Pädagogische Freiheit - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 24 Jun 2023 07:09:18 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Pädagogische Freiheit - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Humane Energie kommt aus Freiheit https://condorcet.ch/2023/06/humane-energie-kommt-aus-freiheit-2/ https://condorcet.ch/2023/06/humane-energie-kommt-aus-freiheit-2/#comments Sat, 24 Jun 2023 07:09:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=14363

Viele Schulreformen kommen in guter Absicht. Nur fragen sie kaum: «Was bedeutet das für die Klasse, für die Lehrperson, für das Gesamte?» Genau das aber fragt Björn Bestgen in seinem bildungspolitischen Weckruf «Wenn jetzt nichts geschieht, geht die Volksschule kaputt». Publiziert hat ihn die «Schweiz am Wochenende» vom 03. Juni 2023 (S. 10-11). Condorcet-Autor Carl Bossard kommentiert in der CH Media vom 13. Juni das aufrüttelnde Interview – dies unter dem Stichwort: Wenn Überkomplexität das Entscheidende der Schulbildung erschwert.

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Börn Bestgen, Schulleiter: «Wenn wir jetzt nichts unternehmen, geht die Volksschule kaputt.

Börn Bestgen ist Schulleiter und kennt die Nöte des pädagogischen Parterres hautnah. Der Praktiker redet Klartext. In seiner nüchternen Analyse fragt er nach den Folgen der vielen Reformen. Sein Fazit: «Unser System ist am Anschlag angelangt.» Wir sind überfordert und gefährden unsere Volksschule. Er verlangt von der Bildungspolitik nur eines: «Weniger ist mehr. Qualität statt Quantität. Wir müssen uns auf das Wesentliche einigen. Das nimmt Druck weg und verbessert die Qualität.»

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Mit dem Umbau erfolgte ein massiver Ausbau des schulischen Überbaus

Bestgen weiss, wovon er spricht. Seit über 40 Jahren steht er in der Schule. Diese Schule sah sich in letzter Zeit einem Feuerwerk an Reformen gegenübergestellt. Die umfangreichen Innovationen wurden meist von oben verordnet, oft gar gegen die langjährige Erfahrung der Praktiker und gegen wissenschaftlich erhärtete Befunde. Der pädagogische Kompass kannte nur eine Richtung: Umbau, Reorganisation und Implementation von Neuem. Die Stichworte heissen: früher Fremdsprachenunterricht, Integration und Inklusion, selbst- und kompetenzorientiertes Lernen, Qualitätsmanagement und Lehrplan 21 «mit seiner gnadenlosen Überforderung aller Beteiligten», so Bestgen wörtlich. Es sind unzählige Teilprojekte. Kaum jemand hat den Überblick. Die Schule wurde nicht nur radikal umgebaut; mit diesem Umbau erfolgte auch ein massiver Ausbau des schulischen Überbaus. Die Schuladministration nahm zu; die Bildungsbürokratie wuchs und entfernte sich von der Praxis. Die Institution Schule ist zum Verwaltungsapparat geworden. Auch darauf verweist Bestgen: «Da wird in einem Verwaltungsbüro irgendetwas entschieden, ohne dass man dort die Realität kennt.» Von den Stäben fühlt er sich darum nicht ernst genommen.

Die Wirkung der Reformen ist ernüchternd. Viele Veränderungen im Schulsystem kranken daran, dass sie selten in ihrer Komplexität betrachtet und kaum zu Ende gedacht wurden.

Mit der Zunahme der Bürokratie nahmen auch die Vorschriften zu. Jede Reform brachte neue Vorgaben, erzeugte zusätzliche Dekrete und Direktiven, produzierte Papier und beanspruchte Berichte. Das alles engt den pädagogisch notwendigen Freiraum ein. Das Verantwortlich-Sein für die komplexen Lernprozesse der Kinder und Jugendlichen aber braucht Freiheit. Humane Energie kommt aus Freiheit, nicht aus Reglementen. Darum sagt Bestgen dezidiert: «Wir sollten die Lehrpersonen administrativ entlasten. Die klagen ja nie über die Kinder, sondern über das Drumherum. Das führt zur Überforderung.»

Nicht an kleinen Stellschrauben drehen

Die Wirkung der Reformen ist ernüchternd. Viele Veränderungen im Schulsystem kranken daran, dass sie selten in ihrer Komplexität betrachtet und kaum zu Ende gedacht wurden. Welche Effekte werden an welcher Stelle ausgelöst? Oder gar in Kauf genommen? Welches sind die Folgen? Am Ende ist es immer die Überkomplexität des Systems; sie relativiert die Reformeffekte oder kehrt ihre beabsichtige Wirkung gar um. Die Überkomplexität des Bildungssystems aufs Wesentliche und Grundlegende zu reduzieren, das wäre Aufgabe einer verantwortungsbewussten Bildungspolitik. An kleinen Stellschrauben wie den Hausaufgaben oder der Notengebung zu drehen genügt nicht. Gefordert ist die bildungspolitische Weitsicht, die Kernelemente einer guten Schule herauszudestillieren und das System neu auszurichten.

Bestgen, der Praktiker aus dem pulsierenden Schulparterre, fordert darum ein «gemeinsames Commitment der Bildung». Ob man aber seinen Mahnruf in der erfahrungsverdünnten Luft der Dachterrassen hört? Wieder ein Rufer in der Wüste? Vielleicht winkt darum Friedrich Dürrenmatt aus dem Grab: «Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.» Die Geschichte um die Folgen der Bildungsreformen ist noch nicht zu Ende. Leider.

An kleinen Stellschrauben wie den Hausaufgaben oder der Notengebung zu drehen genügt nicht. Gefordert ist die bildungspolitische Weitsicht.

 

 

 

 

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Darum gibt es in Finnland keinen Lehrkräftemangel https://condorcet.ch/2023/01/darum-gibt-es-in-finnland-keinen-lehrkraeftemangel/ https://condorcet.ch/2023/01/darum-gibt-es-in-finnland-keinen-lehrkraeftemangel/#comments Fri, 20 Jan 2023 12:02:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=12909

Der Lehrberuf ist in Deutschland und etwas weniger in der Schweiz für viele unattraktiv geworden. Lehrende haben zu wenig Zeit für das, was sie eigentlich tun wollen - nämlich junge Menschen zu unterrichten. Wieder einmal steht Finnland im Fokus, das es besser zu machen scheint. Wir schalten ein Interview der WDR-Journalistin Susanne Schnabel auf, das sie mit dem Finnland-Kenner Dr. W. Giessen geführt hat. Auffallend hier: Die finnischen Lehrkräfte haben viel mehr Freiheiten.

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Rund 8.000 Lehrerstellen sind in NRW offen. Auch das aktuelle Deutsche Schulbarometer – eine Befragung unter Schulleitern – nennt den Personalmangel als Problem Nummer eins. Die Politik will Maßnahmen auf den Weg bringen, um gegenzusteuern – in NRW zum Beispiel mit mehr Quereinsteigern. Doch laut OECD-Studie klagen Quereinsteiger über mangelnde Teamarbeit, Lehrende über zu viel Bürokratie, Zeit für Austausch und Arbeit am Unterricht ist rar.

Solche Probleme hat nicht nur Deutschland, aus ganz Europa kommen Berichte über einen massiven Mangel an Lehrpersonal. Außer in Finnland. Warum das so ist, darüber haben wir mit dem Finnland-Experten Professor Hans W. Giessen gesprochen.

 WDR: Welchen Stellenwert haben Lehrer in Finnland?

Kein Lehrermangel in Finnland – im Gegenteil!

Hans W. Giessen: Die finnischen Lehrer sind in der Gesellschaft viel mehr akzeptiert als bei uns – vom Ranking her ähnlich wie Ärzte oder wie Polizisten. In Finnland gibt es sehr viele, die sich aktiv und bewusst für den Lehrberuf entscheiden: Rund zehn Prozent eines jeden Jahrgangs. Auf 100 Studienplätze kommen fast 1.000 Bewerber, schon seit Jahren.

WDR: Wie viel verdienen Lehrerinnen und Lehrer in Finnland?

Giessen: Sie verdienen etwa 3.000 Euro brutto, also im Schnitt etwas weniger als bei uns. Da Finnland etwas teurer ist als Deutschland, ist die Kaufkraft geringer. Aber man kann das nicht wirklich vergleichen: In Finnland ist man nicht verbeamtet und die Schulträger sind nicht notwendigerweise staatliche Institutionen, sondern häufig private Organisationen, Fördervereine oder Stiftungen. Sie entscheiden selbst, wie sie das Geld ausgeben – also auch für Gehälter. Zudem sind viele Sozialleistungen steuerfinanziert und die Arbeitsstunden sind geringer.

WDR: Wie gestaltet sich die Ausbildung der Lehrer?

Giessen: Die ist sehr ähnlich wie bei uns. Wenn man zum Beispiel Deutschlehrer werden will, studiert man Germanistik und muss zusätzlich ein Pädagogikstudium sozusagen als Nebenfach studieren.

Sie haben mehr Freiheiten und Verantwortung als in Deutschland. Es gibt beispielsweise kaum Vorgaben, welche Lehrmaterialien oder Methoden sie nutzen sollen.

WDR: Neben der gesellschaftlichen Anerkennung, was macht das Lehrerdasein in Finnland so attraktiv?

Giessen: Sie haben mehr Freiheiten und Verantwortung als in Deutschland. Es gibt beispielsweise kaum Vorgaben, welche Lehrmaterialien oder Methoden sie nutzen sollen. Aber es wird kontrolliert, ob die zentralstaatlich festgelegten Inhalte erfolgreich vermittelt werden konnten. Die Lehrer arbeiten in Teams mit allgemeinen Pädagogen, Sonderpädagogen, Sozialarbeitern, Psychologen und Schulassistenten zusammen.

WDR: Hat der Staat mehr Vertrauen zu seinen Lehrkräften als bei uns?

Mehr Freiheiten für die Unterrichtsgestaltung.

Giessen: Ja. Das ist ein kulturelles Phänomen in Finnland. Der Staat hat mehr Vertrauen in seine Bürger als in Deutschland und umgekehrt – auch die Bürger haben mehr Vertrauen in den Staat. Die finnische Lebenseinstellung spiegelt sich im Schulsystem wieder: Ausdauer, Beharrlichkeit, aber auch Verantwortungsgefühl und gegenseitige Rücksichtnahme. Es gibt dieses Bestreben nach gesamtgesellschaftlicher Ausgewogenheit und nicht nach Hierarchien.

WDR: Seit vielen Jahren pilgern Bildungsexperten und Politiker nach Finnland, um das erfolgreiche Schulsystem zu verstehen. Was könnten wir übernehmen?

Giessen: Ich finde es fraglich, ob man das finnische System kopieren oder importieren kann, weil es eben unter anderen Voraussetzungen funktioniert, einem anderen Ethos, bei dem gegenseitige Rücksichtnahme und Selbstdisziplin einen viel höheren Stellenwert haben. Aber Kultur ist nicht statisch, auch sie kann sich wandeln. Zudem habe ich den Eindruck, dass in Deutschland Lehrer mittlerweile wieder ein höheres Ansehen genießen. Ihnen mehr Freiheiten und Verantwortung zu geben, wäre ein guter ein Ansatz.

Das Interview führte Susanne Schnabel.

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Ermutigende Lehrerpersönlichkeiten verbessern die Chancengerechtigkeit mehr als farblose Lerncoachs https://condorcet.ch/2021/11/ermutigende-lehrerpersoenlichkeiten-verbessern-die-chancengerechtigkeit-mehr-als-farblose-lerncoachs/ https://condorcet.ch/2021/11/ermutigende-lehrerpersoenlichkeiten-verbessern-die-chancengerechtigkeit-mehr-als-farblose-lerncoachs/#respond Mon, 01 Nov 2021 15:17:45 +0000 https://condorcet.ch/?p=9688

Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz unterstützt Carl Bossard (siehehttps://condorcet.ch/2021/10/wenn-bildungsreformen-die-bildungsschere-weiten/ 27.10.21) in seiner Einschätzung der zentralen Rolle der Lehrerin oder des Lehrers, die sie in Sachen Chancengleichheit spielen.

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Hanspeter Amstutz:
Farblose Coachs sind Gift für eine Pädagogik der Ermutigung.

Carl Bossard ist in seinem hervorragenden Condorcet-Beitrag auf unkonventionelle Weise der Frage nachgegangen, was am meisten zu mehr Chancengerechtigkeit in unserem Bildungssystem beiträgt. Der Autor bringt es auf den Punkt: Nicht ausgeklügelte Bildungsprogramme, sondern Lehrerinnen und Lehrern mit Begeisterung für ihre pädagogische Aufgabe fördern die Entwicklung von Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Herkunft am wirkungsvollsten.

In den aktuellen Bildungsdiskussionen dreht sich sehr vieles um digitale Lernprogramme, um eigenverantwortliches Lernen und um neue Lehrerrollen in begleitender Funktion. Digitale Programme sorgen dafür, die Lernmuster von Schülern zu erkennen und Aufgaben im passenden Schwierigkeitsgrad zu stellen. Dank digital bestens ausgestatteter Schulzimmer glaubt man, nicht zuletzt bei schwächeren Schülern den grossen Sprung nach vorn machen zu können. Doch was theoretisch Erfolg verspricht, zeigt in der Praxis nur eine beschränkt positive Wirkung. Schüler ohne bereits vorhandene intrinsische Lernmotivation werden von künstlicher Intelligenz nicht in der Tiefe angesprochen. Sie werden zwar die gestellten Aufgaben lösen, aber die Motivation für eine gründliche Auseinandersetzung mit einem Thema bleibt in der Regel begrenzt.

Um Schülerinnen und Schüler für eine Sache zu begeistern, sind die Schulen auf Lehrerpersönlichkeiten angewiesen, die Bildungsinhalte attraktiv vermitteln und mit didaktischem Geschick vertiefen können.

Lehrerpersönlichkeiten, die Bildungsinhalte attraktiv vermitteln

Um Schülerinnen und Schüler für eine Sache zu begeistern, sind die Schulen auf Lehrerpersönlichkeiten angewiesen, die Bildungsinhalte attraktiv vermitteln und mit didaktischem Geschick vertiefen können. Eine Lehrerin, welche die wechselvolle Geschichte des Frauenstimmrechts packend gestalten kann, Goethes Erlkönig feinsinnig interpretiert und von Zeit zu Zeit grosse Fragen des Lebens in literarischer Form aufgreift, wird auf Resonanz stossen. Jugendliche erkennen die sinnstiftende Grundhaltung eines Gegenübers erstaunlich schnell und öffnen sich in einem oft spannenden Dialog. Die Schülerinnen und Schüler wünschen sich in den Klassenzimmern keine grauen Mäuse, die nur eine beratende Funktion ausüben. Die Vorstellung, gute Lehrer würden nicht vor der Klasse, sondern neben arbeitenden Schülern stehen, ist bei Jugendlichen weit weniger beliebt, als man aufgrund der aktuellen didaktischen Modeströmungen glauben könnte.

Es ist die Authentizität, welche Jugendliche anspricht und das Interesse für Bildung und Kultur weckt.

Kinder und jüngere Teenager suchen sich erwachsene Vorbilder mit Wissens- und Erfahrungsvorsprung, auch wenn sie dies nicht immer gleich offen zugeben. Sie suchen die Begegnung mit einem lebendigen Gegenüber, das ihnen neue Welten eröffnet. In jedem Schulhaus weiss man, wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer in einem Wissensgebiet stark ist oder über besondere Fähigkeiten verfügt. Ein Lehrer, dessen Forschungsgebiet die Amphibien sind und seine Schüler an Ufern von Weihern in sein Reich blicken lässt, übt Faszination aus. Eine Lehrerin, welche die Engländer von ihrem langjährigen Aufenthalt in London kennt, kann in ihren Englischlektionen oft mehr über britische Lebensart vermitteln als mancher ausgebildete Geografielehrer. Es ist die Authentizität, welche Jugendliche anspricht und das Interesse für Bildung und Kultur weckt.

Es braucht Freiheit.

Carl Bossard weist noch auf etwas anderes hin, das zentral ist. Lehrerinnen und Lehrer mit pädagogischer Berufung werden ihr Fachgebiet und nicht ihre Person in den Mittelpunkt stellen. Sie machen ihr Wissen transparent und wollen es weitergeben.

Sie freuen sich riesig, wenn der Funke springt und unternehmen alles, um bei ihren Schülerinnen und Schüler gründliche Lernprozesse zu fördern. Lehrerpersönlichkeiten haben den Blick für die vorhandenen Begabungen. Sie ermutigen die Jugendlichen, daraus etwas zu machen und sie fordern sie, indem sie Erwartungen aussprechen. Schülerinnen und Schüler nehmen in der Regel diesen pädagogischen Dialog positiv auf und steigern sich in ihren Leistungen.

Diese für den späteren Lebensweg so wichtigen Motivationsprozesse können sich aber nur entwickeln, wenn den Lehrerinnen und Lehrern eine Rolle als gestaltende pädagogische Kraft ausdrücklich zugebilligt und ausreichend Zeit für den Aufbau von Lernbeziehungen eingeräumt wird. Die aktuelle Hektik in den Schulzimmern durch all die verzettelten Lernziele, die schmalen Unterrichtsblöcke infolge der Pensenaufsplitterungen und nicht zuletzt die unsinnige Degradierung der Lehrpersonen zu farblosen Coachs sind Gift für eine Pädagogik der Ermutigung. Will man die Chancengerechtigkeit entscheidend verbessern, so muss zuerst beim Bildungsprogramm und bei den grundlegenden Vorstellungen zum Lehrerberuf der Hebel angesetzt werden. Da besteht dringender Handlungsbedarf.

Hanspeter Amstutz

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Humane Energie kommt aus Freiheit https://condorcet.ch/2021/06/humane-energie-kommt-aus-freiheit/ https://condorcet.ch/2021/06/humane-energie-kommt-aus-freiheit/#comments Sat, 19 Jun 2021 05:13:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=8795

Wer junge Menschen auf ihrem Lern- und Lebensweg begleitet, braucht Freiheit. Das geht bei Reformen oft vergessen, auch beim jüngsten KV-Umbau. Plädoyer für die Renaissance eines verschütteten Begriffs, leidenschaftlich vorgetragen von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard: Plastikwörter und Leerformeln

„Wer den Gebrauch der Freiheit fürchtet, ist ihr heimlicher Gegner.“ So schrieb Hans Saner, Philosoph und persönlicher Assistent von Karl Jaspers.[i] Es ist ein eindrücklicher Satz. Und Saner fügte bei: „Viele möchten Freiheit gewähren, wenn sie nur wüssten, dass keiner Gebrauch davon macht.“

Umstellung auf „Output-Steuerung“

Wer in die Schullandschaft blickt und die vielen Reformen der vergangenen Jahre betrachtet, erkennt schnell, was sich radikal verändert hat: Den Schulen wird nicht mehr vorgegeben, was sie inhaltlich zu unterrichten haben. Heute wird detailliert dekretiert und genau geregelt, was die Schülerinnen und Schüler am Ende können müssen – und teilweise auch verordnet, wie das zu erreichen sei. Festgelegt werden (Einzel-)Kompetenzen, und zwar ausserordentlich kleinparzelliert. Im Fach Musik beispielsweise wird von einem Kind gefordert: „Kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren“.

Mehr Effizienz

Das bedeutet, so sagt die Wissenschaft, einen Paradigmenwechsel: Die staatliche Strategie stellt von der „Input-“ auf die „Output-Steuerung“ um. So soll die die Effizienz schulischer Bildungsarbeit erhöht und der Unterricht am operationalisierten Output gemessen werden. Nun werden bereits fünfjährige Kindergärtler auf Buchstaben getestet und auf Zahlen überprüft.

Zu viele Direktiven lähmen den Geist und hemmen Spontaneität wie Kreativität.

Jede 6. Lehrkraft kündigt bereits im ersten Berufsjahr.
Foto srf.

Der pädagogische Alltag ist regulierungsversessen

Lehrerinnen und Lehrer konstatieren darum den Verlust von beruflicher Freiheit und den Vormarsch einer reglementierenden Verwaltung; sie will sicher sein und die Qualifikationsziele mit einer Vielzahl von Vorschriften und Regelungen erreichen. Das geht eben nur mit umfangreichen Vorgaben. Erinnert sei an den fülligen Lehrplan 21. Er zählt 470 Seiten und umfasst 363 Kompetenzen, unterteilt in über 2300 Kompetenzstufen. Doch zu viele Direktiven lähmen den Geist und hemmen Spontaneität wie Kreativität. Die Faustregel: je dicker und dichter das Regelwerk, desto beschränkter und begrenzter die Freiheit.

In den Tentakeln administrativer Fesseln

Die vielen Vorgaben verlangen Absprachen und Koordinationen im Team; sie führen zu strukturell bedingter Mehrarbeit – dies bei zunehmend heterogeneren und anspruchsvolleren Klassen. So erstaunt es nicht, dass „viele Lehrpersonen ihr Pensum reduzieren, um sich vor Überlastung zu schützen“, wie Christian Hugi, der Präsident des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, nüchtern konstatiert.[ii] Das führt beispielsweise im Kanton Zürich dazu, dass im Moment noch rund 550 Stellen fürs neue Schuljahr unbesetzt sind.

So verwundert es nicht, dass jede sechste Lehrperson bereits im ersten Jahr kündigt und die Hälfte der neuen Lehrkräfte spätestens nach fünf Jahren das Schulzimmer wieder verlässt, wie eine Studie zeigt.

Viele fühlen sich gefangen in den Tentakeln administrativer Fesseln mit ihrer lähmenden Wirkung. Sie beklagen das Korsett künstlich konstruierter Komplexität heutiger Schulwelten. „Alles ist so eng strukturiert“, erklärt eine 31-jährige Aussteigerin.[iii] Und ein erfahrener Lehrer resümiert seine Unterrichtsjahre mit „Schule in Ketten“: Es würde immer strenger normiert.[iv] So verwundert es nicht, dass jede sechste Lehrperson bereits im ersten Jahr kündigt und die Hälfte der neuen Lehrkräfte spätestens nach fünf Jahren das Schulzimmer wieder verlässt, wie eine Studie zeigte. Der Lehrermangel spitzt sich zu.

Freiheit hat ein Korrelat: Verantwortung

Freiheit sei für die Bildung „die erste und unerlässliche Bedingung“, schrieb der Reformer des preussischen Bildungswesens und Theoretiker der Freiheit, Wilhelm von Humboldt.[v] Vermutlich wusste der grosse Bildungsreformer: Wer mit Schülerinnen und Schülern unterwegs ist, braucht Freiheit. Er braucht sie zum Unterrichten wie den Morgenkaffee zum Aufwachen. Freiheit als Elixier! Doch es ist nicht die ungebundene, unkontrollierte Freiheit, sondern die Freiheit von unnötigen Pro-forma-Vorschriften und formalen Vorgaben, von Normen und Fesseln. Es ist nicht die Freiheit zum pädagogischen Dolcefarniente, gar zum Schlendrian oder Minimalismus, nein, es ist die Freiheit zur Wahl des méthodos, des Weges zum Ziel.

Gemeint ist die Freiheit zur Gestaltung des schulischen Auftrags und zum pädagogischen Wirken mit den Kindern und Jugendlichen – zugunsten der Klasse, für die eine Lehrerin, ein Lehrer verantwortlich zeichnet.

Gemeint ist die Freiheit zur Gestaltung des schulischen Auftrags und zum pädagogischen Wirken mit den Kindern und Jugendlichen – zugunsten der Klasse, für die eine Lehrerin, ein Lehrer verantwortlich zeichnet. Und dieser letzte Punkt enthält das entscheidende Korrelat zur Freiheit: Verantwortung. Freiheit und Verantwortung bilden ein Junktim – sie sind so etwas wie zwei wichtige Säulen guten Unterrichts und guter Schulen. Sie dürfen sich nicht entkoppeln, denn ohne persönliche Verantwortung degeneriert Freiheit zur Willkür.

Das Humane lässt sich nicht mit Vorschriften erzwingen

Verantwortung wahrnehmen braucht Freiheit. Darum darf Freiheit in den Schulen nicht ersticken. Man muss sie immer wieder aus dem Sand freischaufeln, sonst bleibt sie nichts als versäumte Wirklichkeit. Für die meisten Lehrpersonen ist Freiheit eine Grundbedingung. In der Freiheit liegt der Kern des ganzen pädagogischen Wirkens.

Nur so können Lehrerinnen und Lehrer situativ richtig reagieren, spontan auf die Kinder eingehen und aus dem Moment heraus Kreatives entstehen lassen. Humor und Witz, Imagination und Fantasie blühen nicht im engen Kleid der Vorschriften; sie brauchen einen Humus der Freiheit. Das Humane aber lässt sich nicht mit Vorschriften erzwingen. Was uns menschlich anspringt, können wir nicht ins Numerische outsourcen oder über bürokratische Fesseln steuern.

Hans Saner, Philosoph (1934 – 2017): Wer den Gebrauch der Freiheit fürchtet, ist ihr heimlicher Gegner.

Humane Energie kommt aus Freiheit

Eine wirksame Bildungspolitik müsste mehr an den Menschen glauben und weniger an Systeme und Strukturen. Gute Lehrerinnen, gute Lehrer mit Einfühlungsvermögen und fachlicher Leidenschaft sind das A und O der Schule. Sie brauchen aber Freiheiten – nicht primär Vorschriften. Sie brauchen Vertrauen – und keinen Druck durch Dekrete. Humane Energie kommt aus Freiheit, nicht aus lehrmethodischen Direktiven und operativ engen Vorgaben, wie sie eine aktuelle Bildungspolitik verordnet.

Einen Freiheitskonflikt austragen ist immer noch besser, als wenn Lehrpersonen in der Konformität friedlich verkümmern, wie es der Philosoph Hans Saner einst ausgedrückt hat.

Politik und Verwaltung müssten darum den Lehrpersonen wieder mehr Freiheiten ermöglichen und sie gleichzeitig ermutigen, davon Gebrauch zu machen. Das erfordert Mut, weil Freiheit immer auch missbraucht werden kann. In diesem Fall müssten Schulleitungen intervenieren. Schnell und unzimperlich. Einen Freiheitskonflikt austragen ist immer noch besser, als wenn Lehrpersonen in der Konformität friedlich verkümmern, wie es der Philosoph Hans Saner einst ausgedrückt hat.[vi]

[i] Hans Saner (1996), Die Anarchie der Stille. Basel: Lenos Verlag, S. 154.

[ii] René Donzé, Zürcher Lehrer sollen mehr arbeiten, in: NZZaS, 23.05.2021, S. 12.

[iii] Pascal Sigg/Sabine Kuster, Drang nach Freiheit: Warum viele junge Lehrer wieder aussteigen, in: St. Galler Tagblatt, 21.06.2016.

[iv] Walter Meier (2015), Schule in Ketten. Sachroman. Muri b.Bern: Eigenverlag.

[v] Wilhelm von Humboldt (2006), Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Stuttgart: Reclam, S. 22.

[vi] Hans Saner (1979), Zwischen Politik und Getto. Über das Verhältnis des Lehrers zur Gesellschaft. Basel: Lenos und Z-Verlag, S. 27.

 

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Vom magischen Dreieck der Pädagogik https://condorcet.ch/2020/02/vom-magischen-dreieck-der-paedagogik/ https://condorcet.ch/2020/02/vom-magischen-dreieck-der-paedagogik/#respond Sun, 02 Feb 2020 18:03:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=3776

Guter Unterricht ist ein anspruchsvolles Feld. Da hinein drängen mehr und mehr Akteure, Ansprüche, Amtsvorschriften. Das gefährdet das Gleichgewicht. Ein Plädoyer für die Balance im Bildungsdreieck von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard: Interessant, weil man den Beruf liebt.

Vieles im pädagogischen Alltag kann auf drei Punkte reduziert oder durch drei geteilt werden. Johann Heinrich Pestalozzi machte es mit seinem pädagogischen Dreiklang von Kopf – Herz – Hand vor. Es ist die zeitlose Trias der „drei grossen G“: Grundwissen, Grundhaltungen, Grundfertigkeiten. Pestalozzi wusste, wie wichtig Bildung für junge Menschen ist und dass man alles zusammen entwickeln muss: die Gefühle im Herzen, den Scharfsinn im Kopf und die Geschicklichkeit der beweglichen Hand. Er hat es begriffen, hat es gelehrt, und oft ist er in der Praxis gescheitert. Aber versucht hat er es mit einer nie versiegenden Leidenschaft.[1] Darum hat er bei den Kindern gewirkt.

Den Beruf leidenschaftlich lieben

Von dieser pädagogischen Leidenschaft spricht der Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus. Im autobiografischen Werk „Der erste Mensch“ beschreibt er seinen verehrten Lehrer Louis Germain. In zwei Sätzen skizziert Camus den geheimnisvollen Dreiklang, wenn er von Germains Unterricht sagt, er sei “aus dem einfachen Grund, dass er seinen Beruf leidenschaftlich liebte, ständig interessant“ gewesen. In dieser Klasse fühlten die Kinder “zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand höchster Achtung waren: Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken.“[2]

Diese Leidenschaft ist zentrales Element im pädagogischen Dreieck von Lehrperson – Kind – Welt. Die „Welt“ als Symbol für das Neue, das Fremde, um es mit Wilhelm von Humboldt zu sagen, oder eben die Unterrichtsinhalte. Es ist eine dreifache Beziehung: erstens vom Pädagogen zur Welt, wie sie Camus‘ Primarlehrer verkörpert, zweitens von der Lehrerin zum Kind, und als Drittes vom jungen Menschen zu den Lerngegenständen: „die Welt […] entdecken“, wie es Louis Germain seinem kleinen Schüler Camus ermöglichte.

Der Mensch wird am Menschen zum Menschen

Camus: „Il aimait passionément son métier.“

Camus’ bewegende Autobiographie veranschaulicht, wie zentral die Lehrperson und ihr Unterricht in diesem magischen Dreieck der Pädagogik ist: Bildung braucht Beziehung. Bildung ist an Menschen gebunden. Das zeigt sich immer wieder: Am Menschen wird der Mensch zum Menschen. Lehrpersonen und ihre Schüler begegnen sich im „Stoff“ als Kulturgut.

Genau das meinte wohl Camus, der grosse Schriftsteller seiner Generation. Am Tag der Nobelpreis-Übergabe schrieb er seinem Lehrer: „Als ich die Nachricht erhielt, galt mein erster Gedanke, nach meiner Mutter, Ihnen. Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen.“[3] Welche Reverenz vor seinem ehemaligen Lehrer!

Schule als Institution ist primär Interaktion

Das Ferment wirksamer Schulen bilden Lehrerinnen und Lehrer; sie verbinden konzentrierten Unterricht mit feinfühliger Erziehung. Es gibt keine guten Schulen ohne gute Lehrpersonen, betont der Zürcher Ordinarius für Allgemeine Erziehungswissenschaft, Roland Reichenbach. Wörtlich sagt er: „Und diese Lehrpersonen müssen den Schülerinnen und Schülern klar machen: Erstens: Was du hier lernst, ist wirklich wichtig. Zweitens: Mir ist es ein Anliegen, dass du das lernst. Drittens: Ich glaube fest daran, dass du das schaffst. Und viertens: Ich werde dir dabei helfen und dich unterstützen.“[4] Und Reichenbach fügt bei: „Diese vier Punkte klingen vielleicht banal, aber sie sind ganz zentral, und man sollte sie auf keinen Fall vergessen.“

Ich glaube fest daran, dass du das schaffst.

Der Literat Camus und der Erziehungswissenschaftler Reichenbach umschreiben beide das Gleiche, nur mit anderen Worten. Beide reden von der schülerzentrierten und leidenschaftlichen Lehrperson und ihrer hohen menschlichen Verantwortung fürs Lernen der Kinder.

Die komplexe Vielfalt im Klassenzimmer

Wer ins Schulzimmer blickt, erkennt schnell, was diese Verantwortung konkret bedeutet und was sich innerhalb dieser vier Wände an Entscheidendem ereignet. Hier sollen die jungen Menschen lernen, mit Kopf und Hand zu arbeiten – und mit dem Herzen dabei zu sein – und so all das zu erwerben, was wir für die Grundsäulen des Lebens halten: Rechnen sowie Schreiben, Lesen, Sprechen – auch in zwei Fremdsprachen. Dazu allein und miteinander Probleme lösen und Kenntnisse aus der nahen und fernen – auch der vergangenen – Welt erwerben. Dann Freude gewinnen an der Bewegung und am Schönen, am Musischen und Kreativen sowie Respekt entwickeln vor den Mitmenschen und der Natur.

Die Kinder sollen überdies das Lernen trainieren und die Ausdauer, offen sein für andere Ansichten und ihre Meinung fair vertreten können. Und so manches andere mehr: ein immenser Berg und eine höchst anspruchsvolle Aufgabe im subtilen Dreieck zwischen Lehrperson – Kind – Unterrichtsinhalt.

Das Korsett künstlich konstruierter Komplexität engt ein

Die Regelungsdichte in der Schule nimmt zu.

Wer steuert in diesem pädagogischen Dreieck die Lernprozesse? Die Lehrerin! Der Lehrer! So die selbstverständliche Antwort. Doch sie trifft nicht mehr zwingend zu. Die Fächerfülle steigt, die Regelungsdichte nimmt zu, die Vorschriften intensivieren sich, die Strukturen werden enger, die Schuladministration wächst – und damit auch die Zahl der Akteure. Das schwächt den pädagogischen und menschlichen Spielraum der Lehrperson; das schnürt ihren Freiheitsraum spürbar ein. Eine künstlich konstruierte Komplexität des Systems gefährdet die zwingend notwendige Balance im pädagogischen Dreieck.

Erfahrene Lehrer warnen seit langem, dass das Feu sacré zu ersticken drohe unter einem Papierberg an Dekreten und Direktiven, Reglementen und Vorgaben. Viele erleben es so: Unnötige Konferenzen und Zusatzaufgaben rauben Zeit und lenken vom Wesentlichen ab. Das wirkt sich aus.

Camus‘ Lehrer: „Il aimait passionément son métier.“

Die Schule lebt vom inneren Feuer der Lehrpersonen. Sie ist ein unersetzliches Kapital. Der Leidenschaft für die Welt entspringt das vitale Engagement für den pädagogischen Auftrag. Das ist die alte Idee der Pädagogik. Diese humane Energie beflügelt Kinder.

Jede administrative Massnahme, jede behördliche Vorschrift, jede Schulreform müsste demzufolge doch bewirken, dass Lehrerinnen und Lehrer, um nochmals an Camus‘ Wort zu erinnern, ihren Beruf leidenschaftlich lieben können – stimulierende Voraussetzung für einen guten Unterricht. Basis dazu ist die Balance im Bildungsdreieck.

 

[1] Vgl. Peter von Matt (2001), Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz, München/Wien: Carl Hanser Verlag, S. 91.

[2] Albert Camus (1997): Der erste Mensch. Reinbek b. Hamburg, S. 125, 128. Im autobiographischen Roman heisst Camus’ Lehrer Monsieur Bernard.

[3] Ebda, S. 282 [Datum des Briefes: 19.11.1957].

[4] Roland Reichenbach (2015), „Kein Mensch ist bildungsfern,“ in: https://www.srf.ch/wissen/lernen-gewusst-wie/kein-mensch-ist-bildungsfern [Status: 27.01.2020].

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Freude ist die einfachste Form der Dankbarkeit https://condorcet.ch/2019/08/freude-ist-die-einfachste-form-der-dankbarkeit/ https://condorcet.ch/2019/08/freude-ist-die-einfachste-form-der-dankbarkeit/#respond Wed, 28 Aug 2019 14:09:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=2098

Nun hat sich auch Urs Guggisberg, Schulleiter des OSZ-Orpund, in die Diskussion um das Schulleitungsverständnis eingeschaltet. Das Besondere: In diesem Kollegium entstand das lehrplankritische Memorandum 550gegen550 (zusammen mit Lehrkräften des OSZ-Mett-Bözingen in Biel) und in diesem Kollegium arbeitet auch unser Condorcet-Autor Alain Pichard, der mit seinen kritischen Voten zur aktuellen Bildungspolitik schweizweit bekannt wurde. Alain Pichard würdigt in seinem Beitrag das Wirken von Urs Guggisberg.

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Schulleiter hatten es nicht immer einfach mit mir. Ich hatte mir in den Jahren meiner Berufstätigkeit und auch als aktiver Gewerkschafter ein gewisses Verständnis von Abläufen beigebracht, mit denen ich meine Vorgesetzten (dazu gehörten auch Behörden) immer wieder in Argumentationsnot gebracht habe. Diese Fähigkeiten brachte ich immer dann ein, wenn Kolleginnen und Kollegen angegriffen wurden (und meine Hilfe beanspruchten), wenn meine pädagogischen Freiheiten beschnitten werden sollten oder wenn ich mit gewissen Entscheidungen nicht einverstanden war.

Bild: HP-OSZ-Oprund

Schulleiter hatten es aber auch im OSZ-Orpund nicht leicht. Im OSZ-Orpund arbeiteten lange Zeit eine Reihe ausserordentlich dominanter, pädagogisch beseelter, charismatischer Lehrer (ich spreche hier ausdrücklich von Lehrern), die sich selten etwas sagen liessen und der Schule Ihren Stempel aufdrückten. Dieser «Stempel» liess sich durchaus sehen. Denn seit seiner Startphase vor ca. 50 Jahren galt diese Schule als innovativ, links, und unglaublich kreativ. Zahlreiche atemberaubende Projekte prägten den Schulalltag der Orpunder Oberstufenschüler, was bei manchen Behördenmitgliedern und Eltern auch Stirnrunzeln auslöste und dem Kollegium mahnende Appelle zu Mässigung einbrachte.

Es war logisch, dass sich dieses Kollegium bei der Umstellung des 6/3-Modells für eine integrierte Oberstufe aussprach, also für gemischte Stammklassen, in denen SekundarschülerInnen, RealschülerInnen, zukünftige GymnasiastInnen und auch die schulschwächeren Kinder zusammen lernen durften. Das war in einem eher konservativen Umfeld, wie es unsere Trägergemeinden eben sind, ein beachtlicher schulpolitischer Schritt. Die linke Stadt Biel entschied sich gleichzeitig für das selektivere Oberstufenmodell, in welchem die Sekundar- und Realklassen noch getrennt waren.

Motto im OSZ-Orpund
Bild: api

Das Ganze ging natürlich nicht ohne Konflikte. Wären der Lehrerkonferenzen gingen die Raubeine heftig aufeinander los. Es flogen sozusagen die Fetzen. Immer wieder gelang es dem Kollegium aber, diese Dissonanzen in produktive Kreativität umzusetzen. Mehrheiten entschieden, Beleidigungen wurden weggesteckt und man stellte sich stolz hinter das nächste Projekt.

Mit der Zeit verliessen einzelne Typen dieser alten Garde den Schuldienst, jüngere KollegInnen kamen, die nicht mehr alles schluckten, die Konflikte wurden heftiger und begannen das Kollegium zu lähmen. Und – wie es immer passiert, wenn Alphatiere das Ruder übernehmen – passierten auch gravierende Verstösse gegen die berufliche Professionalität. 2011 übernahm Urs Guggisberg hier das Ruder. Sein Vorgänger war den Behörden nicht mehr genehm, das Kollegium gespalten.

Man tut Urs Guggisberg sicher nicht Unrecht, wenn man ihn als einen Mann der «Alten Schule» bezeichnet. Eine wichtige und nicht zu unterschätzende Eigenschaft dieser «Old Fellows» sind Freundlichkeit und Höflichkeit. Der Mann strahlte Ruhe aus, wurde nie ausfällig, war ein ausserordentlich guter Zuhörer. Die zweite wichtige Eigenschaft dieser Art Führungspersonen ist die enorme Kenntnis der Gesetze und Abläufe, vor allem aber ihrer Lücken, welche diese Art Menschen als Freiräume entdecken.

Dieser Mann hatte ein Gespür für die Stärken seiner Mitarbeiter und liess ihnen grosse Freiheiten.

Für mich aber entscheidend: Dieser Mann hatte ein Gespür für die Stärken seiner Mitarbeiter und liess ihnen grosse Freiheiten. Er konzentrierte sich nicht auf die Schwächen, er förderte die Begabungen. Damit brachte er das OSZ wieder auf Kurs.

Das Memorandum startete in Orpund und Mett-Bözingen

Er war es auch, der den Lehrplan an einem Kollegiumstag mit seinen Kolleginnen und Kollegen studierte, was daraufhin als Geburtsstunde des Memorandums 550gegen550 galt. Selbstredend war Urs Guggisberg einer der Erstunterzeichner und mit grosser Selbstverständlichkeit leitete er unsere Stellungnahme direkt an die EDK weiter.

Die folgende Anekdote sagt einiges über das Selbstverständnis dieses Mannes aus. Er erhielt von der Erziehungsdirektion und von der EDK zwei wütende Telefonate, beide mit der Kritik, was ihm eigentlich einfalle, diese Stellungnahme direkt zu schicken. Man hätte das Papier, so die Bildungsbehörden, dem Kanton zustellen müssen. Der hätte die Aussagen zusammengefasst und an die EDK weitergeleitet. Ausserdem brauche es einen Code, damit die Stellungnahme behandelt werde. Diesen Code, so beteuerte unser Schulleiter, habe er ja bekommen! «Ja», so die zerknirschte Antwort der EDK-Vertreterin, «das hätte aber nie passieren dürfen!»

Und so figuriert auch heute noch unter den Dutzenden standardisierten Vernehmlassungsantworten von Institutionen und Behörden diejenige des Oberstufenzentrums Orpund! – Notabene als einzige Schule der Schweiz!

Wie hat dieser Mann den Code erhalten? Ganz einfach: Mit Höflichkeit, Freundlichkeit und Bestimmtheit!

Schülerband am OSZ-Orpund

Wir dankten es ihm mit Innovation und atemberaubenden Projekten

Urs Guggisberg hat uns machen lassen. Als ich ihm nach 40 Jahren Französischunterricht sagte: «Ich kann diesen Passepartout-Scheiss nicht mehr verantworten und will keine Französischlektionen mehr unterrichten!», akzeptierte er das sofort und mit grösstem Verständnis. Er besuchte alle Theateraufführungen, Veranstaltungen und unterstützte all unsere Projekte. Er gab immer und unentwegt Rückmeldungen, bestärkte uns positiv und stand hinter uns, wenn es zwischendurch mal brenzlig wurde. Er konnte allerdings auch Lehrkräfte in den Senkel stellen, wenn es das erforderte. Höflich wie immer, aber bestimmt. Und die Schlichtungsgespräche, die er leitete, waren immer geprägt von einer beeindruckenden Sachkenntnis in Verfahrensabläufen. Er war für uns eine Art Lebensversicherung in heiklen Angelegenheiten.

Wir dankten es ihm mit Engagement, Innovation und Fleiss, mit Nachtprojekten, Parcours, Schulhauszeitungen, dem Führen eines Restaurants, dem Schülerrat an den Lehrerkonferenzen usw. Und auch mit Freude an unserer Arbeit. Denn Freude ist immer die einfachste Art der Dankbarkeit (Karl Barth).

Im Januar tritt Urs Guggisberg in den Ruhestand. Ihm folgen die letzten VetreterInnen der alten Garde, darunter wohl auch ich. Ich nehme an, dass dann die Sektflaschen geöffnet werden. In unserer Schule mit Wehmut, in den Büros der Bildungsbürokratie wohl mit Aufatmen!

Alain Pichard

 

 

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