Totalitarismus - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 26 Mar 2021 00:33:44 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Totalitarismus - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Kompetenzorientierung als Indiz pädagogischer Orientierungslosigkeit Teil 3 https://condorcet.ch/2021/03/kompetenzorientierung-als-indiz-paedagogischer-orientierungslosigkeit-teil-3/ https://condorcet.ch/2021/03/kompetenzorientierung-als-indiz-paedagogischer-orientierungslosigkeit-teil-3/#respond Wed, 03 Mar 2021 11:05:12 +0000 https://condorcet.ch/?p=7903

Dritter und letzter Teil der "unzeigemässen" Betrachtungen der Kompetenztheorie von Professor Ladenthin (Bonn). In diesem Teil geht es um den totalitären Anspruch der Handlungsorientiertheit und seine möglichen Konsequenzen.

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Ein totalitärer Anspruch der Kompetenzorientierung?

Professor Volker Ladenthin: Ein totalitärer Anspruch

Ich möchte diese Problematik noch ein wenig weiter ausleuchten – um den totalitären Charakter des konstruktiv gewendeten Kompetenzbegriffs aufzuzeigen: Es gibt bekanntlich auch den Versuch, ‘religiöse Kompetenzen’ zu beschreiben. Hier wird der Kategorienfehler nun besonders deutlich, da an dieser Stelle versucht wird, den argumentativ nicht einholbaren Vorgang des ‘Glaubens’ doch noch psychologisch in den Griff zu bekommen.

Wenn der individuelle Glaubensakt sich tatsächlich in psychologisch fassbare, nachweisbare und überprüfbare (Teil-)Kompetenzen zerlegen ließe, dann müsste man ihn nach dem gängigen Modell aus elementaren Teilkompetenzen wieder synthetisieren können. Hier ergibt sich eine Paradoxie, die darin besteht, dass Glauben vernünftig hergestellt werden sollte: Man wäre der Meinung, »Glaube« ließe sich nach dem Kompetenzmodell kleinschrittig synthetisch herstellen, indem man die zur Religionsausübung vorausgesetzten Teilschritte einzeln erwürbe.

Dabei wäre es gleichgültig, woran wir glauben: Die Scientologen stünden gleichwertig neben Voodoo-Kulten

Kompetenzorientierter Religionsunterricht? Glauben in Teilschritten lernen

Man könnte nach dem Kompetenzmodell Religion für alle verpflichtend machen, da nach dieser Vorstellung jeder »glauben« lernen kann. Wir könnten ‘Glaubensstandards’ festlegen, d.h. objektiv bestimmen, wann jemand als gläubig gelten kann und wann nicht. Wir könnten sogar abprüfen, wie weit jemand gläu- big ist. Wir könnten eine Vergleichbarkeit herstellen und mes- sen, wie gläubig Bevölkerungsgruppen oder Länder sind. Eine ‘PISA-Studie zur Religion’ könnte nach diesem Modell Noten zur Gläubigkeit von Ländern verteilen. Dabei wäre es gleichgültig, woran wir glauben: Die Scientologen stünden gleichwertig neben Voodoo-Kulten oder dem Judentum. Ja, selbst Religionen mit Menschenopfern und rituellen Tötungen wären nach diesem Modell lehrbar; und sie wären sogar identisch mit den großen humanen Weltreligionen. Am wichtigsten aber ist, dass Glaube kein individueller Akt der Überzeugung, der Erlebnisse wäre, sondern eine lehrbare, völlig rationale Denkoperation.

Kompetenztheoretisch betrachtet ist es gleich, ob man Mathematik lernt oder beten. Beides ist gleichermaßen psychologisch in Teile (Teilkompetenzen) zerlegbar, gleichermaßen operationalisierbar und daher gleichermaßen messbar.

Das Versprechen, religiöse Kompetenzen zu benennen, wird gar nicht eingelöst.

Am Beispiel der Religion wird der Kategorienfehler vielleicht besonders deutlich: Identifizierte Teilkompetenzen lassen sich nicht wieder zur menschlichen Handlungstotalität synthetisieren. Und zwar grundsätzlich nicht. Weiterhin wird das Totalitäre des Ansatzes deutlich: Geistige Inhalte werden zu psychischen Prozessen zerlegt, so dass jeder gezwungen (manipuliert) werden kann, alles zu lernen. Natürlich will dies kein moderner Religionspädagoge, gleichwohl benutzen viele von ihnen das Vokabular, das eben diese Implikationen mit sich bringt. Hier wird ein Terminus zum trojanischen Pferd. Betrachtet man allerdings die Kompetenzentwürfe genauer, stellt man fest, dass alles Mögliche als Teilkompetenz ausgewiesen wird – nur eben nicht das Spezifische, das Religiöse, das den Glaubensakt ausmacht.(16) Das Versprechen, religiöse Kompetenzen zu benennen, wird gar nicht eingelöst – und das ist zu begrüßen. Nur sollte man dann auf den Begriffseuphemismus ebenfalls verzichten.

Kompetenzen allein schaffen keine Kultur. Wir unterscheiden uns von den antiken Gesellschaften nicht durch Kompetenzen, wohl aber durch Kultur.

Vertreter der Kompetenztheorie sprechen in letzter Zeit häufiger von ‘domänenspezifischen Kompetenzen’. ‘Kompetenzen’ werden nun zu ‘Ressourcen für unvorhersehbare Herausforderungen’ – allerdings fachspezifisch.(17) Abgesehen von der fraglichen Logik, nach der wir »Ressourcen für Unvorhersehbares« anlegen können – wenn wir nicht wissen, was auf uns zukommt, können wir uns auch nicht darauf vorbereiten –, bleibt das Problem: Entweder sind Kompetenzen psychische Disposi- tionen, die bei allen Menschen gleich sind, dann können sie nicht domänenspezifisch sein. Oder die Schule strebt fachbezogene inhaltliche Fragen an, die sich dann allerdings nicht aus (ahistorischen) Kompetenzen synthetisieren lassen, sondern der inhaltlichen Logik des Faches und seiner Geschichtlichkeit unterliegen. Zu unserer Kultur sind Kompetenzen nötig, aber Kompetenzen allein schaffen keine Kultur. Wir unterscheiden uns von den antiken Gesellschaften nicht durch Kompetenzen, wohl aber durch Kultur.

 Muss man populäre Sprachregelungen mitmachen?

Lauter Binsenwahrheiten

In populären Quellen – wie beispielsweise Wikipedia – finden sich Formulierungen wie, dass Kompetenz »eine koordinierte Anwendung verschiedener Einzelleistungen anhand eines für den Lernenden jeweils neuen Problems« sei oder Kompetenz sich »an lebensweltlichen Bezügen des Lernenden, am ‘Sich-Bewähren im Leben‘« orientiere und »ein kompetenzorientierter Unterricht stärker auf den Schüler und seine Lernvoraussetzungen [achte] als ein am Stoff ausgerichteter Unterricht«(18). Ich weiß nicht, wer dies (in Wikipedia) geschrieben hat, aber hier werden pädagogische Binsenweisheiten als Innovation ausgegeben. Vielleicht muss man aus taktischen Gründen manchmal das Wörterbuch des Zeitgeistes verwenden – aber einen Beitrag zur Kompetenzdiskussion leisten die Allgemeinplätze nicht.

Dies vermag eher schon der folgende Hinweis – ebenfalls von Wikipedia:

»Die empirische Bildungsforschung beschäftigt sich seit einiger Zeit mit der Messung von Kompetenzen, beispielsweise in den internationalen Leistungsstudien wie PISA. Für die psycho- metrische Messung wird der psychologische Kompetenzbegriff verwendet, der nicht identisch ist mit dem pädagogischen.“(19)

Erst wenn man über Inhaltliches diskutiert, lässt sich sinnvoll von sinnlos, gut von böse und Humanität von Barbarei unterscheiden.

Genau deshalb müssen wir uns mit dem importierten Begriff sehr kritisch beschäftigen – denn er ist es, der die Bildungslandschaft zu einer Elementarteilchen-Brache zurückdefiniert:

Was ist Humanität, was ist Barbarei?

Wer also lediglich formale Kompetenzen schult und misst und als Indikator für den Grad an Bildung nimmt, kann nicht mehr unterscheiden zwischen sinnvoller und sinnloser Kultur, zwischen moralischem und unmoralischem Handeln, zwischen Humanität und Barbarei. Alle Pole verlangen exakt die gleichen, auch fachbezogenen Kompetenzen. Erst wenn man über Inhaltliches diskutiert, lässt sich sinnvoll von sinnlos, gut von böse und Humanität von Barbarei unterscheiden.

Wären Kompetenzlehrpläne konsequent gestaltet, trieben sie den Sinn, die Moralität und die Humanität aus den Lehrplänen und damit aus der Schule. An einem extremen Beispiel ausgedrückt: Ein Trainingslager der Neonazis ist unter kompetenztheoretischen Gesichtspunkten von einer Ausbildung in der Altenpflege nicht zu unterscheiden.(20)

Der Staat produzierte, wenn man die Kompetenzlehrpläne ernst nähme, Bürger, die diesem Staat gegenüber völlig indifferent werden. Ob man mit Geld Kultur schafft oder Kriege beginnt, ist kompetenztheoretisch betrachtet völlig gleich, da dieselben Kompetenzen dazu benötigt werden. Wir beklagen abnehmendes soziales Engagement, mangelnde Wahlbeteiligung, öffentliche sowie ökonomische Verantwortungslosigkeit und die Politik beklagt Politikverdrossenheit: Ein Schulsystem, das Kompetenzen als oberste Maxime und letzten Maßstab annähme, triebe genau diese Tendenz weiter. Aus Kompetenzen lässt sich kein humanes Handeln ableiten.

Vielleicht ist es ja wenig kompetent, nicht nur formal korrekt zitieren zu können – handelt es sich hier um fachliche oder methodische Kompetenz? –, sondern zudem noch inhaltlich dem zuzustimmen, was man zitiert. Ich tue es trotzdem und zitiere einen Klassiker – auch die Theorie des Klassischen lässt sich übrigens kompetenztheoretisch nicht begründen. Ich zitiere trotzdem. Goethe/Schiller, die Xenien aus dem Nachlass:

»Das verkauft er für Humanität? Zusammen addieren/ Kannst Du den Engel, das Vieh, aber vereinigen nicht.«(21)

Um diese Vereinigung geht es gerade in der Schule. Nur sie erlaubt uns kulturelles Handeln.

 

Fussnoten:

(16) etwa: – Hermeneutische Kompetenz als Fähigkeit, Zeugnisse früherer und gegenwärtiger Generationen und anderer Kulturen, insbesondere biblische Texte zu verstehen und auf Gegenwart und Zukunft hin auszulegen.

Ethische Kompetenz als Fähigkeit, ethische Probleme zu identifizieren, zu analysieren, Handlungsalternativen aufzuzeigen, Lösungsvorschläge zu beurteilen und ein eigenes Urteil zu begründen, um auf dieser Grundlage verantwortlich zu handeln.

Sachkompetenz als Fähigkeit, über religiöse Sachverhalte, Kernstücke der biblisch-christlichen Tradition und des christlichen Lebens Auskunft zu geben und deren Bedeutung für unsere Kultur zu benennen.

Personale Kompetenz als Fähigkeit, sich selbst, andere Personen und Situationen einfühlsam wahrzunehmen, persönliche Entscheidungen zu reflektieren und Vorhaben zu klären.

Kommunikative Kompetenz als Fähigkeit, eigene Erfahrungen und Vorstellungen verständlich zu machen, anderen zuzuhören, Rückmeldungen aufzunehmen, unterschiedliche Sichtweisen aufeinander zu beziehen und gemeinsam nach Handlungsmöglichkeiten zu suchen.

Soziale Kompetenz als Fähigkeit, mit anderen rücksichtsvoll und verantwortungsbewusst umzugehen, für andere, insbesondere für Schwache einzutreten, Konfliktlösungen zu suchen, gemeinsame Vorhaben zu entwickeln, durchzuführen und zu beurteilen.

Methodische Kompetenz als Fähigkeit, Aufgaben zu erfassen, Sachverhalte zu recherchieren, Inhalte zu erschließen, Lernprozesse selbstständig zu organisieren sowie Erkenntnisse undgebnisse zu präsentieren.

Ästhetische Kompetenz als Fähigkeit, Wirklich- keit, insbesondere Bildende Kunst, Musik, und Literatur sensibel wahrzunehmen, auf Motive und Visionen hin zu befragen und selbst kreativ tätig zu werden

Aus: Rupp, Hartmut (RPI): Religiöse Kompetenz. Theorie und Praxis. Religionspädagogischer Tag Kirchenbezirk Konstanz, Singen 21.02.2005. Zitiert nach: http://kircheansnetz.de/EvSchul- dekanKN/Religioese_Kompetenz.htm (zuletzt gefunden am 23.07.2010) Diese Kompetenzen lassen sich bruchlos auf den Deutschunterricht übertragen, sie betreffen – Gott sei Dank, möchte man sagen – das Religiöse gar nicht. Es sind rein säkulare Fähigkeiten, die genannt werden. Jeder traditionelle Lehrplan könnte diese Ziele formulieren – diese wäre allerdings immer noch nicht religionsspezifisch.

(17) Korsch, Dietrich: Den Atem des Lebens spüren. Bildungsstandards und Religion. In: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 58 (2006), S. 167

(18) Kompetenz (Pädagogik). In: Wikipedia. Im Internet unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Kompe- tenz_%28P%C3%A4dagogik%29. (zuletzt gefunden am 23.07.2010).

(19) Ebenda

(20) Machen wir die Probe aufs Exempel: Wer braucht diese Kompetenzen nicht? »Eine Fachkraft arbeitet selbständig, übernimmt Verantwortung, reagiert flexibel auf Anforderungen,reagiert kompetent in Notfallsituationen, verfügt über Sozialkompetenz, tritt selbstsicher auf, besitzt Einfühlungsvermögen, beherrscht die Schnittstellen in ihrer Arbeit undbaut auf gutes « Im Internet unter: http://www.altenpflege- ausbildung.net/snaa/ver/fobi-dok/v- v/H081127-1/. Zuletzt gefunden am 23.07.2010.

(21) Goethe, Johann Wolfgang von: Gedichte. Bd. IV. München 1961(dtv Gesamtausgabe). S. 162. Nr. 65.

 

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Zitat der Woche: Hannah Arendt https://condorcet.ch/2020/11/zitat-der-woche-hannah-arendt/ https://condorcet.ch/2020/11/zitat-der-woche-hannah-arendt/#respond Wed, 11 Nov 2020 13:27:55 +0000 https://condorcet.ch/?p=6923

Hannah Arendt diagnostizierte die Einsamkeit und Isolation der Menschen als Bedingung dafür, dass totalitäre Herrschaft überhaupt Akzeptanz und Zuspruch gewinnt. Für den Durchschnittsmenschen ist oft nichts schwerer zu ertragen als das Gefühl, keiner größeren Gruppe zuzugehören. Selbst wenn man einer Ansicht eher kritisch gegenübersteht, zieht man es doch oft vor, ihr nicht zu widersprechen, sobald man dadurch riskiert, aus einer Gruppe ausgeschlossen zu werden. Man konnte, wie Erich Fromm 1941 in „Die Furcht vor der Freiheit“ schrieb, damals beobachten, wie vielfach auch Menschen, die keine Nazis waren, den Nazismus gegen Kritik verteidigten, weil sie das Gefühl hatten, dass ein Angriff auf den Nazismus ein Angriff auf Deutschland war.

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Die Grunderfahrung menschlichen Zusammenseins, die in totalitärer Herrschaft politisch realisiert wird, ist die Erfahrung der Verlassenheit.

Hannah Arendt 1951 in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“.

 

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50 Jahre Mondlandung: Warum der Sieg der Amerikaner kein Zufall war https://condorcet.ch/2019/07/50-jahre-mondlandung-warum-der-sieg-der-amerikaner-kein-zufall-war/ https://condorcet.ch/2019/07/50-jahre-mondlandung-warum-der-sieg-der-amerikaner-kein-zufall-war/#comments Sat, 20 Jul 2019 06:36:11 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1663

Am 24. Juli 1969 wasserte die Apollo-Landekapsel im Pazifik. Die amerikanischen Astronauten waren sicher zur Erde zurückgekehrt. Drei Tage zuvor hatte Neil Armstrong nach einem waghalsigen Manöver mittels Handsteuerung an das Kontrollzentrum in Houston gemeldet: «Der Adler ist gelandet.» Condorcet-Autor Michael Rüegg findet, dass der amerikanische Triumph kein Zufall war. Es war ein Sieg der Freiheit über den Totalitarismus. Und es ist auch ein Lehrstück für unsere Haltung in Bildung und Forschung.

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Im Jahr 1957 gelang der Sowjetunion mitten im Kalten Krieg ein spektakulärer Erfolg, der die westliche Welt in einen Schockzustand versetzte. Vom Weltraumbahnhof Baikonur aus beförderten die Kommunisten den ersten künstlichen Erdsatelliten in die Erdumlaufbahn. Der kugelförmige «Sputnik 1» war nicht nur der Startschuss für den Wettlauf ins All. Auch das atomare Wettrüsten hatte eine neue Stufe erreicht. Denn die gleichnamige Trägerrakete war in der Lage, jeden beliebigen Punkt auf der Erde zu erreichen.

Der Sputnik-Schock war nicht von Dauer. Im 25. Mai 1961, nur wenige Wochen nachdem Juri Gagarin als erster Mensch im All die Erde umrundet und der Sowjetunion einen weiteren Prestigeerfolg beschert hatte, hielt Präsident John F. Kennedy seine berühmte Rede vor dem amerikanischen Kongress. Er kündigte an, innerhalb eines Jahrzehnts einen Menschen auf den Mond und wieder sicher zurück zur Erde bringen zu lassen. Das Apollo-Programm war geboren. Es beschäftigte von 1961 bis 1972 400’000 Menschen und kostete 23 Milliarden Dollar (heute 153 Milliarden Dollar).

Für die Amerikaner war es der zweite technologische Triumph im 20. Jahrhundert über ein totalitäres System. Ein Vierteljahrhundert zurück bauten sie die erste Atombombe. Auch hier war es der Feind, der das amerikanische Grossprojekt auf den Weg brachte. Man wollte den Nazis um jeden Preis zuvorkommen. Im geheimen Manhattan-Projekt arbeiteten von 1942 bis 1946 130’000 Menschen. Kostenpunkt: 2 Milliarden Dollar (heute 23 Milliarden Dollar).

Es war ein Kampf der Systeme

Die beiden amerikanischen Grossprojekte waren nicht zufällig erfolgreich. Auch wenn die Gründe dafür vielschichtig sind, so spielte die Weltanschauung eine entscheidende Rolle. Es war ein Kampf der Systeme: Liberalismus gegen Sozialismus, Demokratie gegen Diktatur, christliches Menschenbild gegen nihilistische Gesellschaftsutopie.

Zur Atombombe sind die Untersuchungen des Kernphysikers Manfred Popp aufschlussreich (Darum hatte Hitler keine Atombombe, 2017). Die Sorge der Amerikaner vor einer Nazi-Atombombe war unbegründet. Heute wissen wir: Es gab keinen Wettlauf. Zwar waren die Deutschen in den 1930er Jahren führend in der Kernphysik. Während der Nazizeit aber fehlte der Wille für ein Grossprojekt, bei dem der Erfolg nicht garantiert war. Ob eine Kernspaltung nämlich technisch überhaupt machbar sein würde, war nicht sicher. Diese Unsicherheit lähmte laut Popp die deutschen Forscher entscheidend: «Viele Wissenschaftler fürchteten, dass sie im Fall der Einstellung ihres Vorhabens nicht zu einem anderen wechseln, sondern an die Front beordert würden.» Sie konzentrierten sich daher auf dezentrale Projekte im Bereich konventioneller Waffensysteme, wo sie Hitlers Wünsche nach einer Wunderwaffe besser befriedigen konnten. Das war ihre Lebensversicherung für sich selbst und ihre Familien. Anders die Amerikaner. Ohne Angst vor einer brutalen Staatsmacht, frei in der Forschung, gelang ihnen der Bau der Bombe innert weniger Jahre.

Angstfreie Forschung und mutige Fehlerkultur haben sich im 20. Jahrhundert als Bedingungen zur Abwehr totalitärer Systeme erwiesen.

Ähnliches gilt für den Wettlauf auf den Mond. Im Spielfilm «Aufbruch zum Mond» (engl. «First Man», 2018), der auf der autorisierten Biografie «First Man: The Life of Neil A. Armstrong» basiert, gibt es eine Schlüsselszene: Armstrong, gespielt von Ryan Gosling, trainiert in Texas mit einem fliegenden Simulator die Landung auf dem Mond. Er stürzt ab und rettet sich in letzter Sekunde mit dem Schleudersitz. Die Reaktion Armstrongs gegenüber seinen Vorgesetzten ist bezeichnend für die Haltung einer ganzen Nation, auch wenn es wegen der hohen Kosten durchaus heftige Kritik am Apollo-Programm in der amerikanischen Öffentlichkeit gab. Seine Worte zum Unfall, der ihm fast das Leben kostete: «Wir müssen die Fehler auf der Erde machen und nicht später da oben.»

Angstfreie Forschung und mutige Fehlerkultur haben sich im 20. Jahrhundert als Bedingungen zur Abwehr totalitärer Systeme erwiesen. Und der nächste Prüfstein wartet bereits auf die westliche Welt. Das autoritäre Regime in Peking träumt von der grossen nationalen Renaissance. Die «Neue Seidenstrasse» («One Belt, One Road»), ein gigantisches Investitionsprogramm (Kosten: über 1 Billion Dollar), soll den Weg dahin ebnen.  Das Ziel: China bis ins Jahr 2049 als führende digitale Industrienation etablieren.

Der Tag der Mondlandung ist so gesehen – wie der Bau der ersten Atombombe – nicht einfach ein erinnerungswürdiges Jahrhundertprojekt. Die amerikanischen Siege über den Totalitarismus beinhalten vielmehr für unsere Generation eine wichtige, ja vielleicht existenzielle Botschaft. Sind wir im Westen auch im dritten Jahrtausend gewillt, auf angstfreie Forschung und Fehlerkultur zu setzen, also auf Freiheit?

 

Eine gekürzte Version dieses Textes erschien im Tagesanzeiger vom 20. Juli 2019.

 

 

 

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