Rolle des Lehrers - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 29 Jan 2023 16:53:09 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Rolle des Lehrers - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Basler Lehrer spricht über schwierige Zustände und Gewalt im Klassenzimmer https://condorcet.ch/2023/01/basler-lehrer-spricht-ueber-schwierige-zustaende-und-gewalt-im-klassenzimmer/ https://condorcet.ch/2023/01/basler-lehrer-spricht-ueber-schwierige-zustaende-und-gewalt-im-klassenzimmer/#comments Sun, 29 Jan 2023 16:53:09 +0000 https://condorcet.ch/?p=12994

Was ist in den Schulzimmern los, dass viele Lehrpersonen die Wiedereinführung von Kleinklassen fordern? Markus Harzenmoser, Mitglied des Initiativkomitees für Förderklassen und Primarlehrer, gewährt Einblick. Wir schalten ein Interview der Tamedia-Journalistin Dina Sambar mit dem Basler Primarlehrer Markus Harzenmoser auf, das in der Basler Zeitung erschienen ist.

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Tamedia-Journalistin Dina Sambar führte das Interview.

Herr Harzenmoser, wie muss ich mir die aktuellen Probleme im Klassenzimmer ganz konkret vorstellen?

Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele. Ich hatte einen Erstklässler, der aus Ohnmacht und Wut einen Tisch umgeworfen und mich und andere Lehrpersonen getreten und geschlagen hat. Meine Brille musste auch schon dran glauben. Ein anderer verprügelte auf dem Pausenhof Kinder, weil sie nicht mehr mit ihm Frisbee spielen wollten. Danach ist er weggerannt und hat sich wie ein geschlagener Hund irgendwo im Quartier versteckt. Ein Junge ertrug es nicht, wenn wir sangen und es gemeinsam schön hatten. Er begann dann immer herumzuschreien. Ein Schüler rastete aus, wenn man ihn auf Fehler aufmerksam machte. Er zerriss das Papier und ass es. Zudem habe ich von einer Klasse gehört, in der sogar Scheren herumgeworfen wurden.

Sie sind seit 38 Jahren Lehrer. Früher gab es sicher auch herausfordernde Kinder.

Stimmt. Doch die Anzahl hat stark zugenommen. In jeder Klasse gibt es heute zwei bis vier Kinder, die sich sehr auffällig verhalten. Fast jede 1. und 2. Primarklasse hat eine Klassenassistenz – meist ein Zivildienstler –, der die Kinder beruhigt, wenn es brodelt. Diese Kinder beanspruchen auch einen grossen Teil der Aufmerksamkeit der Lehrperson. Das geht auf Kosten der anderen 17, 18 Schülerinnen und Schüler. Das ist nicht gut.

Wie reagieren die restlichen Kinder auf ihre verhaltensauffälligen Schulkameraden und -kameradinnen?

Es gibt Kinder, die halten das gut aus. Andere schalten einfach ab. Und dann gibt es Kinder, die damit beginnen, Aufmerksamkeit auf die gleiche Art und Weise einzufordern. Es ist, wie wenn im Coop zwei Äpfel in der Früchtekiste faul sind. Lässt man sie drin, hat man bald eine Kiste voller fauler Äpfel. Tönt hart, kann aber passieren.

Deshalb müsste es Ihrer Meinung nach wieder Förderklassen für verhaltensauffällige Kinder geben.

Das Verrückte ist, die Kinder können nichts dafür, dass sie so sind. Es gibt immer Gründe dafür. Ich finde, sie haben ein Recht darauf, so sein zu dürfen. Allerdings braucht es dafür einen Ort, an dem sie die anderen Schülerinnen und Schüler nicht stören. In kleinen Klassen mit sechs bis acht Kindern und zwei, drei heilpädagogisch ausgebildeten Lehrpersonen würde sich ihr Verhalten beruhigen. Man könnte fast sagen, die Seele der Kinder käme so zur Ruhe. Als ich vor 38 Jahren im Kleinbasel zu unterrichten begann, gab es das noch. Die heilpädagogisch ausgebildeten Lehrpersonen waren für die Kinder wichtige Bezugspersonen. Sie waren ihre Anker. Später können sie locker zurück in die Regelklasse.

    «Kindern, die psychisch und seelisch vernarbt und angeschlagen sind, macht man keinen Gefallen, wenn man sie in grosse Klassen steckt, bevor sie zur Ruhe gekommen sind.»

Haben Sie ein Beispiel?

Ich hatte einen Jungen in meiner Klasse, der aus einem Kriegsgebiet geflüchtet war. Seine Mutter erhielt hier aber keinen Aufenthaltsstatus und beging Suizid. Er war der Junge, der immer geschrien hat, wenn wir gemeinsam sangen. Er war «sprachlos», hatte keine Worte, um auszudrücken, was in ihm vorgeht. Sein Verhalten hat andere Kinder angesteckt. Wir haben ihn in das SpA (Heilpädagogisches Spezialangebot, Anm. d. Red.) geschickt. Mittlerweile ist er wieder in der Regelklasse und ist eine coole Socke geworden – weil sie in der SpA viel mehr Zeit für ihn hatten.

Eben, es gibt doch bereits Spezialangebote, bei denen Kinder in kleinen Klassen unterrichtet werden.

Die SpA ist tatsächlich dem von uns Geforderten sehr ähnlich. Es bräuchte einfach viel mehr davon. Integration in Regelklassen ist für Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen ein super Ansatz. Aber Kindern, die psychisch und seelisch vernarbt und angeschlagen sind, macht man keinen Gefallen, wenn man sie in grosse Klassen steckt, bevor sie zur Ruhe gekommen sind.

    «Ich sehe immer mehr Eltern, die nicht mehr wissen, was es bedeutet, Kinder zu erziehen.»

Weshalb sind die Kinder überhaupt verhaltensauffällig?

Sie sind psychisch angeschlagen und noch nicht reif für die Schule. Sie haben beispielsweise nicht gelernt, Fehler zu machen und Misserfolge auszuhalten. Sie können nicht damit umgehen, dass es Kinder gibt, die schneller, besser und schlauer sind. Manche sind angeschlagen, weil sie unter einem sehr grossen Erwartungsdruck stehen, den die Eltern, die Gesellschaft oder sie sich selbst auferlegen.

Und weshalb hat Ihrer Meinung nach die Anzahl so zugenommen?

Abgesehen von den tragischen Schicksalen sehe ich auch immer mehr Eltern, die nicht mehr wissen, was es bedeutet, zu erziehen. Sie meinen es sehr gut mit ihren Kindern, erlauben ihnen alles und räumen ihnen jedes Steinchen aus dem Weg. So lernen die Kinder nicht, mit Misserfolgen umzugehen, die Spielregeln des sozialen Umgangs einzuhalten oder gestellten Anforderungen nachzukommen. Ich hatte viele Kinder in der Klasse, die keinen Purzelbaum machen, nicht über ein Bänkli gehen oder Bälle fangen können. Das sind nicht nur vernachlässigte Kinder, sondern auch überbehütete.

Die Eltern sind schuld?

Nein. Man kann nicht einfach den Eltern die Schuld geben. Die hatten ja auch schon Eltern, die sie zu dem erzogen haben, was sie heute sind. Irgendetwas stimmt in der Gesellschaft nicht mehr.

     “Die Ausbildung der Lehrpersonen ist für die Situation in den heutigen Klassenzimmern nicht passend.”

Welche Rolle spielen die Lehrpersonen?

Es ist traurig, zu sehen, dass viele junge Lehrpersonen schwimmen und ins Burn-out geraten. Eigentlich sind sie nach fünf Jahren aufgebraucht. Viele wechseln den Beruf. Dabei ist das ein so toller Job. Ich behaupte, das hat auch damit zu tun, dass sie nicht gut vorbereitet sind. Die Ausbildung ist für die Situation in den heutigen Klassenzimmern nicht passend. Die angehenden Lehrpersonen lernen tonnenweise Theorie. Doch sie haben nie selbst erlebt, wie man mit schwierigen Kindern oder Eltern umgeht. Das beginnt sich jetzt zum Glück wieder zu ändern.

Die geforderten Förderklassen klingen demnach wie Symptombekämpfung. Könnte das integrative Modell, bei einer richtigen Ausbildung und mit genügend Ressourcen, nicht auch ohne funktionieren? Studien zeigen, dass integrative Modelle für alle Kinder viele Vorteile haben.

Grundsätzlich finde ich den integrativen Gedanken gut. Doch für die Situation, in der wir uns jetzt befinden, sind Förderklassen der schnellstmögliche und hilfreichste Weg für alle Betroffenen. Parallel dazu muss aber auch die Ausbildung angepasst und müssen mehr Heilpädagoginnen ausgebildet werden. Nur das integrative Modell zu verbessern, geht mir zu langsam.

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Streitgespräch zu integrativer Schule https://condorcet.ch/2023/01/streitgespraech-zu-integrativer-schule/ https://condorcet.ch/2023/01/streitgespraech-zu-integrativer-schule/#comments Fri, 27 Jan 2023 11:56:54 +0000 https://condorcet.ch/?p=12980

Der Ruf nach Kleinklassen wird schweizweit immer lauter. Was bedeutet das für die integrative Schule? Eine Kontroverse zwischen dem Bildungsforscher Andrea Lafranchi und dem Lehrer und Präsidenten der Basler Schulsynode, Jean-Michel Héritier. Das Interview führte die Journalistin Alessandra Paone.

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Alessandra Paone, Journalistin in der BAZ.

Ist die integrative Schule am Ende?

Jean-Michel Héritier: Nein, aber es braucht endlich wirkungsvolle Verbesserungen.

Andrea Lanfranchi: Sie ist nicht am Ende, sie steht am Anfang.

Und das, obwohl sie vor 15 Jahren eingeführt wurde?

Lanfranchi: Ja. Heute können wir sagen, dass die integrative Schule nicht optimal eingeführt wurde und besser werden muss. In Zürich dauerte die Weiterbildung der Lehrkräfte drei Nachmittage. Ich war damals einer dieser armen Kerle, die am Mittwochnachmittag von Schulhaus zu Schulhaus pilgerten und erklärten, wie der integrative Unterricht aussehen müsste.

Integration zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Woran krankt die integrative Schule?

Lanfranchi: Die Belastung hat zugenommen: Die Klassen sind tendenziell grösser, die Kinder dominanter als früher, und auch die Eltern sind anspruchsvoller und kritischer geworden. Ein weiteres Problem ist, dass es für jedes Unterstützungsangebot, ob Begabungsförderung, Heilpädagogik oder Deutsch als Zweitsprache, eine Ansprechperson gibt. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen alles selbst koordinieren. Eine Bündelung der Hilfestellungen ist nötig und wird die Arbeit der Lehrkräfte erleichtern. Hinzu kommt, dass die schulische Heilpädagogik effizienter und effektiver werden muss. Sie kommt in vielen Fällen nicht in der nötigen Qualität beim Kind an.

Professor Andrea Lafranchi: Das wird uns Kilometer zurückwerfen.

Genügende Ressourcen sind die Bedingung dafür, dass die integrative Schule funktioniert. Der Mangel an Heilpädagoginnen ist schon länger ein Thema, wieso hat man nichts dagegen unternommen?

Lanfranchi: Der Mangel ist das eine. Dagegen hat zum Beispiel die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Massnahmen ergriffen und neue Zulassungsbedingungen geschaffen, damit sich mehr Interessierte einschreiben und das Studium absolvieren können. Es braucht aber auch eine Neujustierung auf dem Feld, sodass die Ressourcen nicht mit der Giesskanne auf alle Klassen verteilt werden, sondern nach dem spezifischen Bedarf besonders belasteter Klassen in genügender Menge ausgerichtet werden.

Héritier: Das Berufsbild der Heilpädagogin hat sich durch die integrative Schule grundlegend verändert. Früher waren dies die besonders guten Lehrpersonen, die die schwierigsten Klassen unterrichteten. Heute fördern sie punktuell einzelne Kinder oder kleine Lerngruppen während einzelner Lektionen. Natürlich ist das Renommee dieser Profession dadurch nicht gestiegen.

Jean Héritier: Wir wollen nicht zurück, aber wir müssen das Modell der Realität anpassen.

Lanfranchi: Das stimmt. Die Zerstückelung der Lektionen schadet dem Beruf. Eine Neuorganisation der Heilpädagogik ist daher zwingend. In der kleinen Zürcher Gemeinde Stadel betreut zum Beispiel eine Heilpädagogin mit einem 80-Prozent-Pensum zwei parallele Regelklassen. Die beiden Klassenlehrerinnen, die eng zusammenarbeiten, haben also eine dritte Lehrperson, die sie tatkräftig im Unterricht unterstützt und auch hilft, schwierige Situationen zu bewältigen. Das Modell hat sich sehr bewährt.

Eine Neuorganisation der Heilpädagogik ist zwingend.

Die Lehrkräfte hatten schon bei der Einführung 2008 Vorbehalte und warnten vor überlasteten Schulen. Wieso hat man nicht auf sie gehört?

Héritier: In Basel-Stadt waren anfänglich die meisten eher zuversichtlich gestimmt. Uns Lehrerinnen und Lehrern waren damals gute Gelingensbedingungen für die integrative Schule versprochen worden. Dafür hatten wir offiziell unverzichtbare Konditionen wie kleinere Klassen, mehr Schulraum, weniger Pflichtlektionen, keine Selektion innerhalb der Volksschule, genügend adäquat ausgebildetes Personal und weniger komplizierte administrative Abläufe definiert. Aber davon wurde bis heute kaum etwas umgesetzt.

Stattdessen haben wir lange ideologische Debatten darüber geführt, welche die richtige pädagogische Haltung zur Integration ist.

Lanfranchi: Ich streite auch nicht ab, dass eine Verbesserung nötig ist. Eine Rückkehr zum früheren System der Sonder- und Kleinklassen, wie ich es als Lehrer in Graubünden und als Schulpsychologe in der Stadt Zürich erlebt habe, ist aber keine Lösung.

Genau in diese Richtung scheint es nun aber zu gehen. Laut einer Tamedia-Umfrage wünscht sich die Wählerschaft in Zürich die Kleinklassen zurück. Im Kanton Bern stellt das Parlament dieselbe Forderung. Und in Basel-Stadt kämpft Herr Héritier mit einer Initiative an vorderster Front für Förderklassen.

Héritier: Im Schulzimmer sind strukturelle Anpassungen an die Realität überfällig – das zeigen auch Daten, die die Freiwillige Schulsynode Basel-Stadt (Berufsverband der Lehrkräfte, Anm. d. Red.) bei Lehrerinnen und Lehrern erhoben hat.

Lanfranchi: Ja, aber die Wiedereinführung von Sonderklassen wird die Schule keinen Millimeter vorwärtsbringen, sondern Kilometer zurückkatapultieren.

Die Kritik, dass die Diskussionen über die integrative Schule ideologisch geprägt seien, richtet sich vor allem gegen Bildungsexperten. Was sagen Sie dazu, Herr Lanfranchi?

Lanfranchi: In der Forschungssituation hat sich in den vergangenen 15 Jahren nichts Wesentliches verändert. Es ist einerseits erwiesen, dass Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen schneller und besser lernen, wenn sie mit leistungsstärkeren Kindern zusammen sind. Andererseits sind leistungsstarke Kinder in Integrationsklassen nicht benachteiligt – im Gegenteil: Studien belegen, dass ihre Lernfortschritte grösser sind als bei leistungsstarken Kindern in homogenen Klassen. Das ist keine Ideologie, das sind Forschungsergebnisse, die auf Zahlen beruhen.

Andere Studien belegen wiederum, dass lernschwache Kinder und Jugendliche, die in der Regelklasse geschult werden, eine tiefere Selbsteinschätzung haben als ihre gleichaltrigen Kolleginnen und Kollegen in Sonderklassen.

Lanfranchi: Das stimmt, von den vielen positiven Befunden, die für die Integration sprechen, ist dies der einzige negative Effekt. Führt die Konfrontation mit den Besten nicht aber zu einem realistischen Selbstbild, das so oder so nötig ist beim Eintritt in die Berufsbildung?

Héritier: Der aktuelle Selektionsdruck führt gerade sehr leistungsschwachen Kindern täglich vor Augen, dass andere viel besser sind als sie. Sie werden stigmatisiert. Ich mache Ihnen ein Beispiel: In meiner früheren Klasse gab es Schülerinnen und Schüler, denen ich wegen ihrer ungenügenden Leistung schlechte Noten geben musste. Sie fühlten sich deshalb schlecht. Nun besuchen sie das tiefere Leistungsniveau der Sekundarschule und berichten regelmässig freudig über gute Noten. Was ich damit sagen will: Es braucht immer ein Setting, das an die individuellen Bedürfnisse angepasst ist. Nicht für alle ist dasselbe das Richtige.

Nicht für alle ist dasselbe das Richtige.

Jean-Michel Héritier

Lanfranchi: Genau, und deshalb wird auch nicht mehr im Gleichschritt unterrichtet. Es gelingt den meisten Lehrkräften, den Unterricht so zu gestalten, dass niemand blossgestellt wird und eine Kultur des gegenseitigen Respekts entsteht. Wird zum Beispiel ein leistungsschwaches oder verhaltensauffälliges Kind vor der ganzen Klasse gelobt, wenn es Fortschritte macht, stärkt das einerseits sein Selbstwertgefühl und motiviert andererseits die anderen Schüler dazu, ihren Kollegen anzuspornen.

Héritier: Da sind sie wieder, die ideologischen Diskussionen über die pädagogische Haltung der Lehrerinnen und Lehrer. Ich kann Ihnen versichern, wir Lehrer machen sehr viel: Wir besuchen Kurse um Kurse, gründen Selbstreflexionsgruppen und pädagogische Teams, die eng zusammenarbeiten und sich gegenseitig stärken, und optimieren uns ständig. Das strukturelle Problem bleibt jedoch bestehen. Es fehlen Möglichkeiten, die erlauben, eine Schülerin oder einen Schüler temporär aus einer Klasse herauszunehmen, um zu überprüfen, ob das Setting für diese Person stimmt, ohne dass der Unterricht aussetzt oder gar zusammenbricht.

Laut Umfragen unter Lehrkräften sind verhaltensauffällige Schüler, die den Unterrichtsbetrieb erschweren bis verunmöglichen, einer der grössten Belastungsfaktoren. Teilen Sie diese Meinung, Herr Héritier?

Héritier: Ja, dort liegt der springende Punkt für das Gelingen der integrativen Schule. Vor allem die Gruppe der sozioemotional auffälligen Schülerinnen und Schüler findet im heutigen Schulsystem häufig zu wenig geeignete Unterrichtssettings vor, die für ihre Entwicklung förderlich wären. Sie sind oft überfordert und blockieren ganze Unterrichtssequenzen. Da wird es für die Lehrpersonen enorm schwierig, ihrem Bildungsanspruch gerecht zu werden. Es kommt zu einem «Schwelleneffekt», bei dem das System der integrativen Schule kippt und kein geordneter Unterricht mehr möglich ist.

Gewisse Schulen setzen auch auf Time-out-Klassen oder Schulinseln, wo Schüler in Krisensituationen temporär separat beschult werden. Wie gut sind solche Lösungen?

Lanfranchi: Sie sind gut. Kinder, die auf eine Schulinsel kommen oder in ein Time-out geschickt werden, sind noch ihrer Regelklasse zugeteilt; sie kehren nach einigen Wochen oder Monaten wieder zurück. Diese Angebote dienen vor allem der Entlastung der Lehrpersonen.

Héritier: Nicht nur, sie sind auch für die betroffenen Kinder und das gesamte Setting eine Entlastung. Auf die Schnelle ist das für mich ein erster Schritt in die richtige Richtung. Das sind aber noch keine langfristigen und vor allem keine nachhaltigen Lösungen, die eine präventive Wirkung entfalten können. Deshalb fordern wir in Basel Förderklassen.

«In 15 Jahren sitzen in diesen Förderklassen hauptsächlich Kinder mit Migrationshintergrund.»

Andrea Lanfranchi

Wie sollen Sonderklassen das Problem lösen?

Héritier: Ich betone, dass wir weder Sonder- noch Kleinklassen wollen – niemand möchte zum alten, starren Modell zurück. Uns schwebt ein durchlässiges und niederschwelliges Modell vor, das während mehrerer Monate oder maximal ein bis zwei Jahren eine gewisse Separation erlaubt, gleichzeitig aber ermöglicht, dass Kinder rasch und unbürokratisch wieder in die Regelklasse zurückkehren können.

Lanfranchi: Darf ich Ihnen dazu ein paar Fragen stellen?

Héritier: Bitte.

Lanfranchi: Wer gehört in eine solche Förderklasse?

Héritier: Sozioemotional auffällige Schülerinnen und Schüler mit einem normalen IQ und ohne Anspruch auf IV, die in einer Regelklasse überfordert sind. Diese Kinder erleben wegen ihres Verhaltens ständig, dass sie anders sind. Damit sie aus diesem Teufelskreis herauskommen, sich auch einmal anders spüren und als Mensch wachsen können, müssen wir ihnen Schonräume bieten.

Lanfranchi: Wer entscheidet, wer in eine solche Klasse kommt, und aufgrund von welchen Kriterien?

Héritier: Die Lehrkraft stellt den Antrag, der von einer Fachstelle, zum Beispiel vom schulpsychologischen Dienst, geprüft wird.

Lanfranchi: Was passiert, wenn die Eltern mit dem Entscheid nicht einverstanden sind?

Héritier: Beim Modell der Kleinklassen war das Einverständnis der Eltern Bedingung. Bei den Förderklassen soll der Entscheid ebenfalls gemeinsam mit den Eltern gefällt werden.

Lanfranchi: Das Zielpublikum sollen verhaltensauffällige Kinder sein. Wir wissen aber aus soliden Studien, dass für diese Kinder soziale Kontakte mit Kindern ohne Verhaltensauffälligkeiten das wichtigste Förderkriterium sind. Wenn jedoch die Lehrerin oder der Lehrer die einzige Person mit angepasstem Verhalten ist, werden diese Kinder kaum gefördert. Sie sagen, dass Sie nicht zum alten Modell der Kleinklassen zurückkehren möchten. Ich befürchte aber, dass genau das passieren wird.

«Wenn wir aber von Anfang an den Teufel an die Wand malen, dann wird es nicht funktionieren.»

Jean-Michel Héritier

Was wäre so schlimm daran?

Lanfranchi: In 15 Jahren sitzen in diesen Förderklassen hauptsächlich Kinder mit Migrationshintergrund, die wegen ihrer ethnischen Herkunft, der Sprache und der sozialen Schicht diskriminiert werden. Eltern, die sich wehren können und finanzielle Möglichkeiten haben, werden ihre Kinder in eine Privatschule schicken. Die Kinder jener Eltern, die sich weder wehren können noch Geld haben, landen in dieser Klasse …

Héritier: … und werden dort vielleicht besser geschult als in ihrer aktuellen Klasse, wo sie andauernd stigmatisiert werden, weil es heisst: Du bist nicht gut, du genügst nicht oder dein Verhalten ist nicht richtig.

Lanfranchi: Aber solche Lehrerinnen, die ein Kind aufgrund seiner Leistungen stigmatisieren, haben in unserem Schulsystem nichts verloren.

Héritier: Das machen die Lehrpersonen nicht bewusst. Die Stigmatisierung ergibt sich aus der Situation heraus, weil zum Beispiel immer dasselbe Kind die Frage nicht verstanden hat und ausgelacht wird. Fakt ist, dass die integrative Schule in der heutigen Form selbst mit der besten und positivsten Haltung der Lehrperson nicht immer funktioniert.

Sonderklassen wie die von Ihnen geplanten Förderklassen sind mit einem Stigma behaftet. Wie wollen Sie das ändern, Herr Héritier?

Héritier: Wir müssen die Vorteile dieses Modells aufzeigen und bereit sein, die nötigen Untersuchungen durchzuführen, um die bestmögliche Lösung zu erreichen. Wenn wir aber von Anfang an den Teufel an die Wand malen, dann wird es nicht funktionieren. Unser Anliegen ist es, dass das, wovor Herr Lanfranchi warnt, eben nicht eintrifft.

Lanfranchi: Früher sprach man von Sonderklassen, später wurde die euphemistische Bezeichnung Kleinklassen eingeführt, um die Eltern zu besänftigen. Und neu sollen sie Förderklassen heissen. Der Name ändert sich, das Prinzip bleibt dasselbe: Die Kinder werden getrennt statt vereint. Internationale, nationale und kantonale Gesetze plädieren für eine Schule für alle, das ist auch eine ethische Position. In der Präambel unserer Verfassung steht: «Gewiss, dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.»

Héritier: Ich habe diese ideologischen Diskussionen satt. Das Bild, das teilweise in der Politik von der früheren Kleinklasse gezeichnet wird, stimmt nicht in jedem Fall. Ein Beispiel aus Basel ist der beste Beweis dafür: Als der Bildungsdirektor im Parlament davon sprach, dass in Kleinklassen alle stigmatisiert worden seien und niemand eine Anschlusslösung gefunden habe, outete sich ein Grossrat und Präsident einer namhaften Partei als ehemaliger Kleinklassenschüler.

Dieses Interview erschien zuerst in den Tamedia-Medien

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Grün-gelbe Ge[h]danken https://condorcet.ch/2022/02/gruen-gelbe-gehdanken/ https://condorcet.ch/2022/02/gruen-gelbe-gehdanken/#respond Tue, 15 Feb 2022 09:50:15 +0000 https://condorcet.ch/?p=10551

Er führte uns hinaus in die Natur, lehrte uns staunen und brachte uns so auf neue Ge[h]danken. Unser Primarlehrer war gelber Wanderpionier und ein Grüner avant la lettre. Hommage an einen Pädagogen von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard: Stocker war wertkonservativ und mit seiner nonkonformistischen Haltung vielleicht sogar progressiv.

«Trau keinem Gedanken, den du nicht im Freien ergangen hast.» Der Gedanke stammt von Friedrich Nietzsche. Stundenlang ist der Philosoph gewandert. Viele seiner Ideen sind ihm beim Gehen gekommen, so am Silsersee im Engadin. Es waren Ge[h]danken – migrantes Denken sozusagen. Wie einst die Peripatetiker im alten Griechenland, die in ihren Wandelhallen auf- und ab spazierten, denkend, diskutierend, debattierend. Und Nietzsche fügte bei: «Alle Vorurteile kommen aus den Eingeweiden. – Das Sitzfleisch ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.»[i]

Die jungen Menschen zu Verstehenden machen

Ob unser Primarlehrer seine 40 Schüler gegen diese Sünde immunisieren wollte, weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass er die Natur über alles liebte und uns immer wieder nach draussen führte. «Hinaus, hinaus ins Freie! – So werden eure Gedanken frei.» Mit diesem Satz lotste uns der passionierte Wanderer in die Natur – während vieler Stunden. Das Fach Natur- und Heimatkunde lebte er mit allen Fasern seines Herzens. Da war nichts Papierenes, da gab es keine Arbeitsblätter. Nein, da gab es unvergessliche Momente des Staunens und Verstehens. Heureka-Erlebnisse! Und wie unser Lehrer erzählen konnte! Gebannt hörten wir dem (Mundart-)Dichter und Theaterautor zu, gespannt hingen wir an seinen Lippen, begeistert waren wir bei der Sache. Im Klassenzimmer zeichneten und schrieben wir auf, was wir Neues vernommen hatten. Er kontrollierte und korrigierte, erklärte und vertiefte und machte uns so zu Verstehenden.

So machte er die grossen Dinge dieser Welt wieder überschaubar und uns Kleinen verständlich.

Zwei Optiken kannte unser 3./4.-Klasslehrer: einen Vergrösserungsspiegel für die winzigen Dinge der Natur. So weckte er in uns die Ehrfurcht vor dem Kleinen und Unscheinbaren. Noch heute weiss ich, wie er uns zu diesen Naturphänomenen führte und uns am Beispiel der Haselstaude die Windblütler erklärte – und den Unterschied zu den Insektenblütlern. Nicht das Sichtbare wiedergeben, sondern sichtbar machen wollte er – und uns so Hintergründiges im Vordergründigen erkennen und verstehen lassen. Und er besass natürlich ein Verkleinerungsglas. So machte er die grossen Dinge dieser Welt wieder überschaubar und uns Kleinen verständlich.

 

Fridolin Stocker, 1898 – 1964: Sein Steckenpferd waren Wanderungen in der näheren und weiteren Welt.

Wanderpionier und Radiomoderator

Sein Steckenpferd waren Wanderungen in der näheren und weiteren Welt. «Chum Bueb und lueg dis Ländli ah!», rief er uns jeweils zu, wenn er uns hinausführte. Wir waren ja auch lauter Knaben. Und so tönte es ab 1961 jeden Freitag auf Radio Beromünster. Unser Lehrer Fridolin Stocker (1898-1964) war Initiant und Moderator der beliebten Radiowanderungen. Sein Lockruf wirkte. Hunderte, manchmal gegen 1500 Naturfreunde durchstreiften Sonntag für Sonntag unser Land. Die «Rotsocken», wie man die Wandervögel damals auch bezeichnete, folgten Fridolin Stockers Routenvorschlägen und den gelben Wegweisern.

Kein Wandern in Staubwolken und Abgasschwaden

Diese freundlich leuchtenden Schilder mit der schwarzen Schrift gehen ebenfalls auf die Initiative eines Primarlehrers zurück, auf Johann Jakob Ess aus Meilen. Die Idee kam ihm bei einer Schulreise über den Klausenpass vom Urner Schächental ins Glarnerland. Seine Kinder mussten auf der gefährlichen und schmutzigen Autostrasse wandern – inmitten von Staubwolken und Abgasschwaden. Benzin war für ja für viele das Parfum des Fortschritts.

Heute stehen zwischen Genf und Romanshorn, zwischen Basel und Campocologno im Puschlav rund 50’000 solcher Wander-Wegweiser. Sie signalisieren über 65’000 Wegkilome-ter.

Er wollte nun Wege für Wanderer markieren. Dazu gründete er Mitte der 30er-Jahre einen nationalen Verband. Langsam entstand ein schweizweites Wanderwegnetz. Allerdings wurden die gelben Tafeln während des Zweiten Weltkrieges auf Befehl der Armee entfernt. Sie hätten allfälligen Besatzern die Orientierung erleichtert. Das war damals. Heute stehen zwischen Genf und Romanshorn, zwischen Basel und Campocologno im Puschlav rund 50’000 solcher Wander-Wegweiser. Sie signalisieren über 65’000 Wegkilometer.

 

Pädagogik hat nur einen Indikator: das Lernen der Kinder

Der «Wandervater» Fridolin Stocker machte das Wandern populär. Er publizierte Wanderbücher und kulturelle Beiträge für Zeitungen, Zeitschriften und das Radio. Dabei blieb er immer Lehrer. Für die Schule schrieb er Gedichte und Geschichten, Theaterstücke und Prosatexte. Der Unterrichtsalltag war seine Basis, die Erfahrung «vor Ort» verlieh ihm Flügel. Das spürten wir. Seine pädagogische Arbeit hatte nur einen wirklichen Indikator: das Lernen seiner Schüler. Etwas machte es ihm leicht: seine Begeisterungsfähigkeit. Sie ist vielleicht die entscheidende Gelingensbedingung der Praxis.

Wanderungen und Naturerkundungen hatten nur einen wirklichen Indikator: das Lernen seiner Schüler.

Dabei blieb sich Fridolin Stocker selbst treu: der Heimat und der Natur verbunden, wertkonservativ und mit seiner nonkonformistischen Haltung vielleicht sogar progressiv. Heute wäre er wohl ein Grüner. Rastlos war er tätig, unermüdlich unterwegs. Bis zuletzt. Stockers letzte offizielle Radiowanderung mit rund 1’000 Wanderfreunden führte ins Obwaldnerland – kurz vor seinem unerwarteten Tod. Ein Kalksteinfindling am Seeweg bei Sachseln erinnert an den Wanderer Fridolin Stocker. Auf dem Zuger Gottschalkenberg verweist ein zweiter grosser Gedenkstein auf diesen engagierten Pädagogen und unermüdlichen Förderer des Wanderns.

«Nur die ergangenen Gedanken haben Wert»

 Wie sehr unser Lehrer das Draussen liebte, zeigte sich auch in der Aufsatzstunde. Beim Schreiben und Texten ginge es wohl besser, wenn wir vorher etwas gingen!, meinte er augenzwinkernd. Und so führte er uns vor Aufsätzen jeweils hinaus vors Schulhaus. Hier gab er uns das Thema. Spazierend und sprechdenkend formulierten wir auf dem grossen Pausenplatz unsere Ge[h]danken.

Das Schreiben ging nachher wahrlich leichter. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hätte uns vielleicht zugeflüstert: «Nur die ergangenen Gedanken haben Wert.» Denn er, der Peripatetiker, wusste: «Das geklemmte Eingeweide verrät sich, darauf darf man wetten, ebenso wie sich Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge verrät.»[ii] Aus dieser Enge wollte uns Fridolin Stocker hinausführen. Dafür bin ich ihm noch heute dankbar.

Gedenkstein für Fridolin Stocker am Seeweg bei Sachseln/OW (Foto: Carl Bossard)

[i] Friedrich Nietzsche (2000), Langsame Curen. Ansichten zur Kunst der Gesundheit. Hrsg. von Mirella Carbone und Joachim Jung. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder, S. 47.

[ii] Friedrich Nietzsche (2012), Die Kunst der Gesundheit. Hrsg. von Mirella Carbone und Joachim Jung. Freiburg/München: Verlag Karl Alber, S. 46.

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Was ist eine gute Lehrperson? https://condorcet.ch/2022/01/was-ist-eine-gute-lehrperson/ https://condorcet.ch/2022/01/was-ist-eine-gute-lehrperson/#respond Mon, 10 Jan 2022 14:34:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=10310

Das Interview, das Chefredakteur des Nebelspalters mit Alain Pichard führte, veranlasste unseren Condorcet-Autor Felix Schmutz zu einem Beitrag über die ewige Frage: "Was ist eine gute Lehrerin oder ein guter Lehrer? Er plädiert letztendlich auf einen Mix, befürchtet allerdings, dass im Zeitgeist der Kompetenzraster die Fachkompetenz der Lehrperson auf der Strecke bleibt.

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Felix Schmutz, BL:
Eine starre Rezeptologie, Gebote und Verbote sind der falsche Weg.

In seinem Nebelspalter-Interview stellt Markus Somm Alain Pichard die Frage, was eine gute Lehrperson sei. Nach Somms eigener Auffassung sind gute Lehrer solche, die charismatisch und begeisternd auf Schüler wirken. Alain Pichard entgegnet, es sei nicht nachgewiesen, dass solche Lehrerinnen oder Lehrer nachhaltigeres Lernen auslösten als andere.

Die Frage nach dem «guten Lehrer» ist eng mit einer anderen verknüpft: Was ist guter Unterricht? Oder neudeutsch: Was genau ist «best practice»? Seit Jahren beschäftigen sich Pädagogik und Instruktionspsychologie mit dem Problem. Nach A. Helmke (2003) kennzeichnen folgende Merkmale den guten Unterricht:

  1. eine effiziente Klassenführung
  2. ein lernförderliches Unterrichtsklima
  3. vielfältige Motivierung
  4. Strukturiertheit und Klarheit
  5. Wirkungs- und Kompetenzorientierung
  6. Orientierung an den Schülern
  7. Förderung des aktiven, selbstständigen Lernens
  8. Variation von Methoden und Sozialformen
  9. Konsolidierung, Sicherung, intelligentes Üben
  10. Umgang mit Heterogenität und gute Passung

Damit wäre auch gesagt, über welche Fähigkeiten ein «guter» Lehrer verfügen müsste, nämlich solche, die diesen Anforderungen gerecht werden können. Ähnliche Merkmalskataloge finden sich auch bei Jere Brophy (2002), Hilbert Meyer (2004), John Hattie (2011) und Andreas Gold (2015). Es scheint einigermassen Konsens zu herrschen.

Psychologisch orientierte Betrachter werden der Lehrperson offener begegnen bezüglich der Verfahren, der Interaktionen, die sie wählt. Hauptsache, die Klasse wird effizient geführt, das Unterrichtsklima regt zum Lernen an, die Erklärungen werden verstanden, die erwünschte Leistung wird erbracht.

Allerdings ergeben sich bei genauerem Hinsehen einige Probleme:

  1. Qualitätskriterien

Die Aufzählung ist aus empirischen Daten gewonnen. Diese abstrahieren die Beobachtungen von Unterricht, die Erhebungen von Schülerleistungen und Rückmeldungen. Das Resultat sind mehr oder weniger ausformulierte Kompetenzbeschreibungen. Was genau eine «effiziente Klassenführung», «ein lernförderliches Unterrichtsklima» etc. ist, bleibt jedoch verhältnismässig offen bzw. kann auf unterschiedlichste Arten umgesetzt oder konkretisiert worden sein. Die unterrichtlichen Massnahmen können erst anhand der Wirkung, die sie entfalten, beurteilt werden. Das Urteil unterliegt dabei einer gewissen Bandbreite der Interpretation, je nach Einstellung der Evaluierenden.

Psychologisch orientierte Betrachter werden der Lehrperson offener begegnen bezüglich der Verfahren, der Interaktionen, die sie wählt. Hauptsache, die Klasse wird effizient geführt, das Unterrichtsklima regt zum Lernen an, die Erklärungen werden verstanden, die erwünschte Leistung wird erbracht. Die Wirkung des Lehrerhandelns steht im Zentrum des Interesses, wobei der Begriff Wirksamkeit durch die momentan vorherrschenden psychologischen Theorien beeinflusst sein mag, aktuell z.B. durch den Konstruktivismus, den überprüfbaren Kompetenzerwerb.

Hauptsache, die Lehrperson unterrichtet nicht frontal, korrigiert die Fehler nicht, setzt die Schüler an Gruppentische, lässt ein Thema an Stationen abarbeiten, setzt Tablets mit Unterrichtsprogrammen ein, etc.

Psychologische oder pädagogische Sicht des Unterrichtens?

Pädagogisch orientierte Betrachter hingegen werden Unterricht und Lehrperson unter dem Aspekt beurteilen, der vom Zeitgeist favorisiert wird: Hauptsache, die Lehrperson unterrichtet nicht frontal, korrigiert die Fehler nicht, setzt die Schüler an Gruppentische, lässt ein Thema an Stationen abarbeiten, setzt Tablets mit Unterrichtsprogrammen ein, etc. Wer diese Verfahren einhält, gilt als «gut», die erzielte Wirkung bleibt für die Beurteilung zweitrangig.

Die Gefahr besteht, dass in der pädagogischen Ausbildung Rezepte vermittelt werden, von denen man annimmt, sie erfüllten die gewünschten Qualitätskriterien, nicht aber der Geist, der die Qualitätskriterien eigentlich ausmacht. Dieser Geist kann auf vielfältigste Weise verwirklicht werden, eine starre Rezeptologie, Gebote und Verbote sind der falsche Weg. Vielmehr müsste die Ausbildung den ganzen Schatz möglicher Methoden und Handlungsweisen aufzeigen und je nach Thema und Situation auf die Erreichung der Qualitätsmerkmale hin befragen.

Qualitätskriterien fliessen auch in Leistungsmanuale zur Beurteilung von Lehrkräften und Schulen ein. Dort werden die Merkmale zu ausführlichen Kompetenzbeschreibungen ausdifferenziert, die in der Fülle einengend oder in ihrer Unbedingtheit überfordernd sein können, so zum Beispiel Norbert Landwehrs Prozessqualitäten Unterricht (Landwehr 2003/2007).  «Gut» gilt ein Lehrer nicht, weil seine Schüler etwas gelernt haben, sondern weil er die Handlungsvorschriften pflichtschuldigst abgearbeitet hat.

«Orientierung an den Schülern» und «Umgang mit Heterogenität» sind nicht ohne nachsichtige Toleranz und Abwesenheit von Leistungsdruck möglich, während «Wirkungs- und Kompetenzorientierung» im Gegensatz dazu auf äussere Vorgaben und Effizienzsteigerung pochen.

  1. Widersprüche

Die Qualitätsliste für «guten Unterricht» ist in sich nicht widerspruchsfrei. So verbindet man eine «effiziente Klassenführung» mit einer Lehrperson, die das Geschehen klar dominiert, während die Förderung des «aktiven, selbstständigen Lernens» die Rolle der Lehrperson auf diejenige eines «Lernbegleiters» zurückstutzt. «Orientierung an den Schülern» und «Umgang mit Heterogenität» sind nicht ohne nachsichtige Toleranz und Abwesenheit von Leistungsdruck möglich, während «Wirkungs- und Kompetenzorientierung» im Gegensatz dazu auf äussere Vorgaben und Effizienzsteigerung pochen.

Natürlich ergeben sich die Widersprüche aus der Verknüpfung von Theorien unterschiedlicher Herkunft, die in Qualitätsrastern in akribischer Vollständigkeit erscheinen. Die Parameter suggerieren dann eine idealtypische Lehrperson, die alle aktuellen pädagogisch opportunen Vorstellungen und gleichzeitig alle gesellschaftlichen Erwartungen an erfolgreich beschulte Kinder und Jugendliche erfüllt, die Lehrperson ist die sprichwörtliche «eierlegende Wollmilchsau».

  1. Machbarkeit
Löst eine Lehrerhandlung X bei den Schülern den Effekt Y aus?

Qualitätskriterien gehen grundsätzlich von der «Machbarkeit» aus. Es herrscht die Vorstellung, dass eine Lehrerhandlung X bei den Schülern den Effekt Y auslösen muss. Diese Idee rührt daher, dass empirische Unterrichtsforschung die komplexe Unterrichtssituation vereinfacht und systematisiert sowie einzelne Komponenten isoliert erfasst, um valide Aussagen machen zu können. Damit bildet sie jedoch nicht die ganze Wirklichkeit, sondern nur einen Ausschnitt daraus ab. In der Unterrichtspraxis bestehen viele Variablen, welche sich zwischen Lehrer-Input und Schüler-Response mischen können. Daraus folgt, dass die Rahmenbedingungen und die menschlichen Faktoren in die Qualitätsdiskussion miteinbezogen werden müssten, was jedoch meist nicht vorgesehen ist. Wenn das Qualitätsmanagement die ganze Schule erfasst, wie im Bericht Q2E vorexerziert, entsteht ein gewaltiges Räderwerk an Parametern, das an der Kontingenz des realen Schulbetriebs scheitern muss und zu einem bürokratischen Monster verkommt. (Landwehr 2003/2007)

Selbst wenn davon die Rede ist, mit Heterogenität «umzugehen» und individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen, sind damit lediglich Varianten von Schülermaterial gemeint, die mit angepassten Werkzeugen zu bearbeiten sind.

  1. Schülerbild

Qualitätskriterien gehen von einem tatsächlich unrealistischen Schülerbild aus. Letztlich sehen sie die Kinder und Jugendlichen als «Rohmaterial», das in der Schule «veredelt» werden soll. Schüler werden als Objekte des pädagogischen Handelns betrachtet. Selbst wenn davon die Rede ist, mit Heterogenität «umzugehen» und individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen, sind damit lediglich Varianten von Schülermaterial gemeint, die mit angepassten Werkzeugen zu bearbeiten sind.

Schüler sind eigenständige Akteure.

In Wirklichkeit sind Kinder und Jugendliche jedoch menschlich eigenständige Akteure, die das Unterrichtsgeschehen als Subjekte mit ihrer Persönlichkeit, ihrem Willen und ihren Launen mitprägen. Ohne mehr oder weniger gutwillige Mitwirkung der Lernenden läuft in der Schule nichts. Eine Schulklasse ist ausserdem ein dynamisches Sozialgefüge, das je nach Charakteren unterschiedlich auf dieselben pädagogischen Massnahmen ansprechen mag. Was in der einen Klasse funktioniert, muss nicht immer auch in andern funktionieren.

 

Um vergleichbare Wirkungen zu erzielen muss die Lehrperson deshalb unterschiedliche Strategien anwenden können, je nachdem, wie Klassen agieren und reagieren. Dazu braucht es methodische Freiheit. Nicht förderlich ist ein Kriterienkorsett aus Rezepten. Zwingend ist ferner, dass die Lehrperson mit jeder Klasse das Grundeinverständnis aushandelt, gemeinsam am Lernstoff zu arbeiten und die Führung der Lehrperson anzuerkennen.

  1. Abgewertetes Fachwissen

Ein wichtiger Punkt kommt bei den Qualitätskatalogen zu kurz: das fachliche Wissen und Können der Lehrperson. Die Merkmale beziehen sich auf die Interaktion, die Diagnostik und die Vermittlung. Hingegen scheint die Wissensbasis der Lehrperson, die eigentliche Quelle, aus der sie ihre vermittelnde Tätigkeit, aber auch die sozialen und psychologischen Anteile ihrer Arbeit schöpft, stillschweigend vorausgesetzt zu werden. Ob dies der Tatsache geschuldet ist, dass bei Hattie die fachliche Qualifikation der Lehrkräfte nur eine geringe Effektstärke aufweist, bleibe dahingestellt.

Didaktisches Handeln ist jedoch nur möglich, wenn strukturiertes fachliches Wissen und Können zur Verfügung steht. Das leuchtet sofort ein, wenn man folgendes Gespräch im Lehrerzimmer überhört: «Wie erklärst du den Schülern das Rechnen mit Proportionen?» Antwort des Angesprochenen: «Das mache ich gar nicht. Da komme ich selbst nicht draus.»

Was einst als wichtigstes Kriterium für den «guten Lehrer» galt, das Fachwissen und die Begeisterung für Inhalte, ist in Qualitätsrastern kaum mehr der Rede wert. Ein Blick in die heutige Schule zeigt jedoch schnell, dass mangelhaftes Fachwissen bei Lehrpersonen leider ziemlich oft zu beklagen ist. Das Fachwissen einfach IT-gestützten Lernprogrammen zu überlassen, darf im Übrigen nicht der Ausweg aus dem Malaise sein. Jedenfalls wird eine Verbesserung der Schülerleistungen nicht ohne Aufwertung des fachlichen Wissens und Könnens der Lehrkräfte zu haben sein.

Fazit:

Was wäre aus der vorangehenden Dekonstruktion der gängigen Qualitätsparameter zu folgern? Hier der Versuch zu formulieren, was für erfolgreiches Unterrichten als Basis dienen könnte:

  1. die Klasse für die gemeinsame Arbeit am Lernstoff gewinnen können
  2. Durchsetzungsfähigkeit, ohne in Autoritarismus oder Zynismus abzugleiten, Aushalten von frustrierenden Episoden
  3. eine wohlwollende, humorvolle und ermutigende Einstellung den Schülern gegenüber, ohne mit ihnen zu fraternisieren, ohne ihnen mit Vorurteilen zu begegnen und ohne übergriffig zu werden
  4. solides fachliches Wissen und Können, lernpsychologisches Wissen, zuverlässige Vorbereitung, Eingeständnis von Wissenslücken und eigenen Fehlern
  5. Ausstrahlen von Interesse am Stoff
  6. schauspielerische Fähigkeiten, die dosiert eingesetzt werden, ohne jedoch narzisstischen Neigungen zu frönen
  7. Fähigkeit zu erklären, Stoff didaktisch zu gliedern, für die jeweilige Klasse aufzubereiten und, wo nötig, zu improvisieren
  8. Interesse am fortschreitenden Lernen der Kinder und Jugendlichen, diagnostische Begleitung des Lernens der einzelnen Schüler
  9. ein breites Repertoire an methodischen Möglichkeiten, ein reflektierter Einsatz von Medien
  10. ein ausgeprägter Gestaltungswille, ein kritisch-kreativer Umgang mit behördlichen Vorschriften und pädagogischen Gängelungen

 

Literatur zur Unterrichtsqualität:

Brophy, Jere: Gelingensbedingungen von Lernprozessen, International Bureau of Education (UNESCO), Übersetzung Soest, 2002

https://uol.de/f/1/inst/paedagogik/personen/hilbert.meyer/brophy.pdf

Gold, Andreas: Guter Unterricht. Was wir wirklich darüber wissen. Göttingen 2015

Hattie, John: Visible Learning. Routledge 2009.

Helmke, Andreas: Unterrichtsqualität. Erfassen. Bewerten. Verbessern.
Seelze: Kallmeyer 2003

Helmke, A., & Brühwiler, C. (2018): Unterrichtsqualität. In D. H. Rost, J. R. Sparfeldt, & S. R. Buch (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (5. überarb. u. erw. Aufl., S. 860-869). Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union.

Landwehr, Norbert: Prozessqualitäten Unterricht. Q2E Qualitätsbereich Unterricht. In: Basisinstrument zur Schulqualität. Systematische Darstellung wichtiger Qualitätsansprüche an Schule und Unterricht. Nordwestschweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz NW EDK, 2003/2007

file:///C:/Users/7984.190/AppData/Local/Temp/q2e-heft-2-basisintrument-zur-schulqualit-t.pdf

Meyer, Hilbert:  Was ist guter Unterricht? Berlin 2004

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Dr. phil. Beat Kissling, Gymnasial- und Volksschullehrer, Psychologe und Erziehungswissenschaftler, hielt am Freitag, 17. September 2021, im Rebstock in Wil einen Vortrag zu dem Thema dialogisches Lernen. Edwin Rupf, Schulleiter und Mitglied der Starken Schule St. Gallen fasst die Aussagen von Beat Kissling für den Condorcet-Blog zusammen.

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Beat Kissling, pens. Gymnasiallehrer, Mitherausgeber von Einspruch: Lernen ist immer ein vorwiegend sozial basiertes und auch vermitteltes Geschehen.
Edwin Rupf, Schulleiter der Privatschule Tobli: Brennend aktuelle Problematik.

Selbstorganisierte Lernateliers anstelle des gemeinsamen Klassenunterrichts

Wer die Gelegenheit hat, in ein heutiges Schulzimmer zu schauen, wundert sich vermutlich über die Gestaltung des Klassenzimmers. Die Stühle und Bänke der Schülerinnen und Schüler sind in Form von Nischen angeordnet, die voneinander abgetrennt sind. Im Fachjargon spricht man von Lernateliers. Der gemeinsame Unterricht ist in einem solchen Schulzimmer kaum vorgesehen. «Individualisierung» lautet einer der Kernbegriffe in der heute verordneten Schulpraxis. Der als modern apostrophierte «schüler-», statt «lehrerzentrierte» Unterricht baut auf einer Theorie auf, die den gemeinsamen, geführten Unterricht rundweg als falsch bzw. für die Lernenden mehr oder weniger als Zumutung erscheinen lässt. Gemäss der in reformpädagogischen Kreisen populären Vorstellung des radikalen Konstruktivismus  haben wir Menschen keine gemeinsame Welt. Jeder Mensch habe laut dieser Theorie einen eigenen Zugang, ein eigenes Verständnis der Realität. Lehren bzw. der lehrende Unterricht sei demnach gar nicht möglich und komme deshalb einer Art geistiger Vergewaltigung der Schüler gleich. Nach dieser pointierten, kritischen Einleitung lauschten alle gespannt auf die weiteren Ausführungen des Zürcher Erziehungswissenschaftlers.

Der Lehrer soll auf das eigentliche Unterrichten verzichten.

Die Metamorphose des Lehrers zum Lerncoach und Moderator von Lernprozessen

Mit den Schulreformen der letzten 20–25 Jahre sei eine ausgesprochen individualistisch orientierte Form des Unterrichts entstanden, der den didaktisch-pädagogisch wirkenden Lehrer durch den Lernbegleiter, Moderator von Lernprozessen, Coach – um einige der Neusprech-Bezeichnungen zu nennen – ersetzt habe. Der Lehrer soll auf das eigentliche Unterrichten verzichten. Die Verantwortung für das Weiterkommen im Lernen falle mit den neuen Lernformen des selbstorganisierten Lernens (SOL) vollumfänglich auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler zurück, ein pädagogisch gesehen höchst bedenklicher Umstand, der jeden unsicheren, schwachen Schüler in grösste psychische Nöte versetzen kann. Begünstigt wird diese individualistische Form von Schule durch die Digitalisierung, die heute bereits möglichst früh, also im Kindergarten, gefördert wird.

Der Lehrer oder die Lehrerin ist kein Coach.

Was sind die wirklich förderlichen Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen?

In seinem Vortrag fragte Beat Kissling, was die Erkenntnisse der anthropologischen Wissenschaften heute zur Frage zu sagen haben, nämlich wie die optimalen Voraussetzungen für das schulische Lernen grundsätzlich sind. Anhand einer Reihe führender Wissenschaftler aus der evolutionären Anthropologie, aus Entwicklungs- und Lernpsychologie sowie aus der Schulpädagogik und den Erziehungswissenschaften, deren Einsichten der Referent insbesondere anhand von aussagekräftigen Zitaten zu Wort kommen liess, entstand die Einsicht, dass Lernen immer ein vorwiegend sozial basiertes und auch vermitteltes Geschehen ist. Sozusagen vom ersten Atemzug an könne beobachtet und über die gesamte Kindheit hinweg verifiziert werden, dass der Säugling, das Kleinkind, die Kinder im Kindergarten und dann die Schulkinder auf die Lehre ihrer kulturellen Mentoren vertrauen und ihre Anleitung und Orientierung suchen, damit sie selbst auch in die Lage kommen können, als Teil der (Familien-, Kindergarten-, Schul-, Freundschafts-) Gemeinschaften bzw. des sozialen Miteinanders mitzumachen. Die grosse Bedeutung der Lehrpersonen als Bindungs- und Orientierungsperson für jedes einzelne Kind bzw. jeden Jugendlichen, die sich aus diesen Einsichten offensichtlich erschliesst, veranschaulichte Kissling am Beispiel des Literaturnobelpreisträgers, Schriftstellers und Philosophen Albert Camus, der in tiefer Dankbarkeit die ersten Worte nach Erhalt des Preises nebst seiner Mutter an seinen ehemaligen Volksschullehrer richtete, der ihm die Welt eröffnet hatte. Wäre dieser «Erste Mensch» (Titel seiner Biografie) nicht in sein Leben getreten, hätte es diese hochgeschätzte Persönlichkeit nicht gegeben.

Als Coach und Lernbegleiter kann ein Lehrer nicht für sein Fach brennen und dem Schüler vermitteln, dass er grossen Wert darauf legt, dass dieser das Vermittelte lernt, er es ihm zutraut und ihm auch gerne bei der Bewältigung hilft, sofern erforderlich.

Literaturnobelpreisträger Albert Camus: Seinen (Bildungs-)Erfolg verdankt er einzig und allein seinem Lehrer Bernard.

Die herausragende Bedeutung der Lehrer-Schüler-Beziehung

Schon diese Einsichten lassen die Abschaffung der pädagogisch-didaktisch aktiven Lehrerpersönlichkeit in einem seltsamen Licht erscheinen. Als Coach und Lernbegleiter kann ein Lehrer nicht für sein Fach brennen und dem Schüler vermitteln, dass er grossen Wert darauf legt, dass dieser das Vermittelte lernt, er es ihm zutraut und ihm auch gerne bei der Bewältigung hilft, sofern erforderlich (frei nach Zitat Prof. Dr. Roland Reichenbach, Lehrstuhlinhaber Universität Zürich). Kommt hinzu, wie Kissling weiter aufzeigte, dass die Schüler die Schule als Ort des Zusammenseins und -arbeitens als Gemeinschaft – vorausgesetzt die Stimmung, das Klassenklima ist positiv-konstruktiv – ausserordentlich schätzen. Spätestens seit dem ersten Lockdown vor über einem Jahr sollte dies für jedermann evident geworden sein, als man aus zahlreichen Familien, in Zeitungen und anderen Medien laufend lesen und hören konnte, wie sehr die meisten Schülerinnen und Schüler das soziale Zusammensein in der Schule vermissten.

Keine Form des Lernens erweist sich als vergleichbar effektiv und nachhaltig für alle Beteiligten als diejenige, die in Form des verantwortlichen Gespräch bzw. Dialogs stattfindet.

Der Wind dreht – zumindest schon mal in den angelsächsischen Ländern

Offensichtlich laufen die schon länger in der Schweiz kaum diskutierten, sondern topdown von Schulfunktionären und pädagogischen Hochschulen mit internationaler Ausrichtung (OECD) implementierten Schulreformen diesen Einsichten vollkommen zuwider. Doch, wie Kissling optimistisch erläuterte, scheint man ausgerechnet in den angelsächsischen Ländern, woher ursprünglich die ganze Kaskade an Reformen in unseren Schulen kam, etwas erwacht zu sein. Eine ganze Reihe schulpädagogischer Experten an verschiedenen universitären Forschungsinstituten (USA, Australien, GB u. a.) haben die enorme Bedeutung und das umfassende Potential des Klassenunterrichts entdeckt, der heute als Lernen im Kollektiv bzw. aktuell sogar als dialogisches Lernen bezeichnet wird. Keine Form des Lernens erweist sich als vergleichbar effektiv und nachhaltig für alle Beteiligten als diejenige, die in Form des verantwortlichen Gespräch bzw. Dialogs stattfindet – so die Kerneinsicht dieser Forschungsbemühungen. Allerdings erfordert dieser unterrichtliche Dialog den Aufbau einer Gesprächskultur, die auf klaren Verbindlichkeiten aufbaut, so z. B. darauf, dass der Unterricht zwar vom Lehrer geführt, aber zugleich Sache der Schüler selbst werden muss. Sie müssen insbesondere lernen, laut zu denken, und mit Engagement und im Bewusstsein ihrer Verantwortung dazu beitragen, das vertiefte gemeinsame Nachdenken zu ermöglichen. Vieles, was im gemeinsamen dialogischen Lernen beschrieben wird, erinnert daran, wie vor einigen Jahrzehnten in der Schweizer Lehrerbildung der fragend-entwickelnde Unterricht den angehenden Lehrerspersonen vermittelt wurde.

Die Schweizer Schule war früher auf Kurs – darauf muss dringend wieder aufgebaut werden

Diese Form des Klassenunterrichts war so gut entwickelt und wurde in der Lehrerbildung geschult, sodass die Schweizer Schulen beispielsweise von Lehrern, Schulleitern und auch Didaktikprofessoren aus England regelmässig besucht und ihr strukturierter gemeinsamer Unterricht regelrecht bewundert wurde. Kissling endete mit dem Grundgedanken: Will man den Gemeinsinn, die Sensibilität für soziale Werte wie Respekt, Rücksichtnahme, Toleranz und Kooperationsbereitschaft fördern, Werte, die konstitutiv für eine demokratische Gesellschaft sind und die im gesellschaftlichen Leben der Schweiz aktuell erstaunlich geschwächt erscheinen, so kommt man nicht darum herum, sich angesichts der heutigen Schulentwicklung mit der Frage zu befassen, wie ein grundlegender Kurswechsel möglichst rasch erwirkt werden kann.

Edwin Rupf, Starke Volksschule SG

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Anmerkungen zur Schulreform im Zeitalter der Digitalisierung – Teil 1 https://condorcet.ch/2021/10/anmerkungen-zur-schulreform-im-zeitalter-der-digitalisierung/ https://condorcet.ch/2021/10/anmerkungen-zur-schulreform-im-zeitalter-der-digitalisierung/#respond Sun, 10 Oct 2021 02:26:41 +0000 https://condorcet.ch/?p=9463

Der emer. Professor der Universität Zürich Jürgen Oelkers hat uns eine umfassende Analyse der Umgestaltung unserer Schullandschaft im Zeitaler der Digitalisierung zur Verfügung gestellt. Die Redaktion des Condorcet-Blogs ist sich einig, dass es sich hier um eine hervorragende Beschreibung des gegenwärtigen Reformdiskurses handelt. Deshalb veröffentichen wir ihn in voller Länge, aufgeteilt in drei Teile. Lesen Sie heute den 1. Teil: "Wandel der Lebenswelten".

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  1. Der Wandel der Lebenswelten
Jürgen Oelkers, emer. Professor der Universität Zürich: Schulen haben das Monopol der Wissensvermittlung verloren, sind aber für Bildungsprozesse nicht überflüssig.

Mit dem Aufkommen und der schnellen Verbreitung von Smartphones seit etwa fünfzehn Jahren hat sich das Lernverhalten nicht nur von Kindern und Jugendlichen massiv verändert. Es wurde dabei hochgradig individualisiert und die genutzten Umwelten sind auf ein Gerät reduziert. Gelernt wird im Alltag mit neuen und jederzeit zugänglichen Quellen der Informationsgewinnung, mit schneller Kurztext-Kommunikation in der Öffentlichkeit von Twitter, mit Bild- und Videokommunikation auf Instagram. Die Folge davon ist der Dauereinsatz der persönlichen Aufmerksamkeit, die einhergeht mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Wohlbefinden derer, die als «User» und – genderkorrekt – als «Userin» bezeichnet werden.

Die damit verbundenen Erfahrungen wirken sich direkt auf die Lernerwartungen in Schulen und Elternhäusern sowie Universitäten aus, weil schnelle Zugänglichkeit gefragt ist, lange Suchprozesse die Frustrationstoleranz strapazieren und Ergebnisse erwartet werden, die keinen grossen Aufwand verlangen.

Das betrifft direkt die Schulen, also den nach dem Gesundheitswesen zweitgrössten institutionellen Komplex der modernen Gesellschaft. Die Kulturen, in denen Kinder und Jugendliche heute gross werden, haben sich in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren stärker und schneller verändert als in allen Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die Kulturen, in denen Kinder und Jugendliche heute gross werden, haben sich in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren stärker und schneller verändert als in allen Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg.

Schülerinnen und Schüler wachsen heute mit ständiger und schneller Erreichbarkeit auf, sie lernen, sofort zu reagieren, ein Tag ohne Smartphone erscheint wie eine einzige Zumutung und selbst gemeinsame Mahlzeiten verfügen über keine Schutzzone, wenn man keinen Druck ausübt. Das gilt nicht nur für die Kinder, sondern für alle, die mit Smartphones leben. Sie werden an das Gerät gefesselt und scheinen es nicht zu merken oder als Behinderung zu erleben.

Wer heute noch mailt, ist bereits überholt.

Die sozialen Medien sorgen nicht nur für Beschleunigung, sondern stehen auch selbst unter Beschleunigungsdruck. Pointiert gesagt: Wer heute noch mailt, ist bereits überholt. Seit gut zwanzig Jahren prägen immer neue Medien den Alltag und so auch Aufmerksamkeit und Zeitnutzung.

Umgekehrt gesagt, wer sich unterscheiden will, muss Briefe schreiben.

Facebook wurde 2004 gegründet, Instagram 2010 und gehört nach schnellem Erfolg seit 2012 zu Facebook, Twitter besteht seit 2015 und das Videoportal TikTok, mit grossem Einfluss auf Kinder, wird seit September 2016 angeboten. Das Computerspiel Counter-Strike gibt es seit 1999, es hat also bereits ein Alter, das in der medialen Welt an Methusalem erinnert. Für viele zählt gar nicht mehr, was vorher war. Umgekehrt gesagt, wer sich unterscheiden will, muss Briefe schreiben.

Die neuen Medien verstärken und radikalisieren die Trends, die bereits zuvor westliche Gesellschaften verändert haben. Die Lebensentwürfe folgen persönlichen Idealen, die Mobilität ist hoch und die Bindekräfte traditioneller Institutionen wie Kirchen oder Vereine nehmen weiter ab. Man kann so von einem Wandel hin zu einem individuellen Lernnutzen sprechen, der unmittelbare Folgen für die gesellschaftliche Bildung und ihre Organisation hat.

Lehrerinnen und Lehrer sind nirgendwo «Influencer».

Schulen sind historisch unter gänzlich anderen Voraussetzungen entstanden .

Schulen sind historisch unter gänzlich anderen Voraussetzungen entstanden und unter diesen Voraussetzungen entwickeln sie sich bis heute. Die Voraussetzungen sind seit dem 19. Jahrhundert konstant und zu ihnen gehören etwa ein staatlicher Lehrplan, eine professionell ausgebildete Lehrerschaft, klare Zeitstrukturen, feste Ferienbestandteile im Schuljahr, die Benotung der Leistungen durch die Lehrpersonen und Präsenzunterricht. Das gilt auch für die Berufsbildung. Lehrerinnen und Lehrer sind nirgendwo «Influencer».

 

 

  1. Die Schule vor der digitalen Welt

 Der digitale Wandel hat die Schulen erreicht, verzögert, weil es sich um geschützte Räume handelt, aber mit der Corona-Krise umso heftiger. Bereits zuvor ist verschiedentlich bezweifelt worden, dass Schulen in ihrer historischen Form einfach so weiterbestehen können, aber nunmehr häuft sich die Kritik und die scheint sich in einer Frage zu bündeln: Brauchen wir Schulen überhaupt noch, wenn sich das Leben weitgehend individualisiert hat und das Internet für die Bildung sorgt?

  • Wikipedia wäre die Suchbasis des Unterrichts,
  • das Lernen könnte komplett selbstorganisiert erfolgen,
  • Aufgaben und Themen folgen den eigenen Interessen,
  • statt Lehrpersonen gibt es den Austausch in Chats
  • und Selfies dienten der Selbstvermarktung nach bestandenen Prüfungen,
  • für die eine anonyme Internetagentur zuständig wäre.

In der Schweiz ist unlängst gefragt worden, ob nicht die Künstliche Intelligenz (KI) Lehrerinnen und Lehrer überflüssig machen werde. Als Zeitangabe wurde der Ausdruck«dereinst» gewählt, also ziemlich bald, nachdem in den Schulen bereits erste KI- «Werkzeuge» eingesetzt werden und irgendwann auch der Ertrag sichtbar wird.1

Brauchen wir Schulen überhaupt noch, wenn sich das Leben weitgehend individualisiert hat und das Internet für die Bildung sorgt?

Denkbar ist alles, etwa ein selbstorganisiertes Lernen mit Alexa von Amazon, die heute noch «Sprachassistentin» heisst, aber morgen das «home schooling» revolutionieren könnte. Ohne Gag gesagt: In den Beschreibungen der Industrie beeinflussen Werkzeuge, die mit Künstlicher Intelligenz arbeiten, gezielt Lernen und Verhalten, erlauben algorithmisch gesteuerte Selbstkorrekturen und stimulieren Nachdenken für bestimmte Aufgaben. Lehren wäre gleichbedeutend mit «tutoring».2

Auf der anderen Seite steht die stalinistische Variante. In der chinesischen «Smart Education» messen Kameras, die mit Künstlicher Intelligenz ausgestattet sind, das Verhalten der Schülerinnen und Schüler im Klassenzimmer, die Konzentration im Unterricht ebenso wie das Zustandekommen der Leistungen und ihre mentale Verfassung. Das Ziel ist, die vollen Potentiale der Lernenden zu erkennen, für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen und schlechte Lehrer durch Distanzunterricht zu eliminieren.3

 

Wozu noch Fremdsprachen lernen?

Aber was machbar ist, liegt durchaus näher: Wozu braucht man etwa Fremdsprachenunterricht in Schulen, wenn man – mit garantiertem Wirkungsversprechen – die Berliner Plattform «Babble» benutzen kann, die 14 Sprachen anbietet und rund um die Uhr genutzt werden kann?4  Wählt man das nicht und verfügt auch sonst über keine Fremdsprachenkompetenz, dann benutzt man auf dem Smartphone einfach eine «translation app».5

Das Lernziel reduziert sich auf Urlaubsnutzung. Man lernt dann nicht, wie man sich über Jahre eine Fremdsprache aneignet, sondern nutzt das Angebot «just in time».

Weitergehende Ansprüche an Bildung können ignoriert werden, und wer würde Englisch oder Französisch lernen, wenn klar ist, dass der erwartete Erfolg ausbleibt? Jeder weiss, wie weit man mit dem «Schulfranzösisch» kommt, aber warum wird es dann noch unterrichtet?

Aber wie immer, so gibt es auch hier Gegenrechnungen. Vor einigen Jahren hat der amerikanische Philosoph Michael Patrick Lynch (2016) in seinem Buch The Internet of Us auf eine Gefahr hingewiesen, die Schulkritiker eher nicht sehen, weil sie vom Internet zu viel und von der Schule zu wenig erwarten.

  • Von ihm stammt der Ausdruck «google-knowing», also digitales Informationswissen, das gesucht und gesammelt wird.
  • Dieses Wissen hat bestimmte Eigenschaften, es ist «fast, easy and productive» (ebd., S. 179), aber nur als Wissensspeicher.
  • Die Anstrengung des Verstehens kann dadurch nicht ersetzt werden.
  • «Google-knowing» ist nicht kreativ (ebd., S. 180) und, so lässt sich hinzufügen, auch nicht auf verlässliche Weise selektiv, wie man es lange von den Lehrkräften angenommen hat.

Google ist eine Suchmaschine, aber zugleich auch ein Labyrinth neuer Art.

Google ist eine Suchmaschine, aber zugleich auch ein Labyrinth neuer Art. Das meiste wird nie gefunden, und was gefunden wird, sitzt oft dem Google-Irrtum auf, dass Verstehen direkt gelehrt werden kann (ebd., S. 181). Auch die anderen neuen Medien sind nicht einfach von sich aus bildungsaffin.

Wikipedia ist ein Lexikon in elektronischer Form, das unbegrenzt wachsen kann und tatsächlich zwischen 400 und 500 Artikel pro Tag wächst,6 doch es ist kein Lehrer und keine Lehrerin, sondern nur ein Wissenskorpus, den jeder nutzt und auf den niemand mehr verzichten will oder kann. Das Wissen ist unmittelbar erreichbar und daran lässt sich wohl ablesen, dass Schulen das Monopol der Wissensvermittlung verloren haben, aber nicht, dass sie für Bildungsprozesse überflüssig sind.

Facebook, Twitter und Instagram sind nicht das Mass aller Dinge in den Lernwelten der Zukunft. Die digitalisierten Klassenzimmer, die Apple entwickelt hat, sind für Schulen konzipiert, und sie reduzieren nicht Bildung auf Twitter-Botschaften. Lernplattformen beachten diese Grenze, und deswegen werden sich Schulen diese Technologie zu eigen machen, was nicht heisst, dass Facebook zu einem Bildungsmedium mutieren wird oder mutieren kann. Aber darin liegt gerade die Chance.

Für die pädagogische Institution Schule spricht, dass sie dauerhaft und verlässlich angeboten wird, für alle Kinder und Jugendlichen zur Verfügung steht, mit öffentlichen Geldern finanziert wird, gesellschaftliche Funktionen wahrnimmt und über die Grenze der Generationen hinweg einen demokratischen Bildungsauftrag erfüllt, der anders nicht wahrgenommen werden könnte. Und ohne duale Berufsbildung wäre die Schweiz ein anderes Land.

Im Blick auf Unterricht, Aufsicht und Betreuung bietet die Schule auch konkret vieles, das für Kinder und Jugendliche unverzichtbar ist:

  • feste Zeiten für Anfang und Ende,
  • einen strukturierten Lerntag,
  • gemeinsame Ziele und Aufgaben,
  • spezialisiertes Personal,
  • ein seriöses Angebot,
  • verantwortliche Aufsicht,
  • Rückmeldungen zu den Leistungen,
  • ein verlässliches soziales Lernfeld
  • und nicht zuletzt die Abwechslung vom Konsumalltag.

Diese Sicht auf Schule ist historisch-pragmatisch. Aber nicht nur das, die Corona-Krise hat gezeigt, wie sehr die Verschulung zur Normalerwartung der Gesellschaft geworden ist und geradezu zu einem Rechtsanspruch stilisiert wurde, was noch Mitte des 19. Jahrhunderts, als ein ganzjähriger Schulbesuch in vielen Regionen ausgeschlossen war, unvorstellbar gewesen ist.

Aber die Rückkehr zur «Normalform Schule», also Präsenzunterricht und Steuerung durch die Lehrpersonen, übersieht Entwicklungen, die schon lange vor Corona die Reformdiskussion bestimmt haben. Mit ihnen ist eine neue Sprache entstanden, die mit Begriffen wie «Lerncoach» oder «Lernbegleiter» arbeitet und die für ein radikal anderes Verständnis von Unterricht ohne die alte Autorität eingesetzt wird. «Le sol» ist im Französischen der Erdboden und so soll man das «selbstorganisierte Lernen» (SOL) verstehen, als neuer Boden für die Schule.

Schluss des 1. Teils

 

1 Vortrag von Beat Schwendimann in der Berner Schulwarte am 9. September 2021.

2 https://elearningindustry.com/5-main-roles-artiuficialintelligence-in-education

3 Neue Zürcher Zeitung Nr. 138 vom 18. Juni 2021, S. 6.

4 https://apps.babbel.com/de/

5 https://mashtips.com/smartphone-translation-apps/

6 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Meilensteine

 

 

 

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Erasmus – die Liebe zum Lehrer als erster Schritt beim Lernen https://condorcet.ch/2021/05/erasmus-die-liebe-zum-lehrer-als-erster-schritt-beim-lernen/ https://condorcet.ch/2021/05/erasmus-die-liebe-zum-lehrer-als-erster-schritt-beim-lernen/#respond Sat, 01 May 2021 15:16:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=8404

Grosse Erzieher und Menschenkenner aus der Zeit des Humanismus haben uns Erziehungsweisheiten hinterlassen, die bis heute nichts an Gültigkeit verloren haben. Vor dem Türkensturm aus Konstantinopel flüchtende Gelehrte brachten griechische und lateinische Pergamente nach Italien. Sie ermöglichten einen erneuten Zugang zu antiken Autoren, an denen sich die humanistischen Gelehrten schulten. Es bewirkte eine Befreiung von der mittelalterlichen Scholastik und zog bahnbrechenden Errungenschaften auf allen Gebieten des menschlichen Wissens nach sich (Galilei, Kepler, Kopernikus, Bacon, Descartes, Newton, Boyle, Leonardo da Vinci usw.). Über einen dieser grossen Gelehrten berichtet Peter Aebersold.

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Erasmus von Hans Holbein 1523 (Wikipedia)

Erasmus lebte von 1514 bis 1529 in Basel, wo er dank der neuen Buchdrucktechnik als «Vermittler von Bildung» wirkte. In Basel druckte Johann Froben seine Schriften, darunter 1516 sein bedeutendstes Werk «Novum Instrumentum omne», eine lateinische Übersetzung des Neuen Testaments mit dem griechischen Originaltext.

Erziehungslehre

Vor allem zwei Bücher führen in seine Erziehungslehre ein: «Über die Notwendigkeit einer frühzeitigen wissenschaftlichen Unterweisung der Knaben» von 1529, das von der Kindheit und dem Knabenalter handelt und «Über die Methode des Studiums» von 1511, das die Reifezeit umfasst.

„Menschen werden nicht als Menschen geboren, sondern als solche erzogen!“

Aus den Überlieferungen eines Platos, Aristoteles’, Plutarchs und Quintilians schöpfend, verkündete Erasmus den modernen Erziehungsgedanken, der die humanistischen Lehrpläne bis ins 18. Jahrhundert beeinflusste. Bei seinen Ausführungen über die Kindererziehung wendet er sich an den Vater eines Neugeborenen, der erst zum Vater werde, indem er auch das geistige Wesen seines Kindes prägt.

«Der Mensch, der fast aller natürlichen Waffen und Vorteile des Tierreichs entbehrt, wird durch die Vernunft über alle übrigen Lebewesen erhoben.»

Erziehung bedeutete für Erasmus und die Humanisten, dass Wissen und Tugend eins sind und dass demzufolge die sittliche Tüchtigkeit des Menschen direkt von der ihm zuteil gewordenen Schulung abhängt. Der Mensch, der fast aller natürlichen Waffen und Vorteile des Tierreichs entbehre, werde durch die Vernunft über alle übrigen Lebewesen erhoben. Sie statte ihn mit einer grenzenlosen Lernfähigkeit und einzigartigen Bildsamkeit aus, der den ursprünglichen Mangel bei weitem ausgleiche.

Die bewegende Kraft in der Kindererziehung ist einzig und allein die Liebe, niemals aber die Furcht.

Die Erziehbarkeit des Kindes sei in den ersten Lebensjahren am grössten, in dieser Periode müssten Erziehung und Unterricht ihre Hauptarbeit leisten. Leider seien sich nicht alle Eltern ihrer hohen und verantwortungsvollen Aufgabe bewusst. Der Vater tue gut daran, den Übungen seiner Söhne so oft als möglich beizuwohnen; der bezahlte Lehrer enthebe ihn nicht der Pflicht, die Entwicklung seines Kindes zu überwachen. Die Fehler des Kindes seien im Grunde diejenigen seiner Erzieher. Man möge sich auch hüten, die Kinder zu verwöhnen und zu verzärteln. Die sittliche Erziehung gehe vom persönlichen Vorbild, von Rat und Ermahnung aus. Man müsse den Kindern die Tugend nicht nur predigen, sondern sie auch daran gewöhnen.

Die bewegende Kraft in der Erziehung ist die Liebe

Zwar sei der Mensch bei guter Unterweisung und Übung fähig, alles zu lernen, aber am weitesten werde er dort vorankommen, wohin ihn Gefühl und innerer Drang weisen. Da aber das Kind noch nicht den Wert der Wissenschaften erkennen könne, werde es um des Lehrers willen lernen, darum gelte: «Der erste Schritt zum Lernen ist die Liebe zum Lehrer». Die bewegende Kraft in der Kindererziehung sei einzig und allein die Liebe, niemals aber die Furcht. Jede Gewalttätigkeit hinterlasse bleibenden Schaden in der kindlichen Seele. Für Kinder sei nichts schädlicher, als wenn sie an Schläge gewöhnt werden, wie es bei den mittelalterlichen Schulmethoden üblich war.

«Der erste Schritt beim Lernen ist die Liebe zum Lehrer, und im Verlauf der Zeit wird es gewiss geschehen, dass der Knabe, welcher die Wissenschaften um des Meisters willen zu lieben begonnen hatte, später an dem Meister um der Wissenschaft willen hängt.»

Das Vorbild des Lehrers und das gemeinsame Lernen

Lehrerpersönlichkeit: Das Vorbild wird nicht unwirksam bleiben.

Mit Wort und Tat lehre man die Kinder erkennen, was gross und edel sei; das Vorbild des Lehrers werde nicht unwirksam bleiben. Einfühlendes Verstehen werde den Lehrer davor behüten, das Kind zu überfordern und von ihm Leistungen zu verlangen, die seine Kräfte übersteigen. Er solle die milde Mahnung des Plinius beherzigen: «Bedenke, dass jener ein Jüngling ist, und dass auch du es einmal warst.» Immer möge man sich dem kindlichen Denkvermögen anpassen, das nur durch anschauliche und lebendige Darstellung angesprochen werde. Das Lernen soll ein Spiel sein, dann werde das Kind nicht müde werden, sich unterweisen zu lassen. Fern halte man von den Kindern die «lächerlichen Märchen alter, simpler Weiber» und die «Lügengewebe aus Volkssagen». Anhand einfacher Erzählungen, die sowohl lehrreich als auch gefällig sind, könne man Kindern die wichtigsten Regeln der Grammatik beigebringen.

Colloquien: einfache Erzählungen (Wikipedia)

Für seine Privatschüler schrieb Erasmus die «Colloquien». Sie begannen als informelle Lateinübungen und sind eine Sammlung von rund fünfzig Dialogen über Krieg, Reisen, Religion, Schlaf, Bettler, Beerdigungen und Literatur geworden. Alle waren in dem gleichen anmutigen, einfachen Stil und sanften Humor gehalten, als Übungen und leichte Lektüre in Latein für Generationen von Schülern.

Der höhere Unterricht und der Lehrerberuf

Nach Erasmus sollten für die Ausbildung der Lehrer die weltlichen und geistlichen Obrigkeiten sorgen, die hierfür besondere Anstalten zu errichten hätten. Bis das geschehe, müssten private Lehrer gesucht werden, obwohl das gemeinsame Lernen der Schüler in öffentlichen Schulen den Vorteil habe, gegenseitiges Wetteifern zu ermöglichen. Man schützt die Schwäche und Ungelehrigkeit der Jugend vor, während es doch nur die dürftigen Methoden des Lehrens und Lernens seien, die für die erfolglose Erziehung verantwortlich gemacht werden müssten.

Erasmus fordert einen «gründlich gebildeten und durch langjährige Praxis erprobten Lehrer».

Im Buch «Über die Methode des Studiums» beschreibt Erasmus die Gestaltung des höheren Unterrichts, der von der lateinischen und griechischen Grammatik zur Lesung klassischer Autoren führt. Philosophie, Theologie, Mythologie und Geographie könnten am besten aus den Werken des Altertums gelernt werden, aus denen die Humanisten während zweier Jahrhunderte ein Juwel nach dem anderen zutage förderten. Wer sich dem Lehrerberuf widmen wolle, müsse auch Geschichte, Astronomie und Naturwissenschaften studieren, denn der Unterricht werde ihn auf alle Gegenstände des Wissens führen. Erasmus fordert einen «gründlich gebildeten und durch langjährige Praxis erprobten Lehrer»: «Ich will, dass einer alles durchstudiert, damit nicht jeder einzelne alles durchzustudieren braucht». Er weiss, dass seine Unterrichtsmethode grosse Anstrengungen verlangt, aber er ist nicht geneigt, sie deswegen aufzugeben.

Das Lehrprogramm von Erasmus ist charakteristisch für das Denken im «goldenen Zeitalter» des Humanismus: Hochschätzung der Erziehung, übernationale Geisteshaltung, Bewunderung des geistig schaffenden und schöpferischen Individuums, Liebe zum Kinde und unbegrenztes erzieherisches Ethos.

Lebenslauf

Hier wurde Erasmus 1536 beigesetzt

Erasmus wurde um 1467 in Rotterdam unehelich als Sohn eines Priesters und dessen Haushälterin geboren. 1485 besuchte er mit seinem Bruder die Lateinschule der «Brüder vom gemeinsamen Leben» in Deventer, wo der Humanist Rudolf Agricola sein lebenslanges Vorbild wurde und sein Interesse an der Literatur der klassischen Antike weckte. Nach dem Tode seiner Eltern während einer Pandemie wurde er Regularkanoniker im Augustinerkloster in Gouda und empfing 1492 die Priesterweihe.  Von 1495 bis 1499 studierte er an der Sorbonne in Paris Theologie und unterrichtete Privatschüler. Mit einem Schüler ging er nach England, wo er den Humanisten Thomas Morus und den Gräzisten John Colet sowie den späteren König Heinrich VIII. kennen lernte. Später war er am Hofe von Burgund in Löwen Erzieher (Rat) des späteren Kaisers Karl V. In vielen seiner Werke übte der ehemalige Mönch scharfe Kritik an der katholischen Kirche, der er jedoch zeitlebens verbunden blieb. Seine weit verbreiteten und vielgelesenen Bücher waren Wegbereiter der Reformation. Als Erasmus 1536 in Basel starb, wurde der Katholik im Kreuzgang des reformierten Basler Münsters beigesetzt.

Quellen:

https://en.wikisource.org/wiki/Familiar_Colloquies/Table_of_Contents

Will Durant und Ariel Durant: Kulturgeschichte der Menschheit: Das Zeitalter der Reformation

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In den USA gefragt, in Deutschland unbekannt: Das Ehepaar Grossmann https://condorcet.ch/2021/03/in-den-usa-gefragt-in-deutschland-unbekannt-das-ehepaar-grossmann/ https://condorcet.ch/2021/03/in-den-usa-gefragt-in-deutschland-unbekannt-das-ehepaar-grossmann/#respond Wed, 24 Mar 2021 12:16:21 +0000 https://condorcet.ch/?p=8090

Das Ehepaar Grossmann und andere internationale Bindungsforscher haben die Erziehung revolutioniert. Mit ihren aufwändigen, international beachteten Langzeitstudien hat sich die Bindungsforschung als wissenschaftliche Disziplin etabliert. Zu aktuellen Fragen, die die Volksschule beschäftigen, hat sie wissenschaftliche Grundlagen für wirksame korrigierende und präventive Massnahmen erarbeitet. Ein Beitrag von Peter Aebersold.

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Die deutschen Bindungspioniere Karin und Klaus Grossmann absolvierten ihr Studium anfangs der 1960er Jahre in den Vereinigten Staaten, wo auch ihr erstes Kind geboren wurde. 1965 kehrten sie nach Deutschland zurück, wo sie weiter studierten.

Durch die Vorarbeiten am Buch «Verhaltensbiologie des Kindes» (1973) von Bernhard Hassenstein, an denen Karin mitwirkte, kam das Ehepaar in Berührung mit den Bindungskonzepten von John Bowlby und Mary Ainsworth. Durch die Bekanntschaft mit der Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth, die sie 1973 in den USA besuchten, und ihrer Schülerin Mary Main fanden Karin und Klaus Grossmann ihre berufliche Ausrichtung:

Mary Ainsworth

Ein Jahr nach dem Besuch bei Mary Ainsworth begannen die Grossmanns ihre entwicklungspsychologische Längsschnittforschung mit dem Ziel, auf der Grundlage der Bindungstheorie die Entwicklung gesunder Kinder von ihrer Geburt bis ins Erwachsenenalter von 22 Jahren zu untersuchen. Sie erforschten unter Einbeziehung der Eltern die Entwicklung der psychischen Sicherheit der Bindung und des Erkundungsverhaltens (Exploration), schlossen Untersuchungen in anderen Kulturen ein sowie die Rolle des Vaters und weiterer Betreuungspersonen für die sozial-emotionale Entwicklung des Kindes. Die Resultate ihrer Forschungstätigkeit setzten sie für die praktischen Anwendungen der Bindungstheorie im Alltag (Ausbildung von Krippenerzieherinnen, öffentliche Vorträge an Fachtagungen über Bindung in der kindlichen Entwicklung usw.) und in klinisch/beratender Arbeit um.

Die Publikationsliste mit Büchern in fünf Sprachen, die das Ehepaar Grossmann mit eigenen Werken und denen ihrer Mitarbeiter zusammenstellte, legt Zeugnis von dem beruflichen Schaffen der Forschergruppe ab.

2004 fassten die Grossmanns in ihrem Standardwerk «Bindung – das Gefüge psychischer Sicherheit» (6. Auflage 2014) die Resultate ihre eigenen Langzeitforschungen und diejenigen anderer Bindungsforscher zusammen (hier werden diejenigen im Zusammenhang mit der Volksschule aufgeführt):

Bindung und Bindungsverhalten

Bindung entwickelt sich im Laufe der ersten Lebensmonate, bei der Geburt besteht noch keine Bindung. Sie entsteht aus der Art und Weise, wie der Säugling die Nähe und den Kontakt zu einem Erwachsenen herstellt und weiterführt. Diese emotionalen Bindungsverhaltensweisen sind genetisch für eine soziale Umwelt vorbereitet (Sozialnatur des Menschen), mit der der Säugling kommunizieren kann und die für seine Bedürfnisse sorgt.

Die Mutter oder eine andere Beziehungsperson, die den Säugling verantwortlich versorgt, regelt seine Ernährung, sorgt für Wärme, gestaltet seinen Schlaf-Wach-Rhythmus und bemüht sich ihn vor Krankheit und Verletzungen zu schützen. Die psychischen Zustände des Säuglings, sein Wohlbefinden oder Missbehagen, seine Entspannung oder sein Distress hängen von der Güte der Versorgung ab und wirkt sich auf die Qualität des Interaktionsangebotes des Säuglings aus.

Zentraler Teil der Kooperationsbereitschaft ist die Fähigkeit, sich in die Lage des Kindes zu versetzen und dies beim Handeln in verantwortlicher Weise zu berücksichtigen.

Das zentrale Konzept der empirischen Bindungsforschung, die Feinfühligkeit der Mutter gegenüber den Signalen des Säuglings, wurde von Mary Ainsworth formuliert (Befindenswahrnehmung, richtige Interpretation der Säuglingsäusserungen, prompte Reaktion auf diese, Angemessenheit der Reaktion). Die Skala von Kooperation (Zusammenspiel) bis Beeinträchtigung erfasst die mütterliche Bereitschaft und Fähigkeit, mit dem Baby in Richtung auf ihre gemeinsamen Ziele zu kooperieren. Zentraler Teil der Kooperationsbereitschaft ist die Fähigkeit, sich in die Lage des Kindes zu versetzen und dies beim Handeln in verantwortlicher Weise zu berücksichtigen. Das Konzept der Annahme oder Akzeptanz zeigt auf, ob die Mutter ihr Baby in seiner Eigenart annehmen kann oder ob bei ihr die negativen Gefühle ihm gegenüber überwiegen.

Die Bindungsqualität eines Kleinkindes kann mit einem standardisierten Ablauf von Episoden, der «Fremden Situation» (FS) von Ainsworth und Main, beurteilt werden.

Fremde-Situations-Test: Der sicher gebundene Typ trauert, der ambivalente protestiert, der vermeidende bleibt gleichgültig und der desorganisierte apathisch in der Ecke sitzen. (FAZ

Im zunächst unbekannten Klassenverband braucht es Aufmerksamkeit und Lernmotivation sowie Frustrationstoleranz.

Übergang zur Institution Schule und psychische Sicherheit

Für den Schulbeginn werden vom Kind neue Kompetenzen gefordert: Im zunächst unbekannten Klassenverband braucht es Aufmerksamkeit und Lernmotivation sowie Frustrationstoleranz. Kinder mit unverständlicher Sprache, wenig Vorstellungskraft und mangelndem Interesse an den vorgegebenen Themen riskieren in der Schule zu versagen. Für den Umgang mit den Klassenkameraden braucht es soziale Fertigkeiten, um Kooperationen anzubahnen und Konflikte zu lösen.

Der Kindergarten spielt eine grosse Rolle.

Die Einstellung zum Lernen und die soziale Kompetenz bringen Kinder normalerweise aus der Vorschulzeit mit. Die Beziehungen zu Mutter und Vater und die Erfahrungen im Kindergarten spielen eine grosse Rolle für einen erfolgreichen Schulübergang. Reagieren die Eltern feinfühlig auf Frustrationen und unterstützen sie die Erkundungsfreude, sind wichtige Voraussetzungen dafür gegeben. Durch die gefühlsmässige Beziehung zu den Eltern wird ein jüngeres Kind das für wichtig erachten, was die Eltern selbst für wichtig und erstrebenswert halten. Angemessene Unterstützung und gute Anleitung im Kindergarten und der Tagesbetreuung wirken sich auf die Freude beim Lernen positiv aus.

Bei einer Studie mit Achtjährigen erreichten bindungssichere Kinder höhere Werte bei den sozialen Kompetenzen (Kommunikation, kognitives Engagement, Motivation). Bindungsdesorganisierte Kinder leisteten vielfach weniger, als aufgrund der gemessenen Intelligenz erwartet würde.

Trifft ein Kind mit erhöhtem Risiko für Schulversagen auf einen Lehrer, der die Vergangenheit und das Umfeld des Kindes versteht und es mit hilfreicher Kommunikation und beständig fördert und unterstützt, können auch diese Kinder die Schule erfolgreich bewältigen.

Lehrerinnen und Lehrer können den Schulerfolg stark beeinflussen

Trifft ein Kind mit erhöhtem Risiko für Schulversagen auf einen Lehrer oder eine Lehrerin, der die Vergangenheit und das Umfeld des Kindes versteht und es mit hilfreicher Kommunikation und beständig fördert und unterstützt, können auch diese Kinder die Schule erfolgreich bewältigen. Voraussetzung ist, dass die Lehrperson bereit ist, mit den schwachen Schülern eine Art von Bindung aufzunehmen, die nicht auf die Schule beschränkt bleibt (Integration von Bindung und Bildung).

Bereit sein, mit schwachen Schülerinnen oder Schülern eine Bindung einzugehen.

Ein Training in Feinfühligkeit von Lehrerpersonen und Erziehern ist besonders bei Kleinkindern erfolgversprechend. Eine feinfühlige Anleitung hilft jedem Schüler, Interesse, Wissensdurst und Lernbereitschaft selbst dann zu erhalten, wenn negative Gefühle aufkommen. Gegenseitiges Vertrauen, ein Element sicherer Bindung, zwischen Lehrern und Schüler ist ein Schlüssel zum Erfolg der Vermittlung von Bildung.

Für die mittlere Kindheit (zwischen Zahnwechsel und Pubertät) werden folgende Entwicklungsaufgaben genannt, die altersgemäss sicher bewältigt werden müssen, um den Erfolg auf der nächsten Stufe zu ermöglichen:

  1. Soziale Kompetenz im Umgang mit Gleichaltrigen (Freundschaften, Kooperation in Spiel und Sport, Arbeiten im Team, eigenständiges Denken und Handeln),
  2. Geschlechtsrollenbewusstsein, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl,
  3. Fleiss, Tüchtigkeit und Erwerb von Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Sprachen)

Lebenslaufforschung

In den 1930er Jahren wandten sich die Wiener Psychologen Charlotte und Karl Bühler den individuellen Entwicklungsaspekten zu und formten ein Konzept, um den menschlichen Lebenslauf als Gegenstand der Psychologie zu betrachten. Lotte Schenk-Danzinger fasste dieses Denken in einem Lehrbuch zusammen. Dieser lebensnahe Ansatz fand nach dem Zweiten Weltkrieg in der akademischen Psychologie wenig Widerhall während er in der LehrerInnenausbildung noch bis heute fortwirkt. Die Bindungsforschung griff die Untersuchung von Lebensläufen mit der Erforschung der Risiko- und Schutzfaktoren im Leben des Menschen und in der prospektiven Lebenslaufforschung wieder auf.

Schutzfaktoren ermöglichen Hochrisikokindern eine positive Entwicklung

«Kauai-Studie» von Emmy Werner: grösste und längste vorrausschauende Untersuchung über die Bedingungen der Entwicklung von Kindern.

Die von der US-amerikanischen Entwicklungspsychologin Emmy Werner und ihrem Team durchgeführte «Kauai-Studie» gilt als die grösste und längste vorrausschauende Untersuchung über die Bedingungen der Entwicklung von Kindern. Werner begleitete den kompletten Jahrgang 1955 (698 Kinder) auf der Hawaii-Insel Kauai 40 Jahre lange forschend.

Im besonderen Fokus waren Kinder, die durch eine risikoreiche familiäre und soziale Umwelt am verletzlichsten (Hochrisikokinder) waren, das betraf rund 30% aller Kinder. Die Forscher suchten nach den Schutzfaktoren («Resilienz»), die einem Drittel der Hochrisikokinder half, die Schwierigkeiten zu Beginn ihres Lebens im Verlauf ihrer Entwicklung zu bewältigen und was sie widerstandsfähig machte. Dieses Drittel der Hochrisikokinder entwickelte sich trotz allem zu kompetenten, selbstsicheren und fürsorglichen Erwachsenen ohne spätere ernsthafte Lern- oder Verhaltensprobleme. Sie hatten erfolgreich die Schule durchlaufen, kamen gut mit ihrem sozialen und häuslichen Leben zurecht und verfolgten realistische Erziehungs- und Berufsziele.

2/3 dieser Hochrisikokinder (129) waren schon im Alter von 10 Jahren verhaltensauffällig. 1/3 dieser Hochrisikokinder (72) konnten, trotz erheblicher Risiken ihr Leben positiv gestalten.

Die Schutzfaktoren, die die Forscher um Emmy Werner besonders in der frühen Kindheitsjahren für die positiven Entwicklungen fanden, waren: mit dem Säugling/Kleinkind positiv interagierende Bindungspersonen, eine Mutter mit besserer Bildung trotz Armut, wenig Kinder in der Familie, viel emotionale Unterstützung durch die Mutter und/oder Betreuungspersonen während den ersten Jahren und ein positives Temperament (Lebensmut) sowie später weitere günstige Umstände.

Die Langzeitforscher haben übereinstimmend festgestellt, dass diese Frauen und Männer nicht passiv, gedanken- und tatenlos auf widrige Lebensumstände reagierten, sondern hilfsbereite andere Menschen aktiv aufsuchten, die ihnen halfen, konstruktiv mit den Problemen umzugehen und die ihre Bemühungen und ihre Kompetenzen dabei anerkannten und verstärkten. Sie bekamen Hilfe beim Klären ihrer Gefühle und Motive und beim Finden angemessener Lösungen. Diese durch die Entwicklungsanalysen der Bindungsforschung beschriebenen Fähigkeiten bilden die psychische Sicherheit eines Menschen auf der Basis verlässlicher, hilfreicher Beziehungen und eines schon früh erkennbaren gewinnenden Wesens.

Während das Interesse in den USA stets gross gewesen sei, habe man hierzulande lange nichts von Bindungsforschung wissen wollen.

Im Tagesspiegel von 2012 beschrieb Verena Friederike Hasel die Arbeit der Grossmanns:

„Für die meisten ist ein Spielplatz nur eine Ansammlung von Spielgeräten. Den Psychologen Klaus und Karin Grossmann dagegen präsentiert sich ein Labor, ganz ihrem Lebensthema gewidmet, nämlich dem Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern. Wie es darum bestellt ist, weiss wohl kaum einer in Deutschland so genau wie sie. Rund zwei Jahrzehnte lang hat das Ehepaar, er 77, sie 70 Jahre alt, an die 100 deutsche Familien begleitet und seine Erkenntnisse in ein Konzept übersetzt, das weithin bekannt geworden ist. Bindung heisst es oder auch Bonding und bezeichnet das affektive Band, das Eltern mit ihren Kindern verbindet, und taucht heute in fast jedem Erziehungsratgeber auf. Doch obwohl die Grossmanns das Familienleben in Deutschland, die herrschenden Vorstellungen und Werte, stark geprägt haben, kennt ausserhalb der Fachwelt kaum einer ihren Namen.“

 sowie deren Resultate:

„In ihrer Studie waren die sicher gebundenen – diejenigen, die weinten, wenn die Mutter ging – auf lange Sicht im Vorteil. Als Vierjährige spielten sie konzentrierter im Kindergarten, in der Pubertät konnten sie besser mit Zurückweisungen umgehen und als Erwachsene leichter Unsicherheit in Liebesdingen eingestehen. Mit anderen Worten: Wem es als Kind gestattet war, abhängig zu sein, wurde später innerlich umso unabhängiger. Das zu verinnerlichen, sagen die Grossmanns, sei den Deutschen schwergefallen. Während das Interesse in den USA stets gross gewesen sei, habe man hierzulande lange nichts von Bindungsforschung wissen wollen. ‚In Deutschland dominiert die preussische Offiziersfamilie‘, sagt Klaus Grossmann und Karin Grossmann fügt hinzu: ‚Unabhängigkeit wird gefördert, für Schwäche hat man kein Herz.‘“

Peter Aebersold

Quellen:

Homepage von Karin und Klaus Grossmann:  https://www-app.uni-regensburg.de/Fakultaeten/PPS/Psychologie/Grossmann/?Home

https://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Grossmann

https://de.wikipedia.org/wiki/Karin_Grossmann

https://de.wikipedia.org/wiki/Bindungstheorie

 

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Vom notwendigen „Nid nahla!“ https://condorcet.ch/2021/01/vom-notwendigen-nid-nahla/ https://condorcet.ch/2021/01/vom-notwendigen-nid-nahla/#respond Sun, 03 Jan 2021 08:26:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=7421

Krisenzeiten à la Corona sind Durststrecken. Gefordert ist Durchhalten. Davon ist im Moment üppig die Rede. Die Devise gilt auch für gutes Lernen. Daran erinnert Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard: Fehler in einem fehlerfreundlichen Milieu

Vom Turm des Berner Münsters verkündet eine robuste Brustfigur ihre Botschaft ins weite Land hinaus. Aktueller könnte sie nicht sein: „nid nahla!“ steht eingemeisselt auf dem Schriftband. Die steinerne Skulptur hält es in ihrer linken Hand. Mit der Rechten fixiert sie das Kassenbuch. Es ist die Porträtkonsole von Karl Howald, dem beharrlichen Baukassier.[i] Seiner Energie und seiner Ausdauer ist es zu verdanken, dass das Berner Münster zwischen 1889 bis 1893 zur endgültigen Höhe von gut 100 Metern ausgebaut wird – und damit zum höchsten Sakralgebäude der Schweiz. Der zähe Kassenwart lässt nicht locker, bis das Werk vollendet ist.

Nicht nachlassen!

„Halten Sie durch!“ zählt wohl zu den meistgehörten Parolen dieser Shutdown-Zeiten – und beigefügt der Satz: „Die ganze Situation geht auch wieder vorbei und zurückkehrt die Normalität.“ Dann könne man in den Anstrengungen wieder nachlassen, heisst es von offizieller Seite besänftigend.

Dieser Nachklang wirkt befreiend; auf ihn hoffen und freuen sich unzählige. Endlich nachlassen und dem maskierten Dasein nach langem Warten Ade sagen. Zurück ins normale, unbeschwerte Leben. Wer möchte das nicht?

Lernen ist keineswegs etwas Leichtes

Lernen herausfordernd gestalten

Doch vorläufig zählt nur eines: „Nid nahla!“ und „Nid lugg lo!“ Das gilt ja auch fürs Lernen, und zwar generell. Lernprozesse erfordern Einsatz; verlangt ist Ausdauer, gefragt Fleiss. Während langer Zeit gab es im Schulzeugnis darum sogenannte Fleissnoten. Ihre versteckte Botschaft: Ohne Fleiss kein Preis. Das weiss jede junge Geigerin, das hat jeder Junioren-Fussballer verinnerlicht. Nur so wird aus dem nerventötenden Gekratze dereinst virtuose Musik, aus dem ungelenken Gekicke hohe Ballkunst. Üben heisst das Zauberwort; „nid nahla!“ wird zum ehernen Grundsatz.

Genau das Gegenteil aber versprechen IT-Konzerne und ihre computerbasierten Medien: mit digitalen Programmen und Produkten spielerisch leicht und ohne Anstrengung zu Lernerfolgen kommen.

 Der Wert des Übens ging vergessen 

Genau das Gegenteil aber versprechen IT-Konzerne und ihre computerbasierten Medien: mit digitalen Programmen und Produkten spielerisch leicht und ohne Anstrengung zu Lernerfolgen kommen. So schön die These klingt, so verführerisch falsch ist sie. Die Schalmeienklänge bringen der Digitalindustrie zwar viel Geld ein, verdrängen aber die Grammatik des Lernens: Bildung im Allgemeinen und Lernen im Besonderen seien nichts Leichtes, betont der Erziehungswissenschafter Klaus Zierer.[ii] Da heisse es üben und automatisieren. Da gilt wohl Karl Howalds Prinzip des „Nid nahla!“

Heinz Rhyn, Direktor der PHZ: Sechs bis acht Wiederholungen

Vergessen ging leider „in der modernen Unterrichtskultur der Wert des Übens“, bedauert der Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich, Heinz Rhyn.[iii] Um beispielsweise eine Information aus dem Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis zu bringen, braucht der Mensch sechs bis acht Wiederholungen. Das weiss man aus zahlreichen psychologischen Studien.

Der Unterricht muss herausfordernd sein

Zum Lernen, so Zierer, gehören auch Irrwege und Umwege; da gibt es Unterholz und Dickicht. Da stellen sich Misserfolg und Scheitern ein – und Fehler. Fehler in einem fehlerfreundlichen Klima führen weiter. „Failure is the mother of success“, heisst es. Darum darf es im Bildungsbereich nicht primär darum gehen, Lernen möglichst leicht zu machen. Es muss darum gehen, Lernen möglichst anspruchsvoll zu gestalten – und herausfordernd.[iv]

Die gute Lehrerin wirkt schüleraktivierend und ist mehr als nur Lernbegleiterin, mehr als lediglich Lernpartnerin.

„Nid nahla!“ gilt für Lernende wie für Unterrichtende. Der erfolgreiche Lehrer lenkt kontinuierlich und schülerzentriert die Lernprozesse, eine gute Lehrerin gestaltet als Regisseurin den Unterricht. Sie wirkt schüleraktivierend und ist mehr als nur Lernbegleiterin, mehr als lediglich Lernpartnerin, betont der profilierte Bildungsforscher Andreas Helmke.[v] Kinder und Jugendliche brauchen für ihr Lernen nicht einen „Guide at the Side“, sie bräuchten einen „Change Agent“, einen Lehrer, der sie weiterbringen will, der ermutigt und kognitive Ansprüche stellt, eine Lehrerin, die ihnen den Spiegel vorhält und lernprozessbezogenes Feedback gibt. Es sind Lehrpersonen, die intensives Lernen in einem förderlichen Klima ermöglichen, verbunden mit hohen Erwartungen und vielfacher Schüleraktivierung. Es sind Pädagogen, welche die Kinder und Jugendlichen in ihrer Möglichkeitsform sehen und sie darum so „nehmen“, wie sie sein könnten. Unermüdlich.

Die beharrliche Energie des „Nid nahla!“

DJ Ötzi: War in der Schule zu träge.

„In der Schule war ich zu träge, um all das zu lernen, was ich heute gelernt haben wollte“, bekennt einer der erfolgreichsten Musiker im deutschsprachigen Raum, der österreichische Entertainer und Popsänger DJ Ötzi.[vi] Und er fügt bei: „Mein Traum war es, Theologie zu studieren; das ging nicht ohne Abitur.“ Hätte er nur nicht nachgelassen! Und wäre er vielleicht zu Lehrerinnen und Lehrern in die Schule gegangen, die nicht nachgegeben oder gar aufgegeben hätten. Wer weiss!?

Aufgegeben haben die Berner den Ausbau ihres Münsters. 1521 wird der Turmbau unterbrochen. Erst 1893 erreicht der Turm seine heutige Höhe. Es brauchte den unerschütterlichen Glauben und das beharrliche Feu sacré eines Karl Howald. Sein fester Vorsatz: „Nid nahla!“

Carl Bossard

 

[i] Paul Schenk (1963), Die Porträtkonsolen am Berner Münster. In: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 25, S. 83.

[ii] Klaus Zierer (2018), Die Grammatik des Lernens, in: FAZ, 04.10.2018, S. 7.

[iii] Alexandra Kedves, „Die Ablehnung des Drills war unheilvoll“, in: Tages Anzeiger, 07.12.2019, S. 7.

[iv] John Hattie & Klaus Zierer (2017), Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 60.

[v] Vgl. Andreas Helmke (2015), Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. Seelze-Velber: Friedrich Verlag, S. 205f.

[vi] In: DIE ZEIT, 23.12.2020, S. 13.

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Deborah Meier – Mission Hill in Boston oder Warum ich die USA immer noch liebe. 2. Teil https://condorcet.ch/2020/10/deborah-meier-mission-hill-in-boston-oder-warum-ich-die-usa-immer-noch-liebe-2-teil/ https://condorcet.ch/2020/10/deborah-meier-mission-hill-in-boston-oder-warum-ich-die-usa-immer-noch-liebe-2-teil/#respond Thu, 29 Oct 2020 16:51:18 +0000 https://condorcet.ch/?p=6827

Im zweiten Teil seiner USA-Reportage über die Mission Hill-Schule in Boston erzählt uns Condorcet-Autor Alain Pichard, wie sich diese Schule entwickelte und schliesslich zum Opfer ihres eigenen Erfolgs wurde. Der Condorcet-Blog bringt diese Reportage gerade noch rechtzeitig vor den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen.

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): Besuchte während eines Monats die Mission Hill Schule in Boston.

1996 hatte sich Deborah Meier auf der ganzen Linie durchgesetzt. Sie gab die Leitplanken vor, führte mit den demoralisierten Lehrkräften intensive Gespräche und erklärte ihr pädagogisches Konzept. Nur wenige gingen. Wer blieb, nahm aber «an einer einzigartigen Erfolgsstory teil», erklärte mir Jacob Wheeler, Lehrer an einer Oberstufenklasse. Als Schulleiterin machte die ehemalige Trotzkistin auch Zugeständnisse. Ihren verdutzten Lehrkräften erklärte die vehemente Kritikerin der Standards, dass man diese Teste nur machen solle. «Führt sie durch, schickt sie ab und kümmert euch nicht weiter darum. Wir haben Wichtigeres zu tun.» Deborah Meier setzte in ihrer Agenda klare Prioritäten und vermied stets Grabenkämpfe, die den Weg zu behindern drohten.

Eine prickelnde Atmosphäre

Eine prickelnde Atmosphäre

Es gibt Konzerte, da stellt sich unmittelbar beim Betreten der Bühne durch die Musiker eine eigene emotionale Stimmung ein. So erging es mir, als ich das schäbige Gebäude des Mission Hill Schulhauses betrat. Es war acht Uhr morgens, einzelne Schüler, vor allem aber die Lehrkräfte liefen durch die Gänge, in denen Plakate voller Botschaften hingen: «What did you learn in School today?», fragte das eine Spruchband die austretenden Schüler über der Ausgangstüre.

Visualisierte Lernfragen

 

Viele amerikanische Schulen haben ihre Ziele visualisiert und sichtbar für alle in den Gängen aufgehängt. Die Mission Hill Schule spricht von «Habits of graduate»

in Anlehnung an den amerikanischen Lehrer und Bildungsphilosophen John Dewey und dessen Werk «Habits of Mind». Am ehesten liesse sich dies mit pädagogischen Leitideen übersetzen: In der Mission Hill werden sie unter dem Leitwort „RICO“ zusammengefasst: «Refine – Invent – Connect – Own»

 

Habits of minds: Von der Mission Hill abgekupfert an der Türe des Klassenzimmer unseres Autors.

Entwickle und führe weiter:

Habe ich meine Botschaft übermittelt? Wo sind

meine Schwächen und meine Stärken?

 

Sei innovativ:

Was macht meine Arbeit innovativ? Wage ich

etwas und gebe ich mich nicht mit dem Erstbesten

zufrieden?

 

Verbinde:

An wen richte ich meine Botschaft, woran knüpft

meine Arbeit an, in welchem Umfeld ist sie

entstanden?

 

Vertraue auf dich selbst:

Bin ich stolz auf das, was ich mache? Was benötige

ich, um erfolgreich zu sein?

Der Spezialunterricht ist gebündelt. Alle Lektionen, welche für besondere Fördermassnahmen gesprochen, sprich finanziert sind, werden zusammengefasst und in einer Assistenzlehrkraft vereinigt. Das hat zur Folge, dass in den meisten Lektionen das “Vier-Augen-Prinzip” herrscht.

 

Später Schulbeginn

Für SchülerInnen beginnt der Unterricht sage und schreibe erst um 9.30 Uhr. Er dauert dann ohne Unterbruch bis 12.00 Uhr. Nach einer Mittagspause von einer Stunde – die Mission Hill ist eine Ganztagsschule und die Schülerinnen ud Schüler werden in der Kantine verpflegt – geht es dann um 13.00 Uhr weiter bis 15.30 oder 16.00 Uhr. Es sind rund fünf bis sechs Lektionen pro Tag, fünf Tage lang. Die Lehrkräfte finden sich bereits um 8.00 Uhr im Schulhaus ein. Es ist die Zeit für Vorbereitungen und Teamsitzungen. Nach 16.00 Uhr, wenn die SchülerInnen bereits weg sind, bleiben die Lehrkräfte noch bis 17.00 Uhr in der Schule. Zeit für Korrekturen und Absprachen. Wenn ein Lehrer an der Mission Hill nach Hause geht, dann tut er dies meistens ohne Tasche, die mit Heftern vollgestopft sind. Er kann sich seiner Familie, seinen Hobbys oder seiner Regeneration widmen. Die Klassenlehrkräfte arbeiten alle 100 %, das sind 24 Lektionen pro Woche. Der Spezialunterricht ist gebündelt. Alle Lektionen, welche für besondere Fördermassnahmen gesprochen, sprich finanziert sind, werden zusammengefasst und in einer Assistenzlehrkraft vereinigt. Das hat zur Folge, dass in den meisten Lektionen das “Vier-Augen-Prinzip” herrscht. Ein Prinzip, das meine Frau, selber Schulleiterin, die mich auf der Reise begleitetete, in ihrer Schule später entgegen allen Vorgaben selber installierte.

Sämtliche Schulanlässe mit Elternbeteiligung finden in diesem Zeitgefäss statt. Eltern in Boston haben das Recht, vier Halbtage für die Schule freizunehmen.

Eltern bekommen auch Halbtage

Friday sharing: Wochenabschluss mit den Eltern

Sämtliche Schulanlässe mit Elternbeteiligung finden in diesem Zeitgefäss statt. Eltern in Boston haben das Recht, vier Halbtage für die Schule freizunehmen. Deswegen finden Schulfeiern, Theaterstücke und «presentations» immer während der Unterrichtszeit statt und selten am Abend. Eine Ausnahme bildet das Governance Board, eine Art Sitzung der Aufsichtsbehörden. Allerdings spielen hier nicht die Behördenvertreter die Hauptrolle, sondern die Eltern und SchülerInnen.

Die Lehrkräfte sind das Zentrum dieser Schule. Sie bilden eine verschworene Gemeinschaft und sind stolz, in dieser Schule zu unterrichten.

Es gibt jeweils ein feines Catering und dann wird gearbeitet, besprochen, gelobt, kritisiert und entschieden. Der Schulleiterin werden Rückmeldungen über ihre Führung gegeben, von Seiten der Lehrer-, Eltern- und der Schülervertreter, das Essen in der Kantine wird bemängelt, das Foundraising für die Renovation des Esssaals besprochen.

Die Lehrkräfte sind eine verschworene Gemeinschaft.

Die Lehrkräfte sind das Zentrum dieser Schule. Sie bilden eine verschworene Gemeinschaft und sind stolz, in dieser Schule zu unterrichten. Nichts geht ohne sie. Sie schlagen jahrgangsgemischte Klassen vor, wenn sie überzeugt sind, dass es der Unterrichtsqualität dient, sie schaffen sie ab, wenn der Aufwand den Ertrag übersteigt. Intensive und heftige Diskussionen gehen da jeweils voraus.

Jedes Kind hat eine Vertrauensperson, einen Paten, die Türen zu den Schulzimmern sind immer offen und jede Lehrperson fühlt sich für jeden Schüler verantwortlich.

Vertrauensperson

Ich sass im Unterricht einer achten Klasse, als ein jüngeres Mädchen hereinkam, direkt auf den Lehrer zuging, ihn umarmte und schluchzte: «Sie hat mich rausgeworfen.» Der Lehrer beruhigte sie. Er war ihr Vertrauenslehrer, und gleichzeitig sass auch ihre «Patin» in der Klasse. Das Mädchen wurde zur älteren Schülerin gebracht, diese richtete ihr einen Computerplatz ein, und die Ruhestörerin arbeitete still am Computer weiter. Ein wenig später kam die Lehrerin, erkundigte sich nach dem Kind, das sie soeben hinausgeworden hatte. Die beiden Lehrkräfte beschlossen gemeinsam, sie noch etwas in der anderen Klasse zu lassen. Die Szene war bezeichnend für die Mission Hill: Jedes Kind hat eine Vertrauensperson, einen Paten, die Türen zu den Schulzimmern sind immer offen und jede Lehrperson fühlt sich für jeden Schüler verantwortlich. Später, als sich das Kind beruhigt hatte, ging es wieder zurück in seine Klasse.

Oft hilft es auch schon, dass die Lehrer für jede Unterrichtsstunde einen Assistenten zur Seite haben. Wenn ein Schüler Schwierigkeiten hat, überfordert ist oder stört, kann sich die zweite Lehrkraft um ihn kümmern, ohne dass der Unterricht dadurch gestört wird.

Anne fragte die Runde, was sie falsch gemacht habe. Ich staunte. Sie beklagte sich nicht über die rotzfrechen Teenies, sie fragte, was sie hätte besser machen sollen. Diese ureigene amerikanische Fehlerkultur wäre an vielen Schulen bei uns undenkbar.

Beeindruckende Selbstkritik

Anne Ruggerio: Beeindruckende Selbstkritik

Anne Ruggerio, eine junge Assistenzlehrerin an der 8. Klasse, hatte einmal einen miserablen Morgen. Sie war alleine mit den Schülern, weil Jacob Wheeler, der Klassenlehrer, gerade mit einer Krisensituation absorbiert war. Die Physiklektion entglitt ihr vollends. Motivationslos lümmelten sich die Teenager an ihren Tischen herum, kaum eine Anweisung wurde befolgt. Ich sass da und war gespannt, wie sich die Lektion entwickeln würde. Nach etwa einer halben Stunde lief Ann aus dem Klassenzimmer und kam mit einer Videokamera wieder zurück. Sie bat mich, ihren Unterricht aufzunehmen. Ich solle die Kamera vor allem auf sie richten. Der Unterricht wurde dadurch nicht besser, es war ein Alptraum. Am nächsten Tag wurde meine Filmsequenz dem Klassenteam und der Schulleiterin vorgeführt. Ann fragte die Runde, was sie falsch gemacht habe. Ich staunte. Sie beklagte sich nicht über die rotzfrechen Teenies, sie fragte, was sie hätte besser machen sollen. Diese ureigene amerikanische Fehlerkultur wäre an vielen Schulen bei uns undenkbar.

50% der Schüler sind Schwarze, 25% Latinos und 25% kommen aus dem vorwiegend weissen Mittelstand.

Vom Kindergarten bis in die achte Klasse werden die Kinder integriert unterrichtet. Noten gibt es ab der 4. Klasse. Auch behinderte und leistungsschwache Schüler besuchen hier die Regelschule. 50% der Schüler sind Schwarze, 25% Latinos und 25% kommen aus dem vorwiegend weissen Mittelstand.

Mitunter werden Tische mit Schülern repariert

Im Fach Mathematik sind die Leistungen der Mission Hill-Schüler wesentlich schwächer als bei uns. Eine Orientierungsarbeit am Ende der sechsten Klasse in der Schweiz würde den 8.-Klässlern in Mission Hill grosse Schwierigkeiten bereiten. Es werden auch keine Fremdsprachen unterrichtet. Englisch ist, was zählt. Und hier haben die selbst verfassten Texte eine ausserordentliche Qualität. Der Lesefertigkeit wird grosse Aufmerksamkeit geschenkt. Jeder Schüler erhält von Beginn an eine Bücherbox und einen Lesepass.

Auffallend ist der investigative Unterricht mit einem

Physikalische Experimente ä gogo, und wo auch immer.

starken Gewicht auf die technischen und wissenschaftlichen Fächer. Es gibt im Unterricht keine Arbeitsblätter, nur weisse Hefte, die mit Beobachtungen und Zeichnungen gefüllt werden. Bereits ab der 1. Klasse forschen, tüfteln und untersuchen die Kinder Naturphänomene. Die Schüler experimentieren mit Feuer und Rauch, erforschen schon in der Unterstufe das Wesen der Flamme und das CO2. Sie feilen an Eisen herum, entwickeln eigene Experimente. Sie reparieren kaputtgegangenes Mobiliar, entwickeln Produkte, die sie dann verkaufen.

Verbundenheit mit den Lehrkräften

Auffallend und für einen Europäer auch seltsam ist die unglaubliche Verbundenheit der Lehrkräfte zu ihren Schülern. Da sind auch physische Berührungen wie Umarmung kein Tabu, sondern Standard.

Ziad Clark, Vater einer Tochter der Mission Hill, ist ein Bostoner Jugendanwalt. Er erzählte mir, er habe vor kurzem einen schwarzen Jungen aus der Schule vor Gericht verteidigen müssen und es habe ihn erstaunt, dass sämtliche seiner Lehrer der Verhandlung beigewohnt hätten.

Immer mehr Eltern, vor allem auch Weisse, nahmen ihre Kinder aus den Privatschulen und stellten den Antrag, ihre Kinder in die Mission Hill Schule schicken zu können.

Ziad Clark, Anwalt, nahm sein Kind aus der Privatschule und schickte es in die Mission Hill.

Der Mittelstand reagiert

Der gebeutelte Mittelstand in Mission Hill erkannte die wachsende Qualität ihrer Schule. Da war eine Schule, die auf das Können und die Kreativität der Kinder setzte. Chaos und Ghetto verschwanden allmählich, die Abschlüsse und Übertritte begannen zu funktionieren. Immer mehr Eltern, vor allem auch Weisse, nahmen ihre Kinder aus den Privatschulen und stellten den Antrag, ihre Kinder in die Mission Hill Schule schicken zu können. Für sie bedeutete dies auch eine enorme finanzielle Entlastung.

Da Boston aber auf ein ausgedehntes Bussing setzt, um in allen Quartieren eine einigermassen ausgewogene Schülerschaft an den Public Schools zu garantieren, ist die Chance, einen Platz an der Schule ihres Wohnortes zu erhalten, eingeschränkt. Es gab mehr Anmeldungen, als die Schule aufnehmen konnte.

Die Behörden erkannten die Erfolge der Mission Hill Schule, die sich bald einmal einen landesübergreifenden Ruf erarbeitete.

Die Schule zieht um

Jacob Wheeler: Das ist Verrat!

Diese Entwicklung blieb Thomas Menino, der immer noch Bürgermeister von Boston ist, nicht verborgen. Erstaunt nahm man im Schuldepartement zur Kenntnis, dass es auch ausserhalb des Mission Hill-Quartiers sehr viele Eltern gab, welche ihre Kinder unbedingt in die Mission Hill schicken wollten.

US-Amerikaner sind in der Regel sehr pragmatisch und das galt auch für die Leute um Bürgermeister Menino. Die Behörden erkannten die Erfolge der Mission Hill Schule, die sich bald einmal einen landesübergreifenden Ruf erarbeitete. Sie eröffneten ihnen daraufhin folgenden Entscheid: Die Mission Hill Schule sei sehr erfolgreich. Deshalb wolle man sie auch vergrössern. Die Schule solle umziehen in den Jamaica Plain, ein aufstrebendes Trendquartier. Das Gebäude sei dort frisch renoviert worden und es biete Platz für mehr Schüler.

Ayla Gavins: Gab am Schluss nach und quittierte den Job als Schulleiterin.

In der Mission Hill Schule war man fassungslos. «Was passiert denn mit unseren Schülern?» – «Die nehmt ihr natürlich mit». Jeder, der an der Mission Hill Schule unterrichtet werde, könne weiterhin Schüler bleiben, hiess es.

Man muss sich dies einmal in Zürich vorstellen, wenn das Schulhaus Letten mitsamt der Schülerschaft in den Kreis Wipkingen umziehen soll.

Der Widerstand war heftig. Deborah Meier, die ihr Amt als Schulleiterin 2004 an ihre Nachfolgerin Ayla Gavins übergeben hatte, war an vielen Sitzungen dabei und versuchte zu vermitteln. Die Schule wuchs so auf über 350 Schülerinnen und Schüler, was für Debora Meier natürlich bereits zu gross war.

Verrat oder Export?

Im Grunde wiederholte sich hier der Harlem-Effekt. Harlem war ebenfalls zu einem Trendquartier geworden. Die Oberschicht und viele gut situierte Familien wohnen heute in dem ehemaligen Ghettoquartier. Inwieweit hier auch das erfolgreiche Schulmodell von Deborah Meier mitgewirkt hat, wäre noch zu untersuchen. Aber mit dem Einzug der neuen Schichten gerieten auch die progressiven Ideen der East Harlem School unter Druck. Heute sind die von Deborah Meier gegründeten Schulen in New York solide Mittelstandsschulen, viele Innovationen wurden rückgängig gemacht.

Heftiger Widerstand

Die Lehrer der Mission Hill wehrten sich mehrheitlich gegen den Umzug, vor allem aber die Quartierbewohner waren ausser sich. Man nahm ihnen ihren ganzen Stolz weg, eine Schule, die sich eine nationale Ausstrahlung erworben hatte und mit der ihre Kinder mit Stolz und Freude identifizierten.

Die neue Schulleiterin Ayla Gavins kam massiv unter Druck. Sie wehrte sich gegen den Umzug. Eine öffentliche Äusserung, in welcher sie die High Stake-Tests stark kritisierte und meinte, man solle die Millionen Dollar, die für diesen Unsinn ausgegeben werden, gescheiter in die Praxis investieren, brachte ihr ein Disziplinarverfahren ein. Sogar ihre Mentorin und grosse Unterstützerin, Deborah Meier, kritisierte sie deswegen. «Du musst dir nicht jetzt eine neue Front aufbauen», meinte die mittlerweile 80-jährige Schulgründerin.

Das Vorlesen hat einen grossen Stellenwert.

Als ich Ayla Gavins, Jacob Wheeler, Deborah Meier und Ann Ruggerio im Sommer 2013 besuchte, war die Mission Hill Schule im Jamaica Plain angesiedelt. Die Schülerschaft hatte sich langsam verändert, der Anteil der schwarzen Unterschicht war gesunken, die Zahl der Weissen und der Latinos gestiegen. Ayla Gavins sah müde aus. Sie musste in den Ferien an einem Managerkurs teilnehmen. Thema: Wie können die Schulen ihr Label entwickeln und es professionell vermarkten. Bei unserer letzten Begegnung hat Ayla die Schulleitung abgegeben. Sie unterrichtet neuerdings eine Klasse im Jamaica Plane. Jacob Wheeler hat die Mission Hill verlassen, er empfand diesen Umzug als einen Verrat. Ann Ruggerio hingegen arbeitet weiter in der Mission Hill. «Unsere Arbeit ist wichtig, und ich mache sie immer noch gerne», meint die inzwischen zur Klassenlehrerin mutierte ehemalige Hilfskraft.

Das ganze Kollegium flog für fünf Tage nach Detroit, machte sich ein Bild über die Agonie der ehemaligen Autometropole und besuchte Nachbarschaftsprojekte.

Scheinbares Chaos aus dem kreative Ideen nur so sprudeln.

Und Debora Meier? Sie kämpft weiterhin gegen den Untergang der Public School in den USA. Und sie besucht immer noch regelmässig das Governance Bard der Mission Hill Schule, die sich im Jamaica Plain befindet. In einer leidenschaftlichen Rede überzeugte sie das Kollegium, einen Weiterbildungsurlaub in Detroit zu machen, um dort die lokalen Kräfte, die sich für den Erhalt der öffentlichen Schulen einsetzen, zu unterstützen. Das ganze Kollegium flog für fünf Tage nach Detroit, machte sich ein Bild über die Agonie der ehemaligen Autometropole und besuchte Nachbarschaftsprojekte. Dafür bezahlte jede Lehrkraft 500 Dollar aus der eigenen Tasche.

Jacob Wheeler, der diese Reise noch mitgemacht hatte, bevor er ausstieg, meinte, dass man auch viel Hoffnungsvolles gesehen habe. «Es entsteht wieder etwas in diesem Irrsinn, und es beginnt in den Schulen.» Und er fügte hinzu: «Wo denn auch sonst?»

Nächstes Jahr, nach meiner Pensionierung werde ich – sofern es Covid19 zulässt – wieder nach Boston reisen. Nicht mehr als interessierter Lehrer, sondern als Freund einer wunderbaren Stadt mit ihren offenen Menschen. Trump hin oder her. Und ich werde am 90. Geburtstag von Debora Meier teilnehmen. Sie erfreut sich immer noch guter Gesundheit und ist geistig vollkommen präsent.

Alain Pichard hat die Mission Hill 2009, 20013, 2015 besucht

 

 

 

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