Privatschule - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 10 Oct 2023 21:33:41 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Privatschule - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Rund 90 Prozent aus Familien ausländischer Herkunft – alle schaffen den Abschluss https://condorcet.ch/2023/09/rund-90-prozent-aus-familien-auslaendischer-herkunft-alle-schaffen-den-abschluss/ https://condorcet.ch/2023/09/rund-90-prozent-aus-familien-auslaendischer-herkunft-alle-schaffen-den-abschluss/#comments Sat, 30 Sep 2023 09:56:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=15048

Einer privaten Sekundarschule in Berlin-Wedding gelingt das, woran die staatlichen Nachbarschulen scheitern: Sie bringt alle Jugendlichen zu einem Abschluss – egal, wie wenig Deutsch sie anfangs können oder wie wenig sie in der Grundschule gelernt haben. Was ist ihr Erfolgsrezept? Ein Bericht der Journalistin Freia Peters, der in der WELT erschienen ist.

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Die Jugendlichen, die an diesem Morgen in das unscheinbare Schulgebäude in Berlin-Wedding schlendern, sind nicht anders als die in der Nachbarschule ein paar Straßen weiter: Rund 90 Prozent der Schüler stammen aus Familien nicht-deutscher Herkunft. Ebenso viele sind lernmittelbefreit, sie müssen also keine Zuzahlung für Schulbücher leisten, weil ihre Eltern Arbeitslosengeld, Wohngeld oder weitere Sozialtransfers beziehen.

Gastautorin Freia Peters

Und doch blicken die Schüler der Privatschule im Gewerbegebiet gegenüber der Senffabrik einer etwas rosigeren Zukunft entgegen: Sie haben eine bessere Chance auf einen anerkannten Schulabschluss.

Alle Zehntklässler haben im vergangenen Sommer unsere Schule mit einem Abschluss verlassen“, sagt Schulleiter und Quereinsteiger Pantelis Pavlakidis, 37 Jahre alt. Seit fünf Jahren leitet er die freie Quinoa-Schule, die mehr Chancengleichheit bieten will und damit sehr erfolgreich ist.

An den anderen Sekundarschulen in Berlin-Mitte verfehlten im vergangenen Jahr neun Prozent den untersten Abschluss Berufsbildungsreife. Weit mehr als die Hälfte der Schüler hingegen schaffte sogar den mittleren Schulabschluss auf der Quinoa-Schule. Die ist benannt nach der Pflanze, die auch auf kargem Boden gedeiht.

Gute Beziehung zum Lehrer schafft Lernmotivation

Damit die Leistung der Schüler wächst, so der Leitgedanke der Schule, brauchen sie vor allem eine gute Beziehung zum Lehrer. „Je besser diese ist, desto stärker steigt die Leistung. Denn Bindung schafft Lernmotivation“, erklärt Pavlakidis. „Und die Tragfähigkeit der Beziehung verpflichtet auch dazu, sein Bestes zu geben.“ Also hat jeder der 170 Schüler einen Tutor aus dem pädagogischen Team aus Lehrern, Sonderpädagogen und Lerntherapeuten. Die jeweilige Lehrkraft nimmt sich mindestens alle zwei Wochen Zeit und spricht mit seinem Mentor-Schüler: Wie läuft es?

Schulleiter Pantelis Pavlakidis (Bild: Martin U.K. Lengemann/WELT)

Den Lehrern ist das möglich, weil der Bindungsaufbau als Arbeitszeit anerkannt wird – dafür müssen sie weniger unterrichten, bekommen aber auch weniger Gehalt. „Zudem haben wir hier flache Hierarchien und ein sehr kollegiales Klima.“ Das scheint vielen Lehrern wichtiger zu sein als das Gehalt: Wenn Pavlakidis eine freie Stelle zu besetzen hat, kann er sich den besten Kollegen aus mehreren Bewerbungen herausfischen – und das, obwohl für das Schulbudget ständig aufs Neue geworben werden muss: 75 Prozent deckt der Berliner Senat; für den Rest müssen Spenden akquiriert werden.

„Was aber allen gemein ist: Sie wollen, dass ihre Kinder einen Schulabschluss machen.“

Lerntherapeutin Stefanie Böjty-Ohler nimmt all das gerne in Kauf. „Ich habe in den vergangenen Jahren einen guten Einblick in die türkische und arabische Kultur bekommen“, sagt sie. Lange habe sie in einem gut situierten Viertel gearbeitet, viel mit Eltern zu tun gehabt, die ihrem Kind trotz Lese-Rechtschreib-Schwäche unbedingt die dritte Fremdsprache beibringen wollten. An der neuen Schule ergebe ihre Arbeit mehr Sinn. Sie lerne die Familien kennen, besuche ihre Schüler zu Hause. „Die Eltern reagieren sehr unterschiedlich auf mich und unsere Gespräche“, erzählt sie. „Was aber allen gemein ist: Sie wollen, dass ihre Kinder einen Schulabschluss machen.“

Dahin zu kommen sei keine einfache Aufgabe. „Wenn die Schüler in der siebten Klasse zu uns kommen, sind bei einem Großteil der Schüler – circa 80 Prozent – die Rechtschreibleistung und Lesekompetenz unterdurchschnittlich“, sagt Böjty-Ohler, „und was wir dann oft zu hören bekommen ist: ‚Ich kann das eh nicht, ich bin dumm‘. Meine Aufgabe ist es dann erst mal, das Selbstwertgefühl der Schüler zu stärken und zu bekräftigen: Du schaffst das! Wir schaffen das!“

Erst mal flüssig lesen – auch mit Lücken

Böjty-Ohler steigt die Treppe hinauf, hinein in den Klassenraum, in dem der Grundkurs Deutsch der neunten Klasse stattfindet. Die Jugendlichen sind 14, 15 Jahre alt. An den Tischen sitzen vier Mädchen und acht Jungen – halt, sieben Jungen, der achte ist der Lehrer: Tamer Cinar ist Referendar – sehr jung, schwarzes Jackett, Silberkette, die Haare am Hinterkopf abrasiert.

Gemeinsam lesen sie das Buch „Sonne und Beton“ über Jugendliche in Berlin-Neukölln, die abhängen, kiffen und in ihrer Schule die neuen Computer klauen wollen.

Referendar Tamer Cinar (M.) – Bild: Martin U. K. Lengemann/WELT

Die Schüler (Namen im Folgenden geändert) lesen nacheinander laut ein Kapitel des Buches vor. Kemal spricht leise, während er seinen Kopf in der Schulter vergräbt. Laila liest stockend weiter. Referendar Cinar unterbricht nicht, wenn sie einen Artikel oder das Verb weglässt; oder wenn sie „Computers“ sagt statt „Computer“.

Später wird Cinar erklären, dass er die Schüler nicht korrigiere, weil das primäre Ziel sei, mit ihnen das flüssige Lesen zu üben – was nicht möglich wäre, wenn er dauernd unterbrechen würde. Die „Sprachbooster“ kommen später im Schuljahr.

Vom Diplomatenkind bis zu syrischen Geflüchteten

Cinar ist Referendar kurz vor seinem zweiten Staatsexamen. Einen Teil seiner Ausbildung macht er an der Quinoa-Schule in Berlin-Wedding, einen anderen am altsprachlichen Canisius-Kolleg in freier Trägerschaft des Jesuitenordens. So begegnet er der vollen Bandbreite der Berliner Schüler – vom Diplomatenkind bis zu syrischen Geflüchteten. Ein Mädchen aus der Klasse habe nach der Flucht aus Aleppo drei Jahre lang nicht gesprochen. Seit Kurzem antworte sie, wenn Cinar ihr eine Frage stelle, erzählt er. „Solche Erfolgsmomente geben mir einen großen Motivationsschub.“

Anschließend sollen die Schüler einen Lückentext ausfüllen. Die Schüler sollen die Rolle des Anstifters unter den Schülern in der Geschichte herausarbeiten, er heißt Sanchez. „War es Sanchez‘ Idee, die Computer zu klauen?“, hakt Böjty-Ohler nach. „Ich hab das nicht verstanden“, sagt Larissa. „Wer ist Sanchez noch mal?“

Böjty-Ohler: „Ein Korrigieren der Groß- und Kleinschreibung würde den Rahmen sprengen“

Auch hier sollen die Anforderungen nicht hoch gehängt werden. Es reicht, wenn die Schüler auf die Frage nach dem Standpunkt von Sanchez „war dafür“ hinschreiben. Es muss kein ganzer Satz sein. In der Prüfung zur Berufsbildungsreife ist es vor allem wichtig, dass die Schüler den Text verstanden haben.

„Ein Korrigieren der Groß- und Kleinschreibung würde den Rahmen sprengen“, sagt Böjty-Ohler nach der Stunde. „Die Baustellen sind so riesig, da muss man priorisieren.“ Wenn man nur früher ansetzen könnte, nicht erst mit zwölf Jahren. „Es wäre besser, wir hätten sie schon ab Klasse fünf“, findet auch Schulleiter Pavlakidis.

Auch Eltern müssen an ihre Verantwortung erinnert werden

Berlin und Brandenburg sind die einzigen Bundesländer, in denen die Grundschule sechs Jahre dauert, daran hat sich seit der Nachkriegszeit nichts geändert. Vor allem grüne Bildungsexperten sind nach wie vor von der späten Trennung der Kinder überzeugt, sie vermindere die sozialen Ungleichheiten. Doch bei den Lesefähigkeiten der Grundschüler rangiert Berlin stets auf den hintersten Plätzen.

„Gezielte Förderung nach der fünften Klasse – vor allem im sprachlichen Bereich – würde vielen Schülern einen besseren Abschluss ermöglichen“, resümiert Pavlakidis.

Die Quinoa-Schule in Berlin-Wedding
(Bild:: Martin U. K. Lengemann/WELT)

Auch viele Eltern müssten eher an ihre Verantwortung erinnert werden. „Können Sie mal eine Regel machen, dass die Kinder mit Rucksack in die Schule gehen sollen?“, bat jüngst eine Mutter auf der Elternversammlung. „Meine geht immer nur mit einem kleinen Täschchen los.“ Eine andere Mutter erwiderte: „Aber das ist doch eigentlich Ihre Verantwortung.“

„Ich habe dank dieser Schule das Beste aus mir herausgeholt!“

„Da muss ich zustimmen“, sagte Pavlakidis, nachdem er diese Anekdote erzählt hat. Sie zeige, wie wichtig es sei, die Eltern in die Schularbeit einzubeziehen. „Wir versuchen, den Schüler nicht nur als jungen Menschen zu sehen, dem wir etwas beibringen wollen, sondern auch als Kind seiner Eltern, eben mit all dem, was seine Biografie ausmacht“, sagt Pavlakidis. Der Erfolg gibt ihm recht.

„Ich habe dank dieser Schule das Beste aus mir herausgeholt!“ Mit diesem Satz einer ehemaligen Schülerin wirbt die Schule auf ihrer Website. Sie macht demnach gerade ihr Abitur. Ihr Berufswunsch: Neurochirurgin.

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Privatschulen fordern das Bildungssystem heraus: Was die Schweizer Volksschule von ihnen lernen sollte https://condorcet.ch/2022/02/privatschulen-fordern-das-bildungssystem-heraus-was-die-schweizer-volksschule-von-ihnen-lernen-sollte/ https://condorcet.ch/2022/02/privatschulen-fordern-das-bildungssystem-heraus-was-die-schweizer-volksschule-von-ihnen-lernen-sollte/#comments Tue, 01 Feb 2022 07:59:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=10445

Bildungsexpertin Margrit Stamm schreibt, dass man die Privatschulen zu lange als qualitativ weniger gute Institutionen für verwöhnte Kinder aus vermögenden Familien abgetan habe.

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Margrit Stamm: Mit dem Privatschultrend ist auch die Schwächung der Berufsbildung verbunden.

Elitär, exklusiv, käuflich, sagen die Gegner – innovativ, leistungsförderlich, individualisiert die Befürworter. Privatschulen bringen uns in Wallung, spätestens dann, wenn eine Sozialdemokratin ihr Kind in ein privates Gymnasium schickt oder irgendwo am Zürichsee eine Schule mit einem «International» im Namen öffnet.

Schweizweit besuchen durchschnittlich sechs Prozent der Heranwachsenden eine Privatschule, Tendenz steigend. Das ist noch kein hoher Marktanteil, doch betrachtet man die Privatschülerquote in Gemeinden und Kantonen, sieht es anders aus. Im Kanton Zürich haben beispielsweise Zumikon oder Kilchberg Anteile von gegen 26 Prozent. Spitzenreiter bei den Kantonen sind Genf mit 14 Prozent und Basel-Stadt mit 10 Prozent. Schülerinnen und Schüler mit ausländischer Staatsangehörigkeit besuchen fast doppelt so oft eine Privatschule wie einheimische Schulkinder.

Schweizweit besuchen durchschnittlich sechs Prozent der Heranwachsenden eine Privatschule, Tendenz steigend.

Warum werden Privatschulen zunehmend eine Konkurrenz der öffentlichen Schulen? Die Antworten aus einer Pisa-Vergleichsstudie zeigen Überraschendes. Egal ob man das Alter der Lehrkräfte oder die Zufriedenheit der Kinder und Jugendlichen unter die Lupe nimmt: Unterschiede zwischen öffentlichen und privaten Schulen sind marginal. Doch in der Leistung stechen die Privaten hervor. Ihre Schülerinnen und Schüler sind besser in Mathematik, sie lesen flüssiger und machen weniger Rechtschreibfehler. In der Sekundarstufe I sind sie den Heranwachsenden öffentlicher Schulen bis zu einem halben Jahr voraus. Und sie haben weniger Sitzenbleiber.

Das Ergebnis spricht somit auch für die öffentlichen Schulen und ihre Integrations­fähigkeit. Sie haben den gesellschaftlichen Auftrag, alle Kinder, sowohl die Besten als auch die Schwächsten, auszubilden, zu fördern und zu integrieren.

Einer der Gründe hierfür liegt in der homogen hohen sozialen Herkunft der Privatschüler und -schülerinnen. Berücksichtigt man dies, schneiden öffentliche Schulen ein wenig besser ab. So besehen ist es erstaunlich, dass Privatschulen nicht ausgeprägter von ihrem Herkunftseffekt profitieren. Das Ergebnis spricht somit auch für die öffentlichen Schulen und ihre Integrations­fähigkeit. Sie haben den gesellschaftlichen Auftrag, alle Kinder, sowohl die Besten als auch die Schwächsten, auszubilden, zu fördern und zu integrieren. Trotzdem haben sie teilweise versäumt, mit den Privatschulen gleichzuziehen. Etwa im Bestreben, das eigene Profil sichtbar zu machen, individuelle Betreuung und gezielte Förderprogramme für begabte Kinder zu etablieren oder die Beziehung zwischen Lehrkräften und Heranwachsenden mehr zu gewichten.

Doch dahinter steckt nicht selten die Strategie, das Gymnasium und damit die Maturität als Statussymbol garantieren zu können.

Hinter dem Entscheid von Eltern, den Sprössling in eine Privatschule zu schicken, stecken spezifische Vorstellungen, wie eine optimale Bildung aussehen soll. Dabei überwiegen Klagen, die Klassen seien zu gross, das Kind würde gemobbt oder die Schülerschaft sei zu heterogen. Doch dahinter steckt nicht selten die Strategie, das Gymnasium und damit die Maturität als Statussymbol garantieren zu können. Deshalb kann der Wechsel in eine Privatschule auch lediglich Ausdruck einer Art Bildungsangst sein, das Kind könnte die erwarteten Ziele nicht erfüllen.

Der Trend hat auch mit der Volksschule selbst zu tun. Sie klagt zu viel über ehrgeizige Eltern, anstatt das Zepter in die Hand zu nehmen und aufzuzeigen, wozu sie fähig ist. Die Volksschule muss ein Spiegel der Gesellschaft sein, nicht die Privatschulen. Sie sind eine sinnvolle Ergänzung der öffentlichen Schulen. Doch zu lange hat man die Privatschulen als qualitativ weniger gute Institutionen für verwöhnte Kinder aus vermögenden Familien abgetan.

Auch die Bildungspolitik ist gefordert. Denn mit dem Privatschultrend ist auch die Schwächung der Berufsbildung verbunden. Es versteht sich von selbst, dass Eltern, die ihr Kind für teures Geld in eine Privatschule schicken, den akademischen Weg im Blick haben und kaum die Berufslehre. Obwohl es Privatschulen gibt, welche dieses Problem proaktiv angehen, müssten Kantone die Berufsbildung gezielter stärken. Das betrifft vor allem Kantone, die mit ihrer Steuerpolitik finanzstarke und privatschulaffine Familien anziehen.

Dieser Artikel erschien zuerst im Oltener Tagblatt: https://www.oltnertagblatt.ch/meinung/kolumne-privatschulen-fordern-das-bildungssystem-heraus-was-die-schweizer-volksschule-von-ihnen-lernen-sollte-ld.2196926

 

 

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UWC – Das grosse Interview: Empathie für das Menschliche https://condorcet.ch/2021/10/uwc-das-grosse-interview-empathie-fuer-das-menschliche/ https://condorcet.ch/2021/10/uwc-das-grosse-interview-empathie-fuer-das-menschliche/#respond Mon, 04 Oct 2021 13:17:41 +0000 https://condorcet.ch/?p=9418

Nachdem Jürgen Capitain im vorangehenden Beitrag die Idee des UWC vorgestellt hat, stellt Condorcet-Autor Alain Pichard den beiden National Commitee-Mitgliedern Marie Caffari und Jürgen Capitain kritische Nachfragen. Natürlich geht es dabei auch um die Bildungsqualität, die Finanzen und die Gefahren einer Ideologisierung. Herausgekommen ist ein spannendes und sehr persönliches Interview, bei dessen Lektüre wir Ihnen viel Spass und einen Erkenntnisgewinn wünschen.

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Prof. Dr. Marie Caffari, Leiterin Schweiz. Literaturinstitut, Mitglied des National Committee Switzerland: Die finanziellen Mittel sind nicht das Auswahlkriterium, wir interessieren uns für das Potential.

Liebe Marie, lieber Jürgen, ihr beide seid seit Jahren für die Idee des UWC engagiert. Könnt ihr mir erzählen, wie ihr zu dieser Institution gekommen seid. Oder anders gefragt, wann entstand diese Liebesgeschichte?

Marie Caffari

Bei mir geschah es 1983 durch die Begegnung mit einem ehemaligen Schüler des Atlantic-College, der zu uns in die Schule kam. Ich war damals eine nicht ganz 16 Jahre alte Schülerin einer Sekundarschule in Lausanne. Die Schule war sehr gut. Aber mir fehlte etwas. Und so ging ich mit einer Broschüre zu meiner Mutter und sagte ihr: In diese Schule möchte ich gehen.

Was genau fehlte dir?

Marie Caffari:

Mich sprach dieser pädagogische Spirit an, der stark auf Eigeninitiative und Kreativität setzte.

Wie reagierte deine Mutter?

Marie Caffari:

Sie zeigte grosses Verständnis. Ich muss noch nachschieben, dass in unserer Familie die öffentliche Bildung eine unbestrittene Stellung hatte. Also, die Idee, eine Privatschule zu besuchen, war bis dahin überhaupt nicht im Fokus.

Jürgen Capitain,  pensionierter Gymnasiallehrer und emeritierter Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich, wohnhat in Magglingen bei Biel, Mitglied der National Association des UWC Switzerland: Die Begeisterung für die Ideen der UWC-Bewegung faszinierte mich.

Jürgen Capitain

Ich bin eher zufällig auf UWC aufmerksam geworden. Eine exzellente Schülerin, die sich in meinem Unterricht auf die Cambridge-Prüfungen CAE und Proficiency vorbereitete, erzählte mir von ihrem Wunsch, an einem UWC studieren zu können. Ihre Begeisterung für die Ideen der UWC-Bewegung faszinierte mich und ich erkundigte mich genauer über die Geschichte der UWCs. Für ihr Dossier zur Anmeldung an das Aufnahmeverfahren schrieb ich der Schülerin eine sehr positive Referenz. Der für das Aufnahmeverfahren zuständige Vizepräsident der UWC Swiss Association war mir bereits bekannt (ohne dass ich von seinem Einsatz für UWC wusste), da wir beide am Sekundarlehramt der Universität Zürich eine Anstellung hatten. Nachdem er meine Referenz gelesen hatte, fragte er mich, ob ich bereit sei, das Vizepräsidium der UWC Swiss Association zu übernehmen, da er als damaliger Rektor des Literargymnasiums Rämibühl in Zürich zeitlich sehr belastet war. Mein Interesse war geweckt, und an der nächsten Mitgliederversammlung, es muss etwa 2009 gewesen sein, wurde ich in den Vorstand der UWC Swiss Association gewählt. Seither bin ich verantwortlich für das Aufnahmeverfahren.

 Jetzt seid ihr quasi Botschafter der UWC in der Schweiz. Du, Marie, bist Präsidentin der UWC Swiss Association und du, Jürgen, bist deren Vizepräsident. In dieser Funktion geht ihr auch an die Schulen und macht Werbung für die UWC-Colleges. Und ihr seid auch um die Auswahl der neuen Studentinnen besorgt. Zeitlich ist das ein grosses Engagement.

Marie Caffari

Ich besuchte das Atlantic-College in Wales. Nachdem ich dort das IB (International Baccalaureat) bestanden hatte, kehrte ich in die Schweiz zurück. Das war nicht einfach. Man fühlte sich zwei Jahre lang einer grossen Familie zugehörig und erlebte eine intensive Zeit. Deshalb suchte ich mir den Kontakt mit ehemaligen Absolventen der UWC-Ausbildung. Wir organisierten Skilager für UWC-Schüler und gemeinsame Anlässe. Die ältesten Alumni sind heute bereits über 60, die jüngsten 20. Die Gründergeneration der Vereinigung der UWC in der Schweiz ist älter als die Eltern der Schülerinnen und Schüler, die an ein UWC in den 70er und 80er Jahren gingen.

Jürgen Capitain

Wie bereits gesagt, hat die Begeisterung einer Schülerin für ein Studium an einem UWC mein Interesse an dieser Institution geweckt. Sie studierte anschliessend am Atlantic College und so erhielt ich auch aus erster Hand Informationen über das Leben an einem UWC. Und ja, ich setze durchaus in den Monaten vor Ablauf der Anmeldefrist Zeit ein, um Werbung für ein Studium an einem UWC zu machen.

Das Atlantic-College in Wales: Grossbritannien hat eine grosse Tradition der Internate.

Immer wieder ist die Rede vom Atlantic-College. Dabei sind es heute ja weltweit deren 18 Colleges. Ist das Atlantic-College eine besondere Schule?

Jürgen Capitain

Sie ist die älteste, gegründet 1962. Und lange Zeit, bis zur Gründung des Lester Pearson College in Kanada im Jahr 1974, war sie auch die einzige. Es ist übrigens kein Zufall, dass dieses Atlantic-College in Grossbritannien gegründet wurde, wo hervorragende, ausgesprochen leistungsorientierte Privatschulen eine grosse Tradition haben. Das färbte ab.

Aber über den Zugang zu diesen Privatschulen entscheidet oft das Portemonnaie der Eltern bzw. die soziale Herkunft. Wie wollt ihr denn unsere Leserschaft davon überzeugen, dass das UWC nicht eine Privatschule für eine Elite ist?

Jürgen Capitain

Das ist eben der grosse Unterschied zu den herkömmlichen Privatschulen in Grossbritannien. Im UWC bestimmen National Committees über die Auswahl an Studenten und Studentinnen. Und die finanziellen Mittel der Eltern sind kein Auswahlkriterium, sondern das Potential, das die Kandidaten und Kandidatinnen mitbringen.

Darüber hinaus sind wir aber an jungen Menschen interessiert, die sich einbringen, die eine Botschaft in sich tragen, die Potential haben, aktiv zu werden, sich für eine Sache zu engagieren.

Marie Caffari

Natürlich müssen sie intellektuell in der Lage sein, ein IB zu schaffen. Darüber hinaus sind wir aber an jungen Menschen interessiert, die sich einbringen, die eine Botschaft in sich tragen, die Potential haben, aktiv zu werden, sich für eine Sache zu engagieren.

Da stelle ich mir die Auswahl eher schwierig vor.

Jürgen Capitain

Das Potential der Kandidatinnen und Kandidaten kann man in der Tat nicht so objektiv messen wie die Leistungen z.B. im Fach Mathematik. Aber man entwickelt mit der Zeit ein Gespür für die richtigen Leute. Ausserdem erhalten wir vorab Informationen über die Anwärter. Sie müssen in ihrer Anmeldung Texte über ihre Interessen und Aktivitäten, auch über Personen, die sie beeinflusst haben, schreiben.

Marie Caffari

Dort sehen wir auch, inwiefern sich diese jungen Menschen schon irgendwo eingebracht haben, ob sie kreativ sind, zum Beispiel im Bereich Theater oder Schreiben oder Musik, und ob sie sich sozial engagieren. Es ist uns wichtig, dass diese zukünftigen UWC-Studentinnen und Studenten Verantwortung übernehmen können.

Das UWC-College in Freiburg (D) wird von der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt.

Diese Ausbildung kostet allerdings sehr viel Geld. Wer bezahlt das?

Jürgen Capitain

Das UWC hat Donatoren, z.B. Stiftungen. Mit den uns zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln unterstützen wir die von uns gewählten Schüler und übernehmen bis zu 100% der Studienkosten. Hinzu kommt, dass viele der Colleges selbst auch Stipendien vergeben. Das UWC Robert Bosch in Freiburg (Deutschland) zum Beispiel wird durch die Robert-Bosch-Stiftung unterstützt, die alleine jährlich 50 solcher Stipendien für Schüler aus einkommensschwachen Familien, vor allem aus armen Ländern, garantiert.

Daneben gibt es aber auch Kinder aus sehr reichen Familien.

Lester B. Pearson, 1897 – 1972, kanadischer Premierminister und Nobelpreisträger, Gründer des Pearson-College in Kanada: Wir wollen eine Durchmischung.

Jürgen Capitain

Das stimmt zwar, aber im Gegensatz zu ‚normalen’ Privatschulen sind sie nicht zahlreich vertreten. Lester B. Pearson, kanadischer Friedensnobelpreisträger, ehemaliger Premierminister von Kanada, der von der UWC Bewegung vollkommen, betonte die Wichtigkeit, dass Kinder aus reichen Familien mit ärmeren zusammen studieren. Ihm war die soziale Durchmischung der Colleges ähnlich wichtig wie die Internationalität. Nach ihm sollten das Streben nach Frieden, der bewusste Umgang mit der Natur, internationale Verständigung und natürlich auch Toleranz nicht nur abstrakte Begriffe bleiben, sondern im täglichen Leben erfahren werden. Nebenbei, Prinz Charles, bekannt für seinen Einsatz für ökologische Themen, hatte lange, von 1978 bis 1995, das Präsidium des UWC International inne. Sehr viel nachhaltiger allerdings ist die Erinnerung an Nelson Mandela, den südafrikanischen Freiheitskämpfer, der erfolgreich gegen die Rassentrennung, die Apartheid, in Südafrika kämpfte, der von 1995 bis 1999 gemeinsam mit Queen Nuur von Jordanien die UWC-Bewegung präsidierte und nach 1999 Ehrenpräsident von UWC wurde. Von ihm stammt ein Satz, der geradezu als Wahlspruch von UWC angesehen werden könnte: „Education is the most powerful weapon which you can choose to change the world.“

Marie Caffari

Die UWC ermöglichen auch Jugendlichen aus Flüchtlingslagern eine Ausbildung. Dort entscheidet das international Commitee über die Aufnahme. Nicht zu vergessen die Kinder von Diplomaten und ‘Expatriates’, die immer wieder den Wohnort wechseln müssen. Auch hier bietet das UWC begabten und talentierten Kindern ein innovatives und stabiles Lernumfeld.

Die Wichtigkeit internationaler Begegnungen wurde schon von De Gaule und Adenauer erkannt.

Der internationale Charakter ist ja euer Markenzeichen. Was bezweckt ihr damit?

Jürgen Capitain

Das erste UWC wurde 1962 gegründet, in einer Zeit, in der Adenauer und De Gaule erkannten, dass die Versöhnung der einst verfeindeten Nationen unter anderem durch einen Austausch der Jugendlichen zu erfolgen habe. Das war auch der Gedanke bei der Gründung des UWC. Man hat hier die Möglichkeit, zwei Jahre lang mit vielen Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen zusammen zu leben und zu lernen.

Marie Caffari

So lernen auch Jugendliche aus verfeindeten Nationen durch ihr Zusammenleben Respekt füreinander. In einer UWC kommt es vor, dass jüdische Studierende mit Studierenden arabischer Herkunft, Pakistani mit indischen Studierenden sich treffen, Aktivitäten und Häuser teilen müssen.

Der Verständnisgedanke ist allgegenwärtig, das ist offensichtlich. In eurer Broschüre lese ich auch noch den Satz: «Möchtest du mit Gleichaltrigen die Welt verbessern?» Das tönt stark nach Programmatik oder anders gefragt: Gibt es bei euch einen ideologischen Unterricht?

Es geht um Werte, klar, aber nicht um Ideoogien.

Marie Caffari

Man kann das UWC als eine idealistische Schule betrachten, in der es um Werte geht. Gegenseitiger Respekt, gegenseitiges Verständnis, einander Zuhören. Das wird aber nicht im Unterricht gepredigt, sondern im Alltag praktiziert. Die vorher erwähnte Zusammensetzung der Schülerschaft fördert die Fähigkeit, andere zu verstehen. Sie müssen einander zuhören, denn sie arbeiten ja nicht nur zusammen, sie leben zusammen und entwickeln gemeinsame Projekte. Wenn eine nordirische Kommilitonin mit einer Studentin aus Singapur in einem Zimmer lebt, hat es kaum Platz für ideologische Streitgespräche. Man muss lernen zuzuhören, entwickelt von selbst einen kritischen Blick auf die Welt und beginnt eigene Positionen zu hinterfragen. Das ist in unserer heutigen Situation hochaktuell. Der Unterricht selbst ist nicht ideologisch geprägt, er setzt auf Mündigkeit.

Die Schüler wissen, dass sie hart arbeiten müssen. Denn nur gute IB-Abschlüsse garantieren ihnen, dass sie danach an eine Uni gehen können und dort auch noch Stipendien bekommen.

Bei allem Respekt für diese Werte, die Collegeabgänger müssen ja auch noch ein IB bestehen und danach studierfähig sein.

Jürgen Capitain

So ist es, und die Schüler wissen, dass sie hart arbeiten müssen. Denn nur gute IB-Abschlüsse garantieren ihnen, dass sie danach an eine Uni gehen können und dort auch noch Stipendien bekommen. Gute Abschlussnoten sorgen also für Studienplätze plus Stipendien. Vor allem in den USA. Die Leistungsbereitschaft ist entsprechend hoch, ebenso wie das Unterrichtsniveau.

UWC-Abgänger schliessen mit dem international anerkannten IB (International Baccalaureate) ab, der ihnen den Zugang zu Universitäten weltweit ermöglicht.

Wie steht das IB im Vergleich zur schweizerischen Maturität da?

Jürgen Capitain

Das IB ist zentralisiert und die Prüfungsresultate werden von Lehrern korrigiert, die die Schüler nicht kennen, deren Prüfungen sie korrigieren. Es gibt weniger Fächer, aber diese werden mit mehr Tiefgang unterrichtet. Das IB stellt z.T. andere Ansprüche, es ist anders als die Maturität, aber ebenso wie diese sehr anspruchsvoll. Der schweizerische Maturitätsabschluss ist nach wie vor hervorragend und vermutlich um einiges besser als die gymnasialen Abschlussprüfungen z.B. in Deutschland oder Frankreich. Gesamthaft kann man sagen, die beiden Abschlüsse sind gleichwertig und breit anerkannt.

Starke Verbindung zwischen Lehrpersonen und Studenten.

Bei meinem Besuch im UWC-Freiburg fiel mir die grosse Nähe und herzliche Verbindung zwischen Schülern und Lehrerschaft auf. Hand aufs Herz, kann da noch ein forderndes Lernumfeld entstehen?

Marie Caffari

Ja, die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ist natürlich ein wichtiger Gelingensfaktor. Und die Lehrer im UWC sind enorm engagiert. Sie leben ja auch mit den Schülern auf dem Campus. Es ist manchmal fast ein 24-Stunden-Betrieb. Aber das will nicht heissen, dass es nicht auch zu klaren Ansagen kommen kann. Die UWC haben fachlich gute Lehrkräfte, die viel verlangen, die auch viel verlangen müssen.

Jürgen Capitain

Das UWC Freiburg war eine neu gegründete Schule, da war am Anfang viel Begeisterung und Pioniergeist vorhanden. Im Gründungsjahrgang hätte man durchaus den Eindruck gewinnen können, dass hier “Friede, Freude, Eierkuchen” herrschen. Aber dieser Eindruck täuscht. Der Direktor formuliert zwischendurch deutliche Kritik, wenn es nötig ist. Und wie gesagt: Die Wahrheit kommt spätestens beim IB ans Licht.

In unseren Staatsschulen weht zurzeit ein stark ökonomisch geprägter Reformgeist. Bologna, Kompetenzorientierung, Outputorientierung, Digitalisierung, von aussen gesteuerter Unterricht, die Lehrperson als Coach… usw. Wie positioniert sich das UWC in dieser heftig geführten Debatte.

Marie Caffari

Du kannst dir natürlich vorstellen, dass angesichts unserer hier gelebten Werte der Interaktion eine starke Bedeutung zukommt. Wir haben ein hohes Mass an Mitbestimmung der Schüler, heftige Diskussionen, viele Projekte, die von Schülern entwickelt werden. Der Anteil an Kreativität und Hingabe ist immens. Das kann mit einem digitalisierten Unterricht nicht erreicht werden. Natürlich sind wir auch froh über die Digitalisierung und der Einsatz der Computer ist für uns unverzichtbar. Aber wir können es uns nicht leisten, unseren Unterricht an Algorithmen zu delegieren. Es wäre pervers, diese komplexen Lernvorgänge auf das Abhaken von Kompetenzen zu reduzieren. Im UWC spürt man immer die Empathie für das Menschliche.

Liebe Marie, lieber Jürgen, ich danke euch für das Gespräch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Das United World College – eine faszinierende Bildungsinstitution https://condorcet.ch/2021/10/das-united-world-college-eine-faszinierende-bildungsinstitution/ https://condorcet.ch/2021/10/das-united-world-college-eine-faszinierende-bildungsinstitution/#respond Mon, 04 Oct 2021 11:53:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=9407

Die Leserinnen und Leser des Condorcet-Blogs wie auch die Redaktion sind mehrheitlich entschiedene Anhänger der Öffentlichen Schule. Dass wir heute Jürgen Capitain die Möglichkeit geben, das UWC vorzustellen, hat mit der faszinierenden Ausrichtung dieser Privatschule zu tun und auch mit der Tatsache, dass das UWC keine Geldschule für privilegierte Jugendliche ist

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Jürgen Capitain, pensionierter Gymnasiallehrer, wohnhaft in Evilard bei Biel und Mitglied des National Committee Switzerland: Hier werden soziale Projekte in der Umgebung der Colleges unterstützt, und es wird Freiwilligenarbeit geleistet.

Die Geschichte der United World Colleges begann vor etwa 60 Jahren mit der Gründung des Atlantic College 1962 in Wales. Kurt Hahn, der Gründer, wollte seine Idee umsetzen, junge Menschen aus aller Welt gemeinsam zu unterrichten, gleichgültig, welcher Rasse, Religion oder politischen Richtung sie angehörten. Er glaubte daran, dass Jugendliche im Alter von 16 Jahren offen genug seien, um sich gegenseitig positiv zu beeinflussen und kulturelle Missverständnisse im gemeinsamen Erleben und Lernen abzubauen. Und im Gegensatz zu anderen Privatschulen sollten Stipendien gewährleisten, dass alle von National Committees gewählten Kandidat*innen, unabhängig von der finanziellen Situation ihrer Eltern, an einem United World College studieren konnten.

Zwölf Jahre später wurde das zweite UWC gegründet, das Pearson College UWC in Kanada. Lester Pearson, kanadischer Premierminister und Friedensnobelpreisträger, erachtete die UWC Bewegung als eine geradezu revolutionäre Kraft im Bereich internationaler Erziehung. Die Abstände zwischen der Gründung einzelner Colleges wurden kürzer, schon 1975 wurde das UWC South East Asia gegründet, 1981 wurde die bereits existierende Schule Waterford Kamhlaba in die UWC-Bewegung aufgenommen und in Waterford Kamhlaba UWC of Southern Africa umbenannt. Der Name ‚Kamhlaba’ stammt von einem König von Swaziland, der betonte: “Wherever you are in the world, the earth does not distinguish who you are. You live in it whatever your colour, whatever your religion, whatever your race. You live in it and it does not try to ostracise you or show any difference as to what you are. And this is the meaning of Kamhlaba.” D.h., die Grundidee dieser Schule war die gleiche, die auch zur Gründung des Atlantic College geführt hatte. Inzwischen gibt es weltweit 18 United World Colleges.

Inzwischen gibt es weltweit 18 United World Colleges.

UWC-Abgänger schliessen mit dem international anerkannten IB (International Baccalaureate) ab, der ihnen den Zugang zu Universitäten weltweit ermöglicht.

Im Gegensatz zu anderen Formen des Schüleraustauschs, der normalerweise nach einem Jahr mit der Rückkehr nach Hause beendet ist, studieren die Schüler*innen die letzten zwei Jahre vor dem gymnasialen Abschluss an einem UWC. Sie schliessen mit dem international anerkannten IB (International Baccalaureate) ab, der ihnen den Zugang zu Universitäten weltweit ermöglicht. Viele der UWC Schüler*innen aus der Schweiz studierten anschliessend an einer Schweizer Universität, andere studierten in den USA (z.B. Princeton, Duke, Stanford, Hawaii) oder England (z.B. London School of Economics, Imperial College) oder weiteren Universitäten im Ausland.

Das akademische Niveau der UWCs ist sehr hoch, die Lehrkräfte sind äusserst motiviert und hervorragend qualifiziert.

Das akademische Niveau ist hoch.

Das akademische Niveau der UWCs ist sehr hoch, die Lehrkräfte sind äusserst motiviert und hervorragend qualifiziert. Und aufgrund der Tatsache, dass die Schüler*innen mit den unterschiedlichsten Lernhintergründen aus zum Teil extrem verschiedenen Bildungssystemen in ihren Heimatländern kommen, entwickelt sich sozusagen von selbst eine innovative Kraft, und zwar in allen Fächern. Es werden zwar weniger Fächer unterrichtet als an Schweizer Gymnasien, diese allerdings mit mehr Tiefgang. Das IB erfordert Eigenverantwortung, legt Wert auf selbständiges Lernen und bereitet so optimal auf ein Hochschulstudium vor. Kleine Klassen erlauben individuelle Förderung und kritische Auseinandersetzung mit dem Lernstoff. Für das akademische Programm sind normalerweise der Morgen und der frühe Nachmittag reserviert.

UWC-Indien: Hier werden soziale Projekte in der Umgebung der Colleges unterstützt, und es wird Freiwilligenarbeit geleistet.

Neben der akademischen Ausbildung nehmen alle Schüler*innen an einem ausserschulischen Programm am Nachmittag teil, das aus drei Teilen besteht: Creativity, Action und Service (CAS). Der Bereich ‚Creativity’ umfasst z.B. ein Engagement im musischen Bereich (Theater, Musik, Malerei etc.), Workshops im Bereich ‚Action’, die z.T. auch von Studierenden selbst geleitet werden können, bieten verschiedenartigste Sportarten an, aber auch Naturerlebnisse, etwa zweiwöchige Wanderungen in kleinen Gruppen in einem Naturpark in der Nähe des UWC USA. Und was die Ausbildung an einem UWC vielleicht am meisten von der an einem Schweizer Gymnasium unterscheidet, ist der Bereich ‚Service’. Hier werden soziale Projekte in der Umgebung der Colleges unterstützt, und es wird Freiwilligenarbeit geleistet. Die Studierenden erhalten auch Grundkenntnisse in der Landessprache ihrer Colleges, damit sie Kontakt zur lokalen Bevölkerung knüpfen können. Zudem werden die Schüler*innen aufgefordert, eigene Projekte zu entwickeln, die, wenn nötig, von den Lehrkräften unterstützt werden können. Ziel ist es, die Eigeninitiative und das Verantwortungsbewusstsein der Jugendlichen zu fördern. Und dabei entstehen aufgrund der Verschiedenheit der nationalen wie sozialen Herkunft der Studierenden spannende Diskussionen, interessante Ideen und Lösungsansätze. Alle diese Aktivitäten sind auch zu sehen im Kontext der Idee, dass UWC Schüler*innen künftige ‚Changemaker’ sein sollten, die sich gesellschaftlich engagieren.

Nach dem Anmeldeschluss Ende November trifft eine Auswahlgruppe eine Vorentscheidung und lädt die etwa zehn überzeugendsten Kandidat*innen zum Selection Day im Januar ein, an dem ein etwa zwanzigminütiges Interview geführt und ein Aufsatz (in einer der Landessprachen oder Englisch) geschrieben wird.

Die Rolle der National Committees

In über 150 Ländern gibt es UWC National Committees, die vor allem zwei Aufgaben haben. Sie wählen die Kandidat*innen aus, in der Schweiz jeweils etwa drei bis fünf pro Jahr. Nach dem Anmeldeschluss Ende November trifft eine Auswahlgruppe eine Vorentscheidung und lädt die etwa zehn überzeugendsten Kandidat*innen zum Selection Day im Januar ein, an dem ein etwa zwanzigminütiges Interview geführt und ein Aufsatz (in einer der Landessprachen oder Englisch) geschrieben wird. Ausserdem finden während des ganzen Tages Gruppenübenübungen statt. Die zweite Aufgabe der National Committees ist es, für das Studium an einem UWC (Teil-)Stipendien zu vergeben, die durch Beiträge von Mitgliedern, Ehemaligen und Gönnern, z.B. Stiftungen, finanziert werden.

Nelson Mandela präsidierte die UWC-International von 1995 bis 1999: Powerful cells of innovation, catalysts for change.

Nelson Mandela, der von 1995 bis 1999 gemeinsam mit Queen Noor von Jordanien die UWC Bewegung präsidierte und anschliessend bis zu seinem Tod Ehrenpräsident war, begründete sein Interesse an den und seinen Einsatz für die United World Colleges mit den Worten: “The virtue and the strength of UWC is that it provides small, but powerful cells of innovation, catalysts for change, breaking barriers of habit and opening broader vistas of experience for both pupils and educationalists.” Dieser Satz formuliert präzis die Gründe, weshalb die UWC Bewegung eine Erfolgsgeschichte wurde.

 

Jürgen Capitain

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Brennpunktschule übertrifft alle https://condorcet.ch/2020/02/brennpunktschule-uebertrifft-alle/ https://condorcet.ch/2020/02/brennpunktschule-uebertrifft-alle/#comments Mon, 10 Feb 2020 21:28:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=3905

Bei den letztjährigen landesweiten GCSE-Prüfungen in Grossbritannien, einer nationalen Prüfung für 15- und 16-Jährige, die deren zukünftige akademische Laufbahn bestimmt, gab es eine sensationelle Überraschung: Die Brennpunktschule Michaela Community School aus dem unterprivilegierten, mehrheitlich von ethnischen Minderheiten bewohnten Londoner Stadtbezirk Brent überflügelte die meisten britischen Schulen. Peter Aebersold stellt sie für unsere Condorcet-Community vor.

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Die Gründerin der Michaela Schule, Katharine Birbalsingh: Das heutige Schulsystem hält arme Kinder arm.

Die 2014 gegründete Michaela Community School, die das erste Mal an den nationalen Prüfungen teilnahm, hat Schülern, von denen viele aus benachteiligten Verhältnissen kommen, zu einigen der besten Ergebnisse aller nicht selektiven staatlichen Sekundarschulen des Landes verholfen.

Noch bemerkenswerter: Indem die Michaela Schule auf den bewährten Klassenunterricht, auf geordnete Strukturen und traditionelle Werte wie Autorität, Anstand und Disziplin setzte, schaffte sie den „Brexit“ aus der 50jährigen Geschichte erfolgloser progressiver Schulreformen in Grossbritannien. Dabei setzte sie nicht nur das nie erreichte Ziel dieser Reformen, die Chancengleichheit, in die Tat um, sondern erzielte vier Mal bessere Ergebnisse als der nationale Durchschnitt.

Mehr als die Hälfte (54%) aller Klassenstufen der Michaela Schule erreichte die Note 7 oder höher (entspricht dem alten A und A*), was mehr als doppelt so hoch war wie der nationale Durchschnitt von 22%. Fast jeder Fünfte (18%) glänzte mit der Höchstnote 9, verglichen mit 4,5% im Inland, und in der Mathematik war jedes vierte Ergebnis die Höchstnote 9.

Erfahrungen mit dem staatlichen Schulsystem

Die Gründerin der Michaela Schule, Katharine Birbalsingh, hatte als erfolgreiche Absolventin der Universität von Oxford auf eine glänzende Lehrerkarriere verzichtet und begann in einer unterprivilegierten Londoner Schule zu unterrichten. Sie stellte jedoch bald fest, dass an den staatlichen Schulen vieles falsch lief: “Meine Erfahrung, die ich über ein Jahrzehnt lang in fünf verschiedenen Schulen gemacht habe, hat mich zweifelsfrei davon überzeugt, dass das System gescheitert ist, weil es arme Kinder arm hält.”

Sagen, was alle denken, aber niemand sagt.

Durch ihren Blog To Miss With Love, wo sie seit 2007 anonym über ihre Erfahrungen als Lehrerin an einer Inner City Sekundarschule in London schrieb, wurde sie bald bekannt.

“Bildung heisst, den Kindern Wissen beizubringen und nicht Kompetenzen.” – Katharine Birbalsingh

Der größte Verrat an unseren Kindern ist unser Schweigen

Als sie das Buch The Schools We Need and Why We Don’t Have Them (Die Schulen, die wir benötigen und warum wir sie nicht haben) des renommierten amerikanischen Schulkritikers und Vertreters der traditionellen Unterrichtsmethoden E.D. Hirsch las, wurde ihr bewusst, woran die Schule krankte: „Bildung sei, den Kindern Wissen zu lehren und nicht Kompetenzen (skills) beizubringen“. Für Hirsch ist der Grund, warum die meisten Studenten am Community College und nicht an der Universität landen, nicht die angeborenen Fähigkeiten oder der familiäre Hintergrund, sondern das für den akademischen Aufstieg fehlende Grundwissen über kulturelle Begriffe und Konzepte.

Von der Bildungspolitik der Labour Party enttäuscht, hielt sie eine Rede an der Conservative Party-Konferenz 2010, wo sie das staatliche britische Bildungssystem kritisierte und die Bildungspolitik der Partei unterstützte. Mit dieser Rede erlangte sie nationale Berühmtheit, verlor aber ihren Job als stellvertretende Leiterin einer von der Regierung geführten Schule im Süden Londons.

Londons damaliger Bürgermeister Boris Johnson besuchte 2015 die Michela School: “What an incredible experience. This is one of the most extraordinary schools I have seen.”

In ihrem 2011 erschienenen Buch To Miss with Love schreibt Birbalsingh: „Ich mache mir Sorgen, dass ich meinen Job verliere, weil ich dieses Buch geschrieben habe. Als Berufsstand werden wir stark davon abgehalten, uns gegen das System auszusprechen. Aber ich glaube, der größte Verrat an unseren Kindern ist unser Schweigen. Wie eine Freundin von mir bei der Lektüre sagte: To Miss with Love wagt es, das zu sagen, was wir Lehrer immer denken, aber niemand sagt.“

Chancengleichheit für die Unterprivilegierten

Birbalsingh gründete ihre eigene Schule, eine gebührenfreie Gemeindeschule (kostenlose, staatlich finanzierte, von örtlichen Behörden unabhängige „Freie Schule“)  für Unterprivilegierte und wirtschaftlich Benachteiligte im Londoner Bezirk Brent. Im September 2014 startete die Michaela Community School mit 120 Schülern (für 2020 sind 840 Schüler geplant). Die Schüler, die zur Michaela Schule kamen, konnten sich keine Privatschule leisten. Aber sie brauchten Ordnung und Disziplin im Leben, die ihnen in ihren Familien und Gemeinschaften verzweifelt fehlten. Die Schule wird von vielen Medien als „strikteste Schule Grossbritanniens“ verunglimpft. Von den Laisser-faire-Standards, die man an britischen Schulen beobachten kann, grenzt sie sich wohltuend ab.

Ich ließ Hunderte von Kindern in meinem Leben scheitern, weil ich Teil eines Systems war, das Kinder scheitern ließ.” – Katharine Birbalsingh

Mit der neuen Michaela Sixth Form ( die letzten drei Jahre der Sekundarschule) wird die Tradition der Schule in Bezug auf akademische Exzellenz, hohe Standards und außergewöhnliche Ergebnisse für die Schüler fortgesetzt. Für September 2020 werden Bewerber gesucht, die einen Studienplatz in Oxford, Cambridge und anderen Spitzenuniversitäten in Großbritannien und der ganzen Welt anstreben.

Ich ließ Hunderte von Kindern in meinem Leben scheitern, weil ich Teil eines Systems war, das Kinder scheitern ließ. Ich habe mir vorgenommen, nie mehr ein weiteres Kind scheitern zu lassen, und wenn mir das gelingt, dann hat die Michaela Schule nicht nur sie gerettet, sondern auch mich. Es ist möglich. Wir müssen nur anders denken.“  – Katharine Birbalsingh, The Spectator 19. März 2016

Verantwortung, Rücksichtnahme und Handlungsfähigkeit lehren

In der Schulordnung wurde festgehalten, welches Benehmen und Verhalten von den Schülern erwartet wurde. Birbalsingh hatte die Erfahrung gemacht, dass eine Schule Gefahr läuft, bei ihren Schülern eher Hilflosigkeit, Egoismus oder Abhängigkeit zu schaffen als Verantwortung, Rücksichtnahme und Handlungsfähigkeit, wenn sie zu freizügig ist und zu viele Ausnahmen zulässt. Sie meint, wenn eine Schule ihre Standards für ärmere Schüler aufgrund ihrer Armut oder ihres schwierigen Heimlebens herabsetze, erweise sie ihnen einen schlechten Dienst und erwecke den Eindruck, dass sie nicht genug an sie glaube.

OECD-Bildungsexperte Andreas Schleicher war beeindruckt.
By Andreas Schleicher
Director, Directorate of Education and Skills

OECD-Direktor Andreas Schleicher, beeindruckt von dem Besuch der erfolgreichen Michaela Schule im November 2019, meinte: „Vielleicht ist es an der Zeit, den lehrergeleiteten Unterricht und das schülerorientierte Lernen nicht mehr gegeneinander auszuspielen und zu behaupten, das eine sei altmodisch und erdrückend, das andere zukunftsorientiert und befähigend. Beide Ansätze haben eindeutig ihren Platz.”

Zu Katharine Birbalsingh

Birbalsingh wurde in Neuseeland als ältere von zwei Töchtern des Lehrers Frank Birbalsingh aus Guyana und seiner Frau Norma, einer Krankenschwester aus Jamaika, geboren und ist in Kanada aufgewachsen. Ihr Großvater Ezrom S. Birbalsingh war Leiter der kanadischen Missionsschule in Better Hope, Demerara, Guyana. Mit fünfzehn Jahren übersiedelte sie ins Vereinigte Königreich, wo ihr Vater an der University of Warwick als Gaststipendiat weilte.

Sie studierte Französisch und Philosophie an der University of Oxford. Nach ihrem Abschluss ließ sie sich im Vereinigten Königreich nieder. Sie schreibt regelmäßig für den Daily Telegraph. Ihr im März 2011 veröffentlichtes Buch To Miss with Love, das ihre Erlebnisse während eines Schuljahres beschreibt, wurde sofort zu einem Bestseller: Es wurde zum Buch der Woche gewählt und von Radio BBC 4 als Serie ausgestrahlt. 2017 wurde sie auf Anthony Seldons Liste der 20 einflussreichsten Personen im britischen Bildungswesen aufgeführt. 2019 erhielt sie den Contrarian Prize als Schulleiterin, die es wagte, das Bildungssystem herauszufordern..

Peter Aebersold, Zürich

 

 

Quellen:

https://oecdedutoday.com/working-hard-and-being-kind/  Bericht von Andreas Schleicher OECD

https://de.wikipedia.org/wiki/Katharine_Birbalsingh

Katherine Birbalsingh: To Miss with Love, Penguin Books 2011, ISBN 978-0-670-91899-7

Katherine Birbalsingh et al.: Battle Hymn of the Tiger Teachers: The Michaela Way. John Catt Educational Ltd, Woodbridge (Suffolk) 2016, ISBN 978-1909717961

Katharine Birbalsingh et al.: Michaela: The Battle For Western Education. Tiger Teachers Take Two: The Michaela Way. John Catt Educational Ltd, Woodbridge (Suffolk) 2020, ISBN 978-1-912906-21-5

 

 

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