

Die diskursanalytische «Werkzeugkiste» als Ausverkauf des rationalen Denkens

Die Wissenschaftlichkeit der Diskursanalyse von Foucault wurde schon früh hinterfragt.[2] Dabei handelt es sich nicht um ein einheitliches Verfahren. Die von ihm nur vage ausgeführten Ideen wurden von mehreren Interpreten jeweils unterschiedlich umgesetzt (Breeze, S. 494).[3] Eine der Anwendungen, die unter dem Namen «Diskursanalyse» praktiziert wird, stellt ein attraktives Angebot für alle bereit, die rasch und mühelos akademische Erfolge einheimsen wollen. Deren «Anleitung» hat Foucault im Buch «Archäologie des Wissens» skizziert – nämlich als Aufforderung zur Willkür. Der Schriftsteller Daniel Miller nennt diese Vorgehensweise den «Pseudofoucault».[4] Sie kann stringent aus dem echten (wesentlich differenzierteren) Werk Foucaults abgeleitet werden und stellt eine Verdichtung der grössten Fehlleistungen des Philosophen dar. Hier die geistigen Wurzeln des Pseudofoucault: Die mühselige Rekonstruktion des Kontextes qualifizierte Foucault als «liebenswerte, aber verspätete Spielchen von Historikern in kurzen Hosen». Zudem sei es naiv, die Verdienste früherer Diskurse (z.B. der Humanwissenschaften) festzustellen (Foucault, S. 205, 208).[5] Vergangene Akteure strafte er mit dem Satz über „die Illusionen, die diese sich über den Wert und die unsterbliche Würde ihrer Worte haben machen können“ (Foucault, S. 178f). Anstelle logischer Argumente gegen die sorgfältige historische Interpretation der Quellen (Argumente, die er offensichtlich nicht hat), gibt er sie der Lächerlichkeit preis. Demagogisch lenkt er die möglichen Ergebnisse von diskursanalytischen Studien in die von ihm erwünschte Richtung. Für Aussenstehende mag ein bisschen Spott harmlos tönen. Jedoch kann es sich im beinharten akademischen Wettbewerb kein Nachwuchstalent leisten, vor versammelter kulturwissenschaftlicher Gilde in «kurzen Hosen» dazustehen (die Mentor/innen können es ebenfalls nicht).

James Miller, Biograf Michel Foucaults: Rhetorische Täuschungsmanöver?

Breeze (S. 501, 503, 505f) moniert, diese Form der Diskursanalyse enthalte schwere Mängel, sie sei ein Gebastel, das in keiner Art und Weise den Erkenntnissen der pragmatischen Linguistik entspreche. Beliebt ist etwa die selektive Datenauswahl, das cherrypicking, mit dem Quellen, die der These des Autors widersprechen, ganz einfach unterschlagen werden. Foucault und unkritische Benutzer/innen seiner «Werkzeugkiste» weichen der Verantwortung für seriöses akademisches Arbeiten mit rhetorischen Täuschungsmanövern aus (J. Miller S. 18). Dreyfus und Rabinow, zwei bedeutende amerikanische Foucault-Interpreten, halten die Archäologie für „methodologisch gescheitert“; sie sei „jenseits von Seriosität und Bedeutung“ (S. 105, 111).[6] Wie können angebliche Textanalysen der zuständigen Sprachwissenschaft diametral widersprechen und gleichwohl als wissenschaftliches Vorgehen gelten? Dürften dann die empirischen Disziplinen nicht auch eine «postmoderne Statistik» entwerfen, welche den Axiomen der Mathematik widerspricht? Spektakuläre Resultate sind mit Hilfe von logischen Trugschlüssen einfach zu konstruieren und führen zur Wettbewerbsverzerrung.

Die Gesellschaft erwartet nämlich von universitärer Information eine besonders hohe Qualität und ein ausgewogenes Urteil.

Foucault und andere Anhänger des Relativismus und Postmodernismus verfechten die Auflösung der aristotelischen Logik (Pluckrose & Lindsay, S. 77, 79, 83, Dreyfus & Rabinow, S. 111–114, Breeze, S. 500) welche Widerspruchsfreiheit und Faktentreue voraussetzt – der Basis jeder zwischenmenschlichen Verständigung (Art. 53 der Bundesverfassung). Wieder ist zu bemerken, dass keineswegs alle, die sich von Ideen des französischen Charismatikers begeistern lassen, auch das «Gebastel» verwenden. Er hat auch seriöse, gute Arbeiten vorgelegt und es gibt viele Kulturtheoretiker/innen, welche Diskurse linguistisch korrekt analysieren. Sie trennen bewusst den Spreu vom Weizen. Die Redlichkeit und Wissenschaftlichkeit einer Publikation kann nur im Einzelfall mit aufwändiger Prüfung der Quellenlage geklärt werden. Dass dies geschieht, ist dringlich geworden, sonst verlieren die Forschungsanstalten ihre Glaubwürdigkeit. Die Gesellschaft erwartet nämlich von universitärer Information eine besonders hohe Qualität und ein ausgewogenes Urteil.

Foucault gab zu, dass er weder Philosophie noch überprüfbare Wissenschaft betreibe, sondern Sprengstoffproduktion.

Foucault hingegen gab zu, dass er weder Philosophie noch überprüfbare Wissenschaft betreibe, sondern Sprengstoffproduktion.[7] Damit erteilte er die Erlaubnis zum Betreiben der «pseudofoucaultschen» Wettbewerbsverfälschung. Diese Saat ist im letzten Jahrzehnt aufgegangen. Pluckrose und Lindsay haben die beunruhigende Entwicklung an den Hochschulen recherchiert:[8] Die Postmodernisten und Relativisten hätten die seriöse Forschung in den Kulturfächern weitgehend verdrängt. Es sei eine Art Neoreligion entstanden, in der kritisches Denken und echte Diskussionen unerwünscht seien und massiv unterdrückt würden (Pluckrose & Lindsay, S. 198-207, 215, 221, 231f). Damit würden die Anliegen sozialer Gerechtigkeit diskreditiert und der Rechtsextremismus letztlich gestärkt. Anfügen möchte ich, dass die postfaktischen «Werkzeuge» des Pseudofoucault natürlich auch von Gegnern der Chancengleichheit rege benutzt werden. Von wem haben beispielsweise die Trump-Administration und die rechtsideologischen Medien ihr Metier erlernt – wenn nicht von den dezidiert links positionierten US-amerikanischen Professor/innen? Wollen wir unsere Jungen und ihre Lehrer/innen wirklich darin ausbilden?

Fazit

Foucault war ein Pionier der sozialkritischen Geschichtsschreibung. Die Inspiration, die von seinem Werk ausgeht, sollte erhalten bleiben, allerdings begleitet von einer vertieften Auseinandersetzung mit seiner untauglichen «Methodik» der «Archäologie des Wissens».

[1] Miller, J. (2000). The passion of Michel Foucault. Harvard University Press. Original 1990.

[2] Wehler H.-U. (1998). Die Herausforderung der Kulturgeschichte. Beck. (S. 45-95)

Lewis, H. S. (1998). The misrepresentation of anthropology and its consequences. American Anthropologist, 100(3), S. 716-731.
Marti U, Michel Foucault. München. 1988.

[3] Breeze R, (2011). Critical Discourse Analysis and its Critics, Pragmatics; 21(4): S. 493-525.

[4] Miller D, (Dec. 30, 2020). Is Foucault responsible for identity politics?. The Critic Magazine.

[5] Foucault M. (2015/1973). Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. Suhrkamp, S. 205, 208.

[6] Dreyfus, H. L., Rabinow, P., & Foucault, M. (1994). Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Beltz, Athenäum

[7] Droit R-P, Inédit extrait d’une série d’entretiens que Roger-Pol Droit a eus avec Michel Foucault au mois de juin 1975. Le Point 1.7.2004; 1659: S. 82.

[8] Pluckrose H, Lindsay JA, (2020). Cynical Theories: How Activist Scholarship Made Everything about Race, Gender, and Identity—and Why This Harms Everybody. London.

 

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Erasmus – die Liebe zum Lehrer als erster Schritt beim Lernen https://condorcet.ch/2021/05/erasmus-die-liebe-zum-lehrer-als-erster-schritt-beim-lernen/ https://condorcet.ch/2021/05/erasmus-die-liebe-zum-lehrer-als-erster-schritt-beim-lernen/#respond Sat, 01 May 2021 15:16:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=8404

Grosse Erzieher und Menschenkenner aus der Zeit des Humanismus haben uns Erziehungsweisheiten hinterlassen, die bis heute nichts an Gültigkeit verloren haben. Vor dem Türkensturm aus Konstantinopel flüchtende Gelehrte brachten griechische und lateinische Pergamente nach Italien. Sie ermöglichten einen erneuten Zugang zu antiken Autoren, an denen sich die humanistischen Gelehrten schulten. Es bewirkte eine Befreiung von der mittelalterlichen Scholastik und zog bahnbrechenden Errungenschaften auf allen Gebieten des menschlichen Wissens nach sich (Galilei, Kepler, Kopernikus, Bacon, Descartes, Newton, Boyle, Leonardo da Vinci usw.). Über einen dieser grossen Gelehrten berichtet Peter Aebersold.

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Erasmus von Hans Holbein 1523 (Wikipedia)

Erasmus lebte von 1514 bis 1529 in Basel, wo er dank der neuen Buchdrucktechnik als «Vermittler von Bildung» wirkte. In Basel druckte Johann Froben seine Schriften, darunter 1516 sein bedeutendstes Werk «Novum Instrumentum omne», eine lateinische Übersetzung des Neuen Testaments mit dem griechischen Originaltext.

Erziehungslehre

Vor allem zwei Bücher führen in seine Erziehungslehre ein: «Über die Notwendigkeit einer frühzeitigen wissenschaftlichen Unterweisung der Knaben» von 1529, das von der Kindheit und dem Knabenalter handelt und «Über die Methode des Studiums» von 1511, das die Reifezeit umfasst.

„Menschen werden nicht als Menschen geboren, sondern als solche erzogen!“

Aus den Überlieferungen eines Platos, Aristoteles’, Plutarchs und Quintilians schöpfend, verkündete Erasmus den modernen Erziehungsgedanken, der die humanistischen Lehrpläne bis ins 18. Jahrhundert beeinflusste. Bei seinen Ausführungen über die Kindererziehung wendet er sich an den Vater eines Neugeborenen, der erst zum Vater werde, indem er auch das geistige Wesen seines Kindes prägt.

«Der Mensch, der fast aller natürlichen Waffen und Vorteile des Tierreichs entbehrt, wird durch die Vernunft über alle übrigen Lebewesen erhoben.»

Erziehung bedeutete für Erasmus und die Humanisten, dass Wissen und Tugend eins sind und dass demzufolge die sittliche Tüchtigkeit des Menschen direkt von der ihm zuteil gewordenen Schulung abhängt. Der Mensch, der fast aller natürlichen Waffen und Vorteile des Tierreichs entbehre, werde durch die Vernunft über alle übrigen Lebewesen erhoben. Sie statte ihn mit einer grenzenlosen Lernfähigkeit und einzigartigen Bildsamkeit aus, der den ursprünglichen Mangel bei weitem ausgleiche.

Die bewegende Kraft in der Kindererziehung ist einzig und allein die Liebe, niemals aber die Furcht.

Die Erziehbarkeit des Kindes sei in den ersten Lebensjahren am grössten, in dieser Periode müssten Erziehung und Unterricht ihre Hauptarbeit leisten. Leider seien sich nicht alle Eltern ihrer hohen und verantwortungsvollen Aufgabe bewusst. Der Vater tue gut daran, den Übungen seiner Söhne so oft als möglich beizuwohnen; der bezahlte Lehrer enthebe ihn nicht der Pflicht, die Entwicklung seines Kindes zu überwachen. Die Fehler des Kindes seien im Grunde diejenigen seiner Erzieher. Man möge sich auch hüten, die Kinder zu verwöhnen und zu verzärteln. Die sittliche Erziehung gehe vom persönlichen Vorbild, von Rat und Ermahnung aus. Man müsse den Kindern die Tugend nicht nur predigen, sondern sie auch daran gewöhnen.

Die bewegende Kraft in der Erziehung ist die Liebe

Zwar sei der Mensch bei guter Unterweisung und Übung fähig, alles zu lernen, aber am weitesten werde er dort vorankommen, wohin ihn Gefühl und innerer Drang weisen. Da aber das Kind noch nicht den Wert der Wissenschaften erkennen könne, werde es um des Lehrers willen lernen, darum gelte: «Der erste Schritt zum Lernen ist die Liebe zum Lehrer». Die bewegende Kraft in der Kindererziehung sei einzig und allein die Liebe, niemals aber die Furcht. Jede Gewalttätigkeit hinterlasse bleibenden Schaden in der kindlichen Seele. Für Kinder sei nichts schädlicher, als wenn sie an Schläge gewöhnt werden, wie es bei den mittelalterlichen Schulmethoden üblich war.

«Der erste Schritt beim Lernen ist die Liebe zum Lehrer, und im Verlauf der Zeit wird es gewiss geschehen, dass der Knabe, welcher die Wissenschaften um des Meisters willen zu lieben begonnen hatte, später an dem Meister um der Wissenschaft willen hängt.»

Das Vorbild des Lehrers und das gemeinsame Lernen

Lehrerpersönlichkeit: Das Vorbild wird nicht unwirksam bleiben.

Mit Wort und Tat lehre man die Kinder erkennen, was gross und edel sei; das Vorbild des Lehrers werde nicht unwirksam bleiben. Einfühlendes Verstehen werde den Lehrer davor behüten, das Kind zu überfordern und von ihm Leistungen zu verlangen, die seine Kräfte übersteigen. Er solle die milde Mahnung des Plinius beherzigen: «Bedenke, dass jener ein Jüngling ist, und dass auch du es einmal warst.» Immer möge man sich dem kindlichen Denkvermögen anpassen, das nur durch anschauliche und lebendige Darstellung angesprochen werde. Das Lernen soll ein Spiel sein, dann werde das Kind nicht müde werden, sich unterweisen zu lassen. Fern halte man von den Kindern die «lächerlichen Märchen alter, simpler Weiber» und die «Lügengewebe aus Volkssagen». Anhand einfacher Erzählungen, die sowohl lehrreich als auch gefällig sind, könne man Kindern die wichtigsten Regeln der Grammatik beigebringen.

Colloquien: einfache Erzählungen (Wikipedia)

Für seine Privatschüler schrieb Erasmus die «Colloquien». Sie begannen als informelle Lateinübungen und sind eine Sammlung von rund fünfzig Dialogen über Krieg, Reisen, Religion, Schlaf, Bettler, Beerdigungen und Literatur geworden. Alle waren in dem gleichen anmutigen, einfachen Stil und sanften Humor gehalten, als Übungen und leichte Lektüre in Latein für Generationen von Schülern.

Der höhere Unterricht und der Lehrerberuf

Nach Erasmus sollten für die Ausbildung der Lehrer die weltlichen und geistlichen Obrigkeiten sorgen, die hierfür besondere Anstalten zu errichten hätten. Bis das geschehe, müssten private Lehrer gesucht werden, obwohl das gemeinsame Lernen der Schüler in öffentlichen Schulen den Vorteil habe, gegenseitiges Wetteifern zu ermöglichen. Man schützt die Schwäche und Ungelehrigkeit der Jugend vor, während es doch nur die dürftigen Methoden des Lehrens und Lernens seien, die für die erfolglose Erziehung verantwortlich gemacht werden müssten.

Erasmus fordert einen «gründlich gebildeten und durch langjährige Praxis erprobten Lehrer».

Im Buch «Über die Methode des Studiums» beschreibt Erasmus die Gestaltung des höheren Unterrichts, der von der lateinischen und griechischen Grammatik zur Lesung klassischer Autoren führt. Philosophie, Theologie, Mythologie und Geographie könnten am besten aus den Werken des Altertums gelernt werden, aus denen die Humanisten während zweier Jahrhunderte ein Juwel nach dem anderen zutage förderten. Wer sich dem Lehrerberuf widmen wolle, müsse auch Geschichte, Astronomie und Naturwissenschaften studieren, denn der Unterricht werde ihn auf alle Gegenstände des Wissens führen. Erasmus fordert einen «gründlich gebildeten und durch langjährige Praxis erprobten Lehrer»: «Ich will, dass einer alles durchstudiert, damit nicht jeder einzelne alles durchzustudieren braucht». Er weiss, dass seine Unterrichtsmethode grosse Anstrengungen verlangt, aber er ist nicht geneigt, sie deswegen aufzugeben.

Das Lehrprogramm von Erasmus ist charakteristisch für das Denken im «goldenen Zeitalter» des Humanismus: Hochschätzung der Erziehung, übernationale Geisteshaltung, Bewunderung des geistig schaffenden und schöpferischen Individuums, Liebe zum Kinde und unbegrenztes erzieherisches Ethos.

Lebenslauf

Hier wurde Erasmus 1536 beigesetzt

Erasmus wurde um 1467 in Rotterdam unehelich als Sohn eines Priesters und dessen Haushälterin geboren. 1485 besuchte er mit seinem Bruder die Lateinschule der «Brüder vom gemeinsamen Leben» in Deventer, wo der Humanist Rudolf Agricola sein lebenslanges Vorbild wurde und sein Interesse an der Literatur der klassischen Antike weckte. Nach dem Tode seiner Eltern während einer Pandemie wurde er Regularkanoniker im Augustinerkloster in Gouda und empfing 1492 die Priesterweihe.  Von 1495 bis 1499 studierte er an der Sorbonne in Paris Theologie und unterrichtete Privatschüler. Mit einem Schüler ging er nach England, wo er den Humanisten Thomas Morus und den Gräzisten John Colet sowie den späteren König Heinrich VIII. kennen lernte. Später war er am Hofe von Burgund in Löwen Erzieher (Rat) des späteren Kaisers Karl V. In vielen seiner Werke übte der ehemalige Mönch scharfe Kritik an der katholischen Kirche, der er jedoch zeitlebens verbunden blieb. Seine weit verbreiteten und vielgelesenen Bücher waren Wegbereiter der Reformation. Als Erasmus 1536 in Basel starb, wurde der Katholik im Kreuzgang des reformierten Basler Münsters beigesetzt.

Quellen:

https://en.wikisource.org/wiki/Familiar_Colloquies/Table_of_Contents

Will Durant und Ariel Durant: Kulturgeschichte der Menschheit: Das Zeitalter der Reformation

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Condorcet – ein revolutionärer Paukenschlag für das Bildungswesen Teil 2 https://condorcet.ch/2021/01/condorcet-ein-revolutionaerer-paukenschlag-fuer-das-bildungswesen-teil-2/ https://condorcet.ch/2021/01/condorcet-ein-revolutionaerer-paukenschlag-fuer-das-bildungswesen-teil-2/#comments Wed, 27 Jan 2021 15:18:28 +0000 https://condorcet.ch/?p=7560

Wir publizieren hier den 2. Teil der historischen Würdigung unseres Namensgebers, Jean-Marie de Condorcet. Der 1. Teil wurde am 17. Januar 2021 veröffentlicht (https://condorcet.ch/2021/01/condorcet-ein-revolutionaerer-paukenschlag-fuer-das-bildungswesen/). Peter Aebersold stellt den Leserinnen und Lesern die erstaunlich modernen Gedanken dieses französischen Mathematikers und Aufklärers vor.

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Condorcet: Im Zentrum steht die Ausbildung der Vernunft

Denkschrift 2: Der öffentliche Unterricht für alle Kinder

In seinem Erziehungsplan unterteilt Condorcet den allgemeinen Unterricht – nach der Familienerziehung – in drei Stufen, „um die Mittel zu vereinfachen, mit denen der Unterricht an die Fähigkeiten der Schüler angepasst werden kann“. Der Unterricht der ersten Stufe soll vier Jahre dauern, mit neun Jahren beginnen und bis zum dreizehnten Lebensjahr dauern. Die weiteren zwei Stufen dauern ebenfalls je vier Jahre bis zur Volljährigkeit mit einundzwanzig Jahren. Die Primarschule soll von allen Kindern eines Jahrgangs (Knaben und Mädchen aus allen Schichten) besucht werden und wäre unentgeltlich. Eltern, die ihre Kinder nicht für die häusliche Mitarbeit benötigen, können die Kinder in die stärker berufsorientierte Sekundarschule schicken. Das höhere Schulwesen könnte – mindestens in der Anfangszeit – durch eine nationale Gesellschaft der Wissenschaft und Künste kontrolliert werden, und zwar dahingehend, ob es die politisch-pädagogische Konstruktion der Einheit von Volkssouveränität und schulischen Bedürfnissen der Bürger erfüllt. In der dritten Stufe wird der Unterricht nach Fachlehrern aufgeteilt.

Ein moderner, einfacher und plausibler Aufbau

 

Im Zentrum seiner Überlegungen steht vor allem die Ausbildung der Vernunft in jedem einzelnen Menschen. Weil der Mensch das Vermögen der Vernunft habe, soll es voll ausgebildet werden. Dadurch werde jeder befähigt, als freier Mensch zu handeln, eine der Grundideen des Naturrechts seit den Anfängen:

Auf allen Schulstufen sollen die Prinzipien aufgeklärter Politik und Moral sowie die Grundlagen der Wissenschaften gelehrt, bzw. erforscht und verwirklicht werden. Übungen in klarem Denken, exakter Begriffsbildung und schlüssigem Urteilen beginnen schon in derPrimarschule.“

Zuerst das Basiswissen

Die Primarschule soll ab der ersten Klasse darauf ausgerichtet sein, den zukünftigen Bürgern und Berufsleuten das notwendige Basiswissen zu vermitteln. Dazu gehören für Condorcet grundlegende Kenntnisse der Kulturtechniken, der Landwirtschaft und des Handwerks sowie Aufklärung über gesellschaftliche Ordnungsstrukturen. Ziel sei die Verwirklichung der politischen Gleichheit aller Bürger, wozu die Sicherung des individuellen Wohlergehens und der eigenen Existenz gehöre sowie eine fortschreitende Vervollkommnung des Menschengeschlechts:

In jedem Dorf eine öffentliche Schule

„Der Zweck der ersten Stufe der allgemeinen Erziehung besteht darin, die Allgemeinheit der Bewohner eines Landes in die Lage zu versetzen, ihre Rechte und Pflichten zu kennen, so dass sie die einen ausüben und die anderen erfüllen können, ohne auf irgendeinen fremden Grund zurückgreifen zu müssen. Ausserdem muss dieser erste Grad ausreichen, um sie fähig zu machen, die öffentlichen Aufgaben zu erfüllen, zu denen sinnvollerweise alle Bürger berufen werden können, und die in den letzten territorialen Unterteilungen (Gemeindeebene) ausgeübt werden müssen“.

 Deshalb müsse in jedem Dorf eine öffentliche Schule eingerichtet werden, die von einem oder mehreren Lehrern geleitet wird.

Der Unterricht sollte einfach, kleinschrittig und verständlich sein, vom Einfachen zum Schwierigen führen, an bereits Gelerntes, Bekanntes und Beobachtetes anknüpfen und dem Alter der Kinder angemessen sein.

Unterricht der Elementarbildung

Vom Einfachen zum Schwierigen

Der Unterricht sollte einfach, kleinschrittig und verständlich sein, vom Einfachen zum Schwierigen führen, an bereits Gelerntes, Bekanntes und Beobachtetes anknüpfen und dem Alter der Kinder angemessen sein. Im ersten Jahr werde Lesen und Schreiben und das dezimale Zahlensystem gelernt. Im Lesebuch müsse das Grundwissen vorhanden sein und der Lehrer solle die Wörter und deren Bedeutung erklären. Neben dem Grundwissen würde ab dem ersten Jahr sittlich-moralisches Wissen vermittelt:

„Ein zweiter Teil des Buches würde kurze moralische Geschichten enthalten, die geeignet sind, ihre Aufmerksamkeit auf die ersten Gefühle zu lenken, die sie nach der Ordnung der Natur erleben müssen. Es sollte darauf geachtet werden, jegliche Maximen oder Reflexionen zu vermeiden, denn es geht noch nicht darum, ihnen Verhaltensgrundsätze zu geben oder sie Wahrheiten zu lehren, sondern sie darauf vorzubereiten, über ihre Gefühle nachzudenken und sie auf die moralischen Ideen vorzubereiten, die eines Tages aus diesen Überlegungen entstehen müssen.“

Condorcet betrachtete es als grossen Gewinn für den Charakter der Schüler, wenn ein Lehrer die gleiche Klasse vier Jahre unterrichten würde.

Condorcet betrachtete es als grossen Gewinn für den Charakter der Schüler, wenn ein Lehrer die gleiche Klasse vier Jahre unterrichten würde. Jeder Lehrer müsste deshalb in der Lage sein, den ganzen Kurs zu unterrichten.

Überlegungen zur Methode des Unterrichts und zur Ermutigung im Elternhaus

Condorcet war es wichtig, dass die richtigen Grundlagen gelegt werden, auf denen später aufgebaut werden kann:

„Die Kinder werden nicht trainiert, viel auswendig zu lernen, aber sie werden dazu gebracht, die Geschichte, die Beschreibung, die sie gerade gelesen haben, die Bedeutung eines Wortes, das sie gerade geschrieben haben, wiederzugeben und auf diese Weise werden sie lernen, Ideen zu behalten, was besser ist als das Wiederholen von Worten. Wenn wir dieses Bild des Anfangsunterrichts untersuchen, hoffen wir, den dreifachen Vorteil zu sehen, dass er das notwendigste Wissen enthält, dass er die Intelligenz schult, indem er genaue Vorstellungen vermittelt, dass er das Gedächtnis und das logische Denken trainiert, und dass er es ermöglicht, einem umfangreicheren und vollständigeren Unterricht zu folgen”.

Condorcet wies auf die Ermutigung, als unverzichtbare psychologische Voraussetzung für jeden Schulerfolg hin, was über 100 Jahre später vom Psychologen Alfred Adler bestätigt werden sollte:

Ermutigung ist eine unverzichtbare Voraussetzung

„Aber gerade im Elternhaus sollten die Kinder am meisten zum Lernen ermutigt werden; sie werden das sein, was ihre Eltern wollen. Der Wunsch, von ihnen anerkannt zu werden, von ihnen geliebt zu werden, ist die erste ihrer Leidenschaften; und es wäre ein Frevel an der Natur, eine weitere Ermutigung für die Arbeit zu suchen, einen weiteren Reiz gegen den vorübergehenden Ekel, den sie bei denen hervorruft, für die eine glückliche Leichtigkeit sie nicht zu einem Vergnügen gemacht hat“.

Denkschrift 3: Die allgemeine Ausbildung der Menschen

Condorcet sah den Zweck der allgemeinen Ausbildung in der Vervollkommnung des Menschen:

 „Den Unterricht so zu leiten, dass die Vervollkommnung der Bildung und Fähigkeiten den Lebensgenuss der Allgemeinheit der Bürger erhöht und den Wohlstand derjenigen, die sie betreiben; dass immer mehr Menschen fähig werden, die für die Gesellschaft notwendigen Aufgaben bestens zu erfüllen; dass die stets wachsenden Fortschritte der Aufklärung unerschöpfliche Hilfsquellen zur Befriedigung unserer Bedürfnisse erschliessen, Heilmittel für unsere Leiden bereitstellen und Beiträge zum persönlichen Glück und allgemeinen Gedeihen leisten: in jeder Generation die körperlichen, geistigen und moralischen Fähigkeiten zu pflegen und damit zu der allgemeinen von Stufe zu Stufe fortschreitenden  Vervollkommnung des Menschengeschlechtes beizusteuern, dem letzten Ziel, auf das alle gesellschaftlichen Einrichtungen gerichtet sein sollten; das alles muss ausser dem der Zweck des Unterrichts sein; und darauf zu achten, dass dies so sei, ist eine der öffentlichen Gewalt vom allgemeinen Interesse der Gesellschaft, ja von dem der gesamten Menschheit auferlegte Pflicht“.

Wie jede andere Bildung wird sie sich auf die allgemeinen Bedürfnisse konzentrieren und sich hauptsächlich mit Folgendem befassen: 1. politisches Wissen, 2. Moral, 3. Haus- und Landwirtschaft, 4. die Teile der Wissenschaft und Kunst, die von allgemeinem Nutzen sein können, 5. körperliche und moralische Erziehung. Der Unterricht dieser verschiedenen Fächer muss auf den in der Erstausbildung erworbenen Kenntnissen aufgebaut werden.

Politische Bildung darf sich nicht auf das Wissen über die bestehenden Gesetze beschränken, sondern muss sich auf die der Prinzipien und Gründe der vorgeschlagenen Gesetze erstrecken. Der Zweck der moralischen Unterweisung muss sein, tugendhafte Gewohnheiten zu stärken und andere zu verhindern oder zu zerstören. Das Wissen über die Lernmöglichkeiten mittels Bücher muss Teil des Unterrichts sein. Für diesen Unterricht notwendige Bücher sind: 1. elementare Bücher, als Grundlage für die Ausbildung der Schüler, 2. historische Bücher, 3. Wörterbücher, Zeitungen, Almanache. Es ist notwendig, die Mittel der Selbstbildung durch Beobachtung und vor allem durch Übungen zur Wetterbeobachtung zu lehren.

Condorcet teilt die Berufsbildung auf in Berufe der Privatwirtschaft, die gewinnbringend, und diejenigen der öffentlichen Hand, die gemeinwohlorientiert sein sollten.

Denkschrift 4: Die duale Berufsausbildung

Auf die Elementarbildung bauen die weiterführenden Sekundarschulen und Lyzeen auf. Dadurch soll jeder die Chance zu einer beruflichen Ausbildung bekommen, die seinen natürlichen Anlagen und Neigungen entspricht. Condorcet teilt die Berufsbildung auf in Berufe der Privatwirtschaft, die gewinnbringend, und diejenigen der öffentlichen Hand, die gemeinwohlorientiert sein sollten.

“In einem Land, in dem die Berufsausbildung blüht, sind die Armen besser untergebracht, besser beschlagen, besser gekleidet als in solchen Ländern, in denen sie noch in den Anfängen steckt.“

Eine berufsbegleitende Ausbildung aller Schichten, würde den allgemeinen Wohlstand erhöhen:

„Wir müssen versuchen, andere zu verbessern, um für die Allgemeinheit der Individuen den Genuss und das Wohlbefinden zu erhöhen, dass ihnen die Arbeit dieser Berufe bringt, und einen Teil dieses Wohlbefindens auf die arme Klasse selbst auszudehnen. In einem Land, in dem die Berufsausbildung blüht, sind die Armen besser untergebracht, besser beschlagen, besser gekleidet als in solchen Ländern, in denen sie noch in den Anfängen steckt.“

In der Bildung, vor allem der in den Städten wohnenden Arbeiter, sieht er einen zusätzlichen, zu wenig beachteten, politischen Nutzen:

„Indem man die Aufklärung unter den Menschen verbreitet, kann man verhindern, dass ihre Bewegungen gefährlich werden; und bis zu dem Augenblick, in dem sie aufgeklärt werden können, ist es eine Pflicht für diejenigen, die einen starken Verstand, eine mutige Seele erhalten haben, sie vor Illusionen zu schützen, ihnen die Fallen zu zeigen, die ihre leichtgläubige Einfalt ständig umhüllen“.

Für die gemeinwohlorientierten Berufe, zu denen er jene der Gesundheit, Bildung, Sicherheit (Militärwissenschaft), des öffentlichen Bauwesens und der Künste zählte, sah er eine zusätzliche geisteswissenschaftliche und ethisch-moralische Bildung vor:

„Die Motive für die Bildung öffentlicher Bildungseinrichtungen für die verschiedenen Berufe sind für diese beiden Klassen nicht die gleichen. Bei Berufen, die als öffentlich angesehen werden können, sollte vor allem der Vorteil erwogen werden, sie aufgeklärteren Menschen anzuvertrauen.“  

Denkschrift 5: Die naturwissenschaftliche Ausbildung

Der naturwissenschaftliche Unterricht ist eine wichtige Voraussetzung für die Mündigkeit

 Zur öffentlichen Bildung zählt Condorcet auch die naturwissenschaftliche Ausbildung. Ihr fällt eine für das Gemeinwohl besonders wichtige Aufgabe zu:

 „Dieser letzte Teil der öffentlichen Erziehung ist für diejenigen bestimmt, die dazu berufen sind, die Masse der Wahrheiten durch Beobachtung oder Entdeckung zu vermehren, um aus der Ferne das Glück künftiger Generationen vorzubereiten; es ist auch notwendig, die Lehrer auszubilden, die den Anstalten beigegeben werden müssen, in denen die allgemeine Bildung vervollständigt wird und denjenigen, in denen man sich auf Berufe vorbereitet, die umfangreiches Wissen erfordern.“

„Die Bücher, die für diesen Unterricht bestimmt sind, müssen von den Lehrern angefertigt oder ausgewählt werden, und zwar in selbständiger Weise.”

Condorcet weist auf die Notwendigkeit der Freiheit der Wissenschaften und der Unabhängigkeit von der Politik hin, damit der Fortschritt der Aufklärung nicht aufgehalten wird:

„Die Bücher, die für diesen Unterricht bestimmt sind, müssen von den Lehrern angefertigt oder ausgewählt werden, und zwar in selbständiger Weise; diese Bücher sind nicht, wie die Elementarbücher des gemeinen Unterrichts, dazu bestimmt, nur vermittelte Dinge zu enthalten; sie sind nicht darauf beschränkt, das zu lehren, was für einen bestimmten Beruf für nützlich gehalten wird. Es wäre eine Gefahr für die Freiheit, wenn die öffentliche Gewalt den geringsten Einfluss auf diese Arbeit bekäme; es wäre für den Fortschritt der Aufklärung zu befürchten, dass die Akademien den Geist des Systems in sie einführen würden“.

Die Befreiung der Wissenschaft von den Autoritätsketten ist für ihn die Voraussetzung der Freiheit:

„Die Lehre von der Metaphysik, von der Kunst des Argumentierens, von den verschiedenen Zweigen der politischen Wissenschaft, muss als völlig neu betrachtet werden. Zuallererst muss sie von allen Autoritätsketten, von allen religiösen oder politischen Bindungen befreit werden. Man muss es wagen, alles zu untersuchen, alles zu diskutieren, sogar alles zu lehren.“

Der Geschichtsunterricht erfordert gemäss Condorcet besondere Aufmerksamkeit, weil die bisherige Geschichte von Interessen geleitet war:

Geschichtsunterricht hat eine besondere Bedeutung

„Dieses weite Feld moralischer Beobachtungen, die in grosser Tiefe gemacht wurden, kann eine reiche Ernte nützlicher Wahrheiten bieten; aber fast alles, was in der Geschichte existiert, würde eher dazu geeignet sein, die Geister zu verführen als sie zu erleuchten. Wir brauchen daher eine neue Geschichte, vor allem die der Menschenrechte, der Wechselfälle, denen die Kenntnis und der Genuss dieser Rechte überall unterworfen waren; eine Geschichte, in der wir, den Wohlstand und die Weisheit der Nationen an dieser einzigartigen Grundlage messend, den Fortschritt und den Verfall der sozialen Ungleichheit verfolgen, der fast einzigartigen Quelle der Güter und Übel des zivilisierten Menschen“.

Die Auswahl der Lehrer hat einen entscheidenden Einfluss auf Freiheit der Lehre:

„Aber es ist in gewisser Weise noch wichtiger, dass die Ernennung derjenigen, deren Lehre auf den Fortschritt der Wissenschaft gerichtet ist, unabhängig von der öffentlichen Autorität sein sollte, um ihr die Mittel zu entziehen, die Wahrheiten, die sie vielleicht zu fürchten hat, in ihrer Wiege zu ersticken. Im Allgemeinen ist jede Macht, welcher Art auch immer, in welche Hände sie gegeben wurde, auf welche Weise sie auch immer verliehen wurde, natürlich ein Feind der Aufklärung.“

Condorcet sieht die gelehrten Gesellschaften als Beschleuniger der Kommunikation und als Besitzstandswahrer der Aufklärung:

„Diese Unternehmen werden für einen viel längeren Zeitraum aus einem viel wichtigeren Gesichtspunkt heraus nützlich sein. Mittels ihrer Memoiren, die periodisch veröffentlicht werden, können alle Entdeckungen, Beobachtungen, Expeditionen und sogar einfache Ansichten und Forschungsprojekte verbreitet und bewahrt werden“.

Für Condorcet sind die Naturwissenschaften, indem sie die Vervollkommnung der menschlichen Gattung vorantreiben, im Unterschied zur allgemeinen Erziehung, Wegbereiter für kommende Generationen:

„Während der Rest der Erziehung ihn lehren würde, aus dem erworbenen Wissen Nutzen zu ziehen, ihn fähiger machen würde, über sein Wohlergehen zu wachen oder seine Pflichten zu erfüllen, Frieden und Tugenden über die Gesellschaft zu verbreiten, ihre Freuden zu vervielfachen, würde sie grösseren Nutzen für die Generationen vorbereiten, die noch nicht existieren, und die Auswirkungen verhindern, die weit von den Ursachen entfernt sind, die diejenigen zu zerstören drohen, die wir hoffen können, an sie weiterzugeben“.

„Die eine wird dem Vaterlande Bürger geben, die der Freiheit würdig sind, die andere muss die Freiheit selbst verteidigen und vervollkommnen; die eine wird die Intriganten daran hindern, ihre Zeitgenossen zu Instrumenten oder Komplizen ihrer Pläne zu machen, die andere wird künftige Völker davor bewahren, dass neue Vorurteile dem Menschen seine Unabhängigkeit und Würde wieder nehmen“. 

Condorcets Fazit

Condorcet betrachtete seine Ideen über die öffentliche Bildung als Utopien, die erst in einer unbestimmten Zukunft wahr werden sollten, und zwar für eine Welt, in der er nicht mehr existieren würde. Als sie dann in der Verfassung der ersten Republik auftauchten, war er völlig überrascht:

“Keinen mehr über ihnen zu haben, zu spüren, dass ihre Kräfte, ihr Fleiss, ihre Ideen, ihr Wille nur ihnen selbst gehören.”

„Ein glückliches Ereignis eröffnete den Hoffnungen des Menschengeschlechts plötzlich einen Sprung vorwärts; ein einziger Augenblick legte eine Jahrhundertdistanz zwischen den Menschen von heute und den Menschen von morgen zurück. Sklaven, ausgebildet für den Dienst oder das Vergnügen eines Herren, wachten erstaunt auf: Keinen mehr über ihnen zu haben, zu spüren, dass ihre Kräfte, ihr Fleiss, ihre Ideen, ihr Wille nur ihnen selbst gehören. In einer Zeit der Dunkelheit hätte dieses Erwachen nur einen Augenblick gedauert: müde von ihrer Unabhängigkeit, hätten sie in neuen Eisen einen schmerzhaften und qualvollen Schlaf gesucht; in einem Jahrhundert der Aufklärung wird dieses Erwachen ewig sein. Die einzige Inspirationsquelle für die freien Völker, die Wahrheit, deren Diener die Gelehrten sind, wird ihre süsse und unwiderstehliche Kraft über das ganze Universum verbreiten; durch sie werden alle Menschen lernen, was sie für ihr Glück brauchen, und sie werden nur das Gemeinwohl aller wollen. Es ist nicht der Thron eines Dichters, den sie stürzt, es ist der Thron des Irrtums und der freiwilligen Knechtschaft; es ist nicht ein Volk, das seine Fesseln gesprengt hat, es sind die Freunde der Vernunft unter allen Völkern, die einen grossen Sieg errungen haben, ein sicheres Vorzeichen des allgemeinen Triumphes.“

Quelle:

Condorcet: Cinq mémoires sur l’instruction publique 1791 http://classiques.uqac.ca/classiques/condorcet/cinq_memoires_instruction/cinq_memoires.html

 

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Die Tragik von Condorcet: Als Philosoph brillant, als Realpolitiker gescheitert https://condorcet.ch/2020/09/die-tragik-von-condorcet-als-philosoph-brillant-als-realpolitiker-gescheitert/ https://condorcet.ch/2020/09/die-tragik-von-condorcet-als-philosoph-brillant-als-realpolitiker-gescheitert/#respond Wed, 30 Sep 2020 08:36:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=6522

In Zeiten der unerbittlichen politischen Kämpfe mit all ihren Diffamierungen und Ausgrenzungen lohnt es sich, ab und zu wieder auf unseren Namensgeber Jean-Marie Caritat de Condorcet und dessen Vermächtnis hinzuweisen. Bettina Rommel hat für das Metzler Philosophen-Lexikon ein kurzes Porträt geschrieben. Erstaunlich, dass Frau Rommel mit keinem Wort auf Spohie de Condorcet eingeht, die einen grossen Einfluss auf das Denken Ihres Ehemannes hatte. Interessant ist hingegen ihre Intepretation des Wirkens von Condorcet. Sie erklärt, weshalb die Galionsfigur der frühliberalistischen Kräfte als Realpolitiker gescheitert ist.

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Sein Tod war unwürdig. Doch als gälte es, das Ende zu überhöhen, haben die Biographen dem fünfzigjährigen Mann, der am Morgen des 28. März 1794 im Gefängnis von Bourg-la-Reine tot aufgefunden wurde, im Nachhinein den Schierlingsbecher in die Hand gedrückt. »Sie sagten: Wähle! Was willst du sein – Unterdrücker oder Opfer? Darauf umarmte ich das Unglück und ließ ihnen das Verbrechen.« – unter diesem Motto hat vor allem die nachrevolutionäre Propaganda den Reformer des Ancien Régime als Opfer der Terreur heroisiert. Und das Gerücht des Philosophentodes im eigenen Interesse genutzt. Denn C. nahm kein Gift. Dieser Denker, der, obwohl schon vogelfrei, furchtlos und ungebrochen in seiner letzten Schrift, Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1795; Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes), noch einmal den Erkenntnisoptimismus des Aufklärers aufbietet und dem Tribunal der Revolutionäre sein reformerisches Credo an »die Vervollkommnung der Menschen« entgegenschleudert, starb, nervlich erschöpft, nach einem monatelangen Leben im Untergrund, aus Entkräftung, Aufregung, Verzweiflung – nur wenige Tage, nachdem er, aus Angst vor Entdeckung, sein Pariser Versteck verlassen hatte und kurz darauf als verdächtig in dem südlich der Stadt gelegenen Marktflecken gefangengesetzt worden war.

Condorcet erweist sich in der Praxis eher als vernunftgeleiteter Aufklärer denn als taktisch geschickter Politiker.

Condorcet: Eher vernünftiger Aufklärer als taktischer Politiker

Das grauenvolle Ende des letzten Enzyklopädisten entbehrt jedoch nicht ganz der Folgerichtigkeit. Denn Condorcet, dessen intellektuelle Entwicklung von der zunehmenden Politisierung der Aufklärung bestimmt wird und dessen Lebensgeschichte sich wie ein Reflex auf jenen Vorgang ausnimmt, erweist sich in der Praxis eher als vernunftgeleiteter Aufklärer denn als taktisch geschickter Politiker. Seine praktisch-politischen Aktivitäten (als Inspektor Turgots 1774 und 1775, als Mitglied der Legislative 1791 und im Jahr darauf als Abgeordneter des Nationalkonvents) und ebenso sein publizistisches Engagement – für eine Rationalisierung des Strafrechts, für die bürgerliche Gleichstellung der Protestanten und die Befreiung von Fron und Sklaverei –, sie widerlegen de facto das Bild von der Aufklärung als rein kulturellem Prozeß. Doch wird Condorcet, der sich gerade auch als Politiker eher der analytischen Kraft der Vernunft als einer Parteiräson verpflichtet weiß, von der Dynamik der revolutionären Ereignisse seit 1789 überholt.

Eine Bilanz des Scheiterns

Condorcet: Stimmte gegen die Hinrichtung des Königs

Es bleibt die Bilanz seines realpolitischen Mißerfolgs: Sämtliche seiner Projekte scheitern. Entweder sind sie, wie die Reform des Schulwesens, die er 1792 der Gesetzgebenden Versammlung vorträgt, in der aktuellen Krisensituation – Kriegserklärung gegen Österreich, Sturm auf die Tuilerien, Gefangennahme der königlichen Familie – praktisch nicht durchführbar, oder sie gewinnen, wie der Verfassungsentwurf von 1793, keine Mehrheit mehr. Gegen Ende seines Lebens hat nicht nur der Reformer jeglichen Rückhalt verloren. Von seinen Standesgenossen, aber auch von den oft königstreuen Vertretern der zeitgenössischen Kulturelite als Abgeordneter eines Konvents stigmatisiert, der das Todesurteil über Ludwig XVI. fällt, zieht Condorcet als einer der Wortführer der Gironde und damit als eine Galionsfigur der frühliberalistischen Kräfte, die sich erstmals unter der Ersten Republik gegen die Vertreter einer plebiszitären Volksherrschaft formieren, die Haßtiraden der Jakobiner auf sich. Nicht ohne Grund, denn gerade die Isolation scheint Condorcet in seiner Leitvorstellung der Vernunftmäßigkeit nur zu bestärken. Noch die Schriften aus dem Untergrund, in denen die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses unter Robespierre angeprangert wird, zeigen, daß Condorcet das politische Handeln grundsätzlich an den bürger- und menschenrechtlichen Maßstäben der Aufklärung bemißt. Justizterror, Massenliquidierung und Bürgerkrieg sind selbst unter der Bedingung des Staatsnotstandes nicht zu legitimieren. »Das Wort Revolution«, so definiert der Freund Thomas Paines und Lafayettes, »trifft nur auf Umwälzungen zu, welche die Freiheit bezwecken«.

Kaum daß die Konstituante die Menschenrechte verkündet, spricht er sich für ein allgemeines Wahlrecht und die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht (Sur l’admission des femmes au droit de cité; 1790) aus.

Fest in seinen Überzeugungen und mutig, als es gefährlich wurde

»Es gab niemanden, der fester in seinen Überzeugungen, niemand, der beständiger in seinen Gefühlen war«, so charakterisiert Amélie Suard ihren Jugendfreund. In der Tat zeichnet sich Condorcet – der noch als Proskribierter von sich behauptet: »Ich werde mich niemals dazu erniedrigen, meine Grundsätze und mein Verhalten zu rechtfertigen« – durch ins Unerbittliche reichende Unbeugsamkeit aus, wenn es um die Verteidigung des von ihm als richtig Erkannten geht. Ein um so unbequemerer Charakterzug, als sich Condorcet entsprechend hartnäckig für eine konsequente Verwirklichung von Grundsätzen einsetzt: Kaum daß die Konstituante die Menschenrechte verkündet, spricht er sich für ein allgemeines Wahlrecht und die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht (Sur l’admission des femmes au droit de cité; 1790) aus.

Voltaire: Sie werden der Mann sein, den Frankreich am dringendsten braucht

Mathematik statt Waffendienst

Mathematisch ausserordentlich begabt

Unbeugsamkeit stellt bereits der Neunzehnjährige unter Beweis, der radikal mit Erwartung und standesgemäßer Tradition seiner Familie bricht. Die Wahl eines Mathematikstudiums, das der Neigung des durch sein logisch-abstraktes Denkvermögen früh ausgezeichneten Jesuitenzöglings entspricht, ist für die seit Generationen im Waffendienst stehenden Caritats eine unverzeihliche Entscheidung. In Paris, »der Heimat des wahrhaften Philosophen«, kann der Protestler aus dem Schwertadel dann freilich seine Hochbegabung im Kreis der »Académiciens« entfalten; 1765 macht er mit einem Essay

D’Alembert entdeckte den jungen Condorcet

über Integralrechnung (Du calcul intégral) d’Alembert auf sich aufmerksam, der fortan Condorcets wissenschaftliche Karriere in die Hand nimmt, während die Muse der Enzyklopädie, Mademoiselle de Lespinasse, für den gesellschaftlichen Schliff ihres zeitweiligen Privatsekretärs sorgt und dem recht frei aufgewachsenen Marquis aus der Provinz rät, »das Nägelkauen zu lassen und sich die Ohren zu putzen«. Rasch im Zentrum der überständisch-weltläufigen Elite der Pariser »sociéte des gens de lettres«, die den bescheiden lebenden jungen Wissenschaftler als Muster aufklärerischer Lebensführung und gleichsam Prototyp eines »neuen Adels« feiert, lernt Condorcet die Vertreter der Aufklärung kennen, die seinem Einsatz »für die guten Prinzipien« die entscheidende Wende geben. Neben Holbach, Raynal, Hume, Galiani, Beccaria, die er im Salon des Baron Helvétius trifft, und Voltaire – der ihm prophezeit, »Sie werden der Mann, den Frankreich am dringendsten braucht« –, ist es vor allem der Physiokrat Turgot, der den, was den Wappenspruch seiner Familie (caritas!) anbelangt, ohnehin in die Pflicht genommenen Aristokraten zur Auseinandersetzung mit den aktuellen Mißständen des Ancien Régime anregt.

Eine Wirtschafts- und Sozialreform sowie die Neuorganisation der Verwaltung kann sich nur mit Hilfe einer »Regierungskunst« verwirklichen lassen, die den Regeln wissenschaftlicher Vernunft folgt.

Finanzminister Turgot nahm Condorcet in seinen Stab

Während der knapp sechzehn Monate des Reformministeriums von Turgot wird Condorcet fachgerecht mit der Berechnung eines erweiterten Kanalnetzes für die Binnenschiffahrt betraut; er gewinnt auf seinen Inspektionsreisen vor Ort unmittelbar Einsicht in die handels- und verkehrspolitischen Schwierigkeiten des Landes. Fazit seiner Erfahrungen ist die Überlegung, daß sich eine Wirtschafts- und Sozialreform sowie die Neuorganisation der Verwaltung nur mit Hilfe einer »Regierungskunst« verwirklichen lassen, die den Regeln wissenschaftlicher Vernunft folgt. Pilotfunktion für die Rationalisierung der Politik, und das bedeutet für Condorcet die planvolle Beseitigung »der irrationalen Strukturen des Ancien Régime«, übernimmt eine Theorie der Staatskunst, die sich methodisch an den exakten Naturwissenschaften orientiert.

Mathematik als geeignetes Instrumentarium

Damit setzt Condorcet seine schon in den 70er Jahren begonnenen mathematischen Untersuchungen fort, die sich insbesondere mit den methodologischen Prämissen einer umfassenden Anwendung der Statistik befaßten. Er glaubt im Instrumentarium der angewandten Mathematik, vorab einer »Übertragung des Wahrscheinlichkeitskalküls auf die Politik und Sittenlehre« (Essai sur l’application de l’analyse aux probabilités des décisions rendues à la pluralité des voix; 1785), das probate Mittel zu erkennen, den seit 1784 beschleunigten Umwälzungsprozeß gesellschaftlicher Planung zugänglich zu machen. In seiner allgemeinen Darstellung dieser neuen Wissenschaft (Tableau général de la science, qui a pour objet l’application du calcul aux sciences morales et politiques, 1793), die u. a. ein umfassendes Versicherungswesen vorsieht, prägt Condorcet für die von ihm projektierte Sozialtechnologie den Begriff der »mathématique sociale«. Ihre Anwendung, und hier enthüllt Condorcet den optimistischen Grund seines Vernunftglaubens, soll »Willkür vermeiden, die Rechte und Ruhe der Individuen sichern und den Frieden und die Wohlfahrt der Nationen verbürgen«.

Wie lässt sich das Verhältnis von Staat und Bevölkerung vernünftig regeln?

Condorcets »Theorie der Staatskunst« vollzieht einen entscheidenden Bruch mit der tradierten Staatstheorie: An die Stelle der Frage nach der Legitimität der Macht tritt in seinem Denken die Frage, wie sich das Verhältnis von Staat und Bevölkerung vernünftig regeln läßt von einer Regierung, die sich unter dem Vorsatz des Gemeinwohls um ein ausgewogenes soziales Kräfteverhältnis kümmert. Wissen und Wissenschaft werden demzufolge die wichtigsten Garanten einer Führungsmacht, die planerische Kapazität und prognostische Kompetenz als Mittel des Regierens einsetzt.

Condorcet sieht in einem freien und allgemeinen Bildungswesen ein vorrangiges Ziel der gesellschaftlichen Neuorganisation, weil »eine freie Verfassung, die nicht mit der allgemeinen Bildung der Bürger einhergeht, sich selbst zerstört.

Condorcet, der in einem freien und allgemeinen Bildungswesen ein vorrangiges Ziel der gesellschaftlichen Neuorganisation erkennt, weil »eine freie Verfassung, die nicht mit der allgemeinen Bildung der Bürger einhergeht, sich selbst zerstört«, bemißt dementsprechend in der Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain von 1795 die »Fortschritte des menschlichen Geistes« auch an einer allgemeinen umfassenden Alphabetisierung. Hierin ist Condorcet Schüler d’Alemberts und der Enzyklopädie, markieren doch die Beherrschung der primären Kulturtechniken und die Erfindung des Buchdrucks ihm zufolge die entscheidenden Schritte der Akkulturation und damit Voraussetzung der Regierbarkeit.

Heroische Selbsttäuschung?

Folgerichtig haben daher die Reformer der Dritten Republik Condorcets Entwürfe als Vorgriff der eigenen politischen Vorhaben gewürdigt und in dem Aufklärer, der »die Menschen an die Vernunft anketten« wollte, vor allem einen Sozialtechniker rehabilitiert. Dennoch fragt man sich, ob Condorcet in seiner letzten Schrift – ein Manifest für den Fortschritt und zugleich Rechtfertigung wie Legat seines Denkens – nicht einer heroischen Selbsttäuschung unterliegt. Im Versteck geschrieben, scheint sich der Proskribierte mit dem Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes das Bild eines »von allen Ketten befreiten Menschengeschlechts, das sicher und tüchtig auf dem Wege der Wahrheit, der Tugend und des Glücks vorwärtsschreitet«, geradezu vor die Augen gezaubert zu haben: »ein Schauspiel, das ihn über die Irrtümer, die Verbrechen, die Ungerechtigkeiten tröstet, welche die Erde noch immer entstellen und denen er selber so oft zum Opfer fällt! Seine Betrachtung ist ihm eine Stätte der Zuflucht, wohin ihn die Erinnerung an seine Verfolger nicht begleiten kann; dort ist er wahrhaft zusammen mit seinesgleichen in einem Elysium, das seine Vernunft sich zu erschaffen wußte und das seine Liebe zur Menschheit mit den reinsten Freuden verklärt.« Die Mutter dieses Philosophen, die sehr fromme Tochter eines königlichen Schatzmeisters, hatte ihr Kind der Jungfrau Maria geweih

Bettina Rommel

 

Literatur:
Chandeler, Jean Pierre: Les interprétations de Condorcet. Symboles et concepts (1794–1894). Oxford 2000.

Crépel, Pierre (Hg.): Condorcet. Mathématicien, économiste, philosophe, homme politique. Paris 1989.

Baker, Keith Michael: Condorcet. From Natural Philosophy to Social Mathematics. Chicago/London 1975.

Reichardt, Rolf: Reform und Revolution bei Condorcet. Bonn 1973.

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Zitat der Woche: Moses Mendelssohn 1777 https://condorcet.ch/2019/07/zitat-der-woche-moses-mendelsohn-1777/ https://condorcet.ch/2019/07/zitat-der-woche-moses-mendelsohn-1777/#respond Sun, 14 Jul 2019 11:08:29 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1604

Moses Mendelssohn (1729-1786) gilt als die Schlüsselfigur der jüdischen Aufklärung in Europa. Als Philosoph und liberaler Vordenker genoss er hohes Ansehen auch bei den nichtjüdischen intellektuellen Eliten seiner Zeit, und er bemühte sich als einer der ersten überhaupt um einen offenen Dialog zwischen Vertretern des Christentums und des Judentums. Das Zitat stammt aus dem Jahr 1777. Die Leserinnen und Leser des Condorcet-Blogs werden unschwer erkennen, welche Aktualität dieses Zitat in einer Zeit der Vereinheitlichungsbestrebungen und Standardisierung hat!

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Moses Mendelssohn (1729-1786)

 

«Ich halte dafür, Einheit von Einerleiheit wohl zu unterscheiden. Diese hebt den Unterschied des Mannigfaltigen auf, jene bringt es in Verbindung. Das Einerlei steht dem Mannigfaltigen entgegen, die Einheit aber ist desto grösser, je mehr Mannigfaltiges und je inniger es verknüpft ist. Wenn diese Verknüpfung des Mannigfaltigen harmonisch geschieht, so geht die Einheit in Vollkommenheit über, mit welcher sich das Einerlei gar nicht verträgt. In der vollkommensten Einheit ist eine unendliche Mannigfaltigkeit auf das wesentlichst Unzertrennlichste höchst übereinstimmend verknüpft und also der höchste Grad der Vollkommenheit.»

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Warum Condorcet? https://condorcet.ch/2019/05/warum-condorcet/ https://condorcet.ch/2019/05/warum-condorcet/#respond Fri, 17 May 2019 14:55:23 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1046

Viel Zeit musste die Spurgruppe für die Namensfindung aufwenden. Nach intensiven Diskussionen erhielt schliesslich der Name "Condorcet - Bildungsperspektiven" den Zuschlag. Die Redaktion erklärt.

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Campus Condorcet, Auberviliers, Fr

Warum Condorcet?

Eine starke Minderheit der Spurgruppe, welche diesen Blog realisierte, war der Meinung, dass der Name Condorcet im deutschsprachigen Raum zu wenig bekannt sei. Er sei daher als Titel für diesen Blog ungeeignet. Es gab aber auch viele prominente Stimmen, die dieses Ansinnen unterstützten. Für Andreas Gross, ehemaliger SP-Nationalrat und Autor in diesem Blog, war diese Namensgebung eine Bedingung, bei uns mitzumachen. Professor Oelkers ist überzeugt: Ohne ihn gäbe es das heutige Schulsystem nicht. Und auch Georg Geiger, Autor in diesem Blog, war überzeugt: «Dieser Name passt!»

Dieter Thomä, Philosophieprofessor  an der Uni St.Gallen,  schrieb in der NZZ (24.8.2010): «Der Ideenhistoriker Isaiah Berlin scheute ausnahmsweise das Pathos nicht, als die Rede auf den Marquis de Condorcet kam; er nannte ihn «einen der besten Menschen, die je lebten». – Was war das für ein Mann! Er verkehrte in Pariser Salons, in denen schon zu seinen Lebzeiten eine Büste von ihm aufgestellt war; er entwickelte im Gespräch mit Thomas Jefferson die Idealform der Republik; er bildete mit seiner Frau Sophie ein power couple, das sich für Menschen- und Frauenrechte einsetzte; er kämpfte für die Revolution, die ihm am Ende nach dem Leben trachtete; er schrieb 1793/94, vor den Jakobinern versteckt, den «Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes», der ihn berühmt machen sollte; er hinterliess seiner Tochter, die bei seinem Tod 1794 drei Jahre alt war, eine Sammlung von «Ratschlägen», die zum bewegendsten gehört, was je ein Vater an seine Tochter geschrieben hat.».

Was aber macht diesen Mann so aktuell, dass wir einen Blog nach ihm benennen sollten? Der emer. Genfer Pädagogikprofessor Bernard Schneuwly wird an unserem Startevent am 18. Mai eine Antwort auf diese Frage geben: Sein Thema: “Die Bedeutung von Condorcet im Zeitalter einer ökonomisierten Bildungspolitik.” Sein Referat wird am Montag auf diesem Blog veröffentlicht!

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