Unterricht - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 01 May 2024 07:14:48 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Unterricht - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Stefan: “Der Leistungsdruck an der Schule ist riesig” https://condorcet.ch/2024/05/stefan-der-leistungsdruck-an-der-schule-ist-riesig/ https://condorcet.ch/2024/05/stefan-der-leistungsdruck-an-der-schule-ist-riesig/#respond Wed, 01 May 2024 07:14:48 +0000 https://condorcet.ch/?p=16625

Wie erleben Schülerinnen und Schüler in Deutschland ihren Schulalltag? FAZ-Redakteurin Franziska Pröll hat die Wahrnehmung von dreien aus unterschiedlichen Landesteilen und Altersklassen protokolliert. Ihr Leiden scheint grösser als ihre Freude. Neben Schilderungen über die Auswirkungen von Lehrer- und Zeitmangel, Leistungsdruck, Rassismus oder Überforderung gibt es aber auch Lichtblicke.

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Den Lehrermangel spüre ich an meiner Schule jeden Tag. Morgens öffne ich auf dem Handy unseren Vertretungsplan. Zurzeit bin ich meistens frustriert, weil ich sehe: Von acht Stunden, die mein Stundenplan vorsieht, finden nur zwei bis drei statt.

Gastautorin Franziska Pröll, Redakteurin bei der FAZ

Lehrkräfte, die krank sind, stellen uns Aufgaben in einer Cloud bereit. Wir sollen sie dort abrufen und bearbeiten. Doch das funktioniert nicht: Die Lernaufträge sind meist nicht so ausführlich, dass man sich 90 Minuten damit beschäftigen kann. Viele Schülerinnen und Schüler nutzen Künstliche Intelligenz, um sie zu bearbeiten. In Physik ist eine Aufgabe damit innerhalb von fünf Minuten erledigt, bei einer Übersetzung in Latein geht es ähnlich schnell. Und die meisten Schüler wissen: Die Lehrerin wird es sich sowieso nicht angucken, wenn sie zurück ist. Lernaufträge fühlen sich für uns an wie Beschäftigungstherapie.

Es gibt noch etwas, was mich daran ärgert: Das Ministerium stellt ein System bereit, in das die Schulleitung einträgt, wie viele Stunden vertreten werden und wie viele ausfallen. Lernaufträge können aber nur als Vertretungsstunde erfasst werden, also als Unterricht durch einen Vertretungslehrer – obwohl sie kein Unterricht sind, sondern selbständige Lernzeit. Das Ministerium kriegt also gar nicht mit, wie die Lage an Schulen ist.

Stefan Tarnow, 18 Jahre, geht in die 11. Klasse eines Gymnasiums im ­brandenburgischen Lübben.

Noch ein Jahr, dann mache ich Abitur. Ich spüre großen Druck bei uns Schülern und bei den Lehrern. Sie haben den Anspruch, uns gut vorzubereiten. Sie wissen, dass die Prüfungen nicht angepasst werden, wenn Unterricht ausgefallen ist. Sie müssen es irgendwie schaffen, uns den Stoff in kurzer Zeit zu vermitteln. Viele meiner Mitschüler haben Angst, es nicht zu schaffen.

Wenn Unterricht stattfindet, fühlt er sich so sich an, als würden wir durch alle Themen galoppieren, ohne uns wirklich mit ihnen zu befassen. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr Zeit hätten. Mehr Zeit, um Inhalte wirklich zu verstehen, und mehr Zeit, um Rücksicht zu nehmen auf diejenigen, die länger brauchen. Ein Teil von ihnen versucht, durch Nachhilfe aufzuholen, was er oder sie nicht versteht. Aber nicht jeder kann sich Nachhilfeunterricht leisten. Das ist ungerecht. Aber es passt ins Bild, das PISA und andere Studien offenlegen: Deutschland hat eines der ungerechtesten Bildungssysteme der Welt.

Ein Teil meiner Mitschüler hat gar nichts anderes mehr im Kopf außer Schule. Sie kommen nach Hause, machen Hausaufgaben und üben, üben, üben. Dann gehen sie schlafen. Freizeit haben sie nicht. Die Zahl der Depressionen unter Schülerinnen und Schülern geht aktuell durch die Decke. Ich würde schätzen, dass die Hälfte der Leute in meiner Klasse psychische Probleme hat. Auch soziale Ängste haben deutlich zugenommen, was sich bei Vorträgen äußert. Viele haben Hemmungen zu sprechen.

Ich habe mir Hilfe in einer Klinik gesucht und eine Therapie gemacht. Jetzt geht es mir besser, und ich kann wieder viel freier, viel lebendiger sprechen.

 

Mir ging es selbst so. Nach der Corona-Zeit wurde ich auf einmal sehr zurückhaltend bei Vorträgen. Ich hatte eine Hemmung, aus mir rauszukommen. Die Fröhlichkeit, die eigentlich immer da war, war plötzlich weg. Es kam mir vor, als ob ein grauer Schleier über mir liegt.

An der Schule hilft in solchen Fällen leider niemand. Schulpsychologen kommen nur in Notfällen dorthin. In Brandenburg gibt es einen Schulpsychologen pro Landkreis, er sitzt in der Beratungsstelle in der Kreisstadt. Der Landkreis, in dem meine Schule liegt, ist 100 Kilometer lang. Man muss also weit fahren, um zum Schulpsychologen zu kommen. Ich habe mir Hilfe in einer Klinik gesucht und eine Therapie gemacht. Jetzt geht es mir besser, und ich kann wieder viel freier, viel lebendiger sprechen.

Auch wenn mich vieles an der Schule stört – es gibt auch etwas, was mich zufrieden macht: dass es Strukturen für Schüler gibt, um sich zu beteiligen. Ich engagiere mich im Schülerrat meiner Schule und bin auch Landesschülersprecher in Brandenburg. Mein Eindruck ist, dass Politiker zunehmend versuchen, uns zu fragen, was man besser machen kann.

 

Hannah: Solche Vergleiche geben mir das Gefühl, nicht gut genug zu sein.

Was ich an meiner Schule besonders mag, ist die Vielfalt. In meiner Klasse sind 28 Leute. Bei 25 von ihnen kommt mindestens ein Elternteil aus einem anderen Land – aus Tunesien, Italien, Griechenland oder der Türkei. Im Unterricht sprechen wir oft über unsere Kulturen und Religionen. Das finde ich cool.

Es gibt Momente, in denen ich die Schule nicht mag. Einer meiner Mitschüler hat sich vor Kurzem im Kunstunterricht mit schwarzer Farbe einen Hitlerbart aufgemalt. Ein anderer hat die Hand zum Hitlergruß gehoben. Ich höre in der Schule auch öfter Witze über Juden. Das war schon vor dem 7. Oktober 2023 so. Ich bin Jüdin, und wenn so etwas passiert, fühle ich mich unsicher. Ich glaube nicht, dass Antisemitismus immer als solcher gemeint ist. Die meisten denken, sie machen einen Witz – und verstehen nicht, dass sowas kein Witz ist.

Hannah, 13 Jahre, geht in die 8. Klasse einer Realschule in Süddeutschland.

Mein Ethiklehrer hat vor Kurzem unsere Ordner kontrolliert und gesehen, dass ein paar Schüler durchgestrichene Israelflaggen auf Arbeitsblätter gemalt hatten. Manche schrieben dazu “existiert nicht”. Er hat die Arbeitsblätter dann mit der digitalen Tafel an die Wand projiziert und mit der Klasse besprochen, warum er so etwas nicht akzeptiert. Ich glaube, es gab auch ein Gespräch mit den Schülern und ihren Eltern. Seine Reaktion fand ich sehr gut. In Chemie lief es anders: Als ein Hakenkreuz auf einem Kittel war, hat die Lehrerin gesagt: “Ja, egal, nicht so wichtig.”

Wir wollten einen “Safe Space” schaffen für diejenigen, die anders sind als die meisten.

 

Nicht nur für Antisemitismus, auch für andere Themen wünsche ich mir mehr Raum: Rassismus ist an unserer Schule ein ständiger Begleiter. Viele Schüler benutzen das N-Wort, es gehört für sie einfach zum Sprachgebrauch dazu. Ich finde das nicht okay.

Zum Glück gibt es Leute, die so denken wie ich. Mit einer Freundin habe ich eine Gruppe gegründet. Wir wollten einen “Safe Space” schaffen für diejenigen, die anders sind als die meisten. Manche in der Gruppe erleben Rassismus, eine Person ist nonbinär, ins­gesamt sind wir 18 Leute. Wir treffen uns zum Reden oder gehen zusammen zu ­Fridays-for-Future- oder Anti-AfD-Demos.

Der Leistungsdruck an der Schule ist riesig. Wenn wir eine Arbeit zurückbekommen, entsteht ständig so ein Konkurrenzding. Wenn ich zum Beispiel eine 3,7 habe, sagt die Person neben mir: “Ich habe ’ne 2,1.” Und der Lehrer sagt: “Die beste Note der Klasse war ’ne 1. Und die schlechteste Note war eine 4.” Solche Vergleiche geben mir das Gefühl, nicht gut genug zu sein.

 

Jonathan Marte Frias wünscht sich mehr Vertrauen in die Schüler

Freunden und Mitschülern geht es oft schlecht, manche verletzen sich selbst. Wenn sie davon erzählen, frage ich mich: Was kann ich tun, um zu helfen? Darüber würde ich gerne im Unterricht sprechen. Und ich finde, es bräuchte eine Vertrauensperson an der Schule. Wir haben zwar eine Schul­sozialarbeiterin, aber sie muss alles, was ein bisschen schlimmer ist, an Lehrer, Schulleitung und Eltern weitergeben. Viele scheuen sich, zu ihr zu gehen.

Manchmal denke ich: Die Welt läuft weiter, aber die Schule bleibt gleich. Im Unterricht sitzen wir 45 Minuten lang am Platz, hören zu und lösen Aufgaben. Das ist nicht nur eintönig, es passt auch nicht mehr in die heutige Zeit. Es gibt so viele Technologien, die wir nutzen könnten. Oder wir könnten rausgehen in den Wald. Mit meinem früheren Englischlehrer haben wir das ein paar Mal gemacht. Jeder hat sein Buch mitgenommen, wir sind herumspaziert und haben Vokabeln gelernt. So konnte ich mir die Wörter viel besser merken. Das war cool.

Jonathan Marte Frias, 17 Jahre, geht in die 10. Klasse einer ­Sekundarschule im Rheinland.

Trotz Stress und Druck bin ich froh, dass es die Schule gibt. Hier habe ich eine Struktur. Es gibt “richtig” und “falsch”. Jemand sagt mir, was ich machen soll. Wenn ich in die Zukunft schaue, habe ich Angst, diese Struktur zu verlieren.

Ich habe Glück mit meiner Schule, die Lehrer unterstützen uns sehr. Gleichzeitig finde ich, die Schule sollte mehr Vertrauen in uns Schüler haben. Ich gehe in die zehnte Klasse. Vielen in meiner Klassenstufe ist bewusst, dass wir nicht für die Schule lernen, sondern für uns selbst. Dass es um unsere Zukunft geht. Trotzdem gibt es im Alltag viele Regeln, die ich als zu streng oder unnötig empfinde. Zum Beispiel dürfen wir das Schulgelände nicht verlassen. Klar, die Lehrer haben die Aufsichtspflicht und müssen auf uns achtgeben. Aber ich denke, man kann damit auch anders umgehen und uns einfach mal machen lassen. Nur wer Vertrauen bekommt, kann auch Verantwortung übernehmen.

Wie gehe ich mit Lebensmitteln um? Wie ernähre ich mich gesund? Praktische Fächer kommen aus meiner Sicht in der Schule viel zu kurz.

 

Ein anderes Beispiel sind Lernpläne: In Deutsch, Mathe und Englisch bekommen wir für jedes neue Thema Aufgaben, die wir in einer bestimmten Zeit – zum Beispiel in einem Quartal – bearbeiten müssen. Dafür bekommen wir eine oder zwei Stunden Zeit, also das sieht der Stundenplan so vor. Ich finde, man könnte den Schülern auch sagen: Den Lernplan macht ihr zu Hause, er ist eure Verantwortung. Die Zeit, die dadurch frei würde, könnte man ganz anders nutzen. Anstatt still vor sich hin zu arbeiten, könnte man in dieser Zeit guten und wichtigen Unterricht machen.

Hauswirtschaft, zum Beispiel, halte ich für ein wichtiges Fach. Darin unterrichtet werden aber nur die Zehner und nur ein Halbjahr lang. Dieser Zeitraum ist zu kurz, um all die Dinge zu lernen, die nach der Schule wichtig sind: Wie gehe ich mit Lebensmitteln um? Wie ernähre ich mich gesund? Praktische Fächer kommen aus meiner Sicht in der Schule viel zu kurz.

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Die wahren Gründe der Schulmisere in Basel https://condorcet.ch/2024/03/die-wahren-gruende-der-schulmisere-in-basel/ https://condorcet.ch/2024/03/die-wahren-gruende-der-schulmisere-in-basel/#comments Wed, 27 Mar 2024 09:52:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=16286

Die integrative Schule beelendet alle. Die Lehrerschaft erstickt in der Bürokratie und wird angefeindet. Dabei gäbe es Wege aus der Krise. Marcel Rohr, Chefredakteur bei der BAZ, formuliert sie.

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Luca Urgese und Mustafa Atici wollen Basels neuer Erziehungsdirektor werden. Mit Verve streiten die beiden Politiker im grossen BaZ-Interview über das Basler Bildungswesen. Am 7. April steht der zweite Wahlgang für die beiden Kandidaten an.

Was Mustafa Atici offenbar noch nicht verstanden hat: Die integrative Schule ist längst gescheitert. Überall macht sich Resignation breit – dafür braucht es keine weitere Analyse, wie es der SP-Mann beim Schlagabtausch mit Urgese fordert.

Was es dafür umso dringender braucht: einen nüchternen Blick auf das ganze System, das alle nur noch beelendet. Die integrative Schule ist nur die Spitze des Eisbergs.

Marcel Rohr, Chefredaktor der Basler Zeitung BaZ

Erste Erkenntnis: Man wollte zu schnell zu viel. Selbstverständlich gibt es im Unterricht Möglichkeiten, Kinder mit Defiziten in den Regelklassen zu integrieren. Beim Singen, beim Musizieren, beim Sport oder beim handwerklichen Gestalten – also bei nicht kopflastigen Fächern.

Im geisteswissenschaftlichen Schulunterricht dagegen ist es für die meisten Kinder und die Lehrerschaft eine Belastung, wenn ständig auf verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler Rücksicht genommen wird. Es muss um das Wohl einer Mehrheit gehen, nicht um das einer Minderheit. Für neue Förderklassenmodelle liegen genug Vorschläge auf dem Tisch.

Im geisteswissenschaftlichen Schulunterricht dagegen ist es für die meisten Kinder und die Lehrerschaft eine Belastung, wenn ständig auf verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler Rücksicht genommen wird.

 

Im Mittelpunkt einer neuen Ausrichtung muss die Lehrerschaft stehen. Hier offenbart sich das gleiche Elend wie bei der Polizei oder anderen Service-Public-Jobs: Die Beamten ersticken in der Bürokratie. Ausserdem werden sie immer stärker angefeindet. Die Respektlosigkeit kennt keine Grenzen mehr. Das sind die Zeichen einer rücksichtslosen und egoistischen Gesellschaft.

Weg mit der Bürokratie

Nur wenn die Bürokratie auf ein vernünftiges Mass reduziert wird, können sich die Lehrer wieder ihrem Kernauftrag widmen. Für alle, die es vergessen haben: Lehrer lehren. Sie haben einen Bildungsauftrag. Sie kreieren den Unterricht und helfen den jungen Menschen, Mitgestalter dieser Welt zu werden. Erziehungsberechtigt sind sie dann, wenn Kinder Grenzen überschreiten. Leider haben das viele Eltern vergessen. Sie meinen, mit dem Kind geben sie frühmorgens auch diese Verantwortung an die Schule ab.

Die grössten Feinde der Lehrerschaft sind die Juristen und die Versicherungen. Mit immer strengeren Vorschriften sorgen Letztgenannte dafür, dass sich die Lehrer und Lehrerinnen immer weniger trauen, etwas mit den Kindern zu unternehmen. Wer geht im Sommer noch freiwillig ins Schwimmbad? Das Risiko ist vielen zu gross.

Einer wird der nächste Basler Bildungsdirektor: Mustafa Atici/SP, links; oder Luca Urgese/FDP, rechts (Bilder: Nicole Pont/Pino Covino)

Die Juristen dagegen sind die Krücken der Eltern, um Recht durchzusetzen. Ein falsches Wort im Unterricht, eine zu schlechte Beurteilung im Zeugnis – schon steht der Anwalt im Lehrerzimmer und droht. Das sind unerträgliche Zustände, denen mit aller Kraft entgegengewirkt werden muss. Notfalls per Gesetzesänderung.

Lehrer lehren. Sie haben einen Bildungsauftrag. Sie kreieren den Unterricht und helfen den jungen Menschen, Mitgestalter dieser Welt zu werden.

 

Lehrerinnen als Autoritätspersonen müssen unbedingt wieder gestärkt werden, ohne dass dabei Muster aus der Steinzeit bedient werden, als noch Kopfnüsse verteilt wurden. Tatort Klassenzimmer: Aggressive Schüler, die selbst auf Primarstufe mit den Fäusten auf Ausbilder losgehen, sind im Alltag 2024 keine Seltenheit. Das sind jene Unverschämtheiten, welche die Lehrer desillusionieren und ausbrennen.

Deshalb sind Klassenassistenzen eine sinnvolle Sache. Sie stärken die Führungskraft im Schulzimmer und entlasten die Lehrer. Jedes Kind bekommt – falls gewünscht – mehr Aufmerksamkeit oder kann – falls nötig – mit vereinter Kraft in die Schranken gewiesen werden.

Klassenassistenzen kosten Geld, doch dies darf gerade in Basel-Stadt kein Argument sein. Bildung ist der Schlüssel für eine prosperierende Zukunft und die Basis für eine Humanistenstadt wie Basel, wo Gelehrtheit eine grosse Tradition geniesst. Aber nicht nur begabte Kinder haben ein Recht auf Unterstützung, auch verhaltensauffällige. Im Kanton Aargau beklagen sich viele Experten, dass beispielsweise viel zu wenig finanzielle Ressourcen in die Logopädie fliessen.

Der hohe Ausländeranteil in Basel schafft Probleme

Immer höher wird der Anteil jener Kinder, die zu einer frühen Deutschförderung verpflichtet werden. Es hat nichts mit Rassismus zu tun, wenn man festhält: Der hohe Ausländeranteil in Basel – im Kleinbasel liegt er mittlerweile bei rund 40 Prozent – ist für die gesamte Schule nicht leistungsfördernd.

Es gibt Schulhäuser in Basel, in denen Schweizer Kinder in der Minderheit sind. Allein mit diesem Hintergrund mutet es als Witz an, dass gewisse Kreise immer noch auf Frühfranzösisch oder Frühenglisch pochen. Dieser Murks bringt niemanden weiter, er schadet vor allem jenen jungen Menschen, die schon mit Deutsch ihre liebe Mühe haben.

Irgendwann ist eine Obergrenze erreicht. Viele Eltern mit Schweizer Pass pochen bewusst auf einen Schulhauswechsel oder zügeln weg, um der Alltagsproblematik «wir nix verstehen» auszuweichen.

 

Was bei der Migrationspolitik im ganzen westlichen Europa gilt, muss auch für die Region Basel zählen. Irgendwann ist eine Obergrenze erreicht. Viele Eltern mit Schweizer Pass pochen bewusst auf einen Schulhauswechsel oder zügeln weg, um der Alltagsproblematik «wir nix verstehen» auszuweichen. Das ist verheerend für unser Bildungssystem.

Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen haben es noch schwieriger in einer Welt, die immer anforderungsreicher wird. Jahrelang waren die Schulnoten das Mass aller Dinge, sie dienten als Wasserwaage zur Einordnung von Leistung. Immer lauter werden nun jene Stimmen, die die Notengebung als unbefriedigend wahrnehmen.

Das Beispiel Luzern

Der Kanton Luzern geht neue Wege. Dort wird ab Sommer 2026 in allen Primarschulen das neue «Rahmenkonzept Beurteilung» umgesetzt, 2027 folgt die Oberstufe. Dann gibt es in allen 19 Schulen der Stadt Luzern keine Prüfungsnoten mehr, stattdessen Kompetenzraster, Lerntagebücher und Feedbackgespräche.

Kinder wollen nicht nur spielen, die meisten wollen sich auch messen.

Es ist zweifelhaft, ob sich dieses Konzept bewährt. Die meisten Kinder wollen sich messen. Sie lieben den Wettkampf, den direkten Vergleich. Es sind eher die Angehörigen, die ihren Nachwuchs nicht diesem Leistungsdruck aussetzen wollen. Sie fürchten die schlechte Note.

Mustafa Atici wird eine dicke Haut, einen klaren politischen Kompass und viel Menschenverstand brauchen, um sich bei der Bewältigung der Basler Schulmisere eine gute Note abzuholen.

 

Eine Note ist sehr oft weniger verletzend als eine persönliche Einschätzung des Lehrers, die unterschiedlich ausgelegt werden kann. Mit Noten lernen Kinder, auch mal eine Niederlage einzustecken. Es härtet sie ab auf dem weiteren Weg in die Berufswelt, die mitunter unbarmherzig ist.

Am 7. April wählt Basel seinen neuen Erziehungsdirektor, Mustafa Atici ist der grosse Favorit. Er wird eine dicke Haut, einen klaren politischen Kompass und viel Menschenverstand brauchen, um sich bei der Bewältigung der Basler Schulmisere eine gute Note abzuholen.

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Zu viele deutsche Lehrer sind arm – an Kompetenz https://condorcet.ch/2024/03/zu-viele-deutsche-lehrer-sind-arm-an-kompetenz/ https://condorcet.ch/2024/03/zu-viele-deutsche-lehrer-sind-arm-an-kompetenz/#comments Fri, 15 Mar 2024 13:43:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=16179

Seit 25 Jahren befindet sich das deutsche Bildungswesen in einer Abwärtsspirale. Die jüngsten PISA-Ergebnisse markieren den bisherigen Tiefpunkt. Man hat sie schnell durch Migration und Lockdown erklärt, doch das greift zu kurz. Vom Kindergarten bis zum Abitur hat ein ideologisch begründeter Wandel stattgefunden, der die Qualität von Erziehung und Unterricht gesenkt hat. Die Einstellungen der Bildungspolitiker und -forscher müssen sich ändern, damit unsere Kinder wieder etwas Handfestes lernen können. In einer fünfteiligen Serie erklärt die Sonderpädagogin und heilpädagogische Psychologin Miriam Stiehler, woher diese Fehlentwicklungen kommen, wie sie sich auf Schüler auswirken und was sich ändern muss. Wir bringen den vierten Teil der Serie, die im Cicero erschienen ist.

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Schlecht vorbereitete Erstklässler treffen auf mangelhaft ausgebildete Lehrer mit unsachgemässen Methoden und ungeeigneten Schulbüchern. Deshalb wird mehr Geld unser Bildungssystem nicht retten. Wir geben nicht zu wenig Geld aus, sondern für die falschen Dinge. Deutsche Lehrer lernen: Es ist egal, ob Unterricht sachgemäss ist, solange er ideologisch und methodisch gefällt. Dieselbe ideologische Entwicklung, die die GenZ hervorgebracht hat, hat damit das Bildungswesen entkernt. Heutige Bildungsideale sind irrational, sensualistisch und von Verachtung für undiskutierbar eindeutige Strukturen wie Grammatik, Rechtschreibung und Rechenverfahren geprägt. Sie rücken wertvolle Kerninhalte in den Hintergrund und fördern stattdessen volkserzieherische Bemühungen woker und links-grüner Prägung.

Gastautorin Miriam Stiehler

Prägnantes Beispiel: Wir haben in Deutschland über 170 Gender-Lehrstühle, aber nicht einmal einen Lehrstuhl für Rechtschreib-Unterricht pro Bundesland! Wir müssen uns nicht wundern, dass einerseits Schüler nicht mehr richtig schreiben lernen, während andererseits schon in der 5. Klasse seelisch schwer angeschlagene Buben mit Röckchen und Lippenstift sitzen. Der Leistungsgedanke und Kerninhalte wie Lesen, Schreiben, Rechnen wurden erfolgreich als repressiver Kanon des alten weissen Mannes gebrandmarkt. Es erscheint daher legitim, sie zu vernachlässigen. Folglich fehlt es Lehrern an fachlicher Urteilsfähigkeit.

Hantieren ist nicht Handlungsorientierung

Wissen sachgemäss zu vermitteln setzt beim Lehrer Bescheidenheit voraus. Die uns übrigens alte weisse Männer gelehrt haben. Man muss die Struktur dessen, was man lehren will, erst einmal begreifen. Hans Aebli, der wichtigste Schüler von Jean Piaget, war der letzte brillante deutschsprachige Didaktiker, der noch selbst unterrichtet hat. Heutzutage erzählen uns selbsternannte “Experten” wie Gerald Hüther oder Richard David Precht, wie man Schulen reformieren müsse. Doch weil man versteht, wie ein Gehirn aufgebaut ist, ist man noch lange kein guter Lehrer oder gar Bildungsexperte. Der Kniechirurg weiss viel mehr über die Beine des Skifahrers als dieser selbst – aber das macht ihn nicht zum idealen Trainer für die WM-Mannschaft.

Aebli stellte klar: Lehrer müssen die geistige Operation, also die kognitive Handlung, verstehen, die man tut, wenn man z.B. den Umfang und Inhalt einer Fläche berechnet. Sein erstes Buch dazu erschien bereits 1951. Es ermöglichte einen interessanten, im guten Sinne handlungsorientierten und differenzierten Unterricht, aber in Deutschland machte man daraus nur eine triviale und falsch verstandene “Handlungsorientierung”, derzufolge Kinder immer mit irgendwas hantieren müssen.

Wenn Studenten auf dem Boden kriechen

In meinem eigenen Lehramts-Studium sollten wir 1999 wertvolle Noten für die Durchführung eines Bewegungsliedes erhalten. Ich beschloss, das auf die Spitze zu treiben, damit die Dozentin die Niveaulosigkeit dieser Form “akademischer” Bewertung einsähe. Nachdem ich 25 Studenten samt Dozentin über das dreckige Linoleum des Seminarraums kriechen liess, während sie pantomimisch Insekten darstellen mussten, bekam ich eine 1. Es war unfassbar.

Ähnlich ist es im Referendariat. Es ist keineswegs vorgesehen, dass der Prüfer kontrolliert, ob die gezeigte Unterrichtsstunde bei den Schülern zu einem Lernfortschritt führt! Was zählt, ist Sensualismus – gibt es etwas zu riechen, zu schmecken, zu tasten? In der Praxis schwören viele Referendare auf exotische Arbeitsmittel – besonders für gute Noten im 2. Staatsexamen. Unterrichtsplanung beginnt für viele Referendare nicht mit der Frage “Was ist die geistige Struktur des Lerninhalts?”, sondern mit “Hat schonmal jemand von euch mit dem heissen Draht Styropor geschnitten? Damit könnte ich mal was machen.” Wohlgemerkt: Wir sprechen vom Deutschunterricht. Die erwachsenen Akademiker im Referendariat erhalten in vielen Bundesländern zwei Jahre lang keine Einsicht in ihre Noten, sondern bekommen Feedback-Smileys und rein subjektive Notizen als Rückmeldung. Professionalisierung geht anders.

Wir haben in Deutschland über 170 Gender-Lehrstühle, aber nicht einmal einen Lehrstuhl für Rechtschreib-Unterricht pro Bundesland! Wir müssen uns nicht wundern, dass einerseits Schüler nicht mehr richtig schreiben lernen, während andererseits schon in der 5. Klasse seelisch schwer angeschlagene Buben mit Röckchen und Lippenstift sitzen.

 

In diesem System lernen Lehrer nicht, sachgemäss zu unterrichten. Im Studium lernen sie ideologisch geprägte Verachtung rationalistischer Methoden. Und im Referendariat lernen sie, die willkürlichen Anforderungen von Vorgesetzten zu erfüllen. So prägen sie sich ein, dass es egal ist, was ihre Schüler lernen, solange es “eine schöne Stunde” war. Aktuelle Lehrveranstaltungen an der Exzellenz-Universität LMU in München für angehende Deutschlehrer spiegeln dies wider. Belegen kann man “Magic Moments”, “Wertschätzende Rückmeldekultur”, “Social Media im Deutschunterricht einsetzen” oder “Grammatik angstfrei vermitteln”. Nur eines von 33 Seminaren bietet für gerade einmal 20 Teilnehmer einen Platz im Kurs “Grundlagen der Lesedidaktik und Leseförderung”. Den führt ein wissenschaftlicher Mitarbeiter durch – Professoren haben Wichtigeres zu tun.

Rasierschaum auf der Schulbank

Natürlich zeigt sich die fehlende Fachlichkeit im Unterrichtsalltag. Auf Facebook fragt eine Lehrkraft ihre Grundschul-Gruppe, wie man den Buchstaben “R” am besten einführt. Antworten der Kolleginnen: die Schulbänke mit Rasierschaum beschmieren und darin Rs mit dem Finger malen, Rollbrett fahren im Klassenzimmer oder Raketen basteln.

Die Vorschläge selbst zeigen Sensualismus und einen eklatanten Mangel an Respekt vor der Lernzeit der Kinder, die man mit solch unnützen Aktionen verschwendet. Sie zeigen aber auch: Diese Lehrer denken beim “R” alle nur an das gerollte “R” am Wortanfang. Das ist nicht schwierig. Probleme haben Kinder mit dem vokalisierten “r” wie in “Wurm” (typischer Fehler: “Wuam”) und der extrem häufigen Wortendung “-er”. Dort steht das “e” zusammen mit dem “r” für den Laut [ɐ]. In beiden Fällen darf man es keinesfalls als gerolltes “r” sprechen. Das sind die wirklich wichtigen didaktischen Punkte beim “r”. Die ihnen entgegengebrachte Ignoranz spricht Bände.

Wenn schlechter Unterricht krank macht

Im Bereich Mathematik ist es nicht anders. Die grösste Kompetenz für Mathematik-Unterricht findet man heute bei den Mathematischen Instituten, die Kinder mit Rechenschwäche “therapieren”, also per Einzelunterricht die Kollateralschäden unseres Schulsystems beheben. Prof. Michael Gaidoschik von der Universität Bozen ist der führende Autor in diesem Bereich. Experten wie er fordern seit vielen Jahren eine wesentliche Lehrplanänderung. Man solle endlich aufhören, in der 1. Klasse nur bis zur 20 zu rechnen. Stattdessen wäre es notwendig, das Dezimalsystem bis 100 als Notationsform und Grundprinzip zu vermitteln, denn wenn man das Prinzip verstanden hat, ist 84 keine schwierigere Zahl als 14.

“Rechnet” man über ein Jahr lang nur bis zur 20, zählen schwache Schüler nämlich statt zu rechnen, und in der 2. Klasse nutzen sie andere “Tricks”. Dadurch fällt meist erst in der 3. Klasse auf, dass sie das Dezimalsystem nicht verstanden haben. Weil das dann aber als “nicht altersgemäss” gilt, ist es leicht, bei ihnen nun “Dyskalkulie” zu diagnostizieren. Diese Diagnose dient nicht immer, aber oft als Hintertürchen, durch das sich inkompetente Lehrkräfte der Verantwortung für die Folgen ihres Unterrichts entziehen.

Ein gutes Schulbuch zeigt der Lehrkraft, was genau es zu erarbeiten gibt, welche Fragen zielführend sind und von welchen Beispielen, Tafelbildern usw. sie ausgehen kann. Es listet reichlich effiziente Übungen in aufsteigender Schwierigkeit auf.

 

Bei meiner Berufung in die Kommission, die die AWMF-Leitlinien für die Diagnostik von Dyskalkulie überarbeitet hat, musste ich feststellen, dass diese zu 90% mit Vertretern von Lobbies und Psychiatrie besetzt war. Diese haben gar kein Interesse an Verbesserungen im Unterricht, weil ihre Pfründe von einer hohen Zahl an vermeintlich gestörten Kindern abhängen. Entsprechend werden auch didaktogene, also durch den Unterricht verursachte Störungen kaum erforscht.

Da jedoch in aller Regel sowohl Legasthenie als auch Dyskalkulie durch übungsintensiven Einzelunterricht “geheilt” werden, ist sachlogisch klar: Das Hauptproblem ist der Unterricht und nicht das Kind. Eine der häufigsten didaktischen Ursachen für Rechenschwäche ist der Klappfehler. Er ist in Sachbüchern für Mathematiklehrer seit den 1990er Jahren zu finden, aber Fehleranalyse spielt in der Lehrerausbildung nach wie vor praktisch keine Rolle. Man kann jedoch nicht individuell angemessen benoten und fördern, wenn man Fehler nicht analysiert, also nicht versteht, worin der Irrtum eines Kindes bestand beziehungsweise besteht.

Schulbücher sind ungenügend

Nun könnte sich eine schlecht ausgebildete, aber motivierte Lehrkraft an einem guten Schulbuch orientieren, um trotz ihrer Schwächen zufriedenstellend zu unterrichten. Ein gutes Schulbuch zeigt der Lehrkraft, was genau es zu erarbeiten gibt, welche Fragen zielführend sind und von welchen Beispielen, Tafelbildern usw. sie ausgehen kann. Es listet reichlich effiziente Übungen in aufsteigender Schwierigkeit auf. Es ist von Fachleuten mit langjähriger Unterrichtserfahrung geschrieben und bietet einen roten Faden durch ein oder mehrere Schuljahre. Dies leisteten z.B. die 40 Jahre lang erfolgreichen bayerischen Mathematikbücher von Walter & Feuerlein.

Leider haben wir kaum noch solche Schulbücher. In Deutschland muss der Verlag nur die theoretische Kompatibilität mit dem Lehrplan belegen, während man in Japan Schulbücher an Modellschulen erprobt. Ausgerechnet die grundlegenden Bücher für 1.-4. Klasse zeigen gravierende Mängel. Die Fibel “Karibu” z.B. leitet ihren Namen nicht vom kanadischen Rentier ab, sondern bezieht sich auf Swahili, wo das Wort “Willkommen” bedeutet. Die Multi-Kulti-Botschaft ist ein Nebeneffekt.

Hauptsächlich kommt die Morphologie von Swahili den Autoren entgegen, da sie dem sog. Silbenkonzept anhängen, dem goldenen Kalb der aktuellen Grundschuldidaktik. In Sprachen wie Swahili oder Japanisch enthalten die meisten Wörter nämlich immer abwechselnd einen Konsonanten und einen Vokal, ähnlich wie in “Mama” oder “Oma”. Wörter mit dieser Form sind für Anfänger leicht lesbar. Für das Deutsche typisch sind jedoch Konsonantenhäufungen wie “Fr” oder “rst” und mehrbuchstabige Zeichen für einen einzigen Laut wie “ie”, also Wörter wie “du frierst”. Die sind schwerer zu lesen, aber eben notwendig, um Deutsch zu lernen.

“Drai Moisee UNT ain hUNT GHEeN schpAtzIAN” (“Drei Mäuse und ein Hund gehen spazieren”). Das lässt ahnen, was wir von der Digitalisierung im deutschen Schulwesen erwarten dürfen: Karibu! Willkommen in der Bildungswüste.

 

Das umstrittene Silbenkonzept zerteilt deutsche Wörter künstlich in Bestandteile, in denen Konsonant und Vokal abwechselnd vorkommen, wie z.B. “Af-fe”. Das führt zu falschen Erklärungen wie z.B. der angeblich hörbaren Konsonantenverdopplung in “Af-fe” oder “Tref-fer” und zu einem künstlichen Dehnsprechen, das dem Leseverständnis und der Rechtschreibung schadet (s. Video). Deutschdidaktiker wie Günther Thomé fordern daher seit Langem eine Abkehr vom Silbenlesen, ohne Erfolg.

Neben Silben verwendet die Fibel “Zebra” die hoch problematische Anlaut-Methode aus den 1920er Jahren. Sie ist eng verbunden mit der Unsitte, Schüler so schreiben zu lassen wie sie sprechen. Richtig wäre es, zu lehren, wie man die richtige Wahl aus mehreren akustisch möglichen Schreibweisen trifft. Da dies jedoch als repressiv gilt, können Kinder in der hochmodernen App zur Zebra-Fibel Anlaut-Bilder anklicken und daraus so schöne Sätze wie den folgenden fabrizieren, ohne irgendeine Rückmeldung zu ihren Fehlern zu erhalten: “Drai Moisee UNT ain hUNT GHEeN schpAtzIAN” (“Drei Mäuse und ein Hund gehen spazieren”). Das lässt ahnen, was wir von der Digitalisierung im deutschen Schulwesen erwarten dürfen: Karibu! Willkommen in der Bildungswüste.

 

Literatur:

Aebli, Hans: Psychologische Didaktik, 6. Auflage. Stuttgart 1976

Aebli, Hans: Grundformen des Lehrens, 5. Auflage. Stuttgart 1968

Gaidoschik, Michael: Wie Kinder rechnen lernen – oder auch nicht.

Eine empirische Studie zur Entwicklung von Rechenstrategien im ersten Schuljahr. Frankfurt, 2010.

Gaidoschik, Michael: Rechenschwäche vorbeugen. 1. Schuljahr: Vom Zählen zum Rechnen, 7. Auflage. Wien, 2007

Jank, Werner und Meyer, Hilbert: Didaktische Modelle, 4. Auflage. Berlin, 1997

Lorenz, Jens Holger: Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht; 3. Auflage. Hannover, 1993

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Schul-Visionäre in Basel-Stadt https://condorcet.ch/2024/03/schul-visionaere-in-basel-stadt/ https://condorcet.ch/2024/03/schul-visionaere-in-basel-stadt/#comments Fri, 01 Mar 2024 21:22:54 +0000 https://condorcet.ch/?p=16041

Die neuste Ausgabe des Basler Schulblattes enthielt wieder einmal die aktuellsten Visionen über die ewige Frage, wie doch endlich die Schule anders gestaltet werden könnte. Condorcet-Autor Felix Schmutz zerlegt die behördliche Wunschprosa im Detail.

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Was genau tun die Behördenfunktionärinnen und -funktionäre des Erziehungsdepartementes eigentlich den ganzen Tag? Auf diese Frage antwortet die neue Ausgabe des Basler Schulblattes (1): Die Leute entwickeln Visionen, Visionen für die künftige Entwicklung der Volksschule. Wie die Autorin des Artikels, Charlotte Staehelin, weiss, handelt es sich um einen Prozess, der auf fünf bis acht Jahre angelegt ist. Die Volksschulleitung entwickelt die Visionen, die Schul- und Fachstellenleitungen sollen die Umsetzung an den Schulen einleiten. Die Lehrerschaft wird wohl nur in den sogenannten “Echogruppen” dazu angehört.

Condorcet-Autor Felix Schmutz

Wie war das noch mit den flachen Hierarchien? Und hiess es nicht erst noch, man müsse “Betroffene zu Beteiligten machen”? Davon ist jedenfalls nichts zu spüren, wenn der Ablauf des Prozesses derart hierarchisch vorstrukturiert ist. Die Betroffenen, nämlich die Lehrkräfte, dürfen die ihnen von den Visionären und den Schulleitungen eingebrockte Suppe auslöffeln, nachdem sie in Echogruppen pro forma zu den faits accomplis noch ihren Senf haben dazugeben dürfen, und zwar möglichst in zustimmendem Sinne.

Auffällig, wie ein solches Top-Down-Gebaren bereits der ersten Vision widerspricht, die im Kernsatz gipfelt: “Die Volksschule bereitet auf ein selbstbestimmtes Leben vor.” Die Vorstellung vom selbstbestimmten Leben wird unter anderem konkretisiert mit der Maxime: “Die Volksschule ist eine Gemeinschaft im Kleinen; demokratisches Handeln wird vermittelt und gelebt.” (2) Damit sollen Lehrpersonen als die untersten Befehlsempfänger in der politischen Bildungshierarchie plötzlich als Garanten einer demokratischen Gemeinschaft im Kleinen fungieren. Ob man den Visionären etwas in den Kaffee geschüttet hat, dass sie diese Ungereimtheit nicht bemerkten?

Unterricht ist eine Veranstaltung, die darauf angelegt ist, Wissen und Können zu vermitteln

Stutzig wird der Leser auch beim zweiten Kernsatz der Visionäre: “Lernen ist mehr als Unterricht”. Dieser Satz setzt die Gleichung voraus: “Lernen gleich Unterricht.” Selbst wenn man dies nachsichtig mit «pädagogischer Lyrik» entschuldigt, muss doch darauf hingewiesen werden, dass die Aussage absurd ist. Unterricht ist eine Veranstaltung, die darauf angelegt ist, Wissen und Können zu vermitteln. Lernen bedeutet die Aufnahme und das Verständnis von neuen Sachverhalten und Anwendungen, die sich Schülerinnen und Schüler zu eigen machen. Der Vergleich der beiden Begriffe ist etwa so unsinnig, wie wenn man sagen würde: “Essen ist mehr als die Küche” oder “Lesen ist mehr als ein Buch” oder “Skifahren ist mehr als eine Piste”.

“Böse” Blicke auf die ideale Schule…

Natürlich offenbart dieser Kernsatz eine versteckte Kritik an dem schulischen Unterricht. Unterricht hat für die Visionäre insgeheim einen negativen Anstrich. Das lässt sich an den Konkretisierungen ablesen:

  • Bildung bedingt Bindung.
  • Von der Unterrichtsentwicklung zur Lernentwicklung.
  • Lernarrangements orientieren sich an den individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler.
  • Dem motivationalen Aspekt des Lernens wird grosses Gewicht gegeben.
  • Alle Schülerinnen und Schüler werden in ihrer Individualität wahr- und angenommen. Sie erfahren Orientierung und Ermutigung.
  • Die Schülerinnen und Schüler werden sowohl gefördert als auch gefordert. (2)

Unterricht wird demnach als etwas gesehen, das Bindung erschwert, dem Lernen zu wenig Aufmerksamkeit schenkt, zu wenig individualisiert, zu wenig motiviert, etwas das entmutigt, zu wenig fördert und fordert. Es ist im Grunde das Lamento von Leuten, deren Erinnerung an die Schulzeit durch Misserfolge, schlechte Erfahrungen, Langeweile belastet ist und die jetzt in ihrer Rolle als Behördenmitglieder ihre Wünsche von einer heilen Schulwelt auf die von ihnen verwaltete Schule projizieren.

Konträre Visionen

Auch die übergewichtige Betonung des “Individualisierens” kontrastiert deutlich mit der ersten Vision, welche das hohe Lied der “Gemeinschaft” singt:

  • Die Volksschule bereitet die Schülerinnen und Schüler auf ein selbstständiges, kooperatives und verantwortungsvolles Handeln in der Gesellschaft vor.
  • Die Volksschule ist eine Gemeinschaft im Kleinen; demokratisches Handeln wird vermittelt und gelebt.
    Geltende Werte und gemeinsam festgelegte Regeln stärken sowohl das Ich als auch das Wir.
  • Die Schülerinnen und Schüler übernehmen Verantwortung für sich, die Gemeinschaft und die Umwelt.
  • Die Schülerinnen und Schüler lernen, sich in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft verantwortungsvoll und kompetent zu bewegen. (2)

Der Unterricht soll jedem Kind das angemessene Programm vorsetzen, sozusagen private Schulung simulieren, während gleichzeitig auf wundersame Weise gemeinschaftliches Handeln und Verantwortung für die Gemeinschaft und die Umwelt entsteht. Dass gemeinschaftliches Handeln nur zu haben ist, wenn individuelle Bedürfnisse auch mal hintangestellt werden, sich der oder die Einzelne einmal anpassen und anstrengen muss, ist den Visionierenden in ihren Höhenflügen nicht bewusst. Man darf den Schulleitungen und Lehrpersonen viel Glück wünschen bei der Umsetzung solch konträrer Visionen.

Die Visionen sind das ewige Wiederkäuen derselben Phrasen und längst bekannten Kitschformeln, die schon die früheren Schulreformen begleitet und die Schulqualität in Basel kaum verbessert haben.

Leider muss man feststellen, dass Jahrzehnte der Schulpolitik nach dem bekannten Top-Down-Muster bei den Verantwortlichen noch keinen Lernprozess angeregt haben. Die drei weiteren von der Basler Erziehungsnomenklatura genannten Visionen sind ebenfalls weder neu noch originell. Sie sind das ewige Wiederkäuen derselben Phrasen und längst bekannten Kitschformeln, die schon die früheren Schulreformen begleitet und die Schulqualität in Basel kaum verbessert haben:

  • Die Volksschule trägt dazu bei, die Chancengerechtigkeit zu fördern.
  • Wir leben eine kooperative Zusammenarbeit.
  • Die Volksschule ist eine lernende Organisation.

Die Frage sei erlaubt: Wenn die Leute im Erziehungsdepartement Basel-Stadt Zeit haben, sich fünf bis acht Jahre mit solchen Visionen, wie sie es nennen, zu beschäftigen, braucht es diese Stellen überhaupt noch? Könnte man hier nicht mit Einsparungen beginnen? Sozusagen der Beginn eines “lernenden Departementes”! Oder könnte man diesen Leuten nicht offene Stellen an Schulen anbieten, damit sie ihre Visionen direkt selbst umsetzen können? Sie könnten dann vielleicht demonstrieren, wie Lernen mehr ist als Unterricht.

 

(1) https://www.edubs.ch/publikationen/baslerschulblatt/aktuelle-ausgabe-1/BSB_01_2024.pdf/@@download/file/BSB_01_2024.pdf?inline=true

(2) https://www.edubs.ch/publikationen/baslerschulblatt/artikel/integration-innovation-inspiration-unsere-schulen-gestalten?searchterm=Integration%2C+Innovation%2C+Inspiration

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Anfällig für ideologisch gefärbten Unterricht https://condorcet.ch/2024/01/anfaellig-fuer-ideologisch-gefaerbten-unterricht/ https://condorcet.ch/2024/01/anfaellig-fuer-ideologisch-gefaerbten-unterricht/#comments Sun, 28 Jan 2024 16:00:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=15775

Der Bildungsjournalist Daniel Wahl führte ein Gespräch mit Professor Mario Andreotti über den Rahmenlehrplan der Gymnasien, der das neue Fach "Bildung für Nachhaltige Entwicklung" einführen will. Der Artikel ist am 16.1.24 im Nebelspalter erschienen.

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Die Fakten: Im Entwurf des Rahmenlehrplans der Gymnasien wird neu das Fach “Bildung für Nachhaltige Entwicklung” (BNE) verankert. Dieses neue Fach macht die Schule anfällig für ideologisch gefärbten Unterricht, wie der Germanist und Historiker, Professor Mario Andreotti, kritisiert.

“Die Tendenz zur Indoktrination ist sichtbar. Die Gymnasien sollen ein bestimmtes Verhaltensmuster, eine bestimmte Verhaltensveränderung in Richtung Gutmenschen erwirken.”

 

Daniel Wahl, Journalist des Nebelspalters

Warum das wichtig ist: Lehrkräfte dürfen gemäss Beutelsbacher Konsens (siehe unten) den Schülern nicht ihre Meinung aufzwingen, sondern sollen Schüler in die Lage versetzen, sich mithilfe des Unterrichts eine eigene Meinung bilden zu können. Dies ist der Zielsetzung der politischen Bildung geschuldet, die Schüler zu mündigen Bürgern heranzubilden.

Doch die Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) ist ein weltweites Programm mit einer politischen Agenda (sustainable Development). Sie ist in der Bildungs-Agenda der UNESCO (Education) verankert, mit verschiedensten Zielen, wie Geschlechtergleichheit, Armut- und Hungerbekämpfung, Klimamassnahmen, verantwortungsvoller Konsum.

  • Dabei handelt es sich um einen Unterricht, der von rechter Seite als Linksdrall an den Schulen bezeichnet wird (Link)
  • Nachhaltige Entwicklung ist Staatsziel der Schweiz und in der Bundesverfassung (Art. 2 und 73) verankert.
  • Als oberstes und wichtigstes Ziel des neuen Fachs BNE steht die «Transformation in eine nachhaltige Gesellschaft», die nicht nur das Klima und die Biodiversität schützt, sondern auch Rassismus, soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeiten bekämpft.

Gemäss Andreotti beginnt mit dem Begriff “Transformation” bereits das Problem.

“BNE beinhaltet einen gesteuerten Wandlungsprozess, was mit der Steuerung von Schülern zu tun hat. Es ist eine Absicht dahinter, eine politische Agenda.”

 

The Big Picture: Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) hat zusammen mit dem Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) die Reform “Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität” angestossen. Im Kern geht es darum, den Maturitätsabschluss schweizweit vergleichbar zu machen und das Niveau und die Qualität der gymnasialen Ausbildung in Bezug zum Hochschulzugang zu sichern. Letztlich will man verhindern, dass die Universitäten und Hochschulen nicht auf die Idee kommen, eigene Eintrittsbarrieren zu errichten und Aufnahmeprüfungen zu machen.

Darauf ist zu achten: Die BNE ist ein Teil des neuen Rahmenlehrplans und als transversales Fach definiert. Das heisst:

  • Die Grundlagen für die BNE sollen im Fachbereich Geographie vermittelt werden.
  • Zudem soll die BNE in jedes Fach einfliessen, teilweise “en passant”.
  • Auch weitere Unterrichtsgefässe, wie zum Beispiel Studienwochen, sollen die Gymnasiasten für das Themensammelsurium “Nachhaltige Entwicklung” sensibilisieren.
Mario Andreotti, Geschichtsprofessor: Eine gefährliche Entwicklung.

Andreotti hält dies für “eine ganz gefährliche Entwicklung”, die an zwei von drei Prinzipien für den politischen Unterricht rüttelt, welche an einer Bildungstagung 1976 in Deutschland verabschiedet wurden. Die Prinzipien unter dem Namen “Beutelsbacher Konsens 1976” gelten als Standard für den Unterricht an Schulen.

  1. Indoktrinationsverbot: Der Lehrer soll den Schülern nicht seine Meinung aufzwingen.
  2. Gebot der Kontroversität: Der Lehrer soll das Thema aus gegensätzlichen Perspektiven beleuchten.
  3. Gebot der Schülerorientierung: Der Schüler soll im Unterricht in die Lage versetzt werden, seine eigene Position zu reflektieren und sich am politischen Prozess zu beteiligen.

Doch im Entwurf zum Rahmenlehrplan der Entwicklung der gymnasialen Maturität schimmern die Werte und Haltungen durch, welche die Gymnasiasten übernehmen müssen.

  • Es beginnt damit, dass Geographie unter Geistes- und Sozialwissenschaften subsumiert – im Vordergrund steht die soziale, nicht die naturwissenschaftliche Komponente.
  • Beispielsweise müssen Schüler Probleme und Anwendungen der Gegenwart unter dem Aspekt der Energie recherchieren, beschreiben und beurteilen. Als Beispiel werden Treibhauseffekt, Sonnenenergie, Graue Energie, genannt, nicht aber Atomenergie.
  • Die Beschreibung der BNE ist mit Worthülsen durchsetzt wie “gerechte Gesellschaft”, “gesteuerte Wandlungsprozesse”, “Menschen aller Geschlechteridentitäten”, “ganzheitlich”, “transformativ” usw.

Auch Honecker sprach von einer “gerechten Gesellschaft”

Es komme zwar immer auf den einzelnen Lehrer an, wie er solche Worthülsen mit konkreten Inhalten fülle, sagt Andreotti und erinnert daran, dass der Erste Sekretär der sozialistischen DDR, Erich Honecker, auch von einer “gerechten Gesellschaft” gesprochen habe. Im Rahmenlehrplan erkennt Andreotti aber bereits, welche Haltungen und Prämissen gesetzt sind, und wie die Gymnasiasten zu denken haben:

  • Der Mensch macht die Natur kaputt.
  • Rauchen und Autofahren sind schlecht.
  • Chancengerechtigkeit gilt als absolutes Ziel.
  • Der moderne Mensch muss globale Perspektiven einnehmen.

“Es sind zum Teil Werte, die der Französischen Revolution – konkret der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte – entliehen sind. Wenn ich das politisch übersetzen darf: Das ist Linksdrall am Gymnasium.”

Wie es weitergeht: Vorgaben über die Dauer des Unterrichts in BNE werden auf der gesamtschweizerischen Ebene keine gemacht. Der Kanton St. Gallen plant beispielsweise die BNE als eigenes Fach im Maturitätsjahr zu behandeln und setzt dafür eine Stunde ein.

  • Die konkrete Umsetzung liegt in der Zuständigkeit der Kantone.
  • Die revidierten Texte – Verordnung und Reglement, Vereinbarung und neuer Rahmenlehrplan – sollen am 1. August 2024 in Kraft treten.

Wer mehr dazu wissen will:

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Von Japan lernen: Matheunterricht, der zum Denken anregt https://condorcet.ch/2024/01/von-japan-lernen-matheunterricht-der-zum-denken-anregt/ https://condorcet.ch/2024/01/von-japan-lernen-matheunterricht-der-zum-denken-anregt/#comments Wed, 24 Jan 2024 08:18:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=15760

Im Dezember hat die neue PISA-Studie bestätigt, was viele schon haben kommen sehen: die schlechtesten Ergebnisse aller Zeiten für Deutschland, ein dramatischer Absturz seit 2018 – wie in vielen anderen Ländern auch. Nicht so in Japan; dort sind die Leistungen in Mathematik gestiegen. Seit Jahren belegt das Land Spitzenplätze in den Rankings. Das Schulportal hat sich den Matheunterricht in Japan genauer angesehen – mit überraschenden Befunden. Alexander Brand berichtet.

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Betritt man zum ersten Mal ein japanisches Klassenzimmer, scheinen sich alle Vorurteile über Unterricht in Asien zu bestätigen. Die Schülerinnen und Schüler sitzen getrennt an Einzeltischen und blicken nach vorne. Alle tragen die gleiche Uniform: ein weißes Hemd mit Krawatte, dunkelblauen Blazer und graue Hose oder Rock. Die Haare sind bei den Jungen kurz, bei den Mädchen stets im Pferdeschwanz gebunden. Der Mathelehrer steht vorn an der langen Kreidetafel und referiert.

Alexander Brand, Redakteur Schulportal

Drill, Druck und Nachhilfe – so erklären sich hierzulande viele den PISA-Erfolg von Ländern wie Japan. Diese Klischees kommen nicht von ungefähr. Ein Großteil der japanischen Schülerinnen und Schüler nimmt private Nachhilfe, um sich auf die Aufnahmeprüfung für die Universität vorzubereiten. Diese stressige Zeit beginnt meist im letzten Jahr der Junior High School, also in der neunten Klasse.

Doch die Schuljahre bis dahin sind von deutlich weniger Prüfungsdruck und Nachhilfe geprägt. Die Kinder lernen gemeinsam und ohne frühe Selektion wie in Deutschland. Die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler, die an PISA teilnehmen, haben damit den größten Teil ihrer Schulzeit in einem System ohne besagten Druck und außerschulische Nachhilfe verbracht. Diese Faktoren allein können das gute Abschneiden also nicht erklären.

Entscheidend ist der zweite Blick: Nach zehn Minuten hat der Lehrer seine Einführung zur Wahrscheinlichkeitsberechnung beendet, die Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe sollen mehrstufige Baumdiagramme zeichnen. Zuerst versuchen sie sich allein an den Aufgaben. Und dann, ohne dass der Lehrer ein Zeichen gibt, stehen die Jugendlichen allmählich auf und suchen sich eine Kleingruppe, um ihre Ideen zu besprechen. Es wirkt wuselig, es wird gelacht. Später stellen verschiedene Schülergruppen ihre Lösungswege an der Tafel vor. Der Mathelehrer moderiert die Diskussion.

Japanische Mittelstufenschüler knobeln an einer Matheaufgabe (Bild:
© Alexander Brand)

Greifen die gängigen Stereotypen zu asiatischem Matheunterricht vielleicht doch zu kurz?

Anderer Unterricht, bessere PISA-Ergebnisse?

Was viele nicht wissen: Neben den Leistungen von 15-Jährigen erfasst die PISA-Studie auch bestimmte Unterrichtsmerkmale. Als PISA im Jahr 2012 das letzte Mal einen Schwerpunkt auf Mathematik legte, sollten die teilnehmenden Jugendlichen auch angeben, welche Unterrichtsstrategien sie erlebt hatten.

Mit mehreren Items fragte die Studie ab, wie oft die Jugendlichen einen lehrergesteuerten Unterricht, einen schülerorientierten Unterricht oder einen kognitiv aktivierenden Unterricht wahrgenommen haben. Welche Unterrichtsstrategien erhöhen die Wahrscheinlichkeit, eine Mathematikaufgabe richtig zu lösen? Wo besteht ein negativer Zusammenhang? Ein Forschungsteam der OECD hat diese statistischen Zusammenhänge für jedes Land untersucht und zusammengefasst. Untersucht wurde auch, ob bestimmte Unterrichtsansätze bei schweren oder leichten Matheaufgaben besser funktionieren.

Wie PISA diese Unterrichtsstrategien definiert

Lehrergesteuerter Unterricht

Die Lehrkraft …

  • gibt vor, was gelernt werden soll,
  • setzt klare Ziele,
  • fasst die letzte Unterrichtsstunde kurz zusammen,
  • stellt Fragen, um zu überprüfen, ob das Gelernte verstanden wurde.
Schülerorientierter Unterricht

Die Lehrkraft …

  • stellt unterschiedliche Aufgaben für Lernende mit unterschiedlichem Leistungsniveau,
  • sieht Projekte vor, die mindestens eine Woche dauern,
  • lässt die Lernenden in kleinen Gruppen arbeiten,
  • fordert Lernende auf, sich an der Planung des Unterrichts zu beteiligen.
Kognitive Aktivierung

Die Lehrkraft …

  • stellt Aufgaben, die auf verschiedene Weise gelöst werden können,
  • stellt Aufgaben, bei denen die Lernenden das Gelernte in neuen Situationen anwenden müssen,
  • fordert die Lernenden auf, über ihre eigenen Lösungswege zu entscheiden,
  • fordert die Lernenden auf zu erklären, wie sie ein Problem gelöst haben,
  • stellt Fragen, die zum Nachdenken über ein Problem anregen.

 

Die Ergebnisse überraschen. Auf allen Schwierigkeitsstufen besteht ein negativer Zusammenhang zwischen schülerorientiertem Unterricht und dem erfolgreichen Lösen von Mathematikaufgaben. Je schülerorientierter der Unterricht war – zumindest im Sinne der PISA-Definition –, desto schlechter waren die Leistungen. Bei lehrergesteuertem Unterricht sind die Ergebnisse gemischt: Bei einfachen Aufgaben ist der Zusammenhang leicht positiv, bei mittelschweren und schweren Aufgaben wird er leicht negativ. Nur bei der kognitiven Aktivierung besteht unabhängig vom Schwierigkeitsgrad ein positiver Zusammenhang.

 

 

Dass lehrergesteuerter Unterricht den PISA-Erfolg besser vorhersagt als schülerorientierter Unterricht, bezeichnet PISA-Studienleiter Andreas Schleicher als „eines der am meisten diskutierten Ergebnisse von PISA“. Manche würden es für einen statistischen Zufall halten, so Schleicher, es sei aber ein stabiles Ergebnis. Es liege auch nicht daran, dass lehrergesteuerter Unterricht häufiger in den ostasiatischen Ländern anzutreffen sei, die aus anderen Gründen bei PISA gut abschneiden; das Muster gebe es in Ost und West.

Schleicher widerspricht auch dem Argument, dass lehrergesteuerter Unterricht nur gut auf Tests vorbereite, in denen es um das Abrufen von auswendig Gelerntem gehe. Bei PISA müssten die Schülerinnen und Schüler über Fächergrenzen hinweg denken und ihr Wissen kreativ in neuen Situationen anwenden. Er schreibt: „Vielleicht ist es an der Zeit, damit aufzuhören, den lehrergesteuerten und schülerorientierten Unterricht gegeneinander auszuspielen und zu behaupten, der eine sei altmodisch und erdrückend, der andere zukunftsorientiert und förderlich.“ Beide Ansätze hätten eindeutig ihre Berechtigung.

Vielleicht ist es an der Zeit, damit aufzuhören, den lehrergesteuerten und schülerorientierten Unterricht gegeneinander auszuspielen und zu behaupten, der eine sei altmodisch und erdrückend, der andere zukunftsorientiert und förderlich.

Andreas Schleicher (aus dem Englischen übersetzt)

Die kognitive Aktivierung im Unterricht ist entscheidend

Ein Blick auf die Ergebnisse zeigt aber auch: Wenn es darum geht, bei den mittelschweren und schweren Mathematikaufgaben zu punkten, reicht weder ein lehrergesteuerter noch ein schülerorientierter Unterricht aus. In der Bildungsforschung werden diese Strategien den sogenannten Oberflächenstrukturen von Unterricht zugeordnet – sie sind leicht zu beobachten, aber kaum wirksam für den Lernerfolg. Viel wichtiger sind die Tiefenstrukturen: Was passiert in den Köpfen der Kinder? Unterstützt die Lehrkraft ausreichend? Gibt es ein förderliches Lernklima? Gerade der Punkt der kognitiven Aktivierung scheint zentral zu sein. Sie ist umso wichtiger, je anspruchsvoller die PISA-Aufgabe ist.

Werden im Mathematikunterricht also Aufgaben behandelt, die zum Nachdenken anregen und nicht nach Schema F gelöst werden können? Um solche Fragen zu untersuchen, wurden für die 2020 erschienene TALIS-Videostudie zahlreiche Mathestunden der achten Klasse gefilmt und ausgewertet. Neben Deutschland waren Japan, China, England, Spanien, Chile, Kolumbien und Mexiko beteiligt.

Wie misst die TALIS-Videostudie kognitive Aktivierung im Unterricht?

Die Videostudie beurteilt die kognitive Aktivierung im Unterricht nach sechs Kriterien.

  • Denkweise der Schülerinnen und Schüler ergründen: Vielzahl an Schülerbeiträgen ist sichtbar, Lehrkraft regt zu detaillierten Antworten an
  • Anspruchsvolle Fragen: Fragen zielen auf Begründungen, Zusammenführungen, Analysen oder Vermutungen ab
  • Explizite Verknüpfungen: Verknüpfungen zwischen verschiedenen Aspekten der Mathematik werden hergestellt
  • Mehrere Lösungswege: Lernende nutzen mehrere Lösungsstrategien und Begründungen
  • Mathematisches Verständnis: Lernende erklären, warum ein Verfahren funktioniert oder was dessen Ziele oder Merkmale sind
  • Beschäftigung mit kognitiv anspruchsvollen Inhalten: Aufgaben erfordern ein tieferes analytisches, beurteilendes oder kreatives Denken

 

Für Deutschland sind die Ergebnisse ernüchternd. Japan hingegen liegt bei der kognitiven Aktivierung auch im internationalen Vergleich an der Spitze.

  • In Deutschland wurden nur 12 Prozent der Klassen im Unterricht häufig mit herausfordernden Aufgaben konfrontiert. In Japan war es fast jede zweite Klasse (46 Prozent).
  • Knapp jede vierte Klasse in Deutschland (24 Prozent) wurde überhaupt nicht mit herausfordernden Aufgaben konfrontiert. In Japan war dies in nahezu keiner Klasse der Fall.
  • In Japan ging jede zweite Erklärung der Lehrkraft auf tiefere mathematische Inhalte ein (55 Prozent), in Deutschland nur knapp jede fünfte Erklärung (18 Prozent).

Da es sich bei der deutschen Stichprobe überwiegend um Gymnasien handelt, ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse für Deutschland sogar nach oben verzerrt sind.

Strukturiertes Problemlösen

Solche Befunde sind nicht neu. Bereits in den 90er-Jahren, als im Rahmen der TIMSS-Studie die erste internationale Videostudie zum Mathematikunterricht veröffentlicht wurde, zeichnete sich ein ähnliches Bild ab. Während in Japan in 42 Prozent der Mathestunden verschiedene Lösungswege der Schülerinnen und Schüler diskutiert wurden, waren es in Deutschland nur 14 Prozent.

Die Bildungsforscher James Stigler und James Hiebert analysierten damals die gefilmten Unterrichtsszenen. Dabei fiel ihnen ein typisches Muster für den kognitiv aktivierenden Unterricht in Japan auf: Zuerst fasst die Lehrkraft das Ergebnis der letzten Stunde zusammen. Dann stellt sie ein Problem vor, das die Grundlage der Stunde bildet. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten zunächst allein, dann in Kleingruppen an einer Lösung. Die verschiedenen Lösungen werden anschließend im Plenum vorgestellt und diskutiert. Dabei kommentiert und verknüpft die Lehrkraft die Ideen und fasst am Ende die wichtigsten Punkte zusammen. Stigler und Hiebert bezeichnen diesen Unterrichtsansatz als „strukturiertes Problemlösen“.

Kooperatives Lernen statt Individualisierung

Solche Ansätze sind auch knapp 30 Jahre nach der ersten Videostudie präsent, so beschreibt es ein Mathelehrer für die Oberstufe. „Natürlich haben die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Leistungsniveaus“, sagt er. „Aber ein und dieselbe Frage kann einen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad haben.“ In der Fachdidaktik nennt man solche Aufgaben selbstdifferenzierend. Und nicht jedes Kind müsse alle vorgestellten Lösungswege nachvollziehen können, so der Oberstufenlehrer.

Dieses Prinzip erkannten Stigler und Hiebert auch in den Unterrichtsvideos: Während im Westen die Lehrkräfte den leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern einfache Aufgaben stellten, würden die japanischen Lehrkräfte die Heterogenität in der Klasse als Ressource sehen. Denn gerade die Vielfalt an Lösungsansätzen, die man in einer heterogenen Klasse erhält, ermögliche es den Lernenden, diese zu vergleichen und Verbindungen zwischen ihnen herzustellen. Mit anderen Worten: Lehrkräfte in Japan begegneten der Heterogenität im Klassenzimmer mit kooperativem statt individualisiertem Lernen. 

Natürlich haben die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Leistungsniveaus, aber ein und dieselbe Frage kann einen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad haben.

Mathematiklehrer aus Japan

 

Drill und Problemlösen – wie passt das zusammen?

Wie passt das zu der landläufigen Meinung, Unterricht in Asien bestehe aus Drill und Auswendiglernen? Die Antwort des Mathelehrers: Das Problemlösen ist immer erst der zweite Schritt. Zuerst müssten die Grundlagen erklärt und eingeübt werden – und ja, das bedeute auch, dass die Schülerinnen und Schüler viele Formeln verinnerlicht haben müssen. Auch das konnten Stigler und Hiebert in den Videos von damals beobachten.

Aber diese Formeln seien wie Werkzeuge, sagt der Lehrer. Sie würden kombiniert, um neue Formeln abzuleiten und neue, anspruchsvolle Probleme zu lösen. Erst dann beginne die Mathematik. Das sei ein bisschen wie Vokabeln in einer Fremdsprache. Man muss sie auswendig können, aber dann auch richtig kombinieren.

Jeden Tag ein zehnminütiges Zeitfenster für einen “Rechen-Drill”

Auch ein solides Vorwissen ist wichtig. In der Grundschule gibt es jeden Tag ein zehnminütiges Zeitfenster für einen „Rechen-Drill“. Alle Klassen bekommen ein DIN-A3-Blatt mit 100 einfachen Rechenaufgaben – plus, minus, mal, geteilt. Die Lehrerin steht vorne und stoppt die Zeit, während die Kinder eifrig ihre Antworten aufschreiben. Nach fünf Minuten sind alle fertig, dann wird fünf Minuten lang im Chor korrigiert. Die Idee dahinter: Wenn diese Grundlagen automatisiert werden, schafft das im Gehirn Kapazität für komplexere Aufgaben.

Es fällt schwer, den japanischen Mathematikunterricht in eine Schublade zu stecken. Obwohl die Lehrkraft den Unterricht steuert, dominieren die Denkprozesse der Lernenden. Trotz geringer Individualisierung fordert der Unterricht die Schülerinnen und Schüler auf ihrem jeweiligen Niveau heraus. Formeln müssen zwar auswendig gelernt werden, aber mehr als in Deutschland steht die Kreativität im Vordergrund.

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Messer, Gabel, Löffel • Von Gewissheiten gelingenden Unterrichts – und ihrem Gegenteil https://condorcet.ch/2023/12/messer-gabel-loeffel-von-gewissheiten-gelingenden-unterrichts-und-ihrem-gegenteil/ https://condorcet.ch/2023/12/messer-gabel-loeffel-von-gewissheiten-gelingenden-unterrichts-und-ihrem-gegenteil/#comments Tue, 26 Dec 2023 12:42:49 +0000 https://condorcet.ch/?p=15549

Condorcet-Autor und Präsident des Basellandschaftlichen Lehrer- und Lehrerinnenvereins ruft uns in seinem Editorial seiner Verbandszeitung noch einmal die wesentlichen Erfolgsgarantien für guten Unterricht in Erinnerung.

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April 2007: Auf die Frage, was Ex-Microsoft-Chef Steve Ballmer vom eben auf den Markt gebrachten iPhone halte, antwortete er belustigt, nie im Leben werde das iPhone einen nennenswerten Marktanteil erlangen. Keine Tastatur, ergo schlechte Mail-Maschine, horrender Preis. Tatsächlich hat Apple seit der Lancierung 2007 über 2.5 Milliarden iPhones verkauft. In der Schweiz beträgt der Marktanteil mittlerweile stolze 46 %. Steve Ballmer unterlag einer kolossalen Fehleinschätzung.

Philipp Loretz, Mitglied der Condorcet-Redaktion, Sekundarlehrer,  Präsident lvb, Mitglied des Bildungsrats des Kt. Baselland
Bild: fabü

2011 kündigten die Verantwortlichen von Passepartout die Revolutionierung des Fremdsprachenerwerbs an. Doch der Zaubertrank in Gestalt der sogenannten Didaktik der Mehrsprachigkeit und der Lehrmittel «Mille feuilles» resp. «Clin d’oeil» fiel gleich in vier wissenschaftlichen Studien durch. Bei der Überprüfung der Grundkompetenzen ÜGK verfehlten 89 % der Passepartout-Kinder das erklärte Ziel im Bereich Sprechen. Nach Einführung der Lehrmittelfreiheit im Kanton Baselland 2019 sank der Marktanteil von «Clin d’oeil» auf einen Schlag in die Bedeutungslosigkeit. Die Projektleitung, die Bildungsdirektoren und die Bildungs-«Experten» aus dem Dunstkreis der Pädagogischen Hochschulen ereilte das gleiche Schicksal wie Steve Ballmer: Sie waren einem monumentalen Irrtum aufgesessen.

1884 gründete Karl Elsener die Gemeinschaft für Messerschmiede. Ob er den universellen Einsatz von Messer und Gabel als unverzichtbare Tischutensilien vorausgesagt hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls existiert die Firma «Elsener Messerschmied AG» heute noch und stellt bereits in der achten Generation u.a. Messer und Gabeln her. Der «Marktanteil» der beiden «Esswerkzeuge» dürfte in der westlichen Welt den Traumwert von nahezu 100 % erreicht haben. Karl Elsener hatte also auf das richtige Pferd gesetzt.

Ich bin überzeugt, dass der Mensch auch in 100 Jahren seine Nahrung mit dem Messer zerkleinern und mit der Gabel zum Mund führen wird. Frei nach Bestseller-Autor Rolf Dobelli: «Was sich über Jahrhunderte gegen den Innovationssturm behauptet hat, wird sich wohl auch in Zukunft behaupten.»

Als Meister ihrer Fächer verstehen sie es, Unterrichtsinhalte lebendig zu vermitteln. Dank eines reich gefüllten Methodik-Didaktik-Koffers sind sie in der Lage, auch komplizierte Sachverhalte anschaulich und verständlich zu erläutern und lassen ihren Schülerinnen und Schülern ausreichend Zeit, das Gelernte zu vertiefen und ausgiebig zu üben.

Verlässliche Konstanten sind auch in dem von Neomanie geprägten Bildungswesen von grosser Bedeutung. Lernen auf Beziehungsebene erfordert physische Präsenz. Die Schülerinnen und Schüler haben ein Recht auf verlässliche und fähige Lehrpersonen, die sich auch in Zukunft durch die folgenden drei Hauptmerkmale auszeichnen:

Sie verfügen über pädagogisches Geschick, haben ein offenes Ohr für die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen und pflegen deshalb einen altersgerechten Unterrichtsstil. Als Meister ihrer Fächer verstehen sie es, Unterrichtsinhalte lebendig zu vermitteln. Dank eines reich gefüllten Methodik-Didaktik-Koffers sind sie in der Lage, auch komplizierte Sachverhalte anschaulich und verständlich zu erläutern und lassen ihren Schülerinnen und Schülern ausreichend Zeit, das Gelernte zu vertiefen und ausgiebig zu üben. Oberflächlich-aktionistische Sightseeing-Pädagogik dagegen ist ihnen ein Graus.

Auch wenn forschungsverliebte Dozierende die Nase rümpfen: Unterrichten ist zu einem beträchtlichen Teil Handwerk.

Bekanntlich fallen gute Lehrpersonen nicht vom Himmel. Pädagogische Hochschulen, welche sich ihrer grossen Verantwortung für den Bildungserfolg in unserem Land bewusst sind, sorgen mit seriösen Assessments dafür, dass geeignete junge Menschen den Weg in den Lehrberuf finden. Die fachwissenschaftliche Ausbildung stellt sicher, dass die angehenden Lehrpersonen über ein solides und stufengerechtes Fachwissen verfügen. Dabei gilt es, Augenmass zu halten. Literatur in allen Ehren, aber Englischlehrer an der Volksschule müssen in erster Linie die englische Sprache beherrschen. Und von Sek I-Physiklehrpersonen wird nicht erwartet, dass sie Astronauten ausbilden können.

Auch wenn forschungsverliebte Dozierende die Nase rümpfen: Unterrichten ist zu einem beträchtlichen Teil Handwerk. Eine praxisorientierte Ausbildung in Methodik und Didaktik gehört deshalb zum Pflichtprogramm. Der von manchen PH-Vertretern gebetsmühlenartig wiederholte Vorwurf der Rezepthaftigkeit greift definitiv nicht.

Erfolgreiche Pädagoginnen und Pädagogen mit Realitätssinn

Zugegeben: Unterrichtserfahrung ist noch keine Garantie für eine erfolgreiche Lehrtätigkeit als Fachdidaktikdozent. Mangelnde oder fehlende Unterrichtserfahrung hingegen ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ein Garant für praxisferne Konzepte wie bspw. die eingangs erwähnte Mehrsprachigkeitsdidaktik oder pseudowissenschaftliche pädagogische Konzepte, die Primarschulkinder wie Erwachsene behandeln. Überzogene Selbstorganisation, inflationäre individuelle Lernarrangements oder psychometrische Kompetenzraster lassen grüssen. Nein, wir brauchen in der Lehrerbildung keine realitätsfernen Technokraten, sondern erfolgreiche Pädagoginnen und Pädagogen mit Herzblut und Realitätssinn.

Wie angehende Lehrpersonen zu einem tragfähigen Praxiswissen und solidem Berufskönnen befähigt werden, zeigt das neue Studienmodell der Hochschule für agile Bildung HfaB in Zürich, das Carl Bossard in seinem Artikel «Das Gleiche anders machen» [1] erfrischend beleuchtet. Prädikat: Strengstens lesenswert!

P.S.: Fast hätte ich es vergessen: Neben Messer und Gabel ist natürlich auch der Löffel fester Bestandteil des Bestecks, damit wir die Kürbissuppe auch in ferner Zukunft geniessen können. Das Auslöffeln der Suppe, die uns (notorisch rechthaberische) Bildungspropheten eingebrockt haben, überlasse ich allerdings lieber dem «Bullshit-Filter der Geschichte» (Nassim Nicholas Taleb).

[1] https://condorcet.ch/2023/11/das-gleiche-anders-machen/

Dieser Artikel ist zuerst in der Verbandszeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB erschienen: https://lvb.ch/lvbinform/ausgabe/2023-24-02/

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Geschichtslehrer fordern Umdenken https://condorcet.ch/2023/11/geschichtslehrer-fordern-umdenken/ https://condorcet.ch/2023/11/geschichtslehrer-fordern-umdenken/#respond Wed, 22 Nov 2023 17:04:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=15341

Professor Mario Andreotti und Hanspeter Amstutz haben an einem Podium des Vereins „Starke Volksschule St. Gallen“ ihre Thesen zum Geschichtsunterricht vorgestellt. Die beiden Geschichtslehrer, die auch im Condorcet-Blog regelmässig Beiträge veröffentlichen, sparten dabei auch nicht mit Kritik am Lehrplan 21 und der Lehrplanreform der Gymnasien. Daniel Wahl, Journalist des "Nebelspalter", war dabei.

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Die Fakten: Seit mehr als 100 Jahren hat die Geschichte im Fächerkanon der Gymnasien einen festen Platz: mindestens zwei Wochenlektionen über alle vier Jahre. Mit der Maturitätsreform findet dort nun ebenso ein Abbau statt, wie er bereits an Primar- und Sekundarschulen erfolgt ist. Jetzt formulieren Geschichtslehrer Hanspeter Amstutz und Mario Andreotti Thesen, um die anstehenden Debatten in Bildungsräten und diversen Kantonsparlamenten gegen den weiteren Abbau des Geschichtsunterrichts zu unterstützen.

Gastautor Daniel Wahl, Journalist beim “Nebelspalter”

Warum das wichtig ist: Immer weniger Jugendliche können erzählen, wie sich die Schweiz konstituiert hat. Wie Germanist und Geschichtslehrer, Professor Mario Andreotti, als Kompanie-Kommandant bei Fourier-Anwärtern nach Befragungen festgestellt hat, ist “wichtiges Geschichtswissen praktisch nicht mehr vorhanden”.

  • Die drei Gewalten Judikative, Legislative und Exekutive könnten nicht mehr benannt werden.
  • Das Wissen, wie sich eine repräsentative von einer direkten Demokratie unterscheidet, sei nahezu nicht mehr vorhanden.
  • Das Desinteresse an der Geschichte zeige sich auch an den Universitäten. Dort sei ein dramatischer Einbruch der Geschichtsstudenten von 40 Prozent über die letzten fünf Jahre zu verzeichnen.

O-Ton Andreotti: “Man muss sich nicht wundern, wenn Leute, die nie von Demokratie etwas gehört haben, nicht an Abstimmungen teilnehmen.”

Bei der Geschichtskunde gehe es nicht einfach darum, aus der Vergangenheit das Heute zu verstehen. Es gehe um die Möglichkeit, die menschliche Existenz zu begreifen. “Die Geschichte gibt Antwort auf die Frage: Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind”, sagt der Professor.

O-Ton Amstutz: “Das Fach Geschichte braucht wieder ein klares Profil. Lehrer und Eltern möchten gerne wissen, was denn an Schweizer Sekundar- und Primarschulen verbindlich unterrichtet wird.”

Es könne nicht sein, dass nur in einigen wenigen Klassen ein lebendiger Einblick ins 20. Jahrhundert vermittelt wird, während die Mehrheit irgendwo zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg stecken bleibt.

  • Die Schweizer Geschichte trägt bei zum nationalen Zusammenhalt.
  • Geschichte ist identitätsbildend.

The Big Picture: Die Marginalisierung des Geschichtsunterrichts hat verschiedene Ursachen und mit der linken Gegenkultur der 1968er-Bewegung eingesetzt. Zunächst wurden die Schattenseiten von historischen Persönlichkeiten hervorgehoben. Zum Beispiel wird Alfred Escher angebliche Beziehung zur Sklaverei unterstellt (Link). Demontiert wurden Schritt für Schritt Wilhelm Tell, die Schlacht von Morgarten und Arnold Winkelried. Hauptverantwortlich macht Andreotti dafür die beiden Historiker Thomas Maissen und Werner Meyer, die beide Geschichtsmythen bekämpften.

O-Ton Andreotti: “Es geht mir nicht um Verklärung von Helden. Aber Mythen sind der Kitt der Gesellschaft und für die Identitätsfindung wichtig. Es gibt keinen Staat ohne mythisches Fundament.”

Der Geschichtsabbau an den Schulen fand gemäss Amstutz und Andreotti wie folgt statt:

  • 2000 erste PISA-Studie: Der Geschichtsunterricht wird nicht “gemessen”, sondern nur das, was volkswirtschaftlich “nützlich” erscheint, wie Rechnen oder Leseverständnis. Die unterschwellige Botschaft an die Historiker: Geschichte ist überflüssig
  • 2004 verabschiedete die Eidgenössische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) das Konzept mit zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe. Es ging auf Kosten des Geschichtsunterrichts.
  • Ab 2014 Lehrplan 21: Reduzierung des Geschichtsunterrichts auf Primarschulebene im Sammelfach “Räume Zeiten Gesellschaften”. Ohne verbindlichen Aufbau, was die Beliebigkeit der Lehrinhalte begünstigte.
  • Lehrplan 21: An den Sekundarschulen ist Geschichte mit Geografie vereint und von vier auf drei Stunden reduziert worden. Die Lehrer verteilen die Stunden oft nach ihren eigenen Präferenzen.
  • Lehrplan 21: Statt Inhalte werde Kompetenzen formuliert. Dazu Andreotti: “Für den Geschichtsunterricht sind Kompetenzen Gift. Es geht um Inhalte.”
  • Maturitätsreform: Geschichte wird nur noch im zweiten, dritten und vierten Gymnasialjahr vermittelt. Eine dritte Stunde findet im vierten Jahr als Thema “politische Bildung” statt.
Mit Geschichte steht der Fächerkanon auf Kriegsfuss.

Die Indikatoren dafür, dass der “Geschichtsunterricht in den Schulen am Boden” ist, wie sich Hanspeter Amstutz ausdrückt, sind folgende:

  • Es gibt (wie Andreotti und Amstutz sagen) keinen eigenen Lehrstuhl mehr für Schweizer Geschichte an einer Schweizer Universität.
  • An den Schweizer Lehrerfortbildungstagen in St. Gallen gab es bei 111 Kursen keinen einzigen Weiterbildungskurs im Bereich Geschichte.
  • Als Kursleiter in Weiterbildung für Geschichte an der Sekundarschule hat Amstutz Einblick in den Geschichtsunterricht: die Vermittlung von aufbauender Geschichte, die zu einem chronologischen Geschichtsverständnis führt, ist die Ausnahme. Häufig sind nur noch Längsschnitte – “eine Postmoderne Beliebigkeit”: Man unterrichte beispielsweise Geschichte zum Thema Energie oder zum Thema Kolonialismus.
  • All dies kratzt am Berufsbild: Das Interesse am Geschichtsfach an Universitäten nimmt rapide ab, trotz steigender Studentenzahl.

 

Die neusten Zahlen will die Universität Zürich dem “Nebelspalter” nicht vorlegen, weil es sich angeblich noch um eine provisorische Erhebung handeln würde. Der Abbau der vergangenen Jahre ist aber wie folgt dokumentiert.

Grafik Datawrapper Sinkende Zahl von Studenten an der Universität Zürich

 

Wie es weitergeht: Zur Aufwertung des Geschichtsunterrichts haben Amstutz und Andreotti Thesen aufgestellt und diese vergangene Woche Interessierten in St. Gallen präsentiert.

Fürs Gymnasium in Kürze:
  • Durchgehender Unterricht von der ersten bis zur vierten Klasse mit mindestens zwei Wochenlektionen
  • “Politische Bildung” soll als eigenständiges Fach geführt werden
  • Chronologischer Aufbau des Geschichtsunterrichts
  • Genügend Raum für die Schweizer Geschichte, zum besseren Verständnis der Demokratie
  • Geschichte soll in Deutsch unterrichtet werden und ein vollwertiges Maturafach sei
Für die Volksschule:
  • Verbindliche Inhalte statt Kompetenzziele. “Kompetenzen sind das Nebenprodukt”
  • Vermittlung der Erfolgsgeschichte Schweiz als verbindlicher Auftrag an die Schule
  • Chronologischer Aufbau der Schweizer Geschichte anhand von “Meilensteinen”
  • Förderung der Erzählkunst an den Pädagogischen Hochschulen
  • Erhöhung der Lektionenzahl wieder auf mindestens zwei Geschichtsstunden pro Woche.

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Jetzt droht in Berlin die Stundenplan-Kürzung wegen Lehrermangels https://condorcet.ch/2023/10/jetzt-droht-in-berlin-die-stundenplan-kuerzung-wegen-lehrermangels/ https://condorcet.ch/2023/10/jetzt-droht-in-berlin-die-stundenplan-kuerzung-wegen-lehrermangels/#comments Sat, 21 Oct 2023 19:08:29 +0000 https://condorcet.ch/?p=15164

Erstmals erlaubt die Berliner Bildungsverwaltung infolge des eklatanten Lehrermangels auch sogenannte Pflichtstunden für Schüler zu kürzen. Bildungsgewerkschafter sehen es als Eingeständnis an die Realität, die in der Praxis längst eingetreten ist. Wir bringen einen Beitrag der Welt-Korrespondentin Sabine Menkens.

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Die Lage an den Berliner Schulen wird immer prekärer. Eine Rekordzahl von 353’320 Schülern und der akute Lehrkräftemangel könnten jetzt sogar dazu führen, dass im Notfall sogar die von der Verwaltung festgelegte Stundentafel, die die Mindeststundenzahl für alle Fächer festlegt, nicht mehr eingehalten werden muss: In einem vor den Sommerferien verschickten Schreiben der Verwaltung von Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) an die Schulaufsicht wird neben vielen anderen Maßnahmen die vorübergehende Kürzung von Pflichtstunden ins Spiel gebracht.

Gastautorin Sabine Menkens

Auf Anfrage von WELT bemühte sich die Senatsverwaltung für Bildung zwar, einen entsprechenden Bericht des Berliner “Tagesspiegel” zu relativieren. In dem Schreiben sei es lediglich darum gegangen, den Schulaufsichten ein “Instrumentarium an die Hand zu geben”, um trotz Lehrkräfteknappheit das Schuljahr gut organisieren zu können, etwa durch Umwandlung von unbesetzten Lehrkräftestellen in Stellen für Logopäden, Erzieher oder Psychologen.

Keine generelle Kürzung der Pflichtstundenzahl

“Um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, wurde in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, wie in einzelnen Fällen möglicherweise und gegebenenfalls eine Reduzierung der Stundentafel temporär und verhältnismäßig organisiert werden könnte”, teilte ein Sprecher mit. Von einer generellen Kürzung der Pflichtstundenzahl könne keine Rede sein. Zudem sollen Kernfächer wie Deutsch, Mathe und Englisch davon nicht betroffen sein.

Dennoch hat die Bildungsverwaltung damit erstmals ausgesprochen, was an vielen Berliner Schulen längst bittere Realität ist: dass angesichts von zuletzt rund 1400 fehlenden Lehrkräften nicht mehr überall regulärer Unterricht abgehalten werden kann. Er habe von mehreren Schulen gehört, dass sie ihre Stundentafel nicht mehr abdecken können, sagt Tom Erdmann, Vorsitzender der Berliner Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Vor allem an Sekundarschulen in benachteiligten Gebieten sei der Lehrermangel eklatant. “Es ist eine Möglichkeit für die Schulen, sich ein Stück weit ehrlich zu machen.”

“Die Schüler mit Förderbedarf erleben seit Jahren, dass bei ihrem Anspruch zuallererst gekürzt wird.”

Gewerkschafter Tom Erdmann

 

Bislang habe die Bildungsverwaltung stets eisern an den Pflichtstunden festgehalten. Stattdessen sei bei den Förderstunden für Kinder mit Inklusionsbedarf gekürzt worden. “Wir haben immer kritisiert, dass die heilige Kuh Stundentafel in Zeiten des absoluten Lehrkräftemangels völlig unangemessen ist”, sagt Erdmann. Die Kürzungen dürften aber nicht einseitig zulasten der Inklusion gehen. “Die Schüler mit Förderbedarf erleben seit Jahren, dass bei ihrem Anspruch zuallererst gekürzt wird.”

Eine Einschätzung, die auch von der Schulleiter-Vereinigung der Integrierten Sekundarschulen geteilt wird. “Jetzt wurde von der Senatsverwaltung einmal ausgesprochen, was in der Praxis bisweilen notwendig ist”, sagt Vorstand Sven Zimmerschied. “Es gibt manchmal Schuljahre, wo man ein besonderes Fach nicht oder nicht für alle Klassen anbieten kann. Wenn Sie partout keinen Physiklehrer haben, können Sie eben keine Physik anbieten.” Meist handele es sich hier aber um Übergangsphasen, schränkt Zimmerschied ein. Zudem seien nicht alle Schulen in gleichem Maße betroffen.

Auch für den Landeselternausschuss sind Pflichtstundenkürzungen nach den Worten ihres Vorsitzenden Norman Heise “nicht unbedingt ein Tabubruch”. “Wir fordern, dass zu dem Thema ein Runder Tisch mit Schulleitungen, Schülervertretern und Eltern einberufen wird, der sich gemeinsam darauf verständigt, wo gekürzt werden darf – und wo auf keinen Fall”, sagt Heise. „Anderenfalls befürchten wir ein individuelles Vorgehen der Schulen, was zu Ungerechtigkeiten führen kann.“

Gemeinsame Verständigung gegen Ungerechtigkeiten

Er fürchtet, dass es vor allem unterbesetzte Schulen in sozial schwieriger Lage sein werden, denen es nicht mehr gelingt, die Stundentafel abzudecken. “Daher ist es so wichtig, dass es eine gemeinsame Verständigung gibt, damit es nicht zu solchen Ungerechtigkeiten kommt.”

Ein Anliegen, das auch die SPD-Fraktion umtreibt. “So, wie es jetzt vorgesehen ist, dürfen Schulen, die ein Defizit haben, Pflichtstunden kürzen. Das führt dazu, dass die ohnehin benachteiligten Schulen jetzt auch qualitativ ihrer Unterrichtsverpflichtung nicht nachkommen können”, sagt Bildungsexpertin Maja Lasic. “Das Gefälle zwischen den Schulen wird dadurch noch weiter verstärkt.”

“Eine abgespeckte, aber verlässliche Stundentafel ist besser als dauernder Ausfall und fachfremde Vertretung.”

Louis Krüger, Bildungsexperte

 

Besser wäre es aus Lasics Sicht, wenn die Senatsverwaltung die Steuerung in die Hand nehmen und die Stundentafel auf gesamtstädtischer Ebene verschlanken würde. Die so eingesparten Lehrerstunden könnten dann anders verteilt werden. “Es können dann eben nicht alle Lehrkräfte an Gymnasien in gutbürgerlicher Lage kommen. Dadurch verschieben sich Lehrkräfte in benachteiligte Gebiete.”

Systematisch weniger Unterricht für zukünftige Generationen

Ein Weg, den auch Grünen-Bildungsexperte Louis Krüger unterstützt. “Eine abgespeckte, aber verlässliche Stundentafel ist besser als dauernder Ausfall und fachfremde Vertretung”, sagt Krüger. “Auch im Sinne der Bildungsgerechtigkeit ist das richtig, denn eine geregelte Stundenreduzierung ist gerechter als Förderstunden zulasten der Schwächsten zu streichen.” Um die Folgen des Unterrichtsausfalls abzufedern, müsse der Senat alternative Bildungsangebote schaffen. “So kann aus einer ausfallenden Kunst-Stunde ein Besuch in der Jugendkunstschule werden.”

Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, bezeichnete eine mögliche Pflichtstundenkürzung als “Überschreiten einer roten Linie”. Es sei “erschütternd, wohin uns die Bildungspolitik der vergangenen Jahrzehnte geführt hat”. Gekürzte Unterrichtsstunden würden auch zukünftige Schüler nicht zurückbekommen. “Es bedeutet systematisch weniger Unterricht für zukünftige Generationen. Dem können wir nicht zustimmen.”

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Brennende Schulen und Proteste gegen Sexualkunde-Unterricht https://condorcet.ch/2023/09/brennende-schulen-und-proteste-gegen-sexualkunde-unterricht/ https://condorcet.ch/2023/09/brennende-schulen-und-proteste-gegen-sexualkunde-unterricht/#respond Sun, 24 Sep 2023 17:44:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=15002

Nachdem in Belgien bereits die sechste Schule gebrannt hat, sollen Terrorexperten die Lage analysieren. Denn der Verdacht liegt nahe, dass es einen Zusammenhang mit der Einführung des Sexualkundeunterrichts gibt. Islamistische Gruppen hatten dagegen protestiert. Wir bringen einen Bericht der dpa, der in der "Welt" publiziert worden ist.

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Die belgische Regierung hat nach einer Serie von Brandstiftungen in Schulen einen verstärkten Polizeieinsatz angekündigt. “Wir greifen unsere Schulen nicht an”, schrieb Innenministerin Annelies Verlinden am Freitag auf der früher als Twitter bekannten Plattform X. Sie habe die Bundespolizei angewiesen, die örtlichen Behörden zu unterstützen und eine Eskalation zu vermeiden.

Kurz zuvor war in Charleroi zum sechsten Mal in dieser Woche eine Schule angezündet worden. Auch in Brüssel wurde Feuer gelegt. In Lüttich wurden Medien zufolge zwei Schulen verwüstet. An mehreren Tatorten sind Protestzeichen gegen das Sexualkundeprojekt Evras gefunden worden, das im neuen Schuljahr in Brüssel und der Wallonie erstmals verpflichtend ist. Die Staatsanwaltschaft Charlerois erklärte Medienberichten zufolge, Ermittlungen hätten bislang keinen Zusammenhang zwischen den Brandstiftungen in der Stadt ergeben.

“Wir werden niemals hinnehmen, dass unsere Schulen zur Zielscheibe gemacht werden.”

Alexander De Croo, Ministerpräsident von Belgien

 

Ministerpräsident Alexander De Croo sagte, er habe die für Terror zuständigen Sicherheitsbehörden gebeten, die Lage zu analysieren. “Wir leben in einem Land der Toleranz, und Toleranz bedeutet, dass wir debattieren und unterschiedliche Standpunkte vertreten können, aber das darf niemals zu Gewalt führen, insbesondere nicht an Orten, die unsere Kindern nutzen”, sagte er. “Wir werden niemals hinnehmen, dass unsere Schulen zur Zielscheibe gemacht werden.”

Das Programm gibt es seit vier Jahren. Bislang war die Teilnahme freiwillig.

Im Übrigen gebe es Sexualkunde in Belgien schon seit 50 Jahren. “Unsere Schulen müssen ein sicherer Ort für alle unsere Kinder sein”, sagte De Croo bereits Donnerstag in einem auf Facebook veröffentlichten Video.

Anfang des Monats hatte das Parlament der französischsprachigen Regionen Belgiens einen Vorschlag für verpflichtende Sexualkunde für Schüler angenommen, wie die Nachrichtenagentur Belga berichtete. Bei Evras handelt es sich um insgesamt vier Stunden Unterricht zum Beziehungs-, Gefühls- und Sexualleben für Elf- bis Zwölfjährige beziehungsweise für 15- bis 16-Jährige. Das Programm gibt es seit vier Jahren. Bislang war die Teilnahme freiwillig.

Diese Graffitis wurden an einer Schule in Charleroi entdeckt (Bild: picture alliance/dpa/Belga)

Im Internet kursierten Gerüchte über den Unterrichtsinhalt. In Brüssel haben mehrere Hundert Menschen gegen das Programm protestiert. Islamistische Gruppen verurteilten Evras, weil sie befürchteten, es fördere eine “Hypersexualisierung” von Kindern. Bei den Bränden, die in der Nacht zum Mittwoch gelegt wurden, sehen die Ermittler demnach einen Zusammenhang mit Protesten gegen die neue Regelung, da an den Tatorten Graffitis mit Slogans gegen die Reform gefunden wurden. Bei einer Schule, die in der Nacht zum Donnerstag brannte, wurden keine derartigen Slogans entdeckt, wie der Sender RTBF berichtete. Angaben zu möglichen Verletzten und Schäden gab es zunächst nicht.

“Der Zugang zur Sexualerziehung darf nicht infrage gestellt werden. Sie macht unsere Kinder widerstandsfähig und ist die Grundlage für eine gute sexuelle Gesundheit.”

Alexander De Croo, Ministerpräsident von Belgien

 

Die wallonische Bildungsministerin Caroline Desir rief zur Besonnenheit auf. Es seien eine Menge Lügen über Evras im Umlauf, sagte sie. “Nein, es wird kein pädophiles System vorbereitet. Nein, es ist nicht geplant, Kinder dazu zu bringen, das Geschlecht zu wechseln. Nein, es ist nicht geplant, Kindern beizubringen, wie man sexuelle Aktivitäten betreibt”, betonte Desir.

“Der Zugang zur Sexualerziehung darf nicht infrage gestellt werden. Sie macht unsere Kinder widerstandsfähig und ist die Grundlage für eine gute sexuelle Gesundheit”, sagte de Croo.

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