Selektion - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 21 Apr 2024 19:22:09 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Selektion - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Kostet Selektion 30’000’000’000 (Milliarden) Franken? https://condorcet.ch/2024/04/kostet-selektion-30000000000-milliarden-franken/ https://condorcet.ch/2024/04/kostet-selektion-30000000000-milliarden-franken/#respond Sun, 21 Apr 2024 12:31:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=16547

Nach Condorcet-Autor Felix Schmutz (https://condorcet.ch/2024/03/der-vorstand-des-vslch-bemueht-sich-um-schulrevolution/ ) untersuchte auch der Stellvertretende Geschäftsführer des aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, Beat Gräub, die ominöse Wyman-Studie, die als Hauptkronzeuge für die Abschaffung der Selektion in Feld geführt wird.

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Wahrscheinlich war das Consulting-Unternehmen OliverWyman selbst überrascht, über die Resonanz auf ihre Studie zum Thema «Fachkräftemangel» (jedenfalls vermittelte die freundliche Dame am Telefon diesen Eindruck). OliverWyman kam zum Schluss, dass 14’000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz ihr schulisches und berufliches Potenzial nicht ausschöpfen. Dies wiederum führe zu volkswirtschaftlichen Schäden von bis zu 30 Milliarden Franken pro Jahr!

Beat Gräub, Stv. Geschäftsführer des Aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands alv und KV-Lehrer für Wirtschaft und Recht am Zentrum Bildung KV Aargau Ost in Baden.

Und weil OliverWymann zwei Mal die Selektion nach der 6. Primarschulklasse (8. Schuljahr inkl. Kindergarten) also am Ende des zweiten Zyklus ansprach, entstand in der Öffentlichkeit und in sozialen Medien rasch der Eindruck, die 14’000 Kinder und die 30 Milliarden Franken seien eine Folge dieser Selektion.

Für Selektionsgegner und -gegnerinnen, wie bspw. die Geschäftsleitung des Schweizer Schulleitendenverbandes VSLCH bzw. ihre Exponenten Thomas Minder und Jörg Berger, ist spätestens damit klar, die Selektion nach der 6. Klasse muss weg. Die 30 Milliarden Franken stehen seither im Raum und werden implizit oder explizit regelmässig wiederholt. Beispielsweise in einem Blick-Artikel von Karen Schärer, vom 9.März 2024.

Was die OliverWyman Studie sagt

Menschen, die sich im Bereich der empirischen Sozialforschung und/oder der Volkswirtschaftslehre und/oder im Schweizer Bildungswesen auskennen, wundern sich:

  • Dieser Entscheid soll solche Auswirkungen, immerhin fast 4 Prozent des Schweizer Brutto-Inland-Produkt, haben?
  • Eine derart komplexe Thematik soll derart klar geschätzt werden können?
  • Wird eine allfällige Fehleinstufung nach der sechsten Klasse nicht durch Berufsmatura, Höhere Fachschulen, Eidgenössische Diplome und ähnlichen Weiterbildungen korrigiert?
  • Müsste man zu denjenigen, die zu tief eingeschätzt werden nicht noch jene in Abzug bringen, die zu hoch eingeschätzt werden?
  • Kann man sagen, dass der volkswirtschaftliche Nutzen eines Menschen umso höher ist, je höher sein Schulabschluss?

Ich machte mir die Mühe, die Studie von OliverWyman genauer anzuschauen. Dasselbe tat Felix Schmutz in einem Blogbeitrag auf Condorcet. Seine Erkenntnisse waren ähnlich.

OliverWyman schreibt selbst, dass die Zahl nicht repräsentativ erhoben wurde.

Unzulängliche Studie?

Die Studie besteht aus 20 PowerPoint Folien abgespeichert als pdf-Datei. Einen detaillierten Lauftext gibt es gemäss Rückfrage bei OliverWyman nicht. Auf den Folien 13 und 19 sprechen die Autoren zwei Mal davon, dass die frühe Selektion ein Grund sein dürfte, dass Menschen ihr Potenzial nicht ausschöpfen können. Die Art wie sie zu dieser Aussage kommen, ist allerdings seltsam. Die beliebten und in der Wirtschaft respektierten Weiterbildungen (bspw. Höhere Fachschule, eidgenössische Fachausweise oder Fachhochschulen) werden offenbar weitgehend ignoriert.

Auf Folie 19 präsentieren sie einen breiten Strauss an Massnahmen, mit denen man erreichen könnte, dass mehr Menschen ihr Potenzial ausnutzen. Die meisten sind unbestritten und werden von Bildungsfachleuten seit Jahren empfohlen.

Erfreuliche, wenn jetzt auch Wirtschaftsunternehmen diese Massnahmen ankerkennen und hoffentlich die notwendigen (finanziellen) Massnahmen mittragen.

Und was die Studie nicht sagt

Wer seither allerdings sagt, die Selektion nach dem zweiten Zyklus koste volkswirtschaftlich CHF 30 Milliarden, hat entweder die Studie nicht gelesen oder sie nicht verstanden oder er/sie lügt bewusst. Die OliverWyman jedenfalls schreibt dies in der Studie nicht!

OliverWyman schätzt die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die ihr Potenzial nicht ausschöpfen auf 14’000 pro Jahr. Dies entspricht etwa 15 Prozent aller Kinder eines Jahrgangs, also ca. 3-4 pro Klasse. Dabei stützen sie sich auf Interviews mit Jugendlichen aber auch Fachleuten. OliverWyman schreibt selbst, dass die Zahl nicht repräsentativ erhoben wurde.

Trotzdem: Nehmen wir einmal an, dass die Zahl von 14’000 Kindern und Jugendlichen korrekt ist. Zweifellos macht es Sinn, Massnahmen zu ergreifen, die dazu führen, dass Menschen ihr Potenzial ausschöpfen können. Wie gesagt, auf Folie 19 präsentiert OliverWyman eine breite und weitgehend sinnvolle Palette, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Die Selektion am Ende des zweiten Zyklus ist ein Nebenschauplatz.

Die Wertschöpfung der Schweiz pro arbeitstätiger Person beträgt im Durchschnitt CHF 800 Milliarden (BIP Schweiz 2022) geteilt durch 5,3 Millionen Arbeitskräfte also CHF 150’000. Würden wir noch externe Effekte annehmen und einen Faktor 10 verwenden (was sicher zu hoch ist), kämen wir auf 1’500’000 Franken. Die 2,14 Millionen Franken sind immer noch weit entfernt.

Beträgt der volkswirtschaftliche Schaden CHF 30’000’000’000 pro Jahr?

Für Wirbel sorgen ja vor allem die CHF 30 Milliarden (genau genommen sind es 21-29 Milliarden). OliverWyman vertritt in der Studie die These, dass 14’000 Personen ihr Potenzial nicht ausschöpfen, was einen volkswirtschaftlichen Schaden von bis zu CHF 30 Milliarden pro Jahr verursache.

Das würde aber bedeutet, dass diese 14’000 Personen im Durchschnitt pro Kopf rund CHF 2,14 Millionen zusätzliche Wertschöpfung generieren würden.

Meine Mail-Nachfrage bei OliverWyman, wie sie auf diese Zahl kommen, blieb leider unbeantwortet, obwohl dies telefonisch abgemacht war.

Eine erstaunliche Aussage. Die Wertschöpfung der Schweiz pro arbeitstätiger Person beträgt im Durchschnitt CHF 800 Milliarden (BIP Schweiz 2022) geteilt durch 5,3 Millionen Arbeitskräfte also CHF 150’000. Würden wir noch externe Effekte annehmen und einen Faktor 10 verwenden (was sicher zu hoch ist), kämen wir auf 1’500’000 Franken. Die 2,14 Millionen Franken sind immer noch weit entfernt.

Im Klartext: Mit den CHF 30’000’000’000 liegt OliverWyman zu hoch – und zwar massiv! Mit der Selektion nach dem zweiten Zyklus hat dieser volkswirtschaftliche Schaden schon gar nichts zu tun.

Meine Mail-Nachfrage bei OliverWyman, wie sie auf diese Zahl kommen, blieb leider unbeantwortet, obwohl dies telefonisch abgemacht war.

Empirie zu Selektion ist uneinheitlich

Wenn also seit ein paar Wochen in sozialen Medien und in der Tagespresse die «späte Selektion» gefordert und so getan wird, als ob die Empirie eindeutig gegen Selektion sei, so ist dies schlicht falsch.

Dazu zwei Beispiele:

  • Der aargauische Primarlehrpersonenverband antwortete auf meine Frage, was die grösste Schwierigkeit im Berufsalltag sei mit «riesige Heterogenität».
  • Auf meine Nachfrage bei mehreren Lehrpersonen der Sek I, welche in allen Leistungszügen unterrichten, erhielt ich übereinstimmend, die Antwort, dass sie die Kinder in homogenen Leistungszügen wohl eher besser fördern können.

Bei den Beispielen handelt es sich um Erfahrungswerte. Doch es gibt auch Empirie. Der erwähnte Felix Schmutz verweist in seinem erwähnten Beitrag auf Studien die, die These der angeblichen Überlegenheit der späten Selektion, widerlegen.

Es gibt Verbesserungspotenzial

Die Primarschule, die dreigliedrige Oberstufe und die Erwachsenenbildung haben übrigens tatsächlich Verbesserungspotenzial. Bspw.:

  • Die Durchlässigkeit sollte verbessert werden.
  • Die Betreuungsverhältnisse sind ungünstig bzw. die Klassen sind meist zu gross.
  • Die Schnittstellen zwischen den Zyklen und der Sek I und der Sek II müssen verbessert werden.
  • Im Bereich der Erwachsenenbildung braucht es ein «Recht auf Weiterbildung». Mit zeitlicher und finanzieller Unterstützung.
    Denn auch die Wirtschaft hat ein Interesse an gut ausgebildeten Fachkräften, die sich stetig weiterbilden – und allfällige Fehlselektionen nachträglich korrigieren.

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Der LCH gibt die Briefmarken ohne Zusatz heraus! https://condorcet.ch/2024/04/der-lch-gibt-die-briefmarken-ohne-zusatz-heraus/ https://condorcet.ch/2024/04/der-lch-gibt-die-briefmarken-ohne-zusatz-heraus/#comments Tue, 02 Apr 2024 08:39:43 +0000 https://condorcet.ch/?p=16369

Der gestern aufgeschaltene Beitrag über das 150-jährige Jubiläums Briefmarkenset des LCH war ein klassischer Aprilscherz. Die Tatsache, dass fast alle Kommentatoren darauf hereingefallen sind, lässt allerdings tief blicken.

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Dieser Zusatz ist ein Fake!

Die Reaktionen waren teilweise heftig und fast bekamen wir von der Redaktion weiche Knie wegen unseres 1. April-Scherzes. Der LCH wird das Briefmarken-Set selbstverständlich ohne den Zusatz «Ohne Selektion und ohne Noten» herausgeben. Immerhin müssen wir feststellen, dass  den Leitungsgremien des Dachverbandes für Lehrerinnen und Lehrer Schweiz der von uns herbeigedichtete Zusatz ohne Weiteres zugetraut wird.

Und natürlich wollen wir es hier nicht unterlassen, dem LCH für seine Briefmarkenoffensive zu gratulieren. Möge dieses 150-Jahre-Jubiläum auch Anlass dafür sein, zu überlegen, wie man die Volksschule vom Kopf wieder auf die Füsse stellen kann.

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Wie wär’s mit “Einfach mal vormachen”? https://condorcet.ch/2024/03/wie-waers-mit-einfach-mal-vormachen/ https://condorcet.ch/2024/03/wie-waers-mit-einfach-mal-vormachen/#comments Fri, 22 Mar 2024 10:38:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=16230

Condorcet-Autor Alain Pichard, mit 44-jähriger Praxis in den Brennpunktschulen, liest seit Wochen die flammenden Appelle, die zu einer fundamentalen Reform unserer Schule aufrufen. Letzthin wieder im Tagesgespräch von SRF mit der Bildungsforscherin Katharina Maag (https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/katharina-maag-merki-an-den-schulen-rumpelt-es-wie-noch-nie?id=12559295). Das machte ihn betrübt. Doch tapfer wie er ist, fasst er sich ein Herz und bittet die Bildungsrevolutionäre um Hilfe.

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Lieber Herr Minder, liebe Frau Maag, lieber Herr Berger, lieber Herr Müller

Als Lehrer, der 44 Jahre lang in der Praxis gearbeitet hat, der sich seinerzeit dafür einsetzte, das Ausleseverfahren von der 4. Klasse auf die 6. Klasse zu verschieben und der in einem durchlässigen Oberstufenmodell arbeitet, freue ich mich immer wieder über ihre wohlfeilen Ratschläge aus den Büros fernab den Herausforderungen der Unterrichtspraxis. Sehen Sie, da liegt unser Problem. Meine Kolleginnen und Kollegen und ich sind derart mit unseren Alltagsproblemen beschäftigt, dass wir gar keine Musse haben, uns mit ihren steilen theoretischen Thesen auseinanderzusetzen, die da täglich vom medialen Parkett auf uns hereinprasseln. Wir haben auch gar keine Zeit, die von Ihnen zitierten Studien zu lesen, die ihre Forderungen untermauern sollen. Und wenn es ein Kollege doch einmal tut, kommt heraus, dass diese Studien in ihrem Design komplett unbrauchbar sind.

Der Vorstand des VSLCH bemüht sich um Schulrevolution

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Energiesparen in energetisch katastrophalen Schulhäusern.

Das schreckt ab. Sie müssen es uns nachsehen, dass wir etwas utilitaristisch veranlagt sind.

Deshalb ein bescheidener Rat aus der Praxis. Bei uns in den Oberstufenzentren im Kanton Bern sind auf den nächsten Sommer viele Stellen ausgeschrieben. Tausende von Lehrkräften unterrichten bereits ohne Diplom. Kündigen Sie Ihre Stellen oder nehmen Sie ein Jahr einen Bildungsurlaub. Dann gibt es auch keinen Einkommensverlust für Sie. Natürlich ist ein Oberstufenkonferenzraum nicht zu vergleichen mit den Tagungsstätten, auf denen Sie sich zu bewegen pflegen. Auch die Kameras fehlen. Aber ich kann Ihnen versichern, es ist einiges spannender bei uns, und einen Apéro am Freitagnachmittag gibt es auch. Fassen Sie sich ein Herz und bewerben Sie sich auf eine unserer ausgeschriebenen Stellen, ein Jahr lang. Natürlich müssten Sie da auch Ihre Skier wieder hervornehmen und ab und zu auswärts übernachten mit einem 24-Stundenbetrieb. Sie können aber auch den Innendienst leiten.

Sie haben ja alle in Urzeiten einmal Unterricht gegeben, besitzen ein Patent und verfügen über ein sprachliches Level, das über das heute verlangte B2-Sprachniveau hinausgeht. Das zeigen Ihre exquisiten Texte, die wir leider nur teilweise lesen können… Sie wissen ja, die Praxis ruft und die Korrekturen der Aufsätze (darf man das Wort «Aufsätze» in Ihrem pädagogischen Duktus überhaupt noch aussprechen?) beansprucht viel Zeit.

Einmal bei uns im Kollegium angekommen, können Sie uns dann in der Praxis zeigen, wie Ihre Reformgedanken didaktisch umgesetzt werden. “Vorzeigen-Nachmachen”, ein altes Aebli-Prinzip. Aber wahrscheinlich ist Hans Aebli für Sie überholt. Sie sind sicher viel moderner ausgerichtet. Es ist eine Win-win-Situation. Und wir sind so froh, wenn Sie uns helfen könnten, diesem von Ihnen konstatierten Elend der Volksschule zu entkommen. Sie müssen uns glauben, wir wussten gar nicht, wie schlimm es um unser Wirkungsfeld bestimmt ist.

Freundliche Grüsse

Alain Pichard

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Eine gerechte(re) Bildung?! Eine Replik an Jürg Leuenberger https://condorcet.ch/2024/03/eine-gerechtere-bildung-eine-replik-an-juerg-leuenberger/ https://condorcet.ch/2024/03/eine-gerechtere-bildung-eine-replik-an-juerg-leuenberger/#comments Thu, 14 Mar 2024 06:33:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=16189

Condorcet-Autor Felix Hoffmann antwortet Jürg Leuenberger, der von der Schule mehr Bildungsgerechtigkeit fordert. Er kritisiert Leuenbergers Aussagen als zu vage und nennt andere Prioritäten.

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Was ist Gerechtigkeit?

Leuenbergers Text beginnt mit der Frage nach Gerechtigkeit. Hier würde man sich als Leser eine Definition für die Begrifflichkeit erwarten oder zumindest eine Vorstellung davon. Stattdessen werden in verkürzter Fassung die Gedanken eines Wirtschaftswissenschaftlers bzw. einer

Felix Hoffmann, BL, Sekundarlehrer, Condorcet-Autor:

Rechtswissenschaftlerin wiedergegeben, wonach das Gemeinwesen alles Zumutbare dafür zu tun habe, dass sich eine Person gemäss ihren Fähigkeiten entwickeln und an der Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben könne. Diese hehre Zielvorstellung hat allerdings weniger mit Gerechtigkeit zu tun als mit der wünschenswerten Ermächtigung zu einer individuellen Entwicklung einerseits und mit einer Grundbedingung für das Funktionieren demokratischer Staatswesen andererseits. Letztere sind jedoch nicht per se gerecht. Das Konzept der Gerechtigkeit wird beispielsweise arg strapaziert, wenn bei einer Stimmbeteiligung von 30% 16%, also eine Minderheit von etwa 7% der Gesamtbevölkerung, für die grosse Mehrheit einen Kurs vorgibt. Und auch Unrechtsregime wie Russland oder China betreiben ganz gezielt individualisierte Talentförderung mit entsprechenden Glanzleistungen im Sport, wenn man von Doping grosszügig absieht.

Ungerechtigkeiten sind unumgänglich

«Es ist stossend, dass im aktuellen System offenbar eine Ungerechtigkeit innewohnt, ja gepflegt wird, ohne dass sich die Trägerschaft und die Verantwortlichen darum scheren.» Diese Aussage wird an Studien festgemacht. Doch solche bedarf es überhaupt nicht. Ein Blick in die Praxis reicht und man kommt zur gleichen Einsicht. Denn wie sollten sämtliche Ungerechtigkeiten im Schulbetrieb – so viele sind es nicht und es werden in Leuenbergers Text auch keine erwähnt – ausgemerzt werden? Hier arbeiten Menschen mit Menschen, wie sollte es da perfekt zu und her gehen?!? Imperfektion ist u.a. das, was uns Menschen zu dem macht, was wir nun mal sind: Mängelwesen, und zwar in allen Bereichen. Es wird doch wohl niemand glauben, der Schulbetrieb würde gerechter, wenn wir ihn über Reformen auf den Kopf stellen, beispielsweise mittels der Abschaffung von Noten oder der Selektion. Hermann Giesecke meinte in diesem Zusammenhang: «So ziemlich alles, was die moderne Pädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt Kinder aus bildungsfernem Milieu[1] Verantwortlich für Ungerechtigkeiten sind weniger die Strukturen als vielmehr der Mensch, der in deren Rahmen arbeitet. Wollen wir sämtliche Ungerechtigkeiten im Schulbetrieb radikal ausmerzen, müssen wir den Menschen beseitigen.

Und der Ruf nach Kriterienkatalogen anstelle von Noten ist absurd, denn jeder vernünftigen Notengebung liegen Kriterien zugrunde.

Hermann Giecke: 1932 -2021 Erziehungswissenschaftler: Nicht im Interesse der unterprivilegierten Schichten

Wollen wir die Demokratie abschaffen wegen des oben erwähnten Elements der Ungerechtigkeit? Oder sollten wir sie «gerechter» machen, indem wir die Nichtbeteiligung daran unter Strafe stellen? Ist sie dann gerechter? Gewisse Ungerechtigkeiten im Leben lassen sich nicht verhindern, nur ersetzen durch andere. Ein gewisses Element der Ungerechtigkeit bei Noten lässt sich jedenfalls nicht abwenden durch Lernberichte, im Gegenteil. Bei Letzteren ist das Ungerechtigkeitspotential um einiges grösser als bei Noten. Und der Ruf nach Kriterienkatalogen anstelle von Noten ist absurd, denn jeder vernünftigen Notengebung liegen Kriterien zugrunde. Und sollten Lehrkräfte gefordert sein mit einer vernünftigen Notengebung, wären sie mit Lernberichten überfordert. Die Basler Orientierungsschule (OS) ist vor bald zehn Jahren nicht zuletzt daran gescheitert, dass der Lehrkörper mit dem horrenden administrativen Mehraufwand durch Lernberichte völlig überlastet war.

So wichtig und wertvoll die Linke in der Politik an sich ist, so nervtötend ist sie für Lehrkräfte in der Bildungspolitik.

Der ganzen Debatte um Gerechtigkeit im Schulbetrieb liegt der Irrglaube vieler linker Ideologinnen zugrunde, die Gesellschaft liesse sich gerechter gestalten über eine gerechtere Schule. Diese will sie über Reformen auf Grundlage solch illusorischer Konstrukte wie der Chancengerechtigkeit  realisieren. Schule jedoch ist das Abbild der Gesellschaft und nicht umgekehrt. Folglich muss bei der Gesellschaft angesetzt werden. Insofern ist die traditionell linke Zwängerei in der Bildungspolitik eine Kapitulation getreu der Devise: Wenn wir die Gesellschaft schon nicht gerechter machen können, reformieren wir halt die Schule. Und dies tut die Linke denn auch seit Jahrzehnten mit viel Leidenschaft, ideologischer Schwärmerei und grossem Schaden im Schulbetrieb. Wie erfolgreich die Linke sein kann, wenn Sie sich auf das Wesentliche zurückbesinnt, ist nicht zuletzt am Erfolg der 13. AHV-Rente abzulesen. Dank und Gratulation an dieser Stelle. So wichtig und wertvoll die Linke in der Politik an sich ist, so nervtötend ist sie für Lehrkräfte in der Bildungspolitik.

Durch die blosse Erwähnung unterschiedlichster Aspekte in unmittelbarer textlicher Nachbarschaft leidet bedauerlicherweise die Textkohärenz. Dies umso mehr, wenn Fragen aufgeworfen, aber nicht beantwortet werden.

Selbstdemontage und Unbestimmtheit

Bis hierhin dreht sich Leuenbergers Text um Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit, wenn auch ohne aufzuzeigen, worin denn letztere im Schulbetrieb eigentlich besteht, sowie um den nicht explizit ausgedrückten Wunsch nach Veränderung. Im weiteren Verlauf wird dann allerdings das eigene Anliegen hinterfragt, durch die Hervorhebung der Komplexität der Thematik und die Frage, was denn eigentlich verändert werden müsste. Anschliessend ist die Rede von der Messbarkeit der Bildung und von der Frage, was letztere denn sei. Durch die blosse Erwähnung unterschiedlichster Aspekte in unmittelbarer textlicher Nachbarschaft leidet bedauerlicherweise die Textkohärenz. Dies umso mehr, wenn Fragen aufgeworfen, aber nicht beantwortet werden.

Reformen stets im top-down-Verfahren durchgedrückt.

Zu einer weiteren Schwächung des eigenen Rufs nach Veränderung kommt es durch die Forderung: «Jede Schule sollte die Möglichkeit haben, sich so zu entwickeln, wie das Kollegium, die Eltern und die Gemeinde das mittragen können.» Insbesondere in ländlichen Regionen ist das Verlangen nach Veränderung traditionell bescheiden. Hier ist die Landwirtschaft prägend, die sich durch eine jahrein jahraus konstante Abfolge von Arbeitsprozessen auszeichnet. Verkürzt und vereinfacht: Es bleibt hier stets alles gleich, worin der ländliche Konservatismus zum Ausdruck kommt. Abgesehen davon, war keine der von Bildungsindustrie, -politik und -administration konzertierten Schulreformen der letzten Jahrzehnte jemals mit Gemeinden, Eltern oder Lehrkräften abgesprochen. Sie wurden und werden stets im top-down-Verfahren durchgedrückt, ohne Testphasen, vorgängige Wirksamkeitsstudien oder Pilotprojekte, und zwar zumeist gegen den Willen der Unterrichtenden. Diese aber ziehen es vor, sich in Ruhe um Ihre SchülerInnen zu kümmern, anstatt laufend neue Strukturen zu implementieren, und sich mit den negativen Konsequenzen ständiger Veränderungen abzuplagen. Mittels permanenter Veränderungen am Laufband kombiniert mit administrativem Mehraufwand fördert man bestimmt nicht Gerechtigkeit, aber ganz sicher den Lehrermangel. In der jeweils behaupteten Alternativlosigkeit von Schulreformen gegen den Willen des Lehrkörpers steckt der Samen des Scheiterns.

Was soll denn das bitte sein, eine neue Grammatik der Schule? Tschopp bemüht hier eine für ReformideologInnen typische Floskel ohne jeglichen definierten Inhalt.

Im nächsten Abschnitt werden exakte Zahlen zur Anzahl unterschiedlichster Schulstufen genannt. Nur bei der Behauptung, wonach «viele» Schulen «sich mit dem herkömmlichen System zuweilen schwertun» fehlen solche. Ein Schelm, wer hier Böses denkt. Auch bei der unreflektierten Widergabe von Rahel Tschopps Forderung nach einer «neuen Grammatik der Schule» bleibt alles im Vagen. Was soll denn das bitte sein, eine neue Grammatik der Schule? Tschopp bemüht hier eine für ReformideologInnen typische Floskel ohne jeglichen definierten Inhalt. Es verhält sich hier wie beim Sex: Frivolity sells. Weitere Floskeln finden sich beispielsweise hier.[2]

John Hattie: Es kommt nicht auf Strukturen an

Spätestens seit Hattie wissen wir, worauf es in der Schule ankommt: nicht auf Strukturen, nicht auf Reformen, nicht auf unterschiedliche Schultypen, nicht auf unterschiedliche Bewertungssysteme und auch nicht auf die Höhe der Bildungsausgaben – die Schweiz hat mitunter die höchsten und produziert dennoch immer mehr SchulabgängerInnen, die des Lesens kaum mächtig sind.[3] «Der entscheidende Faktor für schulischen Bildungserfolg ist in den Haltungen von Lehrpersonen zu sehen.»[4] Diese Haltungen verbessern sich ganz bestimmt nicht, wenn man Lehrkräften ständig neue unbedarfte Reformen und mehr administrative Aufgaben aufs Auge drückt. Was der Reformindustrie an Hatties Befund stört: Es lässt sich mit den Haltungen von Lehrpersonen schlecht Geld verdienen.

Die Ablehnung der Verkommerzialierung der Schule ist allerdings nicht gleichzusetzen mit Verschlossenheit Neuem gegenüber. So wäre es beispielsweise absolut zu befürworten, wenn PolitikerInnen oder andere PromotorInnen zur Rechenschaft gezogen werden könnten, wenn ihre Schulreformen kostenintensiv und zum Schaden der Lernenden scheitern, wenn keine Reformen ohne vorgängige Wirksamkeitsstudien oder Pilotprojekte durchgesetzt werden dürften, wenn Reformen nach einer Anfangsphase evaluiert und bei schlechtem Ergebnis gestoppt würden usw. Das alles wären dringende Erneuerungen und recht eigentlich Selbstverständlichkeiten. Warum werden sie in der Bildungspolitik nicht umgesetzt? Weil Mammon das Nachsehen hätte und PolitikerInnen das Gesicht verlieren könnten.

Später im Text wird, zusammengefasst, der dominante Einfluss der Wirtschaft auf die Schule beklagt und dass die Lehrerschaft beim Entwurf von Reformen kaum je Partizipationsmöglichkeiten hat: Schulen «…reagieren immer nur und haben kaum Gelegenheit zur aktiven Mitgestaltung.» Dennoch wird insbesondere nach den beiden umfangreichen Reformprojekten der nationalen Umstellung auf Kompetenzen und der Digitalisierung bereits die nächsten Veränderungen befürwortet. Dies obwohl, keine der zuvor genannten Mammutreformen den Versprechungen gerecht wird, die uns bei deren Lancierung gemacht wurden, und obwohl es keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass die Lehrpersonen bei den nächsten Reformen eine stärkere Mitbestimmung haben werden.

Schlusswort

Wenn einem der Schulbetrieb Unbehagen bereitet, ist der reflexartige Ruf nach irgendwelchen Veränderungen, ohne sie beim Namen zu nennen, der falsche Weg. Zunächst müssen die echten Schwachstellen erkannt und benannt werden. Solche bestehen bestimmt nicht in der Notengebung oder der Selektion. Vielmehr besteht dringender Handlungsbedarf beispielsweise beim Lehrermangel, bei den völlig ungenügenden Lesefertigkeiten von zu vielen Lernenden sowie bei den gesundheitlichen Risiken für unsere Jungen infolge der Digitalisierung. In Theodor Fontanes Worten ist letzteres ein ganz weites Feld.

[1] https://condorcet.ch/2024/02/16009/

[2] https://condorcet.ch/2024/02/christian-mueller-und-joerg-berger/ oder

https://condorcet.ch/2024/02/sparen-bei-der-bildung-ist-da-was/

[3] https://www.20min.ch/story/jeder-zweite-15-jaehrige-tut-sich-mit-lesen-schwer-635549074931 oder

https://www.tagesanzeiger.ch/pisa-studie-jeder-vierte-schweizer-jugendliche-kann-schlecht-lesen-577085954895

[4] https://www.orellfuessli.ch/shop/home/artikeldetails/A1048659609

 

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Eine gerechte(re) Bildung?! https://condorcet.ch/2024/02/eine-gerechtere-bildung/ https://condorcet.ch/2024/02/eine-gerechtere-bildung/#comments Mon, 26 Feb 2024 16:49:49 +0000 https://condorcet.ch/?p=16016

Wir publizieren hier einen Beitrag des ehemaligen Schulleiters Jürg Leuenberger, der mit seinem Text auch im Condorcet-Blog eine Debatte über die Bildungsgerechtigkeit und eine überfällige Abschaffung der Selektion anstossen möchte.

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Ausgangspunkt für meine Überlegungen ist die Frage nach Gerechtigkeit.  Zugegeben, eine schwierige Frage. Ich neige stark der Haltung von Amartya Sen[i]und Martha Nussbaum[ii] zu, welche sich mit ihrem Befähigungsansatz gegen alles Utilitaristische wenden. Ungemein – allenfalls sogar unzulänglich – verkürzt: Das Gemeinwesen hat alles Zumutbare dafür zu tun, dass sich eine Person gemäss ihren Fähigkeiten entwickeln und an der Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben kann. Tut das die Schule? Wenn ich die verschiedenen Studien zur Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten und/oder bildungsfernen Schichten oder solchen, welche bei der Selektion (noch) nicht soweit waren, lese, ist das offensichtlich nicht so. Sei das bei Hochbegabten oder Kindern/Jugendlichen mit Entwicklungsverzögerungen oder Lernstörungen[iii] oder bei Kindern mit sozialer Benachteiligung, wie der Schweizer Wissenschaftsrat 2018 festgestellt und entsprechende Empfehlungen formuliert hat[iv].

Jürg Leuenberger, ehemaliger Schulleiter

Es ist stossend, dass im aktuellen System offenbar eine Ungerechtigkeit innewohnt, ja gepflegt wird, ohne dass sich die Trägerschaft und die Verantwortlichen darum scheren.

Theorie und Praxis

Zugegeben, es ist ein schwieriges Thema und Überlegungen, was denn verändert werden müsste, werden rasch von der grossen Komplexität überstrahlt, welche den Themen rund um die Bildung innewohnt.

Fragen nach der Messbarkeit von Bildung, was denn überhaupt Bildung sei und zu leisten hat, tauchen da auf. Vieles bleibt theoretisch, auch die Ideen und Vorstellungen, was denn wie sein könnte oder müsste. Der Übergang zur Praxis ist dornenvoll.

Konkret sollten aus meiner Sicht die Eigenständigkeit und die Entwicklung vor Ort an erster Stelle stehen. Jede Schule sollte die Möglichkeit haben, sich so zu entwickeln, wie das Kollegium, die Eltern und die Gemeinde das mittragen können. Lehrpersonen und Schulleitungen müssen in die Diskussion einbezogen werden, ja an deren Ursprung stehen. Ihnen muss jedoch von der Politik (und der Gesellschaft) auch signalisiert werden, dass ihre Anstrengungen, Wünsche und Visionen Aussicht auf Erfolg haben. Dazu braucht jede Schule den grösstmöglichen Freiraum. Die Forderung nach Aufhebung der Selektion ist hier nur ein Schlagwort. Eigentlich geht es (mir) um die Neugestaltung und das Überdenken der Schule, ja der Bildung als Ganzes. Wie es Rahel Tschopp im Magazin des TA vom 2.2.24[1] formuliert, eine neue Grammatik der Schule muss her. Auf proEDU[2] sind mittlerweile etliche Schulen zusammengefasst, welche sich aktiv um eine Neuausrichtung und

Rahel Tschopp, Primarlehrerin, schulische Heilpädagogin sowie Schulleiterin, später Studium im Business Coaching und Change Management (Master of Arts): Eine neue Grammatik muss her.

um grundlegende Veränderungen bemühen[3], doch gemessen an den vielen Schulen, welche sich mit dem herkömmlichen System zuweilen schwertun, sind das wenige: Zu Beginn des Schuljahres 2021/22 gab es in der Schweiz 5 436 Schulen auf der Primarstufe 1-2 (Kindergarten/Eingangsstufe), 4 602 auf der Primarstufe 3-8 und 1 614 auf der Sekundarstufe I, also rund 11650 Schulen.[4]

Das System Schule ist (zum Teil noch) verschlossen

Die Schulen (Lehrpersonen und zum Teil Schulleitungen) haben einen Reflex entwickelt, sehr sensibel, ja ablehnend und verschlossen auf jegliche Hinweise aus der Forschung zu reagieren und dieser ihre Praxisferne vorzuhalten. Als Beispiel die Replik von Felix Hoffmann[5] auf das Interview mit Hans Brügelmann[6] oder die Reaktion von Felix Schmutz auf den Artikel von Rahel Tschopp[7] auf condorcet. Man wehrt sich gegen alles, was aus dieser Ecke kommt. Ob all der Streitereien werden die Schulen von der Wirtschaft und der realen Welt überrollt.

Die Schule wird nicht einbezogen

Heute ist es doch so, dass die Wirtschaft der Schule sagt, wie sie zu sein hat, was gute Bildung ist. Seien es Microsoft, Google[8] etc., welche mit immer neuen Tools und Innovationen die Schulen überfluten. Sie sagen und bestimmen massgeblich mit, was “gute” und “richtige” Bildung ist. In ihrem Schlepptau sind es dann die Verlage und Anbieter von Bildungsprodukten[9], welche die entsprechenden Lehr- und Hilfsmittel produzieren. Oder seien es die Sekundarstufe II, die Berufsbildung oder economie suisse[10],  welche durch ihre Forderungen der (Grund-) Schule sagen, was sie brauchen und was diese anders machen müsste. Oft wird dabei “die Schule” angesprochen, ihr vorgehalten, was sie zu tun oder zu lassen hätte. Dabei gibt es “die Schule” so gar nicht und wenn etwas konkret zu werden droht, sind es sofort die Gemeinden und Kantone, welche das Sagen haben und es wird kompliziert.

Nomen est omen – Die Trägerschaft ist träge

So ist auch klar, dass es auf Bundesebene keine Lobbygruppe[11] für “die Schule” gibt und in den Kantonen wird es wohl ähnlich sein. Die Schulen selber haben jedoch immer das Nachsehen, müssen diese und jene Forderung erfüllen. Sie reagieren immer nur und haben kaum Gelegenheit zur aktiven Mitgestaltung. Wenn sie gefragt werden, dann erst im Nachhinein. Sie können allenfalls dazu Stellung nehmen, wie sie nun mit den Anforderungen umzugehen gedenken. Und auch dann sind es lange nicht alle. Viele Lehrpersonen haben gar nicht die Zeit und Geduld an solch wichtigen, jedoch langwierigen Prozessen teilzunehmen. Die Kantone, als Verantwortliche für das Bildungswesen, kommen jeweils mit Verzögerung ins Spiel – politische Prozesse dauern. Wenn der Zug schon lange Fahrt aufgenommen hat, die PICTS und Schulleitungen landauf und -ab sich kundig gemacht und für ihre Schule einen Umgang mit den Neuerungen zurechtgelegt haben, kommen die Erziehungsdepartemente, bzw. Regierungsräte auch in die Gänge und machen sich daran, Leitlinien zum Umgang mit dem Neuen verfassen zu lassen (Beispiel Kanton Bern[12] ).

Eine breite Diskussion mit allen

Die Vorstellung von Bildung und was die Schule leisten soll, muss breit und unter Einbezug der Schulen und ihren Protagonisten diskutiert werden. Aus meiner Sicht muss sich die Vorstellung grundlegend verändern. Vielleicht ist die Forderung nach der Abschaffung der Selektion der erste Schritt auf diesem Weg, vielleicht wäre die Abschaffung der Noten einfacher, ich weiss es nicht. Jedenfalls beobachte ich eine Zunahme der Diskussionen rund um diese Themen – das ist erfreulich. Auch wenn in Diskussionen vor allem aus bürgerlichen Kreisen schnell (Killer-) Argumente wie “zu utopisch” oder “nicht finanzierbar” vorgebracht werden.

Ich bin nicht so naiv, dass ich denke ohne die Selektion oder durch alternative Beurteilungsformen würde alles besser oder selbst der Weg dahin sei einfach.

Aber ohne diese Fragen zu diskutieren, geschieht gar nichts und die Ungerechtigkeiten bleiben bestehen – das stört mich und kann eigentlich auch in niemandes Interesse sein.

 

[1] https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2024/02/Die-Schule-der-Zukunft.pdf

[2] https://proedu.ch/

[3] Neu bei der Schulvisite – Pro Edu

[4] (https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsinstitutionen/schulen.html)

[5] https://condorcet.ch/2024/02/hans-bruegelmann-will-foerderorientierte-rueckmeldungen-eine-replik/

[6] https://condorcet.ch/2024/01/unternehmen-schaetzen-aussagekraft-der-noten-sehr-gering-ein/

[7] https://condorcet.ch/2024/02/eine-bildungsexpertin-weiss-rat/

[8] https://www.microsoft.com/de-ch/education , https://edu.google.com/intl/ALL_ch/

[9] https://www.startup-insider.com/tag/bildung

[10] https://www.economiesuisse.ch/de/artikel/das-notensystem-den-schulen-ist-ungenuegend

[11] https://lobbywatch.ch/de/daten/lobbygruppe

[12] https://www.gr.be.ch/de/start/geschaefte/geschaeftssuche/geschaeftsdetail.html?guid=0792e8936cf541dfb0ade0adcd803957 , eingereicht am 14.06.23, wann dann die Richtlinien effektiv in den Schulen ankommen, ist unklar.

[i] https://www.soziopolis.de/amartya-sen.html

[ii] https://wp.uni-oldenburg.de/politische-philosophinnen/martha-nussbaum/

[iii] https://www.bildungsgerechtigkeit.ch/hintergrundwissen/literaturverzeichnis/; https://chanceplus.ch/;

[iv] https://wissenschaftsrat.ch/images/stories/pdf/de/Politische_Analyse_SWR_3_2018_SozialeSelektivitaet_WEB.pdf

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Die Bildungsforschung hat keinen grossen Erkenntnisgewinn gebracht https://condorcet.ch/2024/02/16009/ https://condorcet.ch/2024/02/16009/#comments Mon, 26 Feb 2024 16:25:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=16009

Mit etwas Verspätung - am Montag, statt am Sonntag - veröffentlichen wir den Sontagseinspruch von Professor Wolfgang Kühnel, der uns den leider verstorbenen Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke in Erinnerung ruft. Der "Weisse Rabe" der Erziehungswissenschaft erklärt uns auch den wichtigen Unterschied zwischen Korrelationen und Kausalitäten.

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Normalerweise diskutieren wir aktuelle Entwicklungen, den letzten internationalen Test, seltsame neue Lehrpläne, eine Fehlentscheidung wichtiger Institutionen, die Einrichtung einer neuen Kommission, die Digitalisierung, das Wirken unternehmensnaher Stiftungen usw.

Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet.

Heute möchte ich ausnahmesweise auf etwas zurückgreifen, das vor 20 Jahren formuliert wurde, aber doch eine erstaunliche Aktualität zu besitzen scheint. Würde man das Datum der Veröffentlichung nicht sehen, könnte man das für einen aktuellen Beitrag halten, dabei war der Autor weder Hellseher noch hatte er prophetische Gaben. Es geht um den folgenden Text von Hermann Giesecke (1932-2021), bekannt als so etwas wie ein Altmeister der Pädagogik in Deutschland:

http://www.hermann-giesecke.de/erzwiss.pdf

Seine legendäre Formulierung “So ziemlich alles, was die moderne Pädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt Kinder aus bildungsfernem Milieu” haben vermutlich die meisten schon gesehen.

Neben solchen grundsätzlichen Äußerungen sollte man aber auch seine Einschätzung zu der modernen empirischen Bildungswissenschaft und dem damit zusammenhängenden “pädagogisch-

9. August 1932 in Duisburg; † 4. September 2021 in Lenglern, deutscher Erziehungswissenschaftler: Benachteiligung der Kinder aus bildungsfernem Milieu.

industriellen Komplex” (das Wort fällt auf S. 155 unten) beachten. Das ist durchaus aktuell: Auf der gerade zu Ende gegangenen Didacta 2024 in Köln wurde man von dieser Reklame-Glitzerwelt der Bildungsindustrie geradezu erdrückt. Das Heil scheint nur noch in der profitablen Digitalisierung zu liegen, anderes gibt es nicht mehr.

Schon der dritte Satz spricht von einem “Auseinanderdriften” der Wissenschaft und der schulischen Praxis. Und dann heißt es: “Die Leitfrage lautet: Was hat ein Lehrer von der modernen Bildungsforschung bzw. von den systematischen Ergebnissen der Erziehungswissenschaft?”

Immerhin sind die ersten PISA-Studien bereits in die Diskussion einbezogen und waren vielleicht sogar ein Anlass für Giesecke, das zu schreiben: “Lehrer gelten in diesem Zusammenhang nicht als Akteure, sondern eher als Publikum, Abnehmer und Adressaten.” Auf der zweiten Seite stellt er fest: “Die Praxis hat ihre eigene Logik …

Unsere Bildung wird nicht mehr aktiv erworben, sondern von höherer Warte aus “gemanagt”.

Deshalb sind alle Versuche unbefriedigend geblieben, das System von Bildung und Erziehung von außen in eine gewünschte Richtung zu steuern.” Da mögen allen Mitgliedern aller “Steuerungsgruppen” im Bildungswesen die Ohren klingen, besonders von dieser hochrangigen Steuerungsgruppe, besetzt mit Staatssekretärinnen und Staatssekretären:

https://www.bildungsbericht.de/de/autor-innengruppe-bildungsbericht/autorengruppe#1

“Bildungsmanagement” heißt das heute, unsere Bildung wird also nicht mehr aktiv erworben, sondern von höherer Warte aus “gemanagt”. Da kann wohl jeder froh sein, der seine Bildung noch in der Zeit vor dem “Bildungsmanagement” erworben hat.

Bildungsmanagement: Der Ertrag der bisherigen empirischen Forschung für die unmittelbare pädagogische Praxis ist sehr gering.

Und es geht um die “Erwartungen der politischen Öffentlichkeit”: “Man erhofft sich insbesondere von den umfangreichen und kostspieligen Bildungsforschungen Handlungsanweisungen … Insbesondere die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse hat die Vorstellung entstehen lassen, nun wisse man doch, worauf es ankommt, jetzt müsse eigentlich nur noch gehandelt werden, der Erkenntnis nur noch die Anwendung folgen.” Dass das in den 20 Jahren der bisherigen PISA-Tests so einfach nicht funktioniert hat, wissen wir heute, aber Giesecke erklärt eine prinzipielle Unmöglichkeit schon auf der dritten Seite, weil “der Ertrag  der bisherigen empirischen Forschung für die unmittelbare pädagogische Praxis sehr gering ist.” Er spricht von einer “künstlichen und auf den Forschungszweck hin konstruierten Wirklichkeit, die mit der, die dem Handeln gegeben ist, nicht mehr viel zu tun hat.”

Das gipfelt neuerdings in den nationalen IQB-Tests darin, dass es als Ergebnis immer heißt, x Prozent der Teilnehmer hätten leider die Mindeststandards verfehlt, andererseits aber fast niemand weiß, wie diese Mindeststandards genau aussehen. Die Lehrer wissen nicht, was sie  machen sollen, damit ihre Schützlinge die Mindeststandards erreichen.

Die KMK hat nur Regelstandards veröffentlicht, und die haben andere Ansprüche, sie sollen wohl — grob gesagt — der Schulnote “befriedigend” entsprechen, die Mindeststandards dagegen dem, was (nahezu) ALLE erreichen sollen, so die theoretische Vorstellung.

Überall scheint heute ein Verbesserung des Unterrichts eingefordert zu werden, nur wie die konkret aussehen soll, das scheint kaum jemand sagen zu können.

Hinzu kommt, dass in all diesen Tests nicht das geprüft wird, was vorher gelehrt und gelernt wurde, sondern bewusst anderes, nämlich übergreifende “Kompetenzen”.

Genau diese Frage stellt auch Giesecke: “Was hat ein Lehrer davon, wenn er diese Untersuchungen zur Kenntnis genommen hat? Erhält er Hinweise darüber, was und wie er unterrichten soll oder seinen bisherigen Unterricht verbessern kann?” Überall scheint heute ein Verbesserung des Unterrichts eingefordert zu werden, nur wie die konkret aussehen soll, das scheint kaum jemand sagen zu können. Man definiert die Verbesserung des Unterrichts dann über die Verbesserung der Testergebnisse, aber alle wissen, dass in die Testergebnisse so viele andere (z.B. soziale) Faktoren eingehen, dass man das praktisch gar nicht trennen kann. Jeder kennt die achselzuckenden Statements der prominenten Empiriker, dass sie zu den Ursachen der Ergebnisse und ihrer Veränderungen natürlich keine Aussage machen können, sie messen ja nur. Dann kann aber auch niemand wissen, wie man diese Ergebnisse nun effizient beeinflussen kann.

Statistische Korrelationen, mögen sie noch so signifikant sein, deuten nicht unbedingt auf Kausalitäten hin.

Giesecke listet auf Seite 154 als mögliche Ursachen auf: “das Desinteresse vieler Schüler und Eltern, das einseitig als pädagogisches und deshalb fortbildungsbedürftiges Manko der Lehrer und nicht zumindest auch als Resultat der Demontage der Schule als staatliche Institution gedeutet wird; die Verrechtlichung des Lehrerdasein, die sanktionierende Interventionen im Namen der zu fordernden Leistungen im Keim erstickt von bürokratischer Gängelung und materieller Unterausstattung ganz zu schweigen.”

Korrelation hat nichts mit Kausalität zu tun.

Und dann steht auf derselben Seite unten der Kernsatz, den am besten alle auswendig lernen sollten: “Die Zuordnung von Ursachen und Wirkungen ist nämlich das eigentliche Problem. Statistische Korrelationen, mögen sie noch so signifikant sein, deuten nicht unbedingt auf Kausalitäten hin.”

Die empirische Bildungswissenschaft überschüttet uns geradezu mit Millionen von statistischen Korrelationen, aber die Klärung von Kausalitäten hält damit nicht annähernd Schritt. Nur eine Korrelation habe ich in den großen Testberichten von PISA & Co nie gesehen: Die zwischen Intelligenz (also IQ nach einem der üblichen Intelligenztests) und Testerfolg. Da redet man nur etwas verschämt von “kognitiven Fähigkeiten”, die aber als solche nicht mit Punkten oder Stufen versehen werden. Böse Zungen vermuten gerade in diesem Fall eine Kausalität, und zwar weitgehend unabhängig von dem Wirken der Lehrer, deren praktische Einflussmöglichkeiten nicht so einfach durch statistische Korrellationen beschrieben werden können. Auf Seite 164 heißt es dazu: Politik und Wissenschaft “sehen in den Praktikern im Wesentlichen Objekte ihrer eigenen Bestrebungen, was durch die Output-Orientierung  der Bildungsforschung noch verstärkt wird. Dabei könnte eine praxisbezogene Forschung durchaus ergiebig sein, wenn sie von den Problemskizzen derjenigen ausgeht, die die Arbeit tun. …

Warum ist es so schwierig, gewissen Kindern Basiskompetenzen beizubringen.

Die Ergebnisse von PISA würden eine andere Farbe erhalten, wenn Lehrer z.B. öffentlichkeitswirksam beschreiben könnten, WARUM es gegenwärtig kaum möglich ist, bestimmten Gruppen von Kindern die Basiskompetenzen beizubringen.” Obwohl wir in Zeiten ständiger Meinungsforschung leben und fast täglich erfahren, wie viele Wähler nun welche Partei wählen würden, scheint es kaum repräsentative Umfragen unter Lehrern zu den vieldiskutierten und heiklen Themen (etwa zu Disparitäten bei den Ergebnissen oder zum Abwärtstrend in den letzten 10 Jahren) zu geben.

Und so nebenbei wendet sich Giesecke auch noch dem ewigen Zankapfel der deutschen Bildungspolitik zu, dem Schulsystem (Seite 163):

“Die primäre Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist im weitesten Sinne die Erforschung, Beschreibung und kritische Sondierung der Erziehungswirklichkeit, nicht deren Konstruktion. Demnach steht ihr zu, auf dem Hintergrund ihrer Forschungsergebnisse die Mängel des  dreigliedrigen Schulwesens oder der Gesamtschule zu beschreiben und zu begründen, aber nicht für die eine oder andere Variante zu plädieren,  als sei das wissenschaftlich geboten.”

Schwache PISA-Werte, spürbaren Einfluss der sozialen Herkunft auf Test- und Schulerfolg, Schulabbrecher, Probleme bei der Integration von Zuwanderern? Das dreigliedrige Schulsystem ist schuld!

Tatsächlich hatten wir damals und haben wir heute einen Mainstream in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft, der fest daran zu glauben scheint, dass das dreigliedrige System ursächlich für vieles ist, was man lieber nicht hätte: Schwache PISA-Werte, spürbaren Einfluss der sozialen Herkunft auf Test- und Schulerfolg, Schulabbrecher, Probleme bei der Integration von Zuwanderern usw. Aber wieder ist die Kausalität nicht stringent begründet. Schon in Frankreich mit seinem einheitlichen Schulsystem gibt es dieselben Probleme, es gibt sogar noch mehr Schulabbrecher, und auch bei PISA rangiert Frankreich bei den sozialen Disparitäten stets hinter Deutschland, Luxemburg und Ungarn auch.

Einen gewichtigen Nachteil des gegliederten Systems kennen alle: Das ist der kritische Moment des Übergangs von einer einheitlichen Grundschule in mehrere Varianten einer weiterführenden Schule. Dass dabei Fehler passieren, ist prinzipiell nicht vermeidbar. Aber nur Giesecke scheint zu thematisieren, dass auch ein einheitliches System eben Nachteile und Fehlermöglichkeiten haben könnte, die aber gleichwohl in der Mainstream-Argumentation noch nicht einmal benannt und untersucht werden sollen. Was ist das für eine Wissenschaft, die bestimmte Fragen nicht zulässt (oder gar per se als “verboten” oder in der Politik als “rechtes Gedankengut” betrachtet)?

Wenn die Grundschule 9- oder 10-jährig wäre und es danach um den Übergang auf ein 2- oder 3-jähriges “Stummelgymnasium” ginge, wie gerecht wäre denn da der Übergang? Wie will man das bewerkstelligen, ohne dass wieder im Gymnasium die höheren sozialen Schichten  überrepräsentiert sind?

Es sei auch an so manche “wissenschaftliche Eintagsfliege” erinnert. Als die Werte für Deutschland bei der IGLU-Studie nach oben gingen, bei PISA aber weiter schwach waren, jubelten diejenigen, die es schon immer wussten: “Das nicht gegliederte Schulsystem ist einfach leistungsfähiger und gerechter dazu”, z.B. hier:

https://www.bildung.koeln.de/imperia/md/content/laengeresgemeinsameslernen/vortrag_prof_bellenberg_5.2.2010.pdf

Schon wenige Jahre später gingen auch die Werte bei IGLU nach unten und bei den nationalen Grundschultests des IQB ebenfalls. Die Eintagsfliege war gestorben.

Auch Klaus-Jürgen Tillmann, bekannt durch seine Bielefelder Laborschule, hat in dem Band “Hamburg macht Schule” (Sonderheft 2009) auf Seite 14  verkündet, die 6-jährige Grundschule sei der 4-jährigen überlegen, weil die damaligen Testergebnisse in Berlin besser ausfielen als in Hamburg bei ansonsten vergleichbaren Verhältnissen. Nur leider war es schon 10 Jahre später genau umgekehrt, womit auch diese Eintagsfliege verschwunden ist. Korrelationen ändern sich von Test zu Test, Kausalitäten aber bleiben etwas länger. Jedenfalls sollte man wohl davon ausgehen können.

Festzuhalten bleibt: Giesecke beschrieb vor 20 Jahren ziemlich genau die Probleme, die wir auch heute haben. Und konsensfähige Lösungen sind damals wie heute nicht in Sicht. Aber dieser Aufsatz ist aus einem Geist heraus geschrieben worden, der uns Hoffnung machen kann. Es lohnt sich, den ganzen Artikel zu lesen und mit der aktuellen Situation zu vergleichen.

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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Eine Bildungsexpertin weiss Rat https://condorcet.ch/2024/02/eine-bildungsexpertin-weiss-rat/ https://condorcet.ch/2024/02/eine-bildungsexpertin-weiss-rat/#comments Sun, 11 Feb 2024 11:05:26 +0000 https://condorcet.ch/?p=15922

In einem fünfseitigen Interview im Magazin des Tages-Anzeigers entwirft eine ehemalige Institutsleiterin der Pädagogischen Hochschule Zürich ein Zukunftsmodell der Volksschule. Es sind kühne Vorstellungen, welche da skizziert werden. So fordert die Bildungsexpertin, dass die bisherige Klassenlehrerfunktion abzuschaffen sei und jeweils ein Team von vier Lehrpersonen eines Stockwerks die gemeinsame Verantwortung für gut sechzig Kinder tragen soll. Die Schüler seien individuell durch einfühlsame Coachs zu begleiten. Den Beitrag finden Sie hier (https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2024/02/Die-Schule-der-Zukunft.pdf). Condorcet-Autor Felix Schmutz zeigt sich amüsiert.

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Das Magazin vom 3. Februar 2024 gibt der «Bildungsexpertin» Rahel Tschopp viel Raum (8 Seiten), um ihre Vorstellungen von der «Schule der Zukunft» auszubreiten. Der Artikel von Ursina Haller erwähnt nicht, dass Rahel Tschopp ein eigenes Institut namens «Denkreise» leitet, das in grossem Stil und offenbar erfolgreich Schulentwicklungsprojekte durchführt, dass sie ferner mit weiteren Unternehmen und Stiftungen im IT-Bereich vernetzt ist. In ihren Gedanken zur Zukunft der Schule ist denn auch «Digitalisierung» eine unterschwellige Konstante.

Felix Schmutz, Baselland: Tönt etwas nach Mätzchenpädagogik

Wie muss denn nun die «Schule der Zukunft» aussehen?

Tschopp entwirft ihr Bild davon in 26 Stichworten. Ausgangspunkt ihrer Gedanken ist typischerweise das Unbehagen über die gegenwärtige Schule, die sie als rückständig einstuft: Die Gesellschaft entwickelt sich dauernd weiter, die Klassen werden heterogener, die Schule bleibt stehen. Dies unterstreicht sie mit einem negativ besetzten Reizwort: Die Schulen sind noch immer nach derselben alten «Grammatik» getaktet. Wer ist nicht gegen langweilige Grammatik?!

Es ist der alte Vorwurf, für den Lehrpersonen, Politiker, Eltern leicht empfänglich sind, weil Schule nie perfekt funktioniert, weil immer irgendwo etwas nicht gut läuft, Situationen unbefriedigend und Menschen überfordert sind. Der Wunsch nach Problemlösung, nach Erlösung von den irdischen Übeln des gewohnten Trotts ist deshalb in und ausserhalb der Schulen stets allgegenwärtig.

Hier ist eine Marktlücke, die von allerhand Prophetinnen und Propheten gewinnbringend bewirtschaftet werden kann. Werden sie als Beraterinnen angeheuert, bringen sie durch ihren Elan zunächst frischen Wind in die betreffenden Schulen. Es entsteht Aufbruchstimmung. Die Leute werden euphorisiert. Was sich sicher auch auf die Schülerinnen und Schüler überträgt, wenigstens für eine gewisse Zeit, bis sich Nachteile zeigen, Abgründe auftun, die nächsten PISA-Resultate bekannt werden oder unzufriedene Eltern auf die Barrikaden steigen und ihre Kinder von der Schule abziehen.

Rahel Tschopp, Primarlehrerin, schulische Heilpädagogin sowie Schulleiterin, später Studium im Business Coaching und Change Management (Master of Arts).

Was sind denn nun die Rezepte der Rahel Tschopp, wie sieht ihre neue «Schulgrammatik» aus? Kurz gesagt: Es sind die alten Ladenhüter, die ohne Evidenz einer nachhaltig erfolgreichen Umsetzung und ohne Diskussion der entsprechenden Forschung und Gegenargumente verkündet werden. Tschopp unterscheidet auch nicht nach Schulstufen, offenbar gelten ihre Vorschläge für die gesamte obligatorische Schulzeit:

  • Altersdurchmischung und Auflösung der Klassengemeinschaft
  • Grossraumbeschulung
  • kein Frontalunterricht
  • Digitalisierung, Lernen mit you tube-Tutorials
  • Individualisierung
  • Abschaffung der Aufgaben
  • Abschaffung der Noten und Zeugnisse, statt dessen Portfolios
  • Schaffung von gemütlichen Lernumgebungen
  • Abschaffung der Selektion
  • Einbeziehung der Eltern
  • Lehrpersonen als Coach, ja nicht «zeigen wies geht»
  • Einbezug der KI
  • Lehrpersonen nur noch als Team
  • Lernen in der Natur
  • Öffentlichkeitsarbeit durch Schulausstellungen

Wer den Überdruss überwindet und genau liest, merkt schnell, dass die Argumentation zu den erwähnten Punkten nicht ganz widerspruchsfrei ist. Beispielsweise wird die Bedeutung der Schüler-Lehrkraft-Beziehung hervorgehoben, gleichzeitig aber eine Lernumgebung propagiert, bei der diese Einzelbeziehung aufgehoben wird. Selbstorganisiertes Lernen wird angepriesen, gleichzeitig jedoch die Direktvermittlung durch Lehrpersonen in akademisch schwierigen Fächern verlangt. Soziales Lernen soll im Portfolio dokumentiert werden, obwohl der Unterricht aufs Äusserste individualisiert werden soll. Mit dieser Sowohl-als-Auch Pädagogik sichert sich die Beratung einen langanhaltenden Einsatz, weil die Schulen den widersprüchlichen Ansprüchen nie ganz gerecht werden können.

Hier spricht jemand, der grundsätzliche Anliegen mit zweitrangigen Details vermischt, die schon längst in die Methodenkiste der Lehrpersonen gehören, die als «grammatikalische» Ausgestaltung einer «Schule der Zukunft» jedoch eher skurril wirken.

Mätzchenpädagogik

Viele der konkreten Vorschläge tönen etwas nach Mätzchenpädagogik: Am Boden liegend arbeiten, ein Schatzkästchen haben, in dem Lernbelege abgelegt werden, in einem Büchlein notieren, was man bereits kann, einzelne Kinder als Schutzengel einsetzen, etc. Hier spricht jemand, der grundsätzliche Anliegen mit zweitrangigen Details vermischt, die schon längst in die Methodenkiste der Lehrpersonen gehören, die als «grammatikalische» Ausgestaltung einer «Schule der Zukunft» jedoch eher skurril wirken.

 

Atelier Denkreise: . Soziales Lernen soll im Portfolio dokumentiert werden, obwohl der Unterricht aufs Äusserste individualisiert werden soll.

Warum ist es müssig, auf die einzelnen Punkte noch einzugehen? Weil all dies in den Schulen seit über 30 oder 40 Jahren ausprobiert worden ist, weil sich die Schule in dieser Zeit im Gegensatz zu Rahel Tschopps Meinung gewaltig verändert und den Bedürfnissen angepasst hat, weil sich gemäss PISA und anderen Evaluationen die Leistung aber nicht verbessert hat und weil die langfristige Zufriedenheit mit der Schule nicht zugenommen, sondern eher abgenommen hat.

Wie Schule organisiert wird, welche Mittel eingesetzt werden, sollte diesem Ziel nachgeordnet werden.

Allerdings gibt es Aufgaben, denen sich die Schule nicht entziehen kann, weil die späteren Bildungswege und die Gesellschaft dies nun einmal verlangen. Dazu gehören Zeugnisse und die Selektion. Dazu gehören verbindliche Bildungsziele. Dazu gehören Lehrpersonen, die bereit sind, die Verantwortung für die Vermittlung zu übernehmen und sich nicht im Team hinter andern zu verstecken und die Schüler(innen) die komplizierten Kommaregeln selbst entdecken zu lassen.

Es ist das alte Lied: Bei Missständen im Schulbereich müsste vorurteilsfrei nach den Ursachen geforscht und entsprechend gehandelt werden. Das eigentlich aufklärerische Ziel der Volksschule, nämlich die Vermittlung von Grundwissen und die Förderung der wesentlichen Fähigkeiten, muss prioritär gewahrt bleiben. Es ist heute so aktuell wie vor hundert Jahren und ist genau so in den Kantonsverfassungen verankert. Dabei steht das Lernen im Zentrum. Fachlich gut ausgebildete Lehrpersonen mit Einfühlungsvermögen sind gefragt, die den Kindern und Jugendlichen die Dinge im direkten menschlichen Bezug vermitteln können. Wie Schule organisiert wird, welche Mittel eingesetzt werden, sollte diesem Ziel nachgeordnet werden.

 

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Hans Brügelmann will förderorientierte Rückmeldungen – Eine Replik https://condorcet.ch/2024/02/hans-bruegelmann-will-foerderorientierte-rueckmeldungen-eine-replik/ https://condorcet.ch/2024/02/hans-bruegelmann-will-foerderorientierte-rueckmeldungen-eine-replik/#comments Wed, 07 Feb 2024 19:51:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=15913

Felix Hoffmann, Sekundarlehrer in Baselland und Condorcet-Autor, greift den Beitrag von Professor Brügelmann, in welchem dieser eine grundsätzlich andere Benotung fordert, noch einmal auf und befasst sich darauf mit den unausgereiften Modeforderungen von Bildungsfunktionären.

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Wunschprosa

Die letzten fünf Kommentare zum Artikel sind um einiges aussagekräftiger als die Brügelmannschen Auslassungen. Es handelt sich bei diesen, wie mehrmals kommentiert, um naive Wunschprosa aus dem Elfenbeinturm, welche Brügelmanns Fehlen persönlicher Berührungspunkte mit dem Schulbetrieb gnadenlos offenbart.

Felix Hoffmann, BL, Sekundarlehrer, Condorcet-Autor: Im Vergleich praktikabel.

«Erziehungswissenschaften»- Erziehungs- bitte was?!?

Aufschlussreich ist Armin Tschenetts Recherche zur Biographie Brügelmanns. Letzterer ist «Erziehungswissenschaftler» und somit Vertreter einer Disziplin mit völlig nebulösem Inhalt. Mathematiker verfügen über Wissen und Fähigkeiten, die sich ausserhalb ihrer Domäne Stehenden völlig verschliesst. Das gleiche gilt beispielsweise für Physiker, Romanistinnen, Pharmazeutinnen, Biologen, Juristinnen, Ethnologen usw. Wie steht es diesbezüglich mit der «Erziehungswissenschaft»? Immerhin haben die bisher in etwa 10’000 bis 15’000 Generationen des Homo sapiens erfolgreich Kinder erzogen, ansonsten wir mittlerweile vermutlich ausgestorben wären. Ist das ein Zufall, dass die völlig unbedarften, ja geradezu zerstörerischen Schulreformen der letzten 30 Jahre ausgerechnet und nicht zuletzt in der Ecke der «Erziehungswissenschaften» losgetreten wurden?

Zuerst bitte die Gelingensbedingungen!

Und noch ein Wort zu Jürg Leuenberger, dem ersten Kommentatoren: Er unterliegt dem gleichen Fehler wie Beat Zemp, dem ehemaligen Präsidenten des LCH. Zemp begrüsste jegliche Reformen – und waren sie noch so durchgeknallt wie Passepartout oder die Kompetenzorientierung als Ganzes – unter der lediglich nachgestellten Bedingung der gewährleisteten Gelingensbedingungen, von denen er genau wusste, dass sie jeweils nicht gegeben waren. Die Erstplatzierung der Gelingensbedingungen, der notwendigen Ressourcen also, innerhalb Leuenbergers Kommentars, macht seine Forderung nach «förderorientierten Rückmeldungen statt der verbreiteten Fixierung auf Selektion» zwar nicht vernünftiger, denn sie ist es nicht, aber immerhin konsequent. Mit der Unterstützung dieser Forderung durch den Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz, zeigt dieser auf, dass die an sich kleine Distanz zwischen Schulleitungsbüro und Schulzimmern so mancher Schulleitung offenbar nicht klein genug ist, um sich die Nähe zum Schulbetrieb zu bewahren. Und damit zu nächsten Punkt.

Hans Brügelmann (77), war von 1980 bis 2012 Professor für Erziehungswissenschaft an den deutschen Universitäten Bremen und Siegen.

Zemp begrüsste jegliche Reformen – und waren sie noch so durchgeknallt wie Passepartout oder die Kompetenzorientierung als Ganzes – unter der lediglich nachgestellten Bedingung der gewährleisteten Gelingensbedingungen, von denen er genau wusste, dass sie jeweils nicht gegeben waren.

Praktikabilität anstatt realitätsferner Idealismus

Bei den Schulnoten verhält es sich wie bei der Demokratie gemäss Winston Churchill: «Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen von allen anderen.» Selbstverständlich sind Noten keine perfekte Leistungsbeurteilung, aber sie sind bei aller berechtigten Kritik im Vergleich mit anderen Beurteilungsmethoden praktikabel, und das ist es nun mal, worauf es letztlich ankommt. Man stelle sich doch bitte mal die von Brügelmann und Leuenberger propagierten «förderorientierten Rückmeldungen» genau vor: Lehrkräfte sollen also neben dem Unterricht, der Vor- und Nachbereitung desselben, der rund wöchentlichen Prüfungsentwürfe und -korrekturen, der Gespräche mit Lernenden, Klassen und Eltern, dem ständigen interkollegialen Austausch, der jährlichen schriftlichen Kommentierung der Lernenden, der sich wiederholenden Stufen- und Kantonalkonferenzen, der regelmässigen Gesamtkonvente, der periodischen Fachschaftstreffen und Teamsitzungen, der kontinuierlichen Absprachen mit dem Förder- und Heilpersonal, der jährlichen Standortgespräche mit Lernenden und Eltern, der wiederkehrenden Organisation von Lager- und Projektwochen, der Vorbereitung von Ausflügen und Exkursionen, der administrativ aufwändigen Dokumentation bzw. Abrechnung der meisten dieser Anlässe nun also auch noch regelmässige «förderorientierte Rückmeldungen» durchfühlen?!? Zur Erinnerung: Eine einzelne Lehrkraft hat schnell über 100 SchüllerInnen und von zeitaufwendigen disziplinarischen Problemen war hier noch gar nicht die Rede. Wie der von seiner eigenen Gilde als «schlampig» bezichtigte Fernsehphilosoph und Hobbyschulreformer, Richard David Precht[1], muss wohl auch Brügelmann unter einem unaufgearbeiteten Schultrauma leiden, weswegen sie nun beide dem Schulbetrieb, der schon jetzt nicht zuletzt wegen Überlastung unter massivem Personalmangel leidet, mit einem weiteren unausgegorenen Konzept den Todesstoss versetzen wollen.

David Precht, Fernsehphilosoph: Relativ schlampige Argumentation.

Das Paradox der fehlbaren Reformer als ungerufene Retter

Der Arbeitsmarkt ist nicht spezifisch Schulnoten gegenüber kritisch eingestellt, er verteilt sie ja selbst in seinen Evaluationen. Das Problem geht viel tiefer. Nach 30 Jahren verantwortungsloser und verfehlter Reformen mit der Folge gravierend schlechter Resultate anlässlich diverser Evaluationen wie PISA oder ÜGK, ist das Vertrauen der Privatwirtschaft in den Schulbetrieb grundsätzlich erschüttert, und das zurecht. Eine Antwort auf dieses Misstrauen sind u.a. die privatwirtschaftlichen Testverfahren wie beispielsweise der Multicheck. Paradox dabei ist, dass ausgerechnet diejenigen Protagonisten des privaten Sektors, die eine massgebliche Verantwortung für die Misere des öffentlichen Schulbetriebs tragen – wie zum Beispiel Andreas Schleicher, PISA-Papst der OECD -, nun die Lehrkräfte als Sündenböcke hinstellen[2] unter völliger Ausblendung der eigenen Verantwortung. Schleicher wirft den Lehrkräften absurderweise vor, sie verstünden sich allzu sehr als Befehlsempfänger, wo sie doch nicht zuletzt auch durch ihn genau dazu degradiert wurden mittels von oben aufoktroyierter Schulreformen. Zur Erinnerung: Verweigerte man sich als Lehrperson der unsäglichen Passepartoutfortbildung, wurde einem die Lehrberechtigung für Fremdsprachen entzogen. Und aus der Ecke der sogenannten «Erziehungswissenschaften» bzw. «Bildungsforschung» kommen laufend neue, unbedarfte Ideen, noch bevor deren Vertreter die Untauglichkeit ihrer alten erkannt hätten. Als schulferne Theoretiker bräuchten sie dafür Evaluationen. Die aber wollen sie nicht, denn sie könnten ihre Konzepte als untauglich blossstellen, noch bevor sie in der Praxis scheitern, wodurch sie nie lukrativ würden. Nach all diesem unbedarften Schmarren lob ich mir Erika Gisler: «Lasst uns zuerst mal sicherstellen, dass die Kinder besser lesen, schreiben, rechnen können.» Back to Basics also und weg von idealistisch ideologischem Firlefanz!

[1] Z.Bsp.: https://www.spiegel.de/kultur/richard-david-precht-und-svenja-flasspoehler-im-talk-lasst-die-philosophie-da-raus-kolumne-a-97a5d8bd-a261-4601-8ce3-c755cd7c0ce4; https://www.merkur.de/deutschland/buch-precht-welzer-frankfurter-buchmesse-kritik-analyse-fehler-methode-niggemeier-91868475.html; https://www.t-online.de/digital/aktuelles/id_100166082/das-precht-problem-nicole-diekmann-ueber-das-fragile-ego-des-welterklaerers.html;

[2] Z.Bsp.: https://www.focus.de/panorama/welt/andreas-schleicher-pisa-chef-rechnet-mit-deutschen-lehrern-ab-ich-habe-ganz-ehrlich-wenig-verstaendnis_id_259590343.html

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Die Stunde der “Experten” https://condorcet.ch/2023/12/die-stunde-der-experten/ https://condorcet.ch/2023/12/die-stunde-der-experten/#comments Fri, 08 Dec 2023 07:10:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=15432

Es ist die Stunde der Expertinnen und Experten, die derzeit die Medienwelt mit ihren Ratschlägen überfluten. Condorcet-Autor Felix Schmutz kommentiert einige Aussagen und bringt seine eigene Sicht in seinem Beitrg ein.

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Felix Schmutz: Was sollen wir denn noch tun, um die Lesefähigkeit der 25% funktionalen Analphabeten zu verbessern?

Pünktlich zum Nikolaus-Tag schneien uns die PISA-Resultate ins Haus. Beim Nikolaus kommt allerdings zuerst das Sündenregister mit der Rute, zur Versöhnung anschliessend schüttet er den Sack mit den Nüssen, Mandarinen und Süssigkeiten aus.

Besser als der Durchschnitt

Bei PISA ist es umgekehrt: Zuerst die Beruhigungspille («Besser als der Durchschnitt», «Sehr gut in Mathematik und Naturwissenschaften, gut im Lesen»), dann das Lamento («Ein Viertel der 15-Jährigen versteht nicht, was es liest», «insgesamt nehmen die Leistungen ab», «die Mädchen schlecht in Mathe»).

Expertenkommentare

Reflexartig folgen die Kommentare der medial befragten Weisen, die sich etwa so zusammenfassen lassen:

  1. Die soziale Herkunft bestimmt über die Leistung. Vermutung: Die Privilegierten sind besser digitalisiert, wodurch sie Vorteile bei digitalisierten Unterrichtsformen haben. (Andrea Erzinger, BaZ)
  2. Andrea Erzinger, Universität Bern: Mädchen haben Angst vor der Mathematik.

    Mädchen haben Angst vor Mathematik. Warum ihre «Selbstwirksamkeit» schwächelt, ist unklar, da doch so vieles unternommen worden sei, um ihr Interesse an MINT zu wecken. (Andrea Erzinger, BaZ)

  3. Mit der frühen Niveau-Selektion in der Sekundarstufe würden die Aufstiegschancen für Benachteiligte erschwert. Das sei «wissenschaftlich untermauert». (Andrea Erzinger, BaZ)
  4. Der hohe Anteil an Migranten drücke auf den Leistungserfolg.
  5. Die Einstellung von Quereinsteiger-Lehrpersonen ohne genügende Ausbildung wirke sich aus. (Dagmar Rösler, BaZ)
  6. Die Eltern müssten mehr zum Lesen motivieren, die Schule könne nicht alleine für den ausbleibenden Erfolg verantwortlich gemacht werden. (Dagmar Rösler, BaZ)
  7. Lesen spiele keine so grosse Rolle mehr in der modernen Welt, das Audiovisuelle der Medien sei heute wichtiger. (Philipp Wampfler, Radio SRF)

Was Experten verschweigen

Auffällig abwesend im Reigen dieser angebotenen Erklärungen sind drei sehr naheliegende, aber ideologisch inopportune Tatsachen:

  1. Die integrative Schule bringt Unruhe in den Klassenverband, die Unruhe geht auf Kosten der Konzentration und der Lernzeit.
  2. Die Frühfremdsprachen stehlen Übungszeit in der wichtigen Aufbauphase der Lese- und der Rechenfähigkeit und beim Aufbau des Orientierungswissens.
  3. Mit dem Lehrplan 21 wurde Wissen abgewertet, bzw. als Sachkenntnis den Kompetenzen geopfert und der Beliebigkeit überantwortet. Fürs Leseverständnis sind jedoch je nach Text medizinisches, biologisches, historisches, literarisches Grund- und Orientierungswissen unabdingbar. Jugendliche versagen dann nicht wegen des Lesens, sondern wegen der im Text angesprochenen Sachverhalte, mit denen sie nicht vertraut sind.
Philippe Wampfler Lehrer in der Kantonsschule Enge und Experte für Lernen mit Neuen Medien. Mai 2020: Lesen spielt keine grosse Rolle mehr.

Folgen früherer PISA-Tests

Frage: Haben wir die Punkte 1 – 7 nicht schon bei früheren PISA-Verlautbarungen von den Experten gehört? Haben schwache PISA-Resultate nicht schon vor über 20 Jahren zu Reformbemühungen geführt?

Beispielsweise haben wir wegen PISA den Kompetenzlehrplan 21 eingeführt. Lesekompetenzen wurden in zig Einzelfertigkeiten aufgeschlüsselt und in «Mindsteps» abgearbeitet. Wegen PISA wurden Lesenächte, Lesestunden, Autorenbesuche, Schulbibliotheken, Klassenlektüre gefördert. Medienwirksam wurden solche Aktivitäten jeweils präsentiert.

Investiert wird schon lange in die Frühförderung. Wurde ernsthaft evaluiert, z.B. in Vergleichsstudien, ob diese Frühförderung fürs Lesen in den letzten 15 Jahren irgendetwas gebracht hat? Offenbar ist der Erfolg ausgeblieben, wenn der Anteil der Lese-Unfähigen wieder um 5% gestiegen ist.

Eines ist klar: Auch unter denjenigen, die als Fachexpertinnen und -experten befragt wurden, herrscht letztlich totale Ratlosigkeit. Sie sagen das, was sie schon immer sagten, denn die PISA-Ergebnisse ergeben keine Kausalitäten, sondern nur Korrelationen zwischen Leistungsdaten und Befragungen. Interpretieren kann jeder nach seinen ideologischen Vorlieben. Medienschaffende sollten hier kritischer nachhaken, wenn sie die immer gleichen Weisheiten (siehe oben) zur Antwort erhalten.

Hektisch ergriffene behördliche Massnahmen oder gross angelegte Verbesserungsprojekte zielen deshalb immer ins Unbestimmte, gründen auf der Vermutung, dass man den Grund für die Mängel gefunden habe und die Reformübung Abhilfe schaffen werde. Allerdings sind die Möglichkeiten für Reformen allmählich ausgeschöpft. Was sollen wir denn noch tun, um die Lesefähigkeit der 25% funktionalen Analphabeten zu verbessern?

Verstehendes Lesen ist grundsätzlich nicht an ein Medium geknüpft. Die Kompetenzen werden bei jedem Medium, das Text vermittelt, gebraucht.

Lesen ein Auslaufmodell?

Interessant in diesem Zusammenhang ist Philipp Wampflers Äusserung, dass die konservative Lesefähigkeit heute nicht mehr gebraucht werde, da die Menschen sich mit audiovisuellen Medien behelfen könnten. Dies kontrastiert mit der Feststellung der OECD, dass die von ihr definierte Lesefähigkeit als Minimum für die Bewältigung der Lebensaufgaben gebraucht werde. Wer hat Recht?

Zur Beantwortung dieser Frage genügt schon der gesunde Menschenverstand:

Verstehendes Lesen ist grundsätzlich nicht an ein Medium geknüpft. Die Kompetenzen werden bei jedem Medium, das Text vermittelt, gebraucht.

Text, Bild und Ton verstehend zu verknüpfen, ist jedoch eine zusätzliche Kompetenz, die vom reinen Lesen zu trennen ist. Didaktisch sinnvoll wäre es, mit dem einen zu beginnen und dann erst zum nächsten überzugehen. Wampfler hingegen will – bildlich gesprochen – den Stemmbogen überspringen und gleich zum Wedeln übergehen.

Die Digitalisierungseuphorie sollte uns deshalb nicht dazu verleiten, grundlegende Fähigkeiten nicht mehr zu vermitteln und zu üben.

Texte entziffern und verstehen sollte vom didaktischen Standpunkt aus gesehen am ehesten zunächst an einem Medium geübt werden, das materiell greifbar und drehbar ist wie ein Blatt Papier oder Buchstaben zum Legen und Verschieben. Einmal am Blatt oder Buch gemeistert, lassen sich die Kompetenzen auf den Bildschirm übertragen.

Die Digitalisierungseuphorie sollte uns deshalb nicht dazu verleiten, grundlegende Fähigkeiten nicht mehr zu vermitteln und zu üben. Sie sind nach wie vor die Basis, selbst wenn das Medium des Buches, der Zeitung, des Lexikons inzwischen vorwiegend in digitaler Form konsumiert wird. Gelernt werden muss analog, so ist nun einmal unser Gehirn eingerichtet.

Was tun?

  1. Dem PISA-Test gegenüber sollte man mit kritischer Distanz gegenübertreten: Wer legitimiert die Prüfungsinstanz festzulegen, welche Punktzahlen Mindestanforderungen bedeuten? Sind die Prüfungsaufgaben sachlich korrekt, valide? Wer kontrolliert die Kontrollierer? Eine unabhängige Überprüfung müsste erfolgen.
  2. In den Schulen sollte mehr Zeit für die basalen Fähigkeiten Lesen, Rechnen, Schreiben, Sachwissen zur Verfügung gestellt werden. Die digitalen Mittel sollten erst in der zweiten Hälfte der Volksschule Einzug halten. Die basalen Fähigkeiten bilden die Grundlage für ein erfolgreiches Hantieren mit Digitalität, nicht umgekehrt.
  3. Schulischer Unterricht bedeutet, dass ausgebildete Lehrpersonen den Lernstoff in geeigneter Weise vermitteln. Diese zivilisatorische Errungenschaft wird heute krass unterschätzt. Zweieinhalb Tausend Jahre Wissen können sich Kinder und Jugendliche nicht selbst beibringen. Sie müssen angeleitet und geführt werden und dürfen beim Lernen nicht nur sich selbst überlassen werden. «Teaching and Learning statt Coaching and Drowning» muss die Devise sein. Die Ausbildungsinstitutionen sind darauf zu verpflichten, die künftigen Lehrkräfte in diesem Sinne vorzubereiten.
  4. Der Kompetenzlehrplan 21 sollte abgelöst werden durch einen Lehrplan, der verbindliche Wissensbestände und ihre Anwendungen enthält. Kompetenzen ergeben sich aus der Beschäftigung mit und dem Lernen an sachlichen Themen.
  5. Die Fremdsprachen sollten frühestens im vierten, spätestens im fünften Schuljahr beginnen, die zweite Fremdsprache frühestens im sechsten, spätestens im siebten Schuljahr. Bei Überforderung ist auf eine zweite Fremdsprache zu verzichten.
  6. In den Klassen der Volksschule soll eine ruhige Arbeitsatmosphäre oberstes Gebot sein. Für Kinder und Jugendliche, die sich nicht einordnen können, müssen sinnvolle Angebote zeitweise oder langfristig zur Verfügung stehen.

Eine Utopie? Es wäre einmal eine Alternative, nachdem wir alles andere erfolglos versucht haben.

 

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Von der Not der Noten – und ihrem Wert https://condorcet.ch/2023/11/von-der-not-der-noten-und-ihrem-wert/ https://condorcet.ch/2023/11/von-der-not-der-noten-und-ihrem-wert/#comments Wed, 15 Nov 2023 13:23:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=15313

Ein alter pädagogischer Schauplatz öffnet sich neu – der Disput um die Noten. Wer sie abschaffen will, verkennt den Wert der Noten. Das System dient Schülerinnen, Lehrern und Eltern als unkomplizierte Orientierung. Entscheidend bleibt dabei das lernförderliche Feedback. Gedanken zu einer kontroversen Thematik von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Die «Abschaffung der Noten» kommt als professionelle Forderung daher

Den Ziffernoten geht es an den Kragen. Sie sind umstritten, vielfach gar denunziert. Wie schon so oft, seit es sie gibt. Und dennoch haben sie bis heute Bestand. Einen Frontalangriff auf die Noten startete vor Kurzem der Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz, Thomas Minder.[1] Er leitet die Dachorganisation von 20 Kantonalverbänden der deutschsprachigen Schweiz, welche rund 2300 Schulverantwortliche zählt. Minder will die Noten eliminieren. Schülerinnen und Schüler sollten sich am Ende der Primarschule selbst selektionieren. Ziffern seien hier fehl am Platz. Sie gehören darum abgeschafft, postuliert der oberste Schweizer Schulleiter – für viele wohl mit etwas gar naivem reformpädagogischem Eifer. Zudem erstaunt es, dass die Abschaffung der Noten als professionelle Forderung daherkommt und so tut, als gäbe es keine Politik und keine öffentliche Meinung.[2] Die Bevölkerung will mehrheitlich keine «notenfreien Schulen» – das ergibt sich aus Umfragen von Elterngremien und aus den Resultaten kantonaler Abstimmungen.[3]

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Gleichzeitig wissen wir um das Konträre: Noten seien unverzichtbar, ja «unabdingbar, um Fairness und Vergleichbarkeit zu garantieren», schreibt beispielsweise die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Prof. Susanne Lin-Klitzing, Erziehungswissenschaftlerin an der Philipps-Universität Marburg.[4] Ein kontroverses Patt! Oder auf gut Deutsch: Die einen sagen so, die andern anders.

Der Züricher Kantonsrat als Abbild der Diskursfronten

Genau dieses argumentativ widersprüchliche Bild zeigte sich letztes Jahr im Zürcher Kantonsrat. Zur Debatte stand eine parlamentarische Initiative zur Notenpflicht in der Volksschule. Eingebracht hat sie die freisinnige Kantons- und Stadträtin Astrid Furrer aus Wädenswil. Die Initiantin wollte das Volksschulgesetz ändern. Das Ziel: Die Beurteilung der Leistung im Semesterzeugnis muss zwingend durch Noten erfolgen. Alternative Benotungssysteme wie Smileys und Krönchen oder Farbbalken à la Stadtschule Luzern[5] sind nur in der ersten Klasse und bei sonderpädagogischen Massnahmen erlaubt. Schulnoten dürften nicht dem pädagogischen Zeitgeist zum Opfer fallen, so die Angst und Absicht der parlamentarischen Mehrheit; sie müssten darum im Gesetz verankert sein.

Das kam einem Misstrauensvotum gegenüber der Zürcher Bildungsdirektion und dem Bildungsrat gleich. Ende Juni 2022 stimmte der Kantonsrat mit 101 Ja zu 62 Nein der Gesetzesänderung deutlich zu – nach langer und hitziger Debatte.[6] Die bürgerlichen Parteien, die Grünliberalen und die Mitte sprachen sich für die Vorlage aus, Links-Grün und die EVP votierten geschlossen dagegen.[7]

Zeugnisvereinfachung! Keine Noten, modern, präzis und dem Zeitgeist verpflichtet.

Die Skepsis gegenüber den Noten und ihr ramponierter Ruf

Die Debatte «Kein Verzicht auf Schulnoten» brachte all das zutage, was wir aus dem Diskurs um die Ziffernote längst kennen: Warum sie einerseits umstritten ist, und aus welchen Gründen sie anderseits für die Lernleistungs-Bewertung in Schulen bis heute offenbar als unverzichtbar gilt.[8] Die Note sei, so ein Teil der Voten, unpräzise oder eben scheingenau und gleichzeitig informationsarm. Ob aber der weitmaschige Dreiteiler mit «noch nicht erfüllt», «erfüllt» und «übertroffen», wie das einige Schulgemeinden im Kanton Bern praktizieren, präziser ist als Ziffern?[9] Dazu, so die Notenverzichts-Argumente, sei ihr Zustandekommen nicht selten intransparent, manchmal gar willkürlich.[10] Noten trügen kaum zur Bildungsgerechtigkeit bei und bezögen sich nicht auf den individuellen Lernfortschritt, sondern einzig auf den Klassendurchschnitt.[11] Diese sogenannten «Referenzgruppeneffekte» verfälschten die Noten, denn jede Klasse sei unterschiedlich leistungsstark.[12] Zudem widersprächen sie dem Ideal des intrinsischen oder selbstgesteuerten Lernens mit dem Schwergewicht auf dem eigenen Lernweg.

Vergessen geht bei diesem Einwand, dass Lernende nicht primär durch einen isolierten Kommentar oder eine Note motiviert werden, sondern durch inspirierende Lehrerinnen und leidenschaftliche Pädagogen.

«Misstraut allen Noten!», liess darum der Erziehungswissenschaftler Hans Brügelmann, Universität Siegen, die ZEIT-Leserschaft apodiktisch wissen.[13] Anstrengungen, die nur um des Prädikats willen getätigt würden, seien pädagogisch von geringem Wert. «Motivieren ohne Noten» nennt sich dieses suggestive Stichwort der Schulkritik von 1990.[14] Die These: Schülerinnen und Schüler lernten besser, wenn sie nicht durch Noten angeleitet würden.[15] Vergessen geht bei diesem Einwand, dass Lernende nicht primär durch einen isolierten Kommentar oder eine Note motiviert werden, sondern durch inspirierende Lehrerinnen und leidenschaftliche Pädagogen.

NZZ am Sonntag, 12.12.20

Schülerinnen und Schüler wollen wissen, wo sie stehen

Aller Kritik zum Trotz: Warum gibt es sie denn immer noch, diese Noten? Sie sind ja nichts anderes als ein verkürztes Feedback darüber, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Lerngruppe gekonnt, gewusst, verstanden wird. Die Ziffernote als Kürzel basiert auf dem vergleichenden Leistungsurteil durch eine Lehrperson. Nicht mehr, nicht weniger. Was also macht ihren Wert aus?

Kurz gesagt: Noten sind eine bewährte Form von Feedback und für die Kommunikation der Schulen nach aussen – Arbeitgeber, Eltern et al. – ohne ebenbürtigen Ersatz. Das sagt Jürgen Oelkers, Erziehungswissenschaftler und emeritierter Professor der Universität Zürich. Alle anderen Formen hätten nicht annähernd den gleichen Grad leichter Verständlichkeit. Anders als verbale Beurteilungen erlauben Noten keine rhetorischen Beschönigungen. Ziffern führen kaum zu Wortklaubereien. Worte können verletzen; Zahlen sind neutraler. Zudem gilt: Schülerinnen und Schüler «vergleichen sich immer, egal ob sie Noten bekommen oder Berichtszeugnisse», sagt Ulrich Trautwein, Bildungsforscher an der Universität Tübingen.[16] Sie wollen wissen, wo sie in der Klasse stehen, wo ihre Fähigkeiten liegen und ob sie sich verbessert haben. Noten ermöglichen auf einfache Art, Schüler-Lernleistungen in Relation zu Standards zu setzen und schulisches Können zu vergleichen – als Grundlage für ein lernförderliches Feedback. Ein Verzicht auf Vergleiche greift das Leistungsprinzip der Schule an.

Korrigieren, bewerten und Noten setzen – und damit auch begabungsgerecht selektionieren, das kann nicht an Maschinen, nicht an digitale Test- und Bewertungswerkzeuge delegiert werden. Es ist eine delikate, nicht selten mühsame Aufgabe.

Schule und Unterricht im dialektischen Spannungsfeld

Lehrerinnen und Lehrer stehen bei ihrer Arbeit im vielfachen Dilemma. Unterrichten ist eingebettet in dialektische Prozesse. Sie lassen sich nicht auflösen, sie lassen sich nur aushalten und konstruktiv handhaben. Auch bei den Noten. Die Ambiguitäten resultieren aus den widersprüchlichen Spannungsfeldern zwischen dem pädagogischen und dem soziologisch-gesellschaftlichen Auftrag der Schule, zwischen dem individuellen und sozialen Fördern, orientiert am Pädagogischen, sowie dem Leistungsprinzip, zentriert auf inhaltliche und kompetenzorientierte Bildungsziele. Die Schule kann gar nicht anders, als diese Widersprüche zu akzeptieren, wenn sie glaubwürdig bleiben will. Personifiziert ausgedrückt: Schule verkörpert den Antagonismus zwischen Wilhelm von Humboldt und Helmut Schelsky. Es ist ein Konflikt zwischen dem Bilden als Selbstbildung, dem Ausbilden als Qualifikation und dem Integrieren als Sozialisation einerseits sowie dem Selektionieren anderseits.[17] Das macht manchen Lehrpersonen zu schaffen – auf allen Schulstufen. Korrigieren, bewerten und Noten setzen – und damit auch begabungsgerecht selektionieren, das kann nicht an Maschinen, nicht an digitale Test- und Bewertungswerkzeuge delegiert werden.[18] Es ist eine delikate, nicht selten mühsame Aufgabe. Für viele bedeutet sie eine Art Sacrificium Intellectus.

Lern- und Denkleistungen beurteilen und sie gerecht bewerten ist ein verantwortungsvoller Vorgang. Er gehört konstitutiv zum Berufsauftrag. Nicht alle Jugendlichen können zu allen Ausbildungen und Berufen gelangen. Entschieden wird nach Lernleistung.

Lern- und Denkleistungen beurteilen und sie gerecht bewerten ist ein verantwortungsvoller Vorgang. Er gehört konstitutiv zum Berufsauftrag. Nicht alle Jugendlichen können zu allen Ausbildungen und Berufen gelangen. Entschieden wird nach Lernleistung. Das gilt im Besonderen für den Übertritt ans Gymnasium. Zu bilden sind hier möglichst leistungshomogene Klassen. Sie erleichtern gutes Lernen.[19] Das Ersetzen von Noten durch Buchstaben oder Ampelfarben, durch Wörter oder Kreuzchen wäre lediglich pädagogische Kosmetik und änderte daran nichts.[20] Der Auftrag bleibt: den Jugendlichen nach ihren Fähigkeiten und Interessen neue Wege aufzeigen. Zu evaluieren und zu bewerten sind die Lernleistungen. Sie sind der einzig sozialneutrale und damit auch demokratiegemässe Massstab. Wo aber kann nach Lernleistungen gemessen werden? An der Schule, nur an der Schule.

Hohe Grundansprüche an die Beurteilung

Noten aber sind ein komplexes Instrument und reflektiert zu vergeben. Sie hängen mit Prüfungen zusammen. Sie sollten so verlässlich wie möglich sein. Lehrkräfte müssen darum versuchen, allfällige Fehlerquellen auszuschliessen.[21] Darum basieren gute Prüfungen, so hat man es uns in der Ausbildung gelehrt, auf vier Grundansprüchen:

. Validität: Was gemessen wird, entspricht dem, was man messen will. Und das Geprüfte ist eine bedeutsame und anerkannte Kompetenz.

. Objektivität: Die Beurteilung erfolgt nicht willkürlich; andere Bewertende kämen zur selben Ansicht. Und vor allem eines: Das Urteil muss frei von Vorurteilen gegenüber der geprüften Person sein.

. Reliabilität: Die Prüfung ist keine flüchtige Momentaufnahme. Darum müssten die Lernenden beim Wiederholen des Tests zu den approximativ gleichen Resultaten kommen.[22]

. Vergleichbarkeit: Geprüfte Schülerinnen und Schüler sollten in ihrer Lernleistung mit anderen verglichen werden können. Die Note 5 müsste in allen parallelen Klassen möglichst dasselbe bedeuten.

Noten sind nicht das Problem, Noten sind eine Hilfe

Wer den Prüfungen diesen Massstab zugrunde legt, schafft Klarheit und Erwartungssicherheit. Schülerinnen und Schüler wissen, dass es ums Bewerten ihrer Lernleistung geht, ihres Könnens und Verstehens – und nicht der Persönlichkeit. Sie akzeptieren die Note. In einem wertschätzenden Umfeld, in einer positiven und ermutigenden Atmosphäre sind Noten darum nicht das Problem, sondern eine Hilfe; sie generiert Transparenz und Sicherheit.

Das zeigt die Forschung, das legt die eigene Erfahrung nahe. Ein einziges Beispiel illustriert es: Ein Fünftklass-Gymnasiast hat in Chemie eine 4.5, sein Freund erreicht lediglich eine 3.5. Er will sich verbessern und gleichzeitig seinem Freund helfen. Der Chemielehrer gibt Feedback und zeigt ihm Wege, wie er das Lernen steuern kann.[23] Der Schüler vertieft sich in die Materie. Beim Lernen auf die Prüfung erklärt er seinem Freund den verlangten Inhalt. Im nächsten Zeugnis hat er eine 5, sein Freund eine 4. Diese Note habe ihm Klarheit verschafft, den Lernfortschritt signalisiert und ihn gleichzeitig motiviert, liess er mich als Klassenlehrer beim Überreichen der Zeugnisse wissen. Lernen lohne sich, fügte er verschmitzt bei. Dass (auch notenmässig belegte) Lernfortschritte das positive Selbstkonzept fördern, zeigte sich im Maturazeugnis. Er erreichte, notabene bei einem gestrengen Chemielehrer, eine blanke Sechs – und studierte dann an der ETH Zürich.

Für diese Feedbacks müssten die Lehrerinnen und Lehrer wieder mehr Zeit und Freiraum haben. Sie geben den Noten ihren Gehalt und Wert. Das Feedback gehört zu den effektivsten Instrumenten, die den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern steigern.

Feedback mit hohem Wirkwert

Noch etwas zeigt das Beispiel: Entscheidend ist das lernfördernde Feedback – im Sinne der Artikulation der Differenz zwischen Sein und Sollen, und dies in dreifacher Hinsicht: bezogen auf die Sache, auf den Prozess und auf die Selbstregulation. In der Metapher des OL-Sports gesprochen: Wo sind wir? Wohin wollen wir? Und wie kommen wir dorthin; welchen Weg wählen wir? Das müssten wir institutionalisieren und praktizieren. Und das müsste in der Schule intensiv und konkret erfolgen und vor allem in der Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule aufgezeigt und eingeübt werden. Die Einschätzung des Leistungsniveaus durch die Lehrperson hat nach John Hattie den höchsten Wirkwert aller Einflussgrössen aufs Lernen.[24]

Für diese Feedbacks müssten die Lehrerinnen und Lehrer wieder mehr Zeit und Freiraum haben. Sie geben den Noten ihren Gehalt und Wert. Das Feedback gehört zu den effektivsten Instrumenten, die den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern steigern. Es muss an den Inhalt gebunden und sprachlich präzis formuliert sein und in einer fehlerfreundlichen Lernatmosphäre erfolgen. Darauf müsste sich eine gute Schule konzentrieren. Die Abkehr vom klassischen Notenmodell bringt den Kindern und Jugendlichen keinen Mehrwert, den Lehrpersonen aber mehr Arbeit. Es ist ein unnötiges Drehen an einer (Neben-)Stellschraube – ohne den Blick auf das systemische Ganze mit den anspruchsvollen Lehr- und Lernprozessen zu richten. Auf dieses Kernanliegen hat sich das System wieder zu konzentrieren.

Zuerst erschienen in: Qi. Quartalinformation des Mittelschullehrpersonenverbands Zürich MVZ. 4 / November 2023, S. 8-15

Tipp der Redaktion: Lesen Sie auch: https://condorcet.ch/2022/02/sind-noten-in-der-schule-notwendig/

[1] Thomas Minder (2023), Schluss mit der Selektion, in: Fritz+Fränzi. Das Schweizer Elternmagazin, 31.08.2023: https://www.fritzundfraenzi.ch/gesellschaft/schluss-mit-der-selektion/ [abgerufen: 10.10.23]

[2] Livesendung Forum von SRF 1: https://www.srf.ch/audio/forum/sind-schulnoten-noch-zeitgemaess?id=12449418

[3] Verschiedene Kantone kehrten per Volksabstimmung wieder zum Notenobligatorium in der Primarschule zurück, so der Kanton Genf oder der Kanton Appenzell Ausserrhoden. Zu Noten kehrten auch Schulgemeinden zurück – mit der Begründung, manchen Kindern fehle sonst der Lernleistungswille.

[4] Kathrin Müller-Lancé, Sind Noten noch zeitgemäss?, in: Süddeutsche Zeitung, 29.09.2023, S. 6.

[5] An den Stadtschulen Luzern steht nun statt der Note 4 ein «teilweise erreicht» – dazu ein Kreuz im Balken zwischen Gelb und Orange, in: https://www.zentralplus.ch/beruf-bildung/warum-selbst-luzerner-schueler-noten-bevorzugen-2577229/ [abgerufen: 10.10.23]

[6] https://parlzhcdws.cmicloud.ch/parlzh5/cdws/Files/d389c7032ab94daba70e5487bcec3552-332/5/pdf

[abgerufen: 10.10.23]

[7] Daniel Schneebeli, Jetzt kommt die Notenpflicht ins Gesetz, in: TagesAnzeiger, 05.07.2022, S. 17.

[8] Vgl. Protokoll der beiden Debatten im Kantonsrat vom 24.02.2020 und vom 03.05.2022: KR-Nr. 69/2020. Msc. unpubl.

[9] Mirjam Comtesse, Schule ohne Noten. Ist “übertroffen” besser als eine 6?, in: Berner Zeitung, 19.10.2023.

[10] Urteile der Lehrpersonen mit Blick auf ihre Klasse sind recht verlässlich; darauf verweist Jürgen Oelkers. Er stützt sich dabei u.a. auf Franz E. Weinert (2001) (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim/Basel: Beltz-Verlag.

[11] Vgl. Wilfried Kronig (2007), Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs. Theoretische Erklärungen und empirische Untersuchungen zur Lernentwicklung und zur Leistungsbeurteilung in unterschiedlichen Schulklassen. Bern und Stuttgart: Haupt Verlag, S. 171ff.

[12] Karlheinz Ingenkamp (1995), Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung. Texte und Untersuchungsberichte. 9. Aufl. Weinheim: Beltz Verlag, S. 194ff.

[13] Hans Brügelmann (2006), Misstraut allen Noten!, in: DIE ZEIT, 13.07.2006, S. 52; vgl. Lisa Kunze (2022), Dialogbasierte Leistungsbeurteilung mit Portfolios. Theoretische Grundlagen, praktische Umsetzungsmöglichkeiten und empirische Befunde. Münster: Waxmann Verlag.

[14] Richard Olechowski/Karin Rieder (1990) (Hrsg.), Motivieren ohne Noten. Schule, Wissenschaft und Politik. Bd. 3. Wien [u.a.]: Verlag Jugend und Volk; vgl. Jürgen Oelkers, Warum Noten in der Schule? Msc. unpubl. Zürich: IfE, S. 2.

[15] Jürgen Oelkers, Beurteilen und Fördern – Notwendige Noten? Schulinfo Zug. 06.05.2019, S.2/6.

[16] Ulrich Trautwein, «Sie wollen immer wissen, wo sie stehen», in: DIE ZEIT, 31.08.2023, S. 33.

[17] Gegen diesen Selektionsauftrag wehrt sich Thomas Minder, Präsident der Schweizer Schulleiterinnen und Schulleiter.

[18] Nils B. Schulz (2023), Kritik und Verantwortung. Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik. München. Claudius Verlag, S. 121.

[19] Wie wichtig lernleistungshomogene Klassen für gutes Lernen sind, zeigen Studien auf, u.a. von Prof. Wolfgang Schneider, Universität Würzburg, und aus den USA; vgl. Kari Kälin, Unter gleich Guten lernt es sich besser, in: Luzerner Zeitung, 23.03., S. 12 (Hintergrund).

[20] Winfried Kronig, Schulnoten – Glasperlenspiel des Bildungssystems, in: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik (2010) 9, S. 6-7.

[21] Kathrin Müller-Lancé, a.a.O., S. 6.

[23] Gemäss Hattie ist dies ein Feedback zur Selbstregulation; es hat einen hohen Effektwert (d = 0.86).

[24] Klaus Zierer (2023). Hattie für gestresste Lehrer 2.0. Kernbotschaften aus „Visible Learning“ mit über 2.100 Meta-Analysen. 4. erweiterte und aktualisierte Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S.137, 172; Hatties Wirkwert hat eine Effektgrösse von d = 1.46.

 

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