Schulpflicht - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 25 Nov 2021 05:20:42 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Schulpflicht - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Die Schulvorbereitungspflicht ist für offene Gesellschaften unumgänglich https://condorcet.ch/2021/11/die-schulvorbereitungspflicht-ist-fuer-offene-gesellschaften-unumgaenglich/ https://condorcet.ch/2021/11/die-schulvorbereitungspflicht-ist-fuer-offene-gesellschaften-unumgaenglich/#comments Wed, 24 Nov 2021 14:30:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=9902

Markus Waldvogel setzt bei der Forderung nach mehr Chancengerechtigkeit und Bildung für alle bei der Familie an. Seiner Ansicht nach könne es der Staat nicht hinnehmen, wenn immer mehr Kinder gar nicht mehr schulfähig sind.

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Dr. Markus Waldvogel, pens. Gymnasiallehrer in Biel, Philosoph, Gründer der Philosophietage in Biel

In philosophischen Kreisen gehört es zum guten Ton, sich der Frage, wie es wäre, gebildet zu sein, zu stellen. Mit viel Verve wird über Halbbildung, wahre Bildung und die Ware Bildung gestritten. Dahinter steckt meist ein Bild vom Menschen, der aufnahmefähig, motiviert und «frei» ist, was einengende Traditionen, religiöse Dogmen, familiäre Traumata oder Genderfragen betrifft. Angesichts dieser Voraussetzungen ist es klar, dass das Profil der Allgemeinbildung im Verhältnis zur «blossen» Ausbildung resp. die humanistische Bildung und die grossen Wünsche an die Bildung, wie sie etwa der Lehrplan 21 zum Ausdruck bringt, im Vordergrund stehen. Ins Auge sticht aber, wie wenig die Bedingungen für die Möglichkeit von Bildung und damit auch von Persönlichkeitsentwicklung untersucht werden. In der Presse wurde in den letzten Wochen darüber berichtet, dass laut einer repräsentativen deutschen Studie 40 Prozent der Kinder, die seit 2010 geboren wurden -also die Kinder der sogenannten Generation Alpha- Auffälligkeiten im sprachlichen Bereich, 19 Prozent im motorischen Bereich und 30 Prozent pens. im sozialen Bereich zeigen würden. Das ist traurig. Doch ist es zwingend?

Carl Oechslin (1916-1971) Unternehmer, Denker, Wirtschaftshumanist: Wo das Leben sich frei entfalten kann, sind die Gegenätze auch offen da.

Carl Oechslin schrieb 1958, dass die lebendige Meisterung von Konflikten eine hohe kulturelle Aufgabe sei. «Wo das Leben sich frei entfalten kann, sind die Gegenätze auch offen da. Das Problem besteht darin, sie zu einer … Einheit zu führen und nicht, sie hinter Schein-Lösungen weiterfressen zu lassen … oder aber sie überhaupt zu unterdrücken!» Das geschilderte Phänomen der Scheinlösungen, des vorauseilenden Abfederns von Widersprüchen oder die Scheu vor pointierten Auseinandersetzungen in einer aufs Funktionieren getrimmten Gesellschaft, hat sich natürlich in den letzten 60 Jahren massiv verändert. Wir sind tatsächlich in der globalisierten Welt mehr denn je auf Kompromisse aus. Ob das Scheinlösungen sind, bleibe dahingestellt. Doch wer in offenen Gesellschaften die Schule als Voraussetzung für die Demokratie bezeichnet, muss sich mit Gottfried Kellers «Zu Hause muss beginnen, was im Staate leuchten soll …» (frei zitiert) beschäftigen, weil er sonst entwicklungspsychologische Fakten, was das Aufwachsen und Werden «kleiner Persönlichkeiten» und das Gewicht der ersten Lebensjahre betrifft, schlicht unter den Tisch wischt und Schulen und Kindergärten «von Beginn weg» im Regen stehen lässt.

Die damit verbundene Chance, offen über Wertevermittlung und Demokratie zu reden, wird allerdings oftmals -auch aufgrund berechtigter Ängste- nicht genutzt, gerade weil die Wertekonzepte zwischen Schule und Elternhaus zunehmend divergieren.

Bildung baut auf die Familie.

Das wiegt schwer, weil das demokratische Bildungskonzept immer schon auf Allgemeinbildung ausgerichtet war. Allgemeinbildend meinte ursprünglich „nicht nur die reinen Kulturtechniken betreffend“. Bildung sollte Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln und zusätzlich den Blick in die Welt öffnen. Und das für jedermann. Genauso, wie man bis in die 70er-Jahre die Vielfalt der Presse als Bannwald der Demokratie bezeichnete, hatte die Volksschule (idealerweise) das Fundament der Demokratie sicherzustellen. Dies in engster Zusammenarbeit mit den Familien. Diese Verlinkung blieb von Beginn weg ein Sorgenkind der allgemeinen Schulpflicht. Immerhin konnten die Pädagogen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in wenn auch zweifelhafter Übereinstimmung mit den Werten vieler Elternhäuser agieren. Niemand trauert allerdings den Auswüchsen dieser Zeit nach. Literarisch wurden sie u.a. von Hermann Hesse in „Unterm Rad“, Friedrich Torberg im „Schüler Gerber“ oder Robert Musil in „Der Zögling Törless“ eindrücklich bearbeitet. Die autoritäre Pädagogik hat hierzulande in den letzten Jahrzehnten viel Terrain verloren. Die damit verbundene Chance, offen über Wertevermittlung und Demokratie zu reden, wird allerdings oftmals -auch aufgrund berechtigter Ängste- nicht genutzt, gerade weil die Wertekonzepte zwischen Schule und Elternhaus zunehmend divergieren. Werte können zugegebenermassen nicht einfach so eingefordert, sie dürfen aber keinesfalls ignoriert, überspielt werden.

Die Zivilgesellschaft muss grundsätzlich festlegen, welche ethischen und politischen Werte die Schule zu vertreten hat und sie muss den Lehrpersonen in diesen Fragen den Rücken stärken.

Es braucht eine permanente Auseinandersetzung und deutlich mehr als nur Anknüpfungspunkte wie «Wir wollen, dass unsere Kinder Karriere machen» oder «Bildung verhilft zu Reichtum» oder »Die Schule ist allein für die individuelle Förderung da». Wenn eine verantwortungsvolle Bildung beispielsweise auf gleichberechtigte Geschlechter oder laizistische Werte Gewicht legt, führt das rasch zu derartigen Spannungen mit Kindern und Eltern, dass schulinterne oder kommunale Lösungen nicht mehr ausreichen.  Die Zivilgesellschaft muss grundsätzlich festlegen, welche ethischen und politischen Werte die Schule zu vertreten hat und sie muss den Lehrpersonen in diesen Fragen den Rücken stärken. Damit werden Energien frei für die ureigenste Aufgabe von Schule, nämlich Interessen zu wecken. Schüler*innen, die über ein mathematisches, natürliches, sprachliches oder soziales Phänomen staunen, die sich begeistern lassen, sind vom wichtigsten Virus befallen, den Erziehung und Schule verbreiten kann. Diese „Krankheit“ hat die Nebenwirkung, dass Befallene mehr wissen möchten.

Der Wissensdurst muss gestillt werden. Schulen, die sich mit der Neugier und dem Wissensdrang –auch unter der Last der Verhältnisse- schwertun, verpassen die Erfüllung ihres staatspolitischen Auftrages ebenso, wie wenn sie sich nicht um jene kümmern, die aus soziologischen, pädagogischen oder psychologischen Gründen ihre Bildung nur stolpernd unter die Füsse nehmen.

Bild: Pietro Masztalerz aus Schlaue Bilder, Lappan

Der Wissensdurst muss gestillt werden. Schulen, die sich mit der Neugier und dem Wissensdrang –auch unter der Last der Verhältnisse- schwertun, verpassen die Erfüllung ihres staatspolitischen Auftrages ebenso, wie wenn sie sich nicht um jene kümmern, die aus soziologischen, pädagogischen oder psychologischen Gründen ihre Bildung nur stolpernd unter die Füsse nehmen. Es wäre ein verheerender Irrtum, in diesem Spektrum schwergewichtig entscheiden zu wollen.  Natürlich haben die Schulen auch einen Erziehungsauftrag, primär sind sie aber der Bildung verpflichtet. Keine Schule kann es sich langfristig leisten, andauernd gröbere Abstriche vorzunehmen, wenn es darum geht, auf intelligente, schöpferische und anspruchsvolle Weise zu unterrichten. Das erzieherische Anliegen aber wird sofort, wenn die Eltern resp. die Erziehungsbevollmächtigten damit überfordert sind, zu einer schwergewichtigen und teuren Angelegenheit. (Carlos lässt grüssen). Auf alle Fälle ist es ein gefährlicher Weg, wenn die Gründe für eine beschränkte Schulfähigkeit systematisch nicht analysiert werden. Trotz aller Schulsozialarbeit kann Schule nämlich in sehr vielen schwierigen Fällen nur Feuerwehr spielen. Bei einer Anhäufung von beschränkter Schulfähigkeit liegt nicht ein pädagogisches Malaise vor, sondern ein gesellschaftliches. Dieses nicht beim Namen zu nennen und politisch nicht anzupacken, kann nicht im Interesse der Bürger*innen sein.

Wenn die Anzahl der beschränkt schulfähigen Kinder stetig ansteigt, liegt ein Notstand vor.

Im Interesse der Schulen ist es ebenfalls nicht, mit Notmassnahmen den Betrieb aufrecht erhalten zu wollen. Die Zahl der erschöpften Aussteiger*innen aus dem Lehrberuf spricht da eine deutliche Sprache. Wenn die Anzahl der beschränkt schulfähigen Kinder stetig ansteigt, liegt ein Notstand vor. Diesen zu verdrängen in der Hoffnung, sozial aufgerüstete Schulen würden es richten, ist keine längerfristige Problemlösestrategie. Es gibt eben nicht nur die Schulpflicht. Es gibt auch eine Schulvorbereitungspflicht, die Erziehung eben. Die Haltung, die den Staat fast völlig aus elementaren Fragen der Erziehung heraushalten will, ist historisch gewachsen, nachvollziehbar und sie war während längerer Zeit praktikabel. Aber genauso, wie beispielsweise die allgemeine Schulpflicht eine historische Notwendigkeit war, wird die Schulvorbereitungspflicht -im Interesse aller Beteiligten- eine geschichtliche Tatsache werden. Die westlichen Gesellschaften können es sich nicht mehr lange leisten, ihre Schulen dafür büssen zu lassen, dass Vorschulprobleme politischen, kulturellen und soziologischen Ursprungs nicht als öffentliche Angelegenheit betrachtet werden. Die Kinder mit Lungenkrankheiten in den vom Smog geplagten Grossstädten des 19. Jahrhunderts wären auch nicht gesünder geworden, hätte man in den Schulen mehr Ärzte angestellt. Es ist an der Zeit, Familienpolitik und Bildungspolitik in ihrer jeweiligen Eigenheit zu betreiben, und zwar als mitunter gleich wichtige öffentliche Themen. So ist beispielsweise die tendenziell frühere Einschulung der Kinder nicht mehr als eine sinnvolle Massnahme in Richtung der Persönlichkeitsbildung. Eine massiv intensivierte Elternarbeit wird folgen müssen. Mit dieser steht und fällt jegliches spätere Unterrichtsgeschehen mit allen gängigen Themen wie Allgemeinbildung, Digitalisierung der Schule oder verbesserte Bildungschancen für alle.

Dieser Artikel ist zuerst in den Schaffhauser Nachrichten erschienen (20.11.21)

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Jakob Heer – Pionier der Volksschule https://condorcet.ch/2020/12/jakob-heer-pionier-der-volksschule/ https://condorcet.ch/2020/12/jakob-heer-pionier-der-volksschule/#respond Tue, 29 Dec 2020 18:35:09 +0000 https://condorcet.ch/?p=7354

Die Studien über die Verschlechterungen unserer Volksschule häufen sich. Ist unser zeitgemässes Bildungswesen noch fortschrittlich? Fortschritt bezeichnet grundlegende Verbesserungen durch bedeutende Veränderungen bestehender Zustände (Wikipedia). Zeitgemäss kann man auch sein, wenn man gleich gut oder gleich schlecht ist wie die anderen. Unser "Bloghistoriker" Peter Aebersold wagt einen Vergleich unserer heutigen Volksschule mit den Anfängen der Volksschule im Bergkanton Glarus und fragt: "Könnten unsere heutigen Schüler bei den Glarner Mathematikaufgaben von 1836 mithalten?"

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Die Anfänge der Glarner Volksschule

Während des 18. Jahrhunderts unterhielten die meisten Glarner Dörfer ihre eigenen Schulen mit „Schulmeistern“. Sie wurden aus dem Volk und vom Volk ohne vorhergehende Prüfung oft zusammen mit dem Geisshirt und Kaminfeger an der jährlichen Gemeindeversammlung gewählt oder bestätigt.

Jakob Heer um 1850

Als Pfarrer Jakob Heer 1802 in Mollis seine erste Stelle als Diakon antrat, war damit auch eine Lehrtätigkeit an der dortigen Gemeindeschule verbunden. Nach einer Lehrtätigkeit für alte Sprachen und Mathematik an einer Privatschule in Glarus wechselte er 1816 an die Pfarrstelle in Matt im Kleintal. Dort fand er eine Gegend vor, die nach den zahlreichen Kriegen der napoleonischen Zeit, dem Niedergang der Heimindustrie und der Hungersnot im „Jahr ohne Sommer“ (1816) in schlimmer Not war: «Es ist scheusslich anzusehen, wie abgezehrte Menschengerippe, die ekelhaftesten, unnatürlichsten Gerichte mit Heisshunger verschlingen. […] Die wenigen Lumpen, die sie noch am Leibe haben, hängen Tag und Nacht an ihnen, bis sie von selbst wegfallen […].» Über tausend Kinder aus dem betroffenen Glarner Hinterland mussten in der ganzen Schweiz bei Familien untergebracht werden, weil sie zu Hause nicht mehr ernährt werden konnten. Um die grösste Not zu lindern, organisierte Heer die Arbeit im Landesplattenberg in Engi neu, damit wieder Verdienst in die Dörfer kam und den Bau einer Fahrstrasse nach Schwanden, damit der Warentransport einfacher wurde.

Pestalozzis Anschauungsunterricht und politische Bildung

Vorbild Pestalozzi

Ein besonderes Anliegen war ihm, dass die Kinder Schulunterricht erhielten. Er gründete mit einem Vikar und einem zusätzlichen Lehrer im Pfarrhaus eine private Schule, die er im Sinne Pestalozzis führte. Als Anschauungsunterricht für den staatsbürgerlichen Unterricht nahm er mit seinen  Schülern an der jährlichen Näfelserfahrt und der Landsgemeinde teil.

Um den Schülern mehr Selbständigkeit zu ermöglichen, bildete er von 1823 bis 1826 im Pfarrhaus einen «Schülerstaat» mit einer Landsgemeinde.

Um den Schülern mehr Selbständigkeit zu ermöglichen, bildete er von 1823 bis 1826 im Pfarrhaus einen «Schülerstaat» mit einer Landsgemeinde. Vier 15 Jahre alte Knaben und Mädchen erliessen unter seiner Aufsicht Gesetze und Verordnungen und regelten die zahlreichen Pflichten und Ämter im grossen Haushalt sowie Fragen des Verhaltens und des Unterrichts.

Politische Freiheit ist für ein geistig unmündiges Volk ein Unding.

Ähnlich wie Pestalozzi lebte er seine Überzeugung: „Politische Freiheit ist für ein geistig unmündiges Volk ein Unding. Unausweichlich fällt es entweder der Vormundschaft einer Kaste an, die es oft für ihre besonderen Zwecke zu lenken versteht, oder es macht meist tolle Streiche. Nur ein durch Bildung und Erziehung zur Mündigkeit herangereiftes Volk wird seine Freiheit wohl bewahren und weise gebrauchen, um sein wahres Glück zu fördern.“

Neue Schulhäuser, bessere Lehrerbildung, Volksschule

In seiner Freizeit widmete er sich der Heranbildung junger Lehrer und setzte sich für den Bau von Schulhäusern ein. 1832 gründete er den kantonalen Glarner Schulverein. Als dessen erster Präsident setzte er sich für die Verbesserung des Schulwesens als staatliche Volksschule, für die Erstellung neuer Schulhäuser und für die Ausbildung geeigneter Personen zum Lehrerberuf sowie für die Einrichtung von Hilfsschulen für schwächere Schüler ein. Zwischen 1832 und 1844 wurden im Glarnerland 22 neue Schulhäuser gebaut.

Schon 170 Jahre vor John Hattie kam Heer zu folgender Erkenntnis: „Ein allseitig ausgebildeter, geistig und moralisch tüchtiger Lehrer ist die beste Schulmethode, das beste Schulbuch und das beste Schulgesetz“.

„Ein allseitig ausgebildeter, geistig und moralisch tüchtiger Lehrer ist die beste Schulmethode, das beste Schulbuch und das beste Schulgesetz“.

Dem tatkräftigen und zielbewussten Glarner Schulverein verdankte der Kanton, dass die Schulverhältnisse sich rasch verbesserten und dass 1835 durch das Volk an der Landgemeinde die Grundlagen für die staatliche Regelung derselben gelegt werden konnten. Noch um 1830 besuchte nur ein Drittel der Kinder regelmässig die Schule. Ab 1837 standen alle Schulen unter der Aufsicht des Kantons. Dieser machte den Schulbesuch bis zum 12. Altersjahr obligatorisch (Volksschule).

Vorbildliche Schulentwicklung

Im Sommerhalbjahr 1843 gab es im Kanton Glarus 6189 Schulkinder (4322 Alltagsschüler und 1867 Repetierschüler) von 5 ½ bis 14 Jahren, welche zum Schulbesuch verpflichtet waren: 20% der Glarner Bevölkerung war schulpflichtig, fast gleich viel wie in der Stadt Zürich, aber weit mehr als in den wichtigsten Ländern Europas wie Preussen 16%, England 8% und Frankreich 8%. 1843 gab es 51 Elementarschullehrer und eine Lehrerin. Bis auf wenige Ausnahmen hatten sie eine Ausbildung in Lehrerseminarien erhalten: 21 wurden in Kreuzlingen (1833 gegründet), 6 in Küssnacht (1832) und 2 in Esslingen D (1811) ausgebildet.

Philipp Emanuel Fellenberg berief Heer nach Hofwil, um Lehrer auszubilden

Heer wirkte auch als kantonaler Schulinspektor. Sein Ruf als praktischer Pädagoge und Methodiker führte dazu, dass ihn Philipp Emanuel von Fellenberg zur Leitung des Lehrerbildungskurses im Sommer 1834 in Hofwil berief. Von 1835 bis 1845 war er Mitredaktor bei der ersten grösseren pädagogischen Zeitschrift, den Allgemeinen schweizerischen Schulblättern.

Methodisches Lehrbuch des Denkrechnens

Sein 1836 erschienenes dreibändiges Methodisches Lehrbuch des Denkrechnens mit über 900 Seiten galt als Durchbruch einer rationellen Rechenmethode in der Volksschule. Es erhielt Anerkennung von Pädagogen und Seminardirektoren aus der ganzen Schweiz und dem Ausland und wurde in mehreren Kantonen eingeführt.

Rechenbuch von Heer: Besondere Aufmerksamkeit widmete Heer dem Zusammenhang zwischen Kopfrechnen und  schriftlichem Rechnen.

Das Werk war für die Volksschule gedacht und enthielt Lehrstoff für 6 bis 7 Schuljahre. Der erste Band war ein Lehrbuch („reine Zahlenlehre“) für das Kopfrechnen und schriftliche Rechnen und umfasste 415 Seiten. Der zweite Band schloss sich an den ersten Band an, in dem angewandte Aufgaben und Beispiele aus dem Alltag („angewandtes Rechnen“) auf 284 Seiten abgehandelt wurden. Der Inhalt umfasste Umrechnungen von Münzen, Massen und Gewichten (jeder Kanton hatte noch eigene Währungen, Masse und Gewichte), Anwendung der Multiplikation und Division, Flächen- und Körperberechnungen, Verhältnisse und Proportionen, Bruchrechnen, Zinsrechnung, Gewinn und Verlust, Prozentrechnen und Gesellschaftsrechnungen. Der dritte Band war ein Übungsbuch („Exempelbuch“), das mit dem Schlüssel 225 Seiten umfasste.

Aus der Praxis für die Praxis

Diese Schrift verdankte ihre Entstehung Heers mehr als dreissigjähriger Praxis und führte von den ersten Elementen bis zur wissenschaftlichen Arithmetik und Algebra. Befreundete Lehrer, welche schon ab 1811 schriftliche Leitfäden von Heer erfolgreich in ihren Schulen umsetzten, hatten ihn zur Veröffentlichung ermuntert ebenso wie der Erziehungsrat des Kantons Zürich, der das Werk allein wegen des Umfangs nicht als obligatorisch erklären konnte.

Der Lehrer leite bloss die Übungen und führe die Kinder durch zweckmässige Fragen so, dass sie die Gesetze, Regeln und Lösungen von selbst finden, wobei es selbstverständlich ist, dass er die nötigen Sacherklärungen gibt und durch Zwischenfragen nachhilft.

Besondere Aufmerksamkeit widmete Heer dem Zusammenhang zwischen Kopfrechnen und schriftlichem Rechnen sowie der  Verbindung zwischen reiner Zahlenlehre und der Anwendung. Für den Rechenunterricht auf der Elementarstufe empfahl  er eine gute, gründliche und dem Entwicklungsgrad des Kindes und der Natur des Gegenstandes angepasste Methode. Die Elementarstufe unterscheide sich von der wissenschaftlichen dadurch, dass sie vom Einzelnen, Besonderen, Konkreten ausgehe und nur langsam, lückenlos und stufenweise unter ständiger Berücksichtigung der allmählich erstarkenden kindlichen „Fassungskraft“ und des gewonnenen Standpunktes vom Anschaulichen zum Begrifflichen, vom Einzelnen und Besonderen zum Allgemeinen, vom Konkreten zum Abstrakten fortschreite und dann erst nach erstiegener Höhe die Definitionen und allgemeinen Sätze als letztes, selbstgefundenes Resultat hinstelle. Der Lehrer leite bloss die Übungen und führe die Kinder durch zweckmässige Fragen so, dass sie die Gesetze, Regeln und Lösungen von selbst finden, wobei es selbstverständlich ist, dass er die nötigen Sacherklärungen gibt und durch Zwischenfragen nachhilft.

Fazit

Wenn wir die Frage beantworten wollen, ob unsere Volksschule noch fortschrittlich ist, müssen wir die bisherigen Zustände kennen, damit wir vergleichen können. Ohne diesen Vergleich laufen wir Gefahr, dass der Fortschrittsbegriff bei angestrebten Neuerungen den betreibenden Interessengruppen zur Rechtfertigung und Durchsetzung ihrer Ideen dient, unabhängig von ihrem tatsächlichen Nutzen.

Peter Aebersold

 

Quellen:

Methodisches Lehrbuch des Denkrechnens, sowohl im Kopfe als mit Ziffern, für Volksschulen. Erster Theil. Die reine Zahlenlehre, methodisch dargestellt für Volksschulen. Verlag Friedrich Schulthess, Zürich 1836

Oswald Heer, J. J. Blumer-Heer: Schulwesen. In: Der Kanton Glarus, historisch-geographisch-statistisch geschildert von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Huber und Compagnie, St. Gallen 1846, Seiten 522–538.

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