Vermessung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 28 Apr 2024 10:44:59 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Vermessung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Repost: Sind Noten in der Schule notwendig? https://condorcet.ch/2024/04/repost-sind-noten-in-der-schule-notwendig/ https://condorcet.ch/2024/04/repost-sind-noten-in-der-schule-notwendig/#comments Fri, 26 Apr 2024 09:31:37 +0000 https://condorcet.ch/2024/04/sind-noten-in-der-schule-notwendig-copy/

Die Notendebatte scheint die Deutschschweiz zu bewegen. Nicht der grassierende Lehrkräftemangel, nicht die PISA-Leistungen, nicht die Probleme, die sich durch eine undurchdachte Inklusion ergeben, nein, offensichtlich scheinen die Schulnoten nun das fundamentale Problem unseres Bildungssystems darzustellen. In dieser erregten Debatte haben wir uns dazu entschlossen, einen älteren Artikel aus dem Jahr 2022 noch einmal zu veröffentlichen. Kein Geringener als der emer. Professor Juergen Oelkers legt in seinem Beitrag den aktuellen Forschungsstand dar und erklärt die Vor- und Nachteile der "Ziffernbeurteilung". Sein Fazit: Noten werden weiterhin eine zentrale Rolle spielen, können aber verbessert werden.

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Juergen Oelkers, em. Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich: Unter den Schülerinnen und Schülern sind vergleichend benotete Leistungsunterschiede meist gar nicht strittig.

Zeugnisse und Noten stehen in der Kritik und mehr noch, sie gelten als gefährlich und werden als überflüssig hingestellt. Sie werden sozusagen benotet, meistens mit folgenden Argumenten: Noten sind unpräzise, ihr Zustandekommen ist intransparent, sie wirken als eine Art Schicksal, sind vor allem ein Machtfaktor und sicher kein Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit.

Das „starre Ziffernotensystem” ist der Lieblingsfeind vieler Schulreformer. „Motivieren ohne Noten” war schon vor 25 Jahren ein immer wieder vorgebrachtes Stichwort der Schulkritik (Olechowski/Rieder 1990). Unterstellt wurde, dass die Schülerinnen und Schüler besser lernen, wenn sie nicht durch Noten geleitet werden und den eigenen Lernweg bestimmen können.

Motivieren mit Noten ist die vermutlich meist verbreitete Motivationspraxis in der Schulwirklichkeit, aber die wird als anrüchig hingestellt, da sie dem Ideal des „intrinsischen” Lernens widerspricht. Aber man lernt auch, wenn man motivationale Widerstände überwinden muss und man stelle sich vor, wohin man käme, wenn alles Lernen in der Schule von der Zustimmung intrinsischer Motivation abhängig wäre.

Noten als positive Anreize sind auch deswegen suspekt, weil sie eine Hierarchie voraussetzen. Nur wenige Schüler können Bestnoten erreichen und das, so die Kritik, fordert die anderen nicht etwa heraus, sondern schreckt sie ab und hindert sie am Lernen. Es soll, mit anderen Worten, keinen Wettbewerb geben und niemand soll mit anderen verglichen werden. Das bekanntlich schon Jean-​Jacques Rousseau 1762 in seinem Erziehungsroman Emile ou de l’éducation postuliert.

Schüler können damit umgehen.

Es ist danach immer wieder versucht worden, Alternativen zu der Notenskala zu entwickeln. Radikale Entwürfe gehen davon aus, dass nur die Lernfortschritte des einzelnen Schülers beschrieben werden können und sich ein Vergleich in der Lerngruppe verbietet, weil der ohnehin nicht objektiv sein kann und zudem die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden ignoriert.

Zudem zeigt die Forschung, dass die Urteile der Lehrpersonen im Blick auf ihre Klasse im Allgemeinen verlässlich sind (Weinert 2001).

Noten setzen die Klassennorm voraus und basieren so auf einem Vergleich der Leistungen mit anderen. Diese Beschreibung hat sich bewährt, sie ist ökonomisch und vergleichsweise leicht zu handhaben. Zudem zeigt die Forschung, dass die Urteile der Lehrpersonen im Blick auf ihre Klasse im Allgemeinen verlässlich sind (Weinert 2001). Die Kritik bemängelt allerdings die fehlenden Bezugsnormen (Fischer 2012, S. 50).

Ein Bewertung ist willkürlich, wenn sie die Aufgaben und Leistungen mit verschiedenen Massstäben interpretiert, einzelne Schüler gegenüber anderen bevorzugt, ohne Kriterien erfolgt oder unfaire Massstäbe anwendet, also mehr oder anderes erwartet, als gelernt werden konnte.

Aber ist die gestufte und vergleichende Beurteilung ungerecht? Die Antwort lautet ja, wenn die Bewertungen willkürlich erfolgen würden. Ein Bewertung ist willkürlich, wenn sie die Aufgaben und Leistungen mit verschiedenen Massstäben interpretiert, einzelne Schüler gegenüber anderen bevorzugt, ohne Kriterien erfolgt oder unfaire Massstäbe anwendet, also mehr oder anderes erwartet, als gelernt werden konnte.

Der Grundsatz ist, dass nur das geprüft werden darf, was unterrichtet worden ist und so gelernt werden konnte. Wenn dieser Grundsatz verletzt wird, ist das ungerecht. Wenn ein Schüler schlecht beurteilt wird oder nicht die Note erreicht, die er erreichen wollte, ist das nicht ungerecht, sofern die Kriterien der Benotung klar waren und keine Bevorzugung erkennbar ist.

Dieses Verfahren ist leicht handhabbar und nicht so schlecht, wie die Kritik häufig annimmt.

Noten erfassen Leistungen im Blick auf bestimmte Aufgabenstellungen, die von Lehrkräften im Blick auf eine bestimmte Gruppe bewertet werden. Endnoten nach einem bestimmten Unterrichtsabschnitt, meistens am Ende eines Schulhalbjahres, werden gebildet, indem verschiedene Einzelnoten addiert und ein (gewichteter) Durchschnitt errechnet wird.

Motivieren mit Noten ist die vermutlich meist verbreitete Motivationspraxis in der Schulwirklichkeit, aber die wird als anrüchig hingestellt.

Dieses Verfahren ist leicht handhabbar und nicht so schlecht, wie die Kritik häufig annimmt. Die Lehrpersonen stellen Aufgaben und bewerten Leistungen aufgrund langjähriger Erfahrungen und handeln vermutlich in den wenigsten Fällen wirklich „willkürlich” in dem genannten Sinne. Insofern muss man fragen, wieso sich die Notenkritik so hartnäckig immer wieder bemerkbar zu machen versteht. Wenn Medien die bessere Schule propagieren, dann sind die immer notenfrei. Freilich, oft sind diese Alternativen kleine Privatschulen und nie Gymnasien.

Vermeidet man die Karikaturen, dann lässt sich im Blick auf die schulische Notenpraxis festhalten: Schulnoten bewerten Leistungen und können nur begrenzt eine Aussage darüber machen, was die tatsächlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler sind. Vieles, was für das Zustandekommen der Leistung mitverantwortlich ist, wird mit einer Ziffernote auch gar nicht erfasst, etwa die allgemeine Leistungsfähigkeit, schulisches Engagement, Vor- und Nachteile der sozialen Herkunft oder das Interesse für bestimmte Unterrichtsfächer.

Niemand stört sich daran, dass Fussballprofis jede Woche Noten erhalten, Filmkritiker vergeben Noten ebenso wie Restaurantkritiker, ein Hotel ohne Noten würde man kaum buchen. Screenshot aus der BAZ.

Aber jede Bewertung hat Grenzen und keine umfasst alles. Noten haben den Vorteil, dass sie einfach sind, leicht zu kommunizieren und keinen übermässigen Aufwand verlangen. Sie passen ins Arbeitsfeld der Schule, gelten als bewährt und werden als Beschreibungsform auch ausserhalb der Schule breit angewendet. Niemand stört sich daran, dass Fussballprofis jede Woche Noten erhalten, Filmkritiker vergeben Noten ebenso wie Restaurantkritiker, ein Hotel ohne Noten würde man kaum buchen und saldo könnte ohne Noten den Betrieb einstellen.

Unter den Schülerinnen und Schülern sind vergleichend benotete Leistungsunterschiede meist gar nicht strittig, zumal sie ja wissen, wie die Leistungen zustande kommen.

Unter den Schülerinnen und Schülern sind vergleichend benotete Leistungsunterschiede meist gar nicht strittig, zumal sie ja wissen, wie die Leistungen zustande kommen. Sie wissen auch, dass die Anstrengungen je nach Lage verschieden sind, zwischen Jungen und Mädchen Unterschiede bestehen und nicht erreichte Leistungen durchaus hätten erreicht werden können, wenn die Anstrengung grösser gewesen wäre. Die Zuschreibung „Streber” ist leicht einmal ein Indikator für eigenen Minimalismus.

Inzwischen liegen zahlreiche empirische Studien vor, die die gute prognostische Validität der Schulnoten für den späteren Studienerfolg belegen. Die Durchschnittsnote im Maturitätszeugnis gilt als der valideste Einzelprädiktor für den Erfolg im anschliessenden Studium.

Noch etwas ist auffällig: Die Notenkritik richtet sich primär auf das Zustandekommen der Noten und die Beschreibung in Form von Ziffern. Wenig gefragt ist der prognostische Wert von Schulnoten. Inzwischen liegen zahlreiche empirische Studien vor, die die gute prognostische Validität der Schulnoten für den späteren Studienerfolg belegen. Die Durchschnittsnote im Maturitätszeugnis gilt als der valideste Einzelprädiktor für den Erfolg im anschliessenden Studium. Die Notenkritik übersieht gerne diesen Zusammenhang.

In einer deutschen Metastudie aus dem Jahre 2007wird die Validität der Schulnoten zur Vorhersage des Studienerfolgs nochmals detailliert beschrieben (Trapmann-​Hell/Weigand/Schuler 2007). Dabei wirkt sich gerade die Breite des Notensystems positiv aus. Je höher der Durchschnitt in den Fachnoten liegt, desto besser kann der Studienerfolg vorhergesagt werden

Eine der zentralen Begründungen für die Notenkritik bezieht sich auf die Folgen von schlechten Bewertungen, die blockierte Motivation und Schulunlust nach sich ziehen würden. Gute Noten werden akzeptiert, schlechte lösen Krisen aus. Das Prinzip der vergleichenden Graduierung in der Beschreibung des Leistungsverhaltens setzt wie gesagt voraus, dass nicht jeder gute Noten erhält und man so einen Diskriminierungseffekt auffangen muss, wenn man auf ein Ziffernotensystem setzt.

Die Anstrengungsbereitschaft verteilt sich nicht einfach nur mit dem Interesse, wie oft angenommen wird, sondern reagiert auch auf Notlagen, etwa auf die Folgen der Nichterreichung von Lernzielen oder die drohenden Selektionen an den Schnittstellen. Probleme wie diese werden in der didaktischen Literatur gemieden oder normativ bestritten, obwohl sie nicht verschwinden werden und das Lernen massiv beeinflussen.

Eine jüngere Studie über den Zusammenhang von Schulangst, Schulunlust, Anstrengungsvermeidung und Schulnoten in den Fächern Mathematik und Deutsch sieht zwischen diesen Konzepten signifikante geringe bis mittlere Interkorrelationen. Am stärksten hängen Prüfungsangst und die schulbezogene Anstrengungsvermeidung mit den Schulnoten zusammen (Weber/Petermann 2016, S. 562). Das ist eigentlich trivial: Wer Angst vor Prüfungen hat, vermeidet Anstrengungen, weil die Vorstellung vorherrscht, die Prüfung sei ohnehin nicht zu bestehen. Anderseits minimiert die Anstrengungsvermeidung die Chancen des Bestehens, wenn die Prüfung nicht vermieden werden kann.

Schülerinnen und Schüler lernen oft subversiv.

Die Schülerinnen und Schüler lernen auch subversiv, nämlich wie die Anforderungen des Unterrichts umgangen werden können, oder strategisch, nämlich wie sich mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Ertrag erreichen lässt. Sie kalkulieren im Blick auf die Ziele den notwendigen Ressourceneinsatz und gehen keineswegs immer „intrinsisch motiviert” vor, schon weil kaum eine Schülerin und kaum ein Schüler sich für das gesamte Angebot der Schule gleich interessiert. Die Schüler machen immer einen Unterschied, was sie gerne lernen und was nicht.

Die Anstrengungsbereitschaft verteilt sich nicht einfach nur mit dem Interesse, wie oft angenommen wird, sondern reagiert auch auf Notlagen, etwa auf die Folgen der Nichterreichung von Lernzielen oder die drohenden Selektionen an den Schnittstellen. Probleme wie diese werden in der didaktischen Literatur gemieden oder normativ bestritten, obwohl sie nicht verschwinden werden und das Lernen massiv beeinflussen. Auch im Falle der Lernstrategien überwiegen die Modellannahmen, die unabhängig vom tatsächlichen Erfahrungsraum „Schule” gedacht werden.

Jahrzehntelange Erfahrungen mit Lernberichten und Ähnlichem zeigen die Steigerung der Komplexität und damit einhergehend der drohenden Unverständlichkeit (Bos et al. 2010). Noten müssen klar und verständlich sein, die Abstände im Leistungsverhalten wiedergeben und hohe und tiefe Grade kennen. An dieser Anforderung sind die Alternativen zu messen und so lange keine besseren Alternativen zum Ziffernsystem vorliegen, wird dieses auch weiterhin die Praxis bestimmen. Umgekehrt gesagt, Noten sind überflüssig, wenn sie keine Abstände erfassen.

Trotz einer Vielzahl von scheinbaren oder tatsächlichen Alternativen ist die Notenskala das bei weitem gebräuchlichste Instrument der Leistungsbeurteilung.

In der Prüfungspraxis sind bis heute Noten zentral, also die Einschätzung der Leistungen von Schülerinnen und Schüler auf einer für alle Lehrkräfte verbindlichen Skala, die die Unterschiede von Fähigkeiten in Sachgebieten erfassen soll. Trotz einer Vielzahl von scheinbaren oder tatsächlichen Alternativen ist die Notenskala das bei weitem gebräuchlichste Instrument der Leistungsbeurteilung.

Für dieses Instrument spricht, dass Leistungen in Schulklassen tatsächlich immer mit Niveauunterschieden zustande kommen. Wer sie abbilden will, muss daher ein gestuftes Schema verwenden, wobei das Problem nur ist, welche Stufen zur Anwendung kommen und wie die tatsächlichen Leistungsunterschiede in der Beurteilung abgebildet werden. Die realistische Perspektive ist die Beibehaltung des Ziffernsystems unter der Voraussetzung, dass die Notengebung fair und transparent ist. Dafür müssen die einzelnen Schulen Kriterien festlegen, die für die Lehrerinnen und Lehrer verbindlich sind. Diese Kriterien beeinträchtigen nicht das Urteil der Lehrpersonen, sondern machen es für Schüler, Eltern und andere Lehrer transparent.

Die Notengebung kann verbessert werden

Bei der Bewertung von Leistungen in der Schule werden Noten und Zeugnisse als Formen des verbindlichen Feedbacks weiterhin eine zentrale Rolle spielen, die Instrumente sind bewährt und begrenzen den Aufwand. Aber die Notengebung kann verbessert werden. Zentrale Aufgaben sind neben der Klarheit der Kriterien die Präzisierung der Stufung, die zur Bewertung passende Aufgabenkultur und die schulischen Lernziele als Bezugsnorm. Die bessere Berücksichtigung des Lernwegs kann fünftens durch Portfolios erreicht werden. Insgesamt handelt es sich also um eine lösbare Aufgabe. 

* Prof. em. Dr. Jürgen Oelkers war u. a. seit 1999 bis zu seiner Emeritierung 2012 ordentlicher Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Historische Bildungsforschung, vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts, Reformpädagogik im internationalen Vergleich, Analytische Erziehungsphilosophie, Inhaltsanalysen öffentlicher Bildung, Bildungspolitik.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zuger Schulinfo und ist hier mit freundlicher Genehmigung des Autors aufgeschaltet.

Literatur

Bos, W./Beutel, S.-I./ Berkemeyer,N./Schenk, S.: LUZI. Leistungsbeurteilung ohne Ziffernzeugnisse. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung. Dortmund: IFS 2010.
Fischer, Chr. (Hrsg.): Diagnose und Förderung statt Notengebung? Problemfelder schulischer Leistungsbeurteilung. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2012.
Olechowski, R./Rieder, K. (Hrsg.): Motivieren ohne Noten. Wien u.a.: Verlag Jugend und Volk 1990. (= Schule, Wissenschaft und Politik, Band 3)
Trapmann, S./Hell, B./Weigand, S./Schuler, H.: Die Validität von Schulnoten zur Vorhersage des Studienerfolgs – Eine Metaanalyse. In: Zeitschrift für pädagogische Psychologie Band 2, Heft 1 (2007), S. 11-27.
Weber, H.M./Petermann, F.: Der Zusammenhang zwischen Schulangst, Schulunlust, Anstrengungsvermeidung und den Schulnoten in den Fächern Mathematik und Deutsch. In: Zeitschrift für Pädagogik Band 62, Heft 4 (Juli/August 2016), S. 551-570.
Weinert, F.E. (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim/Basel: Beltz Verlag 2001.

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Verabschiedet euch von der Kompetenz! https://condorcet.ch/2023/03/verabschiedet-euch-von-der-kompetenz/ https://condorcet.ch/2023/03/verabschiedet-euch-von-der-kompetenz/#comments Mon, 06 Mar 2023 13:06:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=13328

Der Diskurs, den der emeretierte Professor Franz Eberle mit seinem Beitrag über die Ideologisierung der Kompetenzorientierung (https://condorcet.ch/2023/02/wissens-versus-kompetenzorientierung-eine-unselige-polarisierung/ ) ausgelöst hat, geht weiter. Condorcet-Autor Felix Schmutz ruft Herrn Eberle die Herkunft des Begriffs in Erinnerung und mahnt einen Verzicht auf diesen an.

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Felix Schmutz, Baselland: Es geht um Messbarkeit.

Franz Eberle rechtfertigt seinen Kompetenzbegriff, fühlt sich missverstanden von Herrn Ladenthins Replik. Dabei vernebelt er die Herkunft des umstrittenen Konzepts und widerspricht sich auch selbst. Der Bildungsdiskurs sollte sich von diesem Schlagwort langsam trennen, denn es zeigt sich wieder einmal, wie beliebig es von verschiedenen Bildungsfachleuten interpretiert wird.

Franz Eberle ist emeritierter Professor für Gymnasial- und Wirtschaftspädagogik an der Universität Zürich: keinen Gegensatz zur Wissens- und Fachorientierung.

Der Philosoph Anton Hügli hat in seiner fundamentalen Analyse Was ist Kompetenz? darauf hingewiesen, dass der Begriff in der heutigen Bedeutung aus der Psychologie stammt. Der amerikanische Psychologe McClelland entwickelte ihn zu Beginn der Siebzigerjahre, um die Eignung von stellenbewerbenden Leuten für bestimmte Berufe zu eruieren, da das relevante Können mit dem bisher üblichen Intelligenztest zu wenig klar antizipiert werden konnte. Dabei ging es wie beim Intelligenztest immer auch um Messbarkeit. Aufgrund des Problemlösetests sollten Menschen berufliche Fähigkeit und Tauglichkeit zugeschrieben werden können. Nicht so sehr die Fähigkeit, eine einzelne Aufgabe zu lösen, als die Erfahrung, mit ähnlich gelagerten Aufgaben in geeigneter Weise umzugehen, was als Disposition bezeichnet wurde. Wichtig: Kompetenz ist ein Konstrukt, eine Qualitätszuschreibung, die von Autoritäten (Psychologen, Testinstituten) mehr oder weniger opportunistisch vergeben wird.

In der Bildungspolitik entstand nun aufgrund der PISA-Resultate eine Panik: Weil die Kompetenzen enttäuschend waren, musste das Bildungsprogramm umgestellt werden.

Einzug in den Bildungsdiskurs hielt der Begriff erst im Zusammenhang mit PISA. Die Vergleichbarkeit der Schulqualität musste mit einem wissenschaftlichen Messverfahren vollzogen werden. Die Stunde von Weinert, Klieme und andern pädagogischen Psychologen war gekommen, also von Leuten, die mehr von psychologischen Tests, aber weniger von Schule und Unterricht verstehen. Ihre Forschungen und Programme zielen deshalb hauptsächlich auf das, was im Unterricht herauskommen soll und wie dieses zuverlässig gemessen werden kann, anders gesagt auf den «Output».

Es entstand Panik

In der Bildungspolitik entstand nun aufgrund der PISA-Resultate eine Panik: Weil die Kompetenzen enttäuschend waren, musste das Bildungsprogramm umgestellt werden, nämlich derart, dass der Fokus in den Schulen von Anfang an auf Eignung und Tauglichkeit für bestimmte Zwecke gelegt werden sollte: die «Outputorientierung» war geboren. Daher der Auftrag, die Lehrpläne nicht mehr auf Inhalte und Lernziele auszurichten, sondern auf die Fähigkeit, Aufgaben zu lösen.

Eberle nimmt Bezug auf die Lernziele (Mager, Bloom) und die entsprechenden Taxonomien in den Lehrplänen der Siebziger- und Achtzigerjahre. Allerdings sind Lernziele und Kompetenzen nicht dasselbe: Lernziele beschreiben das Können, das ein inhaltliches Ziel erfordert, und zwar von der Sache her gedacht. Kompetenzen beschreiben die Dispositionen, personalen Fähigkeiten und Einstellungen, welche zur Lösung einer bestimmten Aufgabe nötig sind. Der Unterschied liegt in der Perspektive: Lernziele sind didaktische Schritte, die zum Ziel führen. Kompetenzen sind mentale, psychisch-soziale und physische Möglichkeiten des Individuums, die als Grundlage für eine Leistung vorhanden sein müssen.

Es liegt deshalb schon in der Anlage des Konstrukts Kompetenz, dass Inhalte in dieser Betrachtungsweise zweitrangig sind. Kompetenzen sollen immer Bündel von Inhalten abdecken. Neben Ladenthin hat auch Konrad Paul Liessmann immer wieder auf diesen Umstand hingewiesen.

Kompetenzen kürzen ab, indem sie nur auf Resultate, Anwendung zielen und die Entwicklung, die diesen «skills» vorangeht, glauben überspringen zu können.

Der Unterschied zwischen Lernzielen und Kompetenzen ist pädagogisch bedeutsam: Inhalte und Lernziele fokussieren in erster Linie auf fachliche Auseinandersetzungen, Problemstellungen, Lernprozesse, Gedächtnis, Verarbeitung und erst in zweiter Linie auf Anwendung. Kompetenzen kürzen ab, indem sie nur auf Resultate, Anwendung zielen und die Entwicklung, die diesen «skills» vorangeht, glauben überspringen zu können.

Die genannten Zusammenhänge lassen sich nicht mit Eberles Argumentation aus der Welt schaffen. Kompetenzen führen zu einer Verengung des Bildungsbegriffs, man mag es biegen und wenden, wie man will.

 

Anton Hügli, Was ist Kompetenz? Begriffsgeschichtliche Perspektiven eines pädagogischen Schlagworts, lvb.inform 2016/2017-03

 Rober F. Mager, Lernziele und Unterricht, Weinheim, Basel, 1978

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Die Freisinnigen fordern ein Ranking der Basler Sekundarschulen https://condorcet.ch/2022/08/die-freisinnigen-fordern-ein-ranking-der-basler-sekundarschulen/ https://condorcet.ch/2022/08/die-freisinnigen-fordern-ein-ranking-der-basler-sekundarschulen/#comments Tue, 30 Aug 2022 22:51:13 +0000 https://condorcet.ch/?p=11281

Basel-Stadt schneidet regelmässig schlecht ab bei den Bildungsvergleichen. Nun will die FDP den Anschluss dank eines umstrittenen Schulvergleichs wiederfinden. Wir schalten hier einen Artikel der Basler Zeitung auf.

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Leif Simonson, BAZ-Journalist: Rankings sind beliebt.

Rankings sind in unserer Gesellschaft äusserst beliebt. Wir mögen es, Sachen in eine Reihenfolge zu bringen, sie von Platz 1 bis 10 durchzusortieren – sei es bei der Hotelsuche oder der Wahl des hartnäckigsten Putzmittels.

Meist beschränken sich die Bestenlisten auf Produkte, die in der freien Marktwirtschaft zu finden sind. Die Basler Freisinnigen, als Partei des Wettbewerbs, gehen nun aber so weit, dass sie die Volksschulen öffentlich bewertet haben wollen. Die Bildung ist ihr neues Steckenpferd.

Kantonalpräsident Johannes Barth eröffnete den FDP-Parteitag am Montagabend in der Basler Kaserne mit einer flammenden Rede über die «schlechte Basler Schule». Sie sei vielleicht «ein Traum von Bildungstechnokraten», aber «ein Albtraum» für den Wirtschaftsstandort Basel. Er verweist auf die schweizweiten Vergleiche, in denen die Basler Schule regelmässig sehr schlecht abschneidet.

Bei einem Vergleich im Jahr 2016 scheiterten 57 Prozent aller basel-städtischen Schüler beim Mathetest. Kein anderer Kanton erzielte einen so schlechten Wert. So gehe es nicht, macht Barth klar. Nach zehn Jahren steht für ihn fest: Die «sogenannte Integrative Schule ist gescheitert. Der Traum, wieder restlos alle Kinder auf Biegen und Brechen in die Regelklassen zu integrieren, ist geplatzt.»

Obendrauf komme noch der Lehrermangel – «ein grosses Problem, das in Basel wie gewohnt kleingeredet wird», so Barth. Die Probleme der Basler Schule löse man nicht, indem man sie «aussitzt, schönredet oder auf den grossen Wurf hofft». Man müsse jetzt handeln. Und genau das hat die Basler FDP vor – mithilfe des Wettbewerbs.

Schäfer gibt Lehrern die Schuld

Neuerdings soll es eine Art Sekundarschulranking geben, an dem sich Eltern orientieren können, bevor sie sich entscheiden, wohin sie ihre Kinder schicken. Die Basler FDP fordert, dass die Ergebnisse der Leistungschecks in der Sekundarstufe für jedes Schulhaus einzeln veröffentlicht wird. Auch zur Performance soll zählen, wie gut die Sekundarschüler anschliessend im Gymnasium oder in der Fachmittelschule performen. Wenn beispielsweise eine Schülerin im Vogesen-Schulhaus stets sehr gute Noten hat und im Gymi plötzlich abfällt, würde sich das auf die Bewertung des Vogesen-Schulhauses negativ auswirken.

Elias Schäfer, Sitz im Vizepräsidium der Basler FDP

Bislang herrsche bei den Leistungsniveaus der Schulstandorte eine «Blackbox» vor, sagt Elias Schäfer, der im Vizepräsidium der Basler FDP sitzt. Er vermutet grosse Unterschiede. Was aber sagen die Leistungschecks der Schüler pro Sek genau aus? Ist es denn nicht so, dass in manchen Schulhäusern signifikant stärkere Schülerinnen und Schüler zu finden sind als in anderen – etwa, weil am einen Ort deutlich mehr Akademikerfamilien zu Hause sind als am anderen?

«Nein», sagt Elias Schäfer. «In der Primarstufe spielt die sozioökonomische Zusammensetzung des Quartiers noch eine Rolle, aber in der Sekundarstufe nicht mehr. Dort müsste sie ungefähr normalverteilt sein, weil man sich nicht mehr für die nächstgelegene Schule, sondern für die mit dem passenden Konzept entscheidet.»

Sollte das stimmen, lautet die zentrale Frage: Woher kommen denn die von Schäfer vermuteten Unterschiede zwischen den Schulstandorten? Liegt es an der Qualität der Lehrer? «Wahrscheinlich schon», sagt Schäfer. «Natürlich hängt das Leistungsniveau der Schulen unter anderem davon ab, wie gut der Lehrkörper ist.» Auch andere Faktoren wie die Sprachkompetenz würden da mit hineinspielen, aber «wir haben es uns in den letzten Jahren ein bisschen einfach gemacht, indem wir immer sagten, wir hätten halt viele fremdsprachige Kinder».

    «Wir produzieren Menschen und keine Schrauben, die nachher zertifiziert werden.»

    Jean-Michel Héritier, Präsident Freiwillige Schulsynode Basel

Jean-Michel Héritier, Präsident Freiwillige Schulsynode Basel

Diametral anders als Schäfer schätzt der oberste Lehrer im Kanton die Situation ein. Jean-Michel Héritier, Präsident der Freiwilligen Schulsynode Basel, sagt: «Ich denke nicht, dass die Qualität der Schulen unterschiedlich ist.» Alle hätten den gleichen Lehrplan. Die Lehrpersonen hätten die gleiche Ausbildung, und die Unterrichtsmodelle seien nicht gross verschieden. Solche Rankings seien «immer problematisch, denn wir produzieren Menschen und keine Schrauben, die nachher zertifiziert werden».

SP-Grossrätin Franziska Roth, Präsidentin der Bildungskommission im Grossen Rat, geht noch weiter und bezeichnet die Idee eines Rankings als «völlig daneben. Wenn wir das machen, sind wir keine Volksschule mehr.»

Ähnlich wie Héritier argumentiert sie, dass Leistungschecks stets Momentaufnahmen seien und vieles nicht berücksichtigen würde – «etwa, ob die Kinder in der Lage sind, sich selbst Informationen zu beschaffen, oder welche sozialen Skills sie mitbringen». Ausserdem dürften die Kinder ihren Sekundarschulstandort bereits heute wählen. «Wenn es nun Rankings gibt, dann wollen alle ins gleiche Schulhaus. Und dann? Soll man dort aufstocken oder anbauen?» An diesem Punkt, antwortet Schäfer, seien «Regierung und Verwaltung in der Pflicht, diese Leistungsunterschiede auszugleichen».

Franziska Roth, SP-Grossrätin und Präsidentin der Bildungskommission im Grossen Rat

 

Nur sechs Wünsche wurden nicht erfüllt

Tatsächlich ist es schon jetzt so, dass die angehenden Sekundarschüler drei Präferenzen angeben können, in welches Schulhaus sie gehen möchten. Der Mediensprecher des Erziehungsdepartements, Simon Thiriet, teilt auf Anfrage mit, dass man dieses Jahr lediglich sechs von insgesamt 1527 Schülerinnen und Schülern keinen der drei Standortwünsche erfüllen konnte. Das entspricht 0,39 Prozent. Was das Erziehungsdepartement von öffentlichen Schulrankings hält, hat es schon früher kundgetan. Journalistische Anfragen zur Einsicht in die späteren Schulerfolge der Sekschulabgänger je nach Quartier tat es bereits vor Jahren mit der Begründung ab, es handle sich um heikle Daten. Das hat sich in der Zwischenzeit nicht geändert. Das zentrale Ziel der Checks sei es, die einzelnen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler – «unabhängig von ihrer Lehrperson, ihrer Klasse und Schule» zu messen, schreibt Simon Thiriet. «Sie sind also ausdrücklich nicht zur Performance-Messung von Schulstandorten vorgesehen, und das möchten wir auch in Zukunft so handhaben.»

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Die Schulnoten bewegen auch die Condorcet-Leserinnen und -Leser. Das zeigen die Kommentare und die vielen Aufrufe der bisherigen Beiträge. Der emer. Professor Juergen Oelkers legt in seinem Beitrag den aktuellen Forschungsstand dar und erklärt die Vor- und Nachteile der "Ziffernbeurteilung". Sein Fazit: Noten werden weiterhin eine zentrale Rolle spielen, können aber verbessert werden.

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Juergen Oelkers, em. Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich: Unter den Schülerinnen und Schülern sind vergleichend benotete Leistungsunterschiede meist gar nicht strittig.

Zeugnisse und Noten stehen in der Kritik und mehr noch, sie gelten als gefährlich und werden als überflüssig hingestellt. Sie werden sozusagen benotet, meistens mit folgenden Argumenten: Noten sind unpräzise, ihr Zustandekommen ist intransparent, sie wirken als eine Art Schicksal, sind vor allem ein Machtfaktor und sicher kein Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit.

Das „starre Ziffernotensystem” ist der Lieblingsfeind vieler Schulreformer. „Motivieren ohne Noten” war schon vor 25 Jahren ein immer wieder vorgebrachtes Stichwort der Schulkritik (Olechowski/Rieder 1990). Unterstellt wurde, dass die Schülerinnen und Schüler besser lernen, wenn sie nicht durch Noten geleitet werden und den eigenen Lernweg bestimmen können.

Motivieren mit Noten ist die vermutlich meist verbreitete Motivationspraxis in der Schulwirklichkeit, aber die wird als anrüchig hingestellt, da sie dem Ideal des „intrinsischen” Lernens widerspricht. Aber man lernt auch, wenn man motivationale Widerstände überwinden muss und man stelle sich vor, wohin man käme, wenn alles Lernen in der Schule von der Zustimmung intrinsischer Motivation abhängig wäre.

Noten als positive Anreize sind auch deswegen suspekt, weil sie eine Hierarchie voraussetzen. Nur wenige Schüler können Bestnoten erreichen und das, so die Kritik, fordert die anderen nicht etwa heraus, sondern schreckt sie ab und hindert sie am Lernen. Es soll, mit anderen Worten, keinen Wettbewerb geben und niemand soll mit anderen verglichen werden. Das bekanntlich schon Jean-​Jacques Rousseau 1762 in seinem Erziehungsroman Emile ou de l’éducation postuliert.

Schüler können damit umgehen.

Es ist danach immer wieder versucht worden, Alternativen zu der Notenskala zu entwickeln. Radikale Entwürfe gehen davon aus, dass nur die Lernfortschritte des einzelnen Schülers beschrieben werden können und sich ein Vergleich in der Lerngruppe verbietet, weil der ohnehin nicht objektiv sein kann und zudem die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden ignoriert.

Zudem zeigt die Forschung, dass die Urteile der Lehrpersonen im Blick auf ihre Klasse im Allgemeinen verlässlich sind (Weinert 2001).

Noten setzen die Klassennorm voraus und basieren so auf einem Vergleich der Leistungen mit anderen. Diese Beschreibung hat sich bewährt, sie ist ökonomisch und vergleichsweise leicht zu handhaben. Zudem zeigt die Forschung, dass die Urteile der Lehrpersonen im Blick auf ihre Klasse im Allgemeinen verlässlich sind (Weinert 2001). Die Kritik bemängelt allerdings die fehlenden Bezugsnormen (Fischer 2012, S. 50).

Ein Bewertung ist willkürlich, wenn sie die Aufgaben und Leistungen mit verschiedenen Massstäben interpretiert, einzelne Schüler gegenüber anderen bevorzugt, ohne Kriterien erfolgt oder unfaire Massstäbe anwendet, also mehr oder anderes erwartet, als gelernt werden konnte.

Aber ist die gestufte und vergleichende Beurteilung ungerecht? Die Antwort lautet ja, wenn die Bewertungen willkürlich erfolgen würden. Ein Bewertung ist willkürlich, wenn sie die Aufgaben und Leistungen mit verschiedenen Massstäben interpretiert, einzelne Schüler gegenüber anderen bevorzugt, ohne Kriterien erfolgt oder unfaire Massstäbe anwendet, also mehr oder anderes erwartet, als gelernt werden konnte.

Der Grundsatz ist, dass nur das geprüft werden darf, was unterrichtet worden ist und so gelernt werden konnte. Wenn dieser Grundsatz verletzt wird, ist das ungerecht. Wenn ein Schüler schlecht beurteilt wird oder nicht die Note erreicht, die er erreichen wollte, ist das nicht ungerecht, sofern die Kriterien der Benotung klar waren und keine Bevorzugung erkennbar ist.

Dieses Verfahren ist leicht handhabbar und nicht so schlecht, wie die Kritik häufig annimmt.

Noten erfassen Leistungen im Blick auf bestimmte Aufgabenstellungen, die von Lehrkräften im Blick auf eine bestimmte Gruppe bewertet werden. Endnoten nach einem bestimmten Unterrichtsabschnitt, meistens am Ende eines Schulhalbjahres, werden gebildet, indem verschiedene Einzelnoten addiert und ein (gewichteter) Durchschnitt errechnet wird.

Motivieren mit Noten ist die vermutlich meist verbreitete Motivationspraxis in der Schulwirklichkeit, aber die wird als anrüchig hingestellt.

Dieses Verfahren ist leicht handhabbar und nicht so schlecht, wie die Kritik häufig annimmt. Die Lehrpersonen stellen Aufgaben und bewerten Leistungen aufgrund langjähriger Erfahrungen und handeln vermutlich in den wenigsten Fällen wirklich „willkürlich” in dem genannten Sinne. Insofern muss man fragen, wieso sich die Notenkritik so hartnäckig immer wieder bemerkbar zu machen versteht. Wenn Medien die bessere Schule propagieren, dann sind die immer notenfrei. Freilich, oft sind diese Alternativen kleine Privatschulen und nie Gymnasien.

Vermeidet man die Karikaturen, dann lässt sich im Blick auf die schulische Notenpraxis festhalten: Schulnoten bewerten Leistungen und können nur begrenzt eine Aussage darüber machen, was die tatsächlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler sind. Vieles, was für das Zustandekommen der Leistung mitverantwortlich ist, wird mit einer Ziffernote auch gar nicht erfasst, etwa die allgemeine Leistungsfähigkeit, schulisches Engagement, Vor- und Nachteile der sozialen Herkunft oder das Interesse für bestimmte Unterrichtsfächer.

Niemand stört sich daran, dass Fussballprofis jede Woche Noten erhalten, Filmkritiker vergeben Noten ebenso wie Restaurantkritiker, ein Hotel ohne Noten würde man kaum buchen. Screenshot aus der BAZ.

Aber jede Bewertung hat Grenzen und keine umfasst alles. Noten haben den Vorteil, dass sie einfach sind, leicht zu kommunizieren und keinen übermässigen Aufwand verlangen. Sie passen ins Arbeitsfeld der Schule, gelten als bewährt und werden als Beschreibungsform auch ausserhalb der Schule breit angewendet. Niemand stört sich daran, dass Fussballprofis jede Woche Noten erhalten, Filmkritiker vergeben Noten ebenso wie Restaurantkritiker, ein Hotel ohne Noten würde man kaum buchen und saldo könnte ohne Noten den Betrieb einstellen.

Unter den Schülerinnen und Schülern sind vergleichend benotete Leistungsunterschiede meist gar nicht strittig, zumal sie ja wissen, wie die Leistungen zustande kommen.

Unter den Schülerinnen und Schülern sind vergleichend benotete Leistungsunterschiede meist gar nicht strittig, zumal sie ja wissen, wie die Leistungen zustande kommen. Sie wissen auch, dass die Anstrengungen je nach Lage verschieden sind, zwischen Jungen und Mädchen Unterschiede bestehen und nicht erreichte Leistungen durchaus hätten erreicht werden können, wenn die Anstrengung grösser gewesen wäre. Die Zuschreibung „Streber” ist leicht einmal ein Indikator für eigenen Minimalismus.

Inzwischen liegen zahlreiche empirische Studien vor, die die gute prognostische Validität der Schulnoten für den späteren Studienerfolg belegen. Die Durchschnittsnote im Maturitätszeugnis gilt als der valideste Einzelprädiktor für den Erfolg im anschliessenden Studium.

Noch etwas ist auffällig: Die Notenkritik richtet sich primär auf das Zustandekommen der Noten und die Beschreibung in Form von Ziffern. Wenig gefragt ist der prognostische Wert von Schulnoten. Inzwischen liegen zahlreiche empirische Studien vor, die die gute prognostische Validität der Schulnoten für den späteren Studienerfolg belegen. Die Durchschnittsnote im Maturitätszeugnis gilt als der valideste Einzelprädiktor für den Erfolg im anschliessenden Studium. Die Notenkritik übersieht gerne diesen Zusammenhang.

In einer deutschen Metastudie aus dem Jahre 2007wird die Validität der Schulnoten zur Vorhersage des Studienerfolgs nochmals detailliert beschrieben (Trapmann-​Hell/Weigand/Schuler 2007). Dabei wirkt sich gerade die Breite des Notensystems positiv aus. Je höher der Durchschnitt in den Fachnoten liegt, desto besser kann der Studienerfolg vorhergesagt werden

Eine der zentralen Begründungen für die Notenkritik bezieht sich auf die Folgen von schlechten Bewertungen, die blockierte Motivation und Schulunlust nach sich ziehen würden. Gute Noten werden akzeptiert, schlechte lösen Krisen aus. Das Prinzip der vergleichenden Graduierung in der Beschreibung des Leistungsverhaltens setzt wie gesagt voraus, dass nicht jeder gute Noten erhält und man so einen Diskriminierungseffekt auffangen muss, wenn man auf ein Ziffernotensystem setzt.

Die Anstrengungsbereitschaft verteilt sich nicht einfach nur mit dem Interesse, wie oft angenommen wird, sondern reagiert auch auf Notlagen, etwa auf die Folgen der Nichterreichung von Lernzielen oder die drohenden Selektionen an den Schnittstellen. Probleme wie diese werden in der didaktischen Literatur gemieden oder normativ bestritten, obwohl sie nicht verschwinden werden und das Lernen massiv beeinflussen.

Eine jüngere Studie über den Zusammenhang von Schulangst, Schulunlust, Anstrengungsvermeidung und Schulnoten in den Fächern Mathematik und Deutsch sieht zwischen diesen Konzepten signifikante geringe bis mittlere Interkorrelationen. Am stärksten hängen Prüfungsangst und die schulbezogene Anstrengungsvermeidung mit den Schulnoten zusammen (Weber/Petermann 2016, S. 562). Das ist eigentlich trivial: Wer Angst vor Prüfungen hat, vermeidet Anstrengungen, weil die Vorstellung vorherrscht, die Prüfung sei ohnehin nicht zu bestehen. Anderseits minimiert die Anstrengungsvermeidung die Chancen des Bestehens, wenn die Prüfung nicht vermieden werden kann.

Schülerinnen und Schüler lernen oft subversiv.

Die Schülerinnen und Schüler lernen auch subversiv, nämlich wie die Anforderungen des Unterrichts umgangen werden können, oder strategisch, nämlich wie sich mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Ertrag erreichen lässt. Sie kalkulieren im Blick auf die Ziele den notwendigen Ressourceneinsatz und gehen keineswegs immer „intrinsisch motiviert” vor, schon weil kaum eine Schülerin und kaum ein Schüler sich für das gesamte Angebot der Schule gleich interessiert. Die Schüler machen immer einen Unterschied, was sie gerne lernen und was nicht.

Die Anstrengungsbereitschaft verteilt sich nicht einfach nur mit dem Interesse, wie oft angenommen wird, sondern reagiert auch auf Notlagen, etwa auf die Folgen der Nichterreichung von Lernzielen oder die drohenden Selektionen an den Schnittstellen. Probleme wie diese werden in der didaktischen Literatur gemieden oder normativ bestritten, obwohl sie nicht verschwinden werden und das Lernen massiv beeinflussen. Auch im Falle der Lernstrategien überwiegen die Modellannahmen, die unabhängig vom tatsächlichen Erfahrungsraum „Schule” gedacht werden.

Jahrzehntelange Erfahrungen mit Lernberichten und Ähnlichem zeigen die Steigerung der Komplexität und damit einhergehend der drohenden Unverständlichkeit (Bos et al. 2010). Noten müssen klar und verständlich sein, die Abstände im Leistungsverhalten wiedergeben und hohe und tiefe Grade kennen. An dieser Anforderung sind die Alternativen zu messen und so lange keine besseren Alternativen zum Ziffernsystem vorliegen, wird dieses auch weiterhin die Praxis bestimmen. Umgekehrt gesagt, Noten sind überflüssig, wenn sie keine Abstände erfassen.

Trotz einer Vielzahl von scheinbaren oder tatsächlichen Alternativen ist die Notenskala das bei weitem gebräuchlichste Instrument der Leistungsbeurteilung.

In der Prüfungspraxis sind bis heute Noten zentral, also die Einschätzung der Leistungen von Schülerinnen und Schüler auf einer für alle Lehrkräfte verbindlichen Skala, die die Unterschiede von Fähigkeiten in Sachgebieten erfassen soll. Trotz einer Vielzahl von scheinbaren oder tatsächlichen Alternativen ist die Notenskala das bei weitem gebräuchlichste Instrument der Leistungsbeurteilung.

Für dieses Instrument spricht, dass Leistungen in Schulklassen tatsächlich immer mit Niveauunterschieden zustande kommen. Wer sie abbilden will, muss daher ein gestuftes Schema verwenden, wobei das Problem nur ist, welche Stufen zur Anwendung kommen und wie die tatsächlichen Leistungsunterschiede in der Beurteilung abgebildet werden. Die realistische Perspektive ist die Beibehaltung des Ziffernsystems unter der Voraussetzung, dass die Notengebung fair und transparent ist. Dafür müssen die einzelnen Schulen Kriterien festlegen, die für die Lehrerinnen und Lehrer verbindlich sind. Diese Kriterien beeinträchtigen nicht das Urteil der Lehrpersonen, sondern machen es für Schüler, Eltern und andere Lehrer transparent.

Die Notengebung kann verbessert werden

Bei der Bewertung von Leistungen in der Schule werden Noten und Zeugnisse als Formen des verbindlichen Feedbacks weiterhin eine zentrale Rolle spielen, die Instrumente sind bewährt und begrenzen den Aufwand. Aber die Notengebung kann verbessert werden. Zentrale Aufgaben sind neben der Klarheit der Kriterien die Präzisierung der Stufung, die zur Bewertung passende Aufgabenkultur und die schulischen Lernziele als Bezugsnorm. Die bessere Berücksichtigung des Lernwegs kann fünftens durch Portfolios erreicht werden. Insgesamt handelt es sich also um eine lösbare Aufgabe. 

* Prof. em. Dr. Jürgen Oelkers war u. a. seit 1999 bis zu seiner Emeritierung 2012 ordentlicher Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Historische Bildungsforschung, vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts, Reformpädagogik im internationalen Vergleich, Analytische Erziehungsphilosophie, Inhaltsanalysen öffentlicher Bildung, Bildungspolitik.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zuger Schulinfo und ist hier mit freundlicher Genehmigug des Autors aufgeschaltet.

Literatur

Bos, W./Beutel, S.-I./ Berkemeyer,N./Schenk, S.: LUZI. Leistungsbeurteilung ohne Ziffernzeugnisse. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung. Dortmund: IFS 2010.
Fischer, Chr. (Hrsg.): Diagnose und Förderung statt Notengebung? Problemfelder schulischer Leistungsbeurteilung. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2012.
Olechowski, R./Rieder, K. (Hrsg.): Motivieren ohne Noten. Wien u.a.: Verlag Jugend und Volk 1990. (= Schule, Wissenschaft und Politik, Band 3)
Trapmann, S./Hell, B./Weigand, S./Schuler, H.: Die Validität von Schulnoten zur Vorhersage des Studienerfolgs – Eine Metaanalyse. In: Zeitschrift für pädagogische Psychologie Band 2, Heft 1 (2007), S. 11-27.
Weber, H.M./Petermann, F.: Der Zusammenhang zwischen Schulangst, Schulunlust, Anstrengungsvermeidung und den Schulnoten in den Fächern Mathematik und Deutsch. In: Zeitschrift für Pädagogik Band 62, Heft 4 (Juli/August 2016), S. 551-570.
Weinert, F.E. (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim/Basel: Beltz Verlag 2001.

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Die Dystopie der Kontrollgesellschaft – Realität in der Schule? https://condorcet.ch/2021/06/die-dystopie-der-kontrollgesellschaft-realitaet-in-der-schule/ https://condorcet.ch/2021/06/die-dystopie-der-kontrollgesellschaft-realitaet-in-der-schule/#respond Sun, 20 Jun 2021 06:47:40 +0000 https://condorcet.ch/?p=8806

Was läuft schief an unseren Schulen? Auf die Fragen, die im Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens («Mein Leben und der Notenschnitt») aufgeworfen wurden, gibt ein eben erschienenes Buch des Kinderarztes Helmut Bonney Antwort. Es stellt den Irrglauben an die Messbarkeit von allem und jedem und die Vernachlässigung elementarer menschlicher Bedürfnisse in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Dieses Buch müsste zur Pflichtlektüre werden für alle an Schule Beteiligten, Lehrer, Schulpsychologinnen sowie in der Bildungsforschung und in den Bildungsverwaltungen Tätige, meint der Rezensent Bernhard Bonjour, der zum ersten Mal für unseren Blog schreibt.

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Bernhard Bonjour, Lehrer an der Schule für Offenes Lernen Liestal, SP-Mitglied und Verteter im Einwohnerrat Liestal

Der etwas sperrige Titel «Rohstoff Kind – Zwischen Freiheit und Kontrolle» entschlüsselt sich im Laufe der packenden Lektüre. Es sei gewarnt: Das angenehm kurze Buch führt zu Erkenntnissen, die das Denken erschüttern und das Handeln verändern können. Die ziemlich wilde Mischung von Berichten aus einem Forscherleben, gesellschaftlichen Analysen, Zusammenfassung der Theorien großer Vordenker und ganz konkreten Beispielen aus der psychotherapeutischen Praxis macht die Lektüre kurzweilig und anregend.

Der Autor Helmut Bonney ist ursprünglich Kinderarzt, hat sich dann weiter ausgebildet zum Facharzt für psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik sowie zum Kinder- und Jugendpsychiater und ist einer der Köpfe der systemischen Psychotherapie geworden. Er hat nach langer Tätigkeit in Heidelberg seine Praxis vor sieben Jahren nach Liestal verlegt, wo er sich des Andrangs Hilfesuchender kaum erwehren kann. Er engagiert sich, wenn Kinder und Jugendliche in schwierigen Situationen zu ihm gelangen, getreu seinem systemischen Ansatz gleichermaßen für die ganze Familie wie auch für eine Verbesserung der Situation in den Schulen und Ausbildungsstätten. Dabei bemüht er sich trotz aller Widerstände bei den Bildungsbehörden darum, dass die Bedürfnisse und Anliegen seiner Klientinnen ernstgenommen werden.

Dr. Helmut Bonney, Kinderarzt und Autor: Entwicklungsprobleme sind nicht durch biochemische Eingriffe zu bewältigen
Dieses Buch kann das Denken erschüttern.

Die Rückblicke auf ein langes Forscher- und Therapeutenleben zeugen von der Neugier eines Arztes, der sich mit bisherigen Erkenntnissen nicht zufrieden gibt, sondern stets weitersucht nach Erklärungen und neuen Ansätzen. Es ist faszinierend, welche Denkerinnen aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten er dabei erfasst und in einen erkenntnisreichen Zusammenhang bringt. Dabei ist es durchaus erschütternd zu erfahren, wie Erkenntnisse, die sich einmal durchgesetzt haben, in der Forschung und in der Praxis des Mainstreams wieder in Vergessenheit geraten sind oder aus Bequemlichkeit nicht mehr beachtet werden.

Bonney geht von den Gedanken des französischen Sozialphilosophen Gilles Deleuze über die subtilen Kontrollmechanismen der aktuellen Gesellschaft aus und verknüpft sie mit den großen literarischen Dystopien von Aldous Huxley («Brave New World») und George Orwell («1984»).

Die Messbarkeit von neurologischen und biochemischen Prozessen und von intellektuellen Leistungen verführt zu schrecklichen Vereinfachungen.

Zentral ist für Bonney die eigentlich unbestrittene Erkenntnis, dass Denken und Lernen eng verbunden sind mit Emotionen und dass das Erleben und die Gefühle für die seelische Entwicklung entscheidend sind. Und dass für die Ausbildung der emotionalen Erlebnisfähigkeit sowohl Freiräume als auch verlässliche Beziehungen nötig sind. Bindungsstörungen sind gemäss seiner Praxiserfahrung häufige Ursachen für Leid. «Eine im Grunde lapidare Erkenntnis ist scheinbar in Vergessenheit geraten: Emotionen bilden unabdingbare Voraussetzungen für das Denken – eine Erkenntnis, die uns selbstverständlich erscheint. Eltern, Erzieher, Lehrerinnen – eigentlich wissen das doch alle.» Aber in der aktuellen psychologischen und psychotherapeutischen Forschung und Praxis und erst recht in der Bildungswissenschaft dominieren Statistiken. Die Messbarkeit von neurologischen und biochemischen Prozessen und von intellektuellen Leistungen verführt zu schrecklichen Vereinfachungen. Beim Umgang mit Entwicklungsproblemen werden die seelischen Bedürfnisse schlicht vergessen.

Das führt fatalerweise auch in der Psychotherapie zur Illusion, Entwicklungsprobleme seien durch biochemische Eingriffe zu bewältigen – durch Medikamente. Sie sollen die von der Kontrollgesellschaft geforderte Selbstregulation bringen. Bonney vergleicht das mit der Glücksdroge «Soma», die in Orwells Vorwegnahme der Kontrollgesellschaft dazu dient, die Menschen ruhig zu stellen.

Im Grunde genommen wissen sowohl die Kinder als auch die Eltern und mit ihnen die Mehrheit der LehrerInnen, wie falsch diese Entwicklung ist.

Überbetonung messbarer Leistungen

Bonney sieht diese Geringachtung der seelischen Bedürfnisse auch in der aktuellen Entwicklung des Bildungswesens am Werk Die Überbetonung messbarer Leistungen, der damit verbundenen Anpassungsdruck und die alles dominierende Selektion verursachen viel Leid bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen und deren Familien. Im Grunde genommen wissen sowohl die Kinder als auch die Eltern und mit ihnen die Mehrheit der LehrerInnen, wie falsch diese Entwicklung ist, aber bei den Schulbehörden und fatalerweise auch bei den schulpsychologischen und psychiatrischen Einrichtungen stossen sie meist auf taube Ohren und werden mit ihren Sorgen und ihrem Leiden alleingelassen.

Bonney nimmt Partei für die Opfer dieser Entwicklung des Bildungswesens, die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien. Er stellt fest, dass die Konzentration auf Anpassung und – sehr einseitig definierte – Leistung in der Schweiz von den Anfängen der Primarstufe nun auch schon auf den Kindergarten durchdrückt. Und er staunt darüber, dass hierzulande den Eltern das Schulmodell für ihre Kinder aufgezwungen wird und keine Wahl alternativer Modelle möglich ist, es sei denn, die Eltern seien in der Lage, enorme Summen für den Besuch einer Privatschule selbst aufzubringen.

Eltern und Lehrkräfte wissen, dass das nicht gut ist.

Bonney beschränkt sich aber nicht auf die Schilderung und Analyse dieser Fehlentwicklungen. Er zeigt lebhaft und anschaulich Alternativen auf. Dabei beruft er sich auf Ideen und Erkenntnisse unter anderem von Martin Buber, Luc Ciompi und des brasilianischen Philosophen und Politikers Roberto Mangabeira Unger. Es gehe darum, «uns von einer zu eng gefassten Verpflichtung zu Normalität zu lösen». Stattdessen sollen wir anerkennen, dass der Einzelne nach Unverwechselbarkeit strebt. Die Entwicklung von emotionalem Reichtum und die Ausprägung der Fantasie statt Anpassungs- und Leistungsdruck würde passioniertes Handeln fördern, auf das unsere Gesellschaft dringend angewiesen sei. Wenn sich Persönlichkeiten entwickeln könnten, die unangepasst sind und Neues ausprobieren, wenn nicht die Angst vor dem Risiko und der Anpassungsdruck alles unterdrückten, dann könne Freiheit entstehen und Handlungsmöglichkeiten erweitert werden. Fantasie und Freiheit sind die Voraussetzung, damit sich die Gesellschaft weiter entwickeln kann und nicht in der Kontrollgesellschaft, wie sie Huxley und Orwell beschreiben, erstickt.

Dieses Buch beeindruckt nicht nur durch das lebenslange Engagement des Autors für die Bedürfnisse des Kindes, sondern es kann auch Eltern und in der Bildung Tätige stärken und dazu ermutigen, sich nicht in den Dienst der Kontrollgesellschaft zu stellen, sondern die Freiheit und damit das Leben zu fördern.

 

SRF DOK vom 6.5.2021 https://www.srf.ch/play/tv/dok/video/mein-leben-und-der-notenschnitt—-vom-uebertritt-in-die-oberstufe?urn=urn:srf:video:32272d85-6c30-47c2-a57f-844d04712230

 

Helmut Bonney, Rohstoff Kind. Zwischen Freiheit und Kontrolle, Carl Auer-Verlag, Heidelberg 2021, 146 Seiten

 

 

 

 

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Aufruf zur Besinnung: Humane Bildung statt Metrik und Technik https://condorcet.ch/2020/07/aufruf-zur-besinnung-humane-bildung-statt-metrik-und-technik/ https://condorcet.ch/2020/07/aufruf-zur-besinnung-humane-bildung-statt-metrik-und-technik/#respond Sat, 11 Jul 2020 08:56:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=5684

Ralf Lankau und Matthias Burchardt sind auf unserem Bildungsblog keine Unbekannten. Die GBW-Mitstreiter gelten als fundierte Kritiker der Digitalisierung unseres Bildungssystems. Und sie argumentieren - was sie von vielen Informatikfans unterscheidet - in der Debatte der Digitalisierung faktensicher und gut dokumentiert. Ihr Aufruf wird auch in der Schweiz auf grosses Interesse stossen.

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Prof. Dr. phil. Ralf Lankau, Fakultät Medien, Hochschule Offenburg
AR Dr. Matthias Burchardt, Universität zu Köln

Aufgrund der Covid-19-Pandemie wurden im gesamten Bundesgebiet Schulschließungen und Fernbeschulung veranlasst. In der Folge intensivierten sich die Forderungen nach der unverzüglichen digitalen Transformation von Schule und Unterricht. Beschlossen wurden die Aufrüstung der Schulen (Server, WLAN), Fortbildungen und Endgeräte für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie der Auf- und Ausbau von Schulclouds, mehr Onlinedienste und digitale Tools für den Unterricht. Es geht also nur um Technik?

Wovon nicht geredet wird

Außen vor bleiben Themen wie die entstehende Infrastrukturen für netzbasierten Online-Unterricht (Fern- statt Präsenzunterricht auch ohne Covid-19) samt Folgekosten oder die Auswirkungen für den Unterricht. Ausgespart wird die zwingend notwendige Diskussion über das sich ändernde Menschenbild, den „heimlichen Lehrplan“, der mit der digitalen Beschulung einher geht, wenn Kinder und Jugendliche alleine an Lernstationen ihre Wochenpläne am Rechner abarbeiten.

Das ist das Gegenteil von dem, was Pädagogik bedeutet: Persönlichkeitsbildung im Erwerb von Wissen, Können und Wertorientierung.

Automatisierung, Digitalisierung, Steuerung und Kontrolle von Prozessen: So hat die amerikanische Wissenschaftlerin Shoshana Zuboff bereits 1988 die Prinzipien der Informationstechnik benannt. Daraus haben sich Strukturen entwickelt, die sie Überwachungskapitalismus nennt (Zuboff 2018) und die man, beim Einsatz dieser Techniken in Schulen, Überwachungspädagogik (M. Burchardt) nennen muss. Das ist das Gegenteil von dem, was Pädagogik bedeutet: Persönlichkeitsbildung im Erwerb von Wissen, Können und Wertorientierung.

Aus dem Unterrichten als „Verstehen lehren und lernen“ (A. Gruschka) als wechselseitige Beziehung zwischen realen Personen wird durch Lernmanagementsoftware ein zunehmend automatisiertes Beschulen und Testen.

„Alles muss messbar sein“. Metrik wird zum Universalschlüssel.

Aus dem Unterrichten als „Verstehen lehren und lernen“ (A. Gruschka) als wechselseitige Beziehung zwischen realen Personen wird durch Lernmanagementsoftware ein zunehmend automatisiertes Beschulen und Testen. Aus dem pädagogischen Prozess der Erziehung und Emanzipation wird durch digitale Endgeräte und Parameter der Daten-Ökonomie ein System der Metrik (Messen und Bewerten). Die Basis sind personenbezogene Daten. Die Begriffe dafür sind datengestützte Schulentwicklung, Learning Analytics und empirische Bildungsforschung. Statistik, Diagnostik und Prognostik statt Pädagogik. Statt der Schule als einem sozialen Ort der Gemeinschaft entsteht eine Einrichtung zur fremdgesteuerten Selbstoptimierung nach algorithmischen Vorgaben. Statt der Entwicklung von Persönlichkeit, Mündigkeit, Gemeinsinn und Eigenverantwortung lernen Kinder, sich systemkonform zu verhalten.

Nicht alles, was zählt, kann man zählen [also messen]. Und nicht alles, was man zählen [also messen] kann, zählt! Albert Einstein

Hier gilt es, sich zu besinnen. Der psychotechnischen Maxime eines William Stern „Es muss sich testen [messen] lassen“ muss ein Zitat von Albert Einstein gegenüberstehen: „Nicht alles, was zählt, kann man zählen [also messen]. Und nicht alles, was man zählen [also messen] kann, zählt!” Anstatt Schule und Unterricht durch digitale Transformation für Metrik und Technik zu optimieren, muss der Fokus wieder auf Individuum, Gemeinschaft und humanen Lernprozessen liegen.

Nur wer unterrichten will und kann, sollte Lehrerin oder Lehrer werden. Lehrkräfte sind weder Lernbegleiter noch Coaches, sondern der menschliche Kontrapunkt für Lernprozesse.

Digitaltechnik kann dabei ein Werkzeug unter vielen sein. Bildung aber ist Beziehung: Der Mensch wird am Menschen zum Menschen. Dazu sind hier einige Prämissen formuliert:

Lernen: Ziel ist die ganzheitliche Bildung
  • Die Aufgabe von Schule und Unterricht wurde hinreichend in wissenschaftlichen, demokratischen und öffentlichen Prozessen diskutiert und von Kultusministerien bzw. Landesregierungen in Schulgesetzen und Bildungsplänen festgelegt. Technische Entwicklungen und Wirtschaftsinteressen drohen demokratische, fachliche und wertorientierte Abwägungen zu unterlaufen.
  • Schulische Bildung im Unterricht gelingt nur im Rahmen mitmenschlicher Beziehungen. In gemeinsamer Auseinandersetzung mit einer Sache erwerben junge Menschen unter pädagogischer Anleitung Kenntnisse, Fertigkeiten, Werthaltungen und Urteilskraft. In diesen Konstellationen vollzieht sich die Persönlichkeitsbildung der Heranwachsenden. Digitalisierung darf diese Grundlagen und das direkte Miteinander nicht ersetzen.
  • Herausragende Schulen weltweit verfügen über Bibliotheken, Kunst-, Musik- und Theaterräume, Sportstätten und Gärten als Kontrapunkt zum Klassenraum. Das Ziel ist die ganzheitliche Bildung junger Menschen anstelle einer utilitaristischen Verkürzung auf Wirtschaftsinteressen.
  • Nur wer unterrichten will und kann, sollte Lehrerin oder Lehrer werden. Lehrkräfte sind weder Lernbegleiter noch Coaches, sondern der menschliche Kontrapunkt für Lernprozesse: Zum Denken lernen brauchen wir ein Gegenüber, schrieb Immanuel Kant im Text “Was heißt: sich im Denken orientieren?” (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken und Fragen stellen können.
  • Schule befähigt zum Leben in einer digitalisierten Gesellschaft. Sie kompensiert die digitale Verwahrlosung in vielen Elternhäusern durch analoge Angebote und sie thematisiert in je verschiedener Fachperspektive die Phänomene, Theorien und Modelle der Digitaltechnik und ihre kulturellen, sozialen und politischen Auswirkungen. Der Einsatz digitaler Lehrmedien ist möglich, aber nicht notwendig. Medienmündigkeit ist deutlich mehr als Medienbedienkompetenz und gerade nicht auf digitale Formate zu verkürzen.
  • Über den Medien- und Technikeinsatz im Unterricht entscheiden die Lehrkräfte. Autonomie im Einsatz der Mittel ist grundgesetzlich gesichert (Methodenfreiheit). Sie sind qualifiziert, für Unterrichtsgegenstände und Bildungsziele geeignete Methoden und Medien auszuwählen: analog und digital.
  • Analoge wie digitale Medien werden gleichwertig, altersangemessen und je nach Schülerschaft, Fach, Thema und Unterrichtsstil gewählt. Angehende Lehrkräfte sind im Einsatz aller Medien zu schulen bzw. Lehrkräfte im Dienst auf freiwilliger Basis weiterzubilden.
  • Personalisierte Daten sind das Kapital des 21. Jahrhunderts. Damit lässt sich das Verhalten von Menschen prognostizieren, modifizieren (Nudging) und manipulieren (persuasive, d.h. verhaltensändernde Technologien). Bildungseinrichtungen haben Mündigkeit und Selbstverantwortung zum Ziel. Daher gelten bei der Datenhaltung die Parameter Datensparsamkeit, Dezentralisierung, Datenhoheit bei den Nutzern und Löschoption für nicht benötigte Daten. (Vgl. Tim Berners-Lee: „Contract for the Web“.) Bildungseinrichtungen sind kein Teil der Daten-Ökonomie und dürfen nicht den Partikularinteressen der IT-Wirtschaft untergeordnet werden.
  • Datenschutz schützt Grundrechte, nicht Daten. Daher ist die europäische Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO) an Schulen einzuhalten. Daten von unter 16-Jährigen werden weder gespeichert noch zu Profilen ausgewertet. Lediglich technisch notwendige Angaben (Nutzername, Passwort, Berechtigungen) sind im System hinterlegt.
  • Öffentliche Schulen setzen nichtkommerzielle Open Source-Software ein, mit der alles technisch und gestalterisch umgesetzt werden kann, was an Rechnern im Unterricht in der Schule gelernt werden soll (aktive Medienproduktion und -reflexion).
  • An öffentlichen Schulen werden nur staatlich geprüfte Lehrmaterialien eingesetzt. Dafür sind die Landesbildungszentren auszubauen, die digitale Bibliotheken bereit stellen und ausbauen. Unterrichtsmaterial aus der Privatwirtschaft ist nur bedingt für medienkritische Projekte einsetzbar (z.B. zum Thema Lobby-Arbeit in Schulen).
  • Öffentliche Schulen benutzen statt WLAN kabelgebundene Netzwerklösungen und Visible Light Communication-Technik (VLC), um die Strahlenbelastung zu minimieren.
  • Das Arbeiten an Bildschirmen kann die Gesundheit gefährden. Daher ist die maximale Arbeitszeit an Displays und Touchscreens altersabhängig gemäß der Empfehlungen der Kinderärzte zu gestalten, die Bildschirmzeiten zu begrenzen (BLIKK- und Pronova-Studien). Es sind ergonomische Arbeitsplätze (externer Bildschirm und Tastatur, einstellbare Tischhöhen, Stühle) einzurichten. Kita und Grundschule bleiben in der pädagogischen Arbeit bildschirmfrei.

Dieser Aufruf dient zur Besinnung und als Anregung für Gespräche über die digitale Transformation von Schule und Unterricht. Sie können den Text gerne weitergeben und in Ihren Kreisen diskutieren.

 

Ansprechpartner

Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.

 

AR Dr. Matthias Burchardt
Universität zu Köln
Humanwissenschaftliche Fakultät
Albertus-Magnus-Platz, 50931 Köln
m.burchardt@uni-koeln.de

futur iii + Bündnis für humane Bildung

 

Prof. Dr. phil. Ralf Lankau
Fakultät Medien
Hochschule Offenburg
Badstr. 24, 77652 Offenburg
ralf.lankau@futur-iii.de

 

 

 

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Die PISA-Studien bieten der pädagogischen Praxis wenig Nutzen https://condorcet.ch/2019/12/die-pisa-studien-bieten-der-paedagogischen-praxis-wenig-nutzen/ https://condorcet.ch/2019/12/die-pisa-studien-bieten-der-paedagogischen-praxis-wenig-nutzen/#comments Thu, 05 Dec 2019 05:13:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=3143

Die PISA-Studien nehmen für sich in Anspruch, Bildung zu messen. Aber kann man Bildung tatsächlich messen? Der emeritierte Professor und Condorcet-Autor Walter Herzog geht dieser Frage nach und deckt auf, weshalb die pädagogische Praxis von der Bildungsvermessung nur wenig profitieren kann.

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Es verhält sich mit der Bildung nicht unähnlich wie mit der Zeit. Niemand wird bestreiten, dass wir die Zeit messen können. Aber ebenso wird niemand behaupten, dass die metrische Zeit das Phänomen Zeit vollständig abdeckt. Unsere Uhren wissen nichts vom Leiden an der Zeit, vom Gefühl der Zeitlosigkeit, vom Verweilen im Augenblick oder von der Langeweile. Sie wissen auch nichts von der qualitativen Unterscheidung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir mögen noch so lange auf unsere Uhren blicken, wir werden nie erfahren, dass die vergangene Zeit etwas ganz anderes ist als die zukünftige Zeit. Was eine Uhr misst, ist daher nie die ganze Zeit. Etwas Ähnliches trifft auf die Bildung zu. Auch wenn sich Bildung messen lässt, heisst dies nicht, dass die gemessene Bildung uneingeschränkt dem entspricht, was wir unter Bildung verstehen.

Auch wenn sich Bildung messen lässt, heisst dies nicht, dass die gemessene Bildung uneingeschränkt dem entspricht, was wir unter Bildung verstehen.

Entgrenzung von Raum und Zeit

Was tun wir überhaupt, wenn wir etwas messen? Im Falle der Zeit fällt uns eine Antwort nicht allzu schwer. Wir messen die Zeit, indem wir einen regelmässigen natürlichen oder künstlichen Vorgang als Standard setzen, um einen anderen Vorgang damit zu vergleichen. Ob Sonnenuhr, Wasseruhr, Sanduhr, Räderuhr, Pendeluhr oder Quarzuhr, immer gibt es einen sich periodisch wiederholenden Geschehensablauf, der als Massstab dient, um einen anderen Geschehensablauf zu messen.

Ob Sonnenuhr, Wasseruhr, Sanduhr, Räderuhr, Pendeluhr oder Quarzuhr, immer gibt es einen sich periodisch wiederholenden Geschehensablauf, der als Massstab dient.

Die Vorstellung, dass Uhren die Zeit anzeigen oder registrieren, ist daher missverständlich, da sie suggeriert, Zeit sei uns objektiv gegeben und brauche nur verlässlich abgebildet zu werden. Doch eine Uhr bildet die Zeit nicht ab, sondern auferlegt unserer Zeiterfahrung eine bestimmte Ordnung, die es ermöglicht, uns über die Zeit zu verständigen. Wie gut begründet der Vorgang der Zeitmessung auch immer sein mag, es gibt keine Zeit an sich. Was Zeit ist, legen wir durch die Messung von Zeit überhaupt erst fest.

Wir legen fest, was Bildung ist

Mit der Bildung verhält es sich nicht anders. Auch Bildung gibt es nicht an sich, sondern wir legen fest, was wir unter Bildung verstehen, indem wir uns auf eine lange Tradition des Denkens über Bildung beziehen. Das Gepräge, das Wilhelm von Humboldt und Hegel dem Bildungsbegriff gegeben haben, ist in vieler Hinsicht auch heute noch relevant, wenn wir über Bildung sprechen. Allerdings war die Messung von Bildung weder für Humboldt noch für Hegel ein Thema. Ihre Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff erfolgte im Medium der Sprache, deren Nachteil darin liegt, dass wir weniger präzise kommunizieren können, was wir unter Bildung verstehen, als wenn uns ein Instrument zur Verfügung steht, mit dem sich Bildung messen lässt.

Die PISA-Studien stehen in einer Tradition der Standardisierung von Masssystemen.

Die höhere Präzision, die mit einem Messvorgang verbunden ist, hat wesentlich damit zu tun, dass eine Messung von lokalen und personalen Einflüssen weitgehend unabhängig ist. Während die Zeit noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den natürlichen Tages- und Jahresrhythmen einer Agrargesellschaft bestimmt wurde und damit lokale Zeit war, führte die Industrialisierung zu einer Vereinheitlichung der Zeitmessung. Die aufkommenden Nationalstaaten beförderten die Entwicklung, da sie aufgrund ihrer Verwaltungsbedürfnisse generell an einheitlichen Masssystemen interessiert waren. Offenbar soll nun Gleiches auch mit der Bildung geschehen. Die PISA-Studien stehen in einer Tradition der Standardisierung von Masssystemen, die im 19. Jahrhundert begonnen hat und seither immer mehr Lebensbereiche erfasst. Analog zur metrischen Zeiterfassung soll die Beurteilung von Bildung unabhängig von lokalen Einflüssen sein, da sich nur so über Raum und Zeit hinweg Vergleiche anstellen lassen.

Verschiedene Messniveaus

Was messen wir überhaupt? Bild: AdobeStock

Was aber verstehen wir überhaupt unter einer Messung? Nach einer weit verbreiteten Definition beruht eine Messung auf der Zuordnung von Zahlen zu Eigenschaften von Objekten oder Ereignissen entsprechend einer bestimmten Regel. So können wir Klassen von Objekten mit einer gewissen Eigenschaft (z.B. Menschen mit der Eigenschaft, männlich oder weiblich zu sein) Zahlen zuordnen (den Männern eine 1, den Frauen eine 2 oder umgekehrt) und haben damit einen Messvorgang vollzogen. Allerdings einen äusserst primitiven, da die Zahlen lediglich eine nominelle Zuordnung, d.h. eine Benennung, erlauben. Man spricht deshalb von einer Nominalskala.

Etwas gehaltvoller ist die Zuordnung von Zahlen zu Objekten, wenn wir eine Rangreihe bilden können – z. B. die Reihenfolge, in der die Teilnehmer an einem Hundertmeterlauf im Ziel eintreffen. Wenn wir als Zahlsystem die natürlichen Zahlen nehmen und diese beginnend mit 1 vergeben, dann definieren die Zahlen eine Abfolge. Die Zahlen sind nicht mehr bloss Namen, sondern legen eine Ordnung fest, nämlich wer der Schnellste, wer der Zweitschnellste, wer der Drittschnellste etc. ist. Aus der Ordnung als solcher lässt sich aber nicht schliessen, wer der Schnellste schlechthin ist, da wir nur die Reihenfolge beim Eintreffen am Ziel registriert und nicht die Laufzeit gestoppt haben. Rang- bzw. Ordinalskalen erlauben eine qualitative Ordnung, also gerade nicht das, was wir unter einer Messung verstehen.

Messungen auf dem Niveau von Ratioskalen sind in den Sozialwissenschaften allerdings nicht möglich.

Erst eine Intervallskala, deren Zahlen nicht nur geordnet sind, sondern gleiche Abstände aufweisen und damit Grössenunterschiede erfassen, erfüllt die Erwartungen an eine Messung. Was einer Intervallskala jedoch noch fehlt, um die Qualität eines physikalischen Masssystems zu erreichen, ist ein definierter Nullpunkt. Ist ein solcher Nullpunkt gegeben wie im Falle der Längen- oder Zeitmessung haben wir es mit einer Ratioskala zu tun, die eine absolute Messung erlaubt. Der Messvorgang wird damit gänzlich unabhängig von lokalen Bedingungen, wie die Zeitmessung bei einem Hundertmeterrennen zeigen kann. Egal wo oder wann die hundert Meter gemessen werden, sie lassen sich über Raum und Zeit hinweg miteinander vergleichen, was es möglich macht, von einem Rekord bzw. «Weltrekord» zu sprechen. Messungen auf dem Niveau von Ratioskalen sind in den Sozialwissenschaften allerdings nicht möglich. Das höchste erreichbare Niveau sind Intervallskalen, wobei auch hier gelegentlich bezweifelt wird, dass dieses Niveau tatsächlich erreicht wird. Besonders schwierig sind daher Vergleiche über die Zeit. Obwohl mit den PISA-Studien solche Vergleiche angestellt werden, sind sie mit Vorsicht zu geniessen.

Tests als Messinstrumente

Wenn Messung darauf beruht, dass ein Massstab definiert wird, mit dem das zu messende Phänomen verglichen wird, dann stellt sich im Falle der Messung von Bildung die Frage, was eigentlich gemessen wird. Was wird womit verglichen? Bei den PISA-Studien stützt man sich auf das Leistungsverhalten der Schülerinnen und Schüler, denen standardisierte Testaufgaben vorgelegt werden, die sie zu bearbeiten haben. Wenn dann von Wissen, Können oder Kompetenzen gesprochen wird, dann muss man sich aber bewusst sein, dass dies gerade nicht gemessen wird. Eine Messung von Wissen oder Kompetenzen ist im strengen Sinn nicht möglich, da psychische Phänomene im Unterschied zu physischen nicht oder nur teilweise direkt zugänglich sind. Psychologische Konstrukte wie Persönlichkeit, Gedächtnis, Intelligenz, Problemlösefähigkeit, Kompetenz oder Einstellung, aber auch Schulleistung, sind uns nicht phänomenal gegeben. Vielmehr sind es Konstrukte, deren Realitätsstatus oft unklar ist. Was uns gegeben ist, sind Verhaltensweisen oder Ergebnisse von Verhaltensweisen, die wir als Indikatoren nutzen, um das interessierende Konstrukt zu erschliessen.

Psychometrische Tests sind nichts anderes als methodische Hilfsmittel, um individuelle Verhaltensweisen unter kontrollierten Bedingungen auszulösen.

Beurteilungsbogen der Kindergärten in St. Gallen Seite 9 von insgesamt 12 Seiten

Psychometrische Tests sind nichts anderes als methodische Hilfsmittel, um individuelle Verhaltensweisen unter kontrollierten Bedingungen auszulösen. Tests werden so konstruiert, dass sie einem Messverfahren nahekommen. Die üblichen Testkriterien – Objektivität, Reliabilität und Validität – sind Ersatzkriterien, um den Mangel an Messqualität zu kompensieren. Die Kriterien sind darauf ausgerichtet, die Durchführung eines Tests sowie die Auswertung der Testergebnisse zu normieren, womit der Anspruch einer Messung, nämlich von lokalen und situativen Bedingungen unabhängig zu sein, wenigstens annäherungsweise eingelöst werden kann. Dies bringt das folgende Zitat von Lee Cronbach aus seinen Essentials of Psychological Testing pointiert zum Ausdruck: «A standardized test is one in which the procedure, apparatus, and scoring have been fixed so that precisely the same testing procedures can be followed at different times and places» (S. 27 – Hervorhebung W. H.). Tests wie sie im Rahmen von PISA und vergleichbaren Schulleistungsstudien zum Einsatz kommen erfüllen damit eine analoge Funktion wie Uhren im Falle der Zeiterfassung, nämlich Bildung unabhängig von lokalen Bedingungen zu messen. Die Qualität der Messung von Schülerleistungen ist allerdings bedeutend geringer als die Qualität der Zeitmessung.

Problematisch ist vor allem der Aspekt der Validität.

Problematisch ist vor allem der Aspekt der Validität. Während die Objektivität und die Reliabilität formale Kriterien sind, die etwas über die Genauigkeit und Verlässlichkeit eines Tests sagen (z.B. darüber, wie gross der Messfehler ist), ist das entscheidende Kriterium eines Tests letztlich inhaltlicher Art und betrifft die Frage, ob der Test überhaupt misst, was er zu messen vorgibt. Während bei einer physikalischen Messung die Frage der Validität des Messinstruments vor dessen Entwicklung auf der Basis von theoretischen und empirischen Kenntnissen des Messgegenstandes beantwortet werden kann, lassen sich Tests erst im Nachhinein validieren. Sie werden mit einem Aussenkriterium korreliert, dessen Validität aber genauso fraglich sein kann wie die Validität des Tests selber. Nur wenn wir wüssten, wie der psychologische Gegenstand beschaffen ist, liesse sich die Frage, wie er gemessen werden soll, eindeutig beantworten. Das gilt für die Erhebung psychologischer Daten mittels Tests generell, also auch für die Messung von Kompetenzen. Zwar ist uns auch die Zeit sinnlich nicht direkt gegeben, aber im Falle der Zeit haben wir verlässliche physikalische Theorien, die uns erlauben, die Uhrzeit als fundamentalen Messvorgang zu begründen. Was die PISA-Tests tatsächlich messen, ist daher alles andere als klar.

Geringer Nutzen für die pädagogische Praxis

Offensichtlich bilden die PISA-Studien nicht einfach ab, was an unseren Schulen an Bildung vermittelt wird. Was die Studien messen, ist vom Messvorgang nicht unabhängig, sondern geht aus der Messung überhaupt erst hervor. Die Vorzüge, die die Messung von Bildung bietet, müssen daher mit einem hohen Preis bezahlt werden. Die Vorzüge liegen in der Standardisierung des Verfahrens und in seiner Unabhängigkeit von raum-zeitlichen Beschränkungen. Die Standardisierung erhöht die Verlässlichkeit, mit der über Bildung gesprochen werden kann. Die dadurch gewonnene Objektivität ist aber lediglich Objektivität im Sinne von intersubjektiver Übereinstimmung, aber nicht im Sinne von Gegenstandsadäquatheit. Zwar vermögen wir dank der PISA-Studien verbindlicher über Bildung zu sprechen, ob aber das, worüber wir sprechen, dem entspricht, was wir herkömmlicherweise unter Bildung verstehen, muss bezweifelt werden.

Vorteil liegt im politischen Bereich

Wie industrielle Standards dazu dienen, um Produktionsabläufe in ihrer Effizienz zu steigern, sind Bildungsstandards einer Logik der Effizienzsteigerung von Schule und Unterricht verpflichtet. Bild: AdobeStock

Angesichts dieses Vorbehalts scheint der Nutzen der PISA-Studien nicht pädagogischer, sondern politischer Art zu sein. Er liegt in der Relativierung eines sprachlichen Zugangs zur Bildung, dessen Grenzen darin liegen, dass wir über Bildung nur vage und unpräzise sprechen können, während die Messung von Bildung nicht nur mehr Präzision mit sich bringt, sondern auch Vergleiche ermöglicht, die über lokale Grenzen hinausgehen. Das entspricht dem Credo der standardbasierten Reform des Schulsystems. Wie industrielle Standards dazu dienen, um Produktionsabläufe in ihrer Effizienz zu steigern, sind Bildungsstandards einer Logik der Effizienzsteigerung von Schule und Unterricht verpflichtet. Dafür sind genaue Kenntnisse über die Leistungsfähigkeit des Systems unabdingbar. Mit den PISA-Studien wird der Blick auf die Schule vereinheitlicht, was politisch willkommen scheint. Pädagogisch ist aber etwas anderes gefragt. Wer pädagogisch handelt, tut dies nie auf dem Niveau standardisierter Abläufe, sondern immer in einer konkreten Situation unter Beachtung situativer und individueller Besonderheiten. Die Messung von Bildung steht damit im Widerspruch zur Logik pädagogischer Praxis. Dass Lehrerinnen und Lehrer mit den Ergebnissen der PISA-Studien wenig anzufangen wissen, kann daher nicht erstaunen.

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Wettbewerbsdenken funktioniert in der Schule nicht https://condorcet.ch/2019/11/wettbewerbsdenken-funktioniert-in-der-schule-nicht/ https://condorcet.ch/2019/11/wettbewerbsdenken-funktioniert-in-der-schule-nicht/#comments Thu, 21 Nov 2019 15:36:37 +0000 https://condorcet.ch/?p=2977

Condorcet-Autor Felix Schmutz widerspricht den Aussagen von Hans Rentsch "Ökonomisierung nur ein Schlagwort". Er warnt vor Vermessungswahn und wendet sich gegen den Wettbewerbsgedanken im Schulwesen.

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Felix Schmutz, BL, hält schulischen Wettbewerb für schädlich.

Der Artikel von Hans Rentsch zeigt, wie verschieden wir die Welt je nach Standpunkt wahrnehmen. Wir beurteilen und bewerten alles von einer bestimmten Warte aus, die unser Denken kanalisiert. Wo hat Rentsch Recht und wo nicht, wenn er sich zu Tendenzen der Schulpolitik äussert?

Wo Hans Rentsch Recht hat

Recht hat er, wenn er die Kompetenzen zum Wirtschaftsunterricht im LP 21 anzweifelt. Tatsächlich ist auf den ersten Blick festzustellen, dass die Schüler(innen) wenig über die Grundlagen und Organisationsformen der Wirtschaft, dafür umso mehr über die Kritik an der Wirtschaft lernen sollen, was nahelegt, dass es den Autoren eher um moralingetränkte politische Einflussnahme als um objektive Information gegangen ist, etwa so, wie wenn Mediziner im ersten Semester zunächst lernen müssten, welche Nachteile die Schulmedizin hat, obwohl sie noch nicht einmal den Unterschied zwischen Viren und Bakterien kennen.

Rentsch verteidigt den Vermessungswahn

Sein Blick ist hingegen etwas getrübt, wenn er den Vermessungswahn (Standards, Tests, Schulvergleiche) als notwendigen Bestandteil des Bildungswesens verteidigt, in der Meinung, dass dies zu Qualitätsverbesserungen und weniger Analphabeten führen würde. Hier verrät sich eben doch die Perspektive des Ökonomen, denn er kann sich offenbar nicht vorstellen, dass sich Bildungserfolge durch solche Massnahmen, wie sie in der Wirtschaft gängig sind, in der Schule nicht auch einstellen sollten.

In der schulischen Realität verleiten gute Messresultate zum Ausruhen und schlechte Resultate zum Aufgeben.

Die Anhänger des Vermessens sind der Meinung, Messresultate würden aus sich selbst heraus Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler zu vermehrtem Einsatz anspornen, was dann zu höheren Erfolgsquoten führen würde. Dem ist nicht so: In der schulischen Realität verleiten gute Messresultate zum Ausruhen und schlechte Resultate zum Aufgeben. Für Kinder und Jugendliche haben Messresultate nur die Bedeutung, die ihnen das familiäre Umfeld verleiht. Mit allen positiven und negativen Konsequenzen, die aus der elterlichen Einstellung resultieren.

Wettbewerb schadet der Schule Bild: AdobeStock

Das Wettbewerbsdenken, das in der Wirtschaft funktioniert, funktioniert in der Schule nicht. Um den Schulerfolg zu verbessern, braucht es ganz im Gegenteil pädagogische und didaktische Massnahmen im Mikrobereich, d.h. im Klassenzimmer. Anspornen ist selbstverständlich auch im Klassenzimmer möglich, aber die Motivation beruht auf einem grösseren psychisch-sozialen Spektrum. Tests und Noten gehören als Stimulans auch dazu, aber nicht im Sinne von nationalen Standards, sondern als Rückmeldung über individuelle Lernfortschritte.

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