Neurowissenschaften - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 03 Apr 2024 09:03:47 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Neurowissenschaften - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Der Mensch als Symbiose von Gehirn und Kultur, 4. Teil https://condorcet.ch/2024/04/der-mensch-als-symbiose-von-gehirn-und-kultur-4-teil/ https://condorcet.ch/2024/04/der-mensch-als-symbiose-von-gehirn-und-kultur-4-teil/#comments Mon, 01 Apr 2024 11:59:48 +0000 https://condorcet.ch/?p=16338

"Ich hatte meine Kritik der Neuropädagogik, die im Condorcet-Blog unter dem Titel Lehrende und lernende Gehirne erschienen ist, mit einer Rückblende auf die Pädagogische Anthropologie begonnen. Es scheint mir angebracht, meine Ausführungen zur Symbiose von Gehirn und Kultur damit abzuschliessen, dass ich mich nochmals der Frage nach dem pädagogischen Verständnis des Menschen zuwende. Dies wird es ermöglichen, auch einige kritische Fragen zum schulischen Unterricht zu stellen und nach möglichen Lösungen zu suchen", schreibt Condorcet-Autor Professor Walter Herzog in der Einführung zum 4. und letzten Kapitel seines vierteiligen Essays zur Neuropädagogik.

The post Der Mensch als Symbiose von Gehirn und Kultur, 4. Teil first appeared on Condorcet.

]]>

Was der Mensch ist, was er kann und was er soll, sind allerdings Fragen, die sich in ihrem grundsätzlichen Charakter schwer beantworten lassen. Allein schon die Tatsache, dass uns die verschiedenen Zweige der Wissenschaft Erkenntnisse liefern, die sich teilweise widersprechen, verunmöglicht es, die Pädagogische Anthropologie als “datenverarbeitende Integrationswissenschaft” zu betreiben, wie es Heinrich Roth (1966) vorschwebte.

Emer. Professor Walter Herzog, Bern

Trotzdem kommt niemand, der in Bildung und Erziehung tätig ist, ohne eine minimale Vorstellung davon aus, was die ihm anvertrauten Kinder, Jugendlichen oder Erwachsenen als Menschen auszeichnet. Wie abgedroschen der Begriff auch immer klingen mag, ohne ein Menschenbild geht es in den pädagogischen Berufen nicht. Wobei ich hinzufügen möchte, dass auch dort, wo dem Menschen lediglich in wissenschaftlich-analytischer Perspektive begegnet wird, anthropologische Grundannahmen unverzichtbar sind.

Körperlichkeit und Sozialität

In meiner Kritik an den Neurowissenschaften habe ich auf die unartikulierten cartesianischen Prämissen hingewiesen, auf denen viele Studien von Hirnforscherinnen und Hirnforschern beruhen. Obwohl ein körperliches Organ, erscheint das Gehirn in der Rolle eines entkörperten Trägers mentaler Eigenschaften und psychischer Phänomene, die von Descartes einer vom Körper getrennten geistigen Substanz (res cogitans) zugeschrieben wurden. Wie Thomas Fuchs (2022) mit fast schon ironischem Unterton anmerkt, “passen die idealistische Innenwelt des Bewusstseins und die neurobiologische Innenwelt des Gehirns überraschend gut zueinander” (S. 235). Fuchs macht sich daher für eine verkörperte Anthropologie stark, in deren Licht der Mensch als Lebewesen erscheint.

In der Tat liegt hier ein Weg, um Descartes’ zweigeteiltes Menschenbild zu korrigieren. Ohne Einbezug des Körpers in unser Verständnis des Menschen wird es nicht gelingen, den “neurowissenschaftlichen Zerebrozentrismus” (S. 249), wie er von Fuchs (2022) genannt wird, zu überwinden. Menschen sind als Personen zu verstehen, die weder als geistlose Körper noch als körperlose Geister adäquat begriffen werden. Anders als bei Descartes werden damit Leben und Lebendigkeit zu wesentlichen anthropologischen Kategorien.

Der Einbezug des Körpers genügt aber nicht. Menschen sind auch soziale Wesen. Sie nutzen ihren Körper, um mit anderen Menschen zu kommunizieren und gemeinsam nach Lösungen für die Probleme ihrer Lebensführung zu suchen. Wolf Singer (2003) liegt daher falsch, wenn er uns weismachen will, Dialoge würden von unseren Gehirnen geführt. Nicht Gehirne, sondern Menschen aus Fleisch und Blut haben im Verlaufe der Evolutionsgeschichte die Fähigkeit erlangt, miteinander zu kommunizieren und ihre Gedanken auszutauschen. Die Gehirne mussten gleichsam aus ihrer körperlichen Isolation befreit werden, damit ihr kognitives Potential ausgeschöpft werden konnte. Dadurch gelang unseren Vorfahren, die spezifisch kulturelle Lebensform hervorzubringen, die uns als Menschen auszeichnet.

Der Mensch als hybrides Lebewesen

Für ein postcartesianisches Menschenbild bildet die von Merlin Donald getroffene Unterscheidung dreier Repräsentationssysteme eine fruchtbare Basis. Das mimetische System ist körperlich-motorisch basiert, das narrative verdankt sich der Lautsprache, und das analytisch-wissenschaftliche setzt die Beherrschung von Symboltechniken voraus. Die Übergänge in der Evolution des Menschen, die mit diesen Repräsentationssystemen verbunden sind, führten zu Verschiebungen im menschlichen Bewusstsein, aber nicht derart, dass die früheren Stufen überwunden worden wären. Das mimetische, das narrative und das theoretische Denken bestimmen unser Leben gleichermassen und stehen nicht für eine Entwicklungslogik, bei der allein die höchste Stufe den Ton angibt.

Merlin Donald, Kanada, Neuroanthropologe

Vergleichbar der Evolution der Lebewesen bilden die Repräsentationssysteme eine Art Stammbaum, von dem ältere und jüngere Sprosse abzweigen, die einer eigenen Entwicklungslinie folgen. Wie sich Donald (2012) ausdrückt, tragen wir “sowohl als Individuen wie als Gesellschaften das ganze evolutionäre Erbe der letzten paar Millionen Jahre in uns” (S. 67 – eigene Übersetzung). Unser Geist bildet ein Mosaik von episodischen, mimetischen, narrativen und theoretischen Kognitionsformen, die je eigene Aufgaben erfüllen und nicht durch ihre jüngste Form integriert werden. Als Menschen sind wir Hybridwesen, die den verschiedenen ökologischen Nischen angepasst sind, die wir uns über die lange Zeit unserer Evolutionsgeschichte erarbeitet haben.

Kritik der linearen Fortschrittslogik

Kritisiert wird damit das Fortschrittsmodell des menschlichen Geistes, wie es in verschiedenen Varianten noch immer weit verbreitet ist. Nach wie vor hängen wir dem Ideal der Perfektionierung des Menschen an, obwohl uns dessen Grenzen immer deutlicher vor Augen treten. Bildung und Erziehung werden als linearer Aufbauprozess verstanden, der einer kumulativen Logik folgt, die von einem ungenügenden Anfangszustand zu einem normativ ausgezeichneten Endzustand führt. So entwarf beispielsweise Immanuel Kant (1803/1983) eine Erziehungslehre, der er zumutete, die Menschheit schrittweise zur Vollkommenheit zu führen. Ähnlich skizzierte Friedrich Schleiermacher (1826/2000) eine Pädagogik, dank der “alle menschlichen Verhältnisse von einer Generation zur anderen fortwährend sich vervollkommnen” (S. 36). Sobald der Zustand der Perfektion erreicht ist, bedarf es keiner absichtlichen Erziehung mehr.

Vergleichbare Fortschrittsideologien wurden in der Soziologie von Herbert Spencer und Auguste Comte vertreten. Indem sie sich fälschlicherweise auf Darwin beriefen, propagierten sie einen Evolutionismus, der die stete Vervollkommnung der Menschheit versprach. Die Evolution wurde als zielgerichtete Aufwärtsbewegung missdeutet, während die Vielfalt der lebenden und ausgestorbenen Lebewesen nichts dergleichen erkennen lässt (vgl. Gould, 1998). Kritisiert wurde der soziologische Evolutionismus unter anderen von Ernst Cassirer. Wie Donald bestreitet er, dass mit dem Erreichen einer höheren Stufe des menschlichen Bewusstseins die früheren Stufen entbehrlich werden. In etwas gespreizter Formulierung schreibt er, dass jegliche Gestalt, durch die das Bewusstsein hindurchgeht, “in irgendeiner Weise auch zu seinem bleibenden und dauernden Bestand” (Cassirer, 1929/1982, S. 92) gehört. Eine Denkform kann nicht überschritten werden, ohne dass sie bewahrt wird, und zwar deshalb, weil es im menschlichen Geist keine absolute Vergangenheit gibt, “sondern dass er auch das Vergangene noch in sich befasst und […] als Gegenwart in sich enthält” (ebd.).

Ernst Cassirer, Philosoph

Wenn wir das mythische Bewusstsein als Beispiel nehmen, dann heisst dies, dass der Untergang der Inhalte des Mythos, d.h. der Erzählungen vom Ursprung der Welt und des Menschen, keineswegs auch den Untergang seiner geistigen Funktion bedeutet. In vielen alltäglichen Angelegenheiten denken auch heutige Menschen noch genauso mythisch wie ihre urgeschichtlichen Vorfahren. Auch wenn die Wissenschaft Mythen als irrational und unsinnig darzustellen versucht, wird es ihr nicht gelingen, die Erfahrung zu tilgen, aus der das mythische Denken hervorgeht. Mythen mögen ihren objektiven Wert eingebüsst haben, “aber ihr anthropologischer Wert bleibt erhalten” (Cassirer, 1990, S. 124). Gleiches gilt für das mimetische Bewusstsein, das seinen Platz und seine Bedeutung in unserem Leben ebenso wenig verlieren wird wie das narrative Bewusstsein.

Must-have und nice-to-have

Cassirer findet auf dem Hintergrund ganz anderer Überlegungen zu einer ähnlichen Kritik am linearen Fortschrittsdenken, wie wir sie bei Merlin Donald angetroffen haben. Keine der symbolischen Formen, die er untersucht hat, “geht schlechthin in der anderen auf oder lässt sich aus der anderen ableiten” (Cassirer, 1923/1985, S. 9). Vielmehr stehen sie als “geistige Grundrichtungen” (S. 16) ebenbürtig nebeneinander und üben als Formen der Welterschliessung Funktionen aus, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Wie die drei Repräsentationssysteme von Donald stehen die symbolischen Formen von Cassirer nicht wie die Stufen der kognitiven Entwicklung bei Piaget (1974) in einer hierarchisch-integrativen Beziehung zueinander, sondern bilden unabhängige Organe des Erkennens von Wirklichkeit mit je eigenem Entwicklungsverlauf.

Pädagogisch ist dies deshalb von Interesse, weil es möglich macht, unser Menschenbild neu zu orientieren. Als Menschen verfügen wir über evolutionär bedingte Repräsentationssysteme, die ökologischen Nischen angepasst sind, in die wir gleichsam natürlicherweise hineineinwachsen. Jedenfalls brauchen Kinder keine Anleitung, um ihre basalen körperlichen Kompetenzen und ihre erstsprachliche Kommunikationsfähigkeit auszubilden. Als körperliche und soziale Wesen sind sie dafür ausgestattet, ein Leben zu führen, das keine hohen Ansprüche stellt. Unterweisung und Unterricht sind erst dann notwendig, wenn ihnen eine Schriftsprache und andere Symboltechniken sowie die Grundlagen der modernen Wissenschaft beigebracht werden sollen.

Kein anderes Lebewesen ist vergleichbar dem Menschen zur Nachahmung fähig, kein anderes Lebewesen als der Mensch verfügt über eine Lautsprache, und kein anderes Lebewesen ist in der Lage, symbolische Notationssysteme zu schaffen.

 

Die Schule befindet sich im Irrtum, wenn sie glaubt, auf die Leistungen des mimetischen und des narrativen Repräsentationssystems nicht angewiesen zu sein oder diese substituieren zu können. Da jedes Repräsentationssystem nach einer eigenen Logik funktioniert, lässt sich keines der beiden ‘natürlichen’ Repräsentationssysteme überwinden. Eher verhält es sich umgekehrt. Während die theoretisch-wissenschaftliche Repräsentationsform unter evolutionärer Perspektive ein nice-to-have darstellt, da sie im biologischen Sinn nicht überlebensnotwendig ist, sind die mimetische und die narrative Form must-haves, da menschliches Leben ohne sie unmöglich ist. Sie werden daher auch in Zukunft von Bedeutung sein und aus dem kognitiven Repertoire der Menschen nicht verschwinden – auch in der Schule nicht.

Das reduzierte Menschenbild der Schule

Alle drei Repräsentationssysteme bilden definierende Kriterien des Menschen. Kein anderes Lebewesen ist vergleichbar dem Menschen zur Nachahmung fähig, kein anderes Lebewesen als der Mensch verfügt über eine Lautsprache, und kein anderes Lebewesen ist in der Lage, symbolische Notationssysteme zu schaffen. Insofern bilden sie Teil der menschlichen ‘Natur’, und die Pädagogik ist angehalten, die drei Repräsentationssysteme in ihr Menschenbild aufzunehmen.

Kein anderes Lebewesen ist vergleichbar dem Menschen zur Nachahmung fähig.

Damit ergibt sich für den schulischen Unterricht jedoch ein schwer lösbares Problem, mit dem wir uns im Folgenden etwas ausführlicher beschäftigen wollen. Der Auftrag der Schule lautet, die nachwachsenden Generationen in die menschlichen Symbolsysteme einzuführen, und nicht, ihre natürlicherweise gegebenen mimetischen und narrativen Kompetenzen zu fördern. Das Menschenbild der Schule schneidet aus der menschlichen Gesamtnatur ein Segment heraus – unter weitgehender Vernachlässigung der übrigen Segmente.

Weil sich die Repräsentationssysteme weder substituieren noch ineinander übersetzen lassen, fokussiert die Schule auf jene Repräsentationsform, die zu erwerben am meisten Schwierigkeiten macht, und das ist das wissenschaftlich-theoretische System. Damit geraten das mimetische und das narrative Repräsentationssystem in Gefahr, marginalisiert zu werden und vergessen zu gehen, was im Hinblick auf ihre Bedeutung für das schulische Lernen fatale Konsequenzen haben kann.

Reminiszenz an Schleiermacher

Bildung und Unterricht beruhen im Kern auf der Tradierung und Weitergabe von Kulturtechniken, die zum Grundbestand einer modernen Gesellschaft gehören. Wenn wir uns nochmals an Friedrich Schleiermacher (1826/2000) halten, dann bezieht die Pädagogik ihre Legitimation im Wesentlichen aus dem Generationenverhältnis, das sich wegen der Sterblichkeit des Menschen permanent erneuern muss. In das Gebiet einer pädagogischen Theorie fällt daher gemäss Schleiermacher alles, was auf der “Grundlage des Verhältnisses der älteren zur jüngeren Generation […] der einen in Beziehung auf die andere obliegt” (S. 9).

Das mimetische und das narrative Repräsentationssystem geraten in Gefahr, marginalisiert zu werden und vergessen zu gehen, was im Hinblick auf ihre Bedeutung für das schulische Lernen fatale Konsequenzen haben kann.

 

In der Familie ist kaum kontrovers, was der einen gegenüber der anderen Generation obliegt, da Eltern ihrer Aufgabe in der Regel ohne theoretische Anleitung nachkommen. In der öffentlichen Erziehung, um die es Schleiermacher primär geht, ist eine Theorie dagegen unabdingbar. Diese muss festlegen, was durch die Erziehung erreicht werden soll, nämlich die Mündigkeit der nachwachsenden Generation. Mündigkeit ist für Schleiermacher erreicht, wenn die jüngere Generation zur älteren aufgeschlossen hat und sich am Projekt der «Entwicklung des Menschengeschlechts» (S. 12) beteiligen kann.

Die Erziehung muss daher so eingerichtet werden, “dass die Jugend tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen” (S. 34). Solange der Status quo noch nicht die angestrebte Perfektion erreicht hat, bleibt die Erziehung in das Streben nach menschlicher Vollkommenheit eingebunden. Zielgebend für die pädagogischen Leistungen der Schule ist daher die Zukunft der Schülerinnen und Schüler. Wie sich Schleiermacher ausdrückt, liegt es in der “Natur der pädagogischen Einwirkung, auf die Zukunft gerichtet zu sein” (S. 53).

Drei Probleme des schulischen Unterrichts

Egal ob wir Schleiermachers Utopie der Perfektionierung der Menschheit teilen oder nicht, aus der Tatsache der Zukunftsgerichtetheit der Erziehung ergeben sich sowohl ein moralisches wie auch ein motivationales und ein kognitives Problem. Insofern der Wert von Erziehung und Unterricht in der Zukunft der Schülerinnen und Schüler liegt, wird in jedem pädagogischen Moment ein Stück Gegenwart geopfert. “Jede pädagogische Einwirkung stellt sich dar als Aufopferung eines bestimmten Momentes für einen künftigen” (S. 51), wie sich Schleiermacher (1826/2000) ausdrückt. Moralisch rechtfertigen lässt sich diese Einschränkung nur unter der Annahme, dass die Schülerinnen und Schüler später einsehen werden, dass ihnen das Opfer zu Recht abverlangt wurde und sie den Verlust an Lebenszeit rückwirkend billigen.

Friedrich Schleiermacher, Theologe und Philosoph

Motivational stellt sich die Problematik anders dar, denn eine Verschiebung in die Zukunft ist hier nicht möglich. Lernen findet immer in der Gegenwart statt. Motiviert müssen die Schülerinnen und Schüler im Hier und Jetzt sein, anders lassen sie sich nicht unterrichten. Schleiermacher glaubte, auch für dieses Problem eine Lösung gefunden zu haben, die darin besteht, anfänglich dem Spielen, das ihm «die absolute Negation der Zukunft» (Schleiermacher, 1813-14/2000, S. 202) bedeutete, mehr Raum zu geben als dem Lernen. Mit wachsender Einsicht der Schülerinnen und Schüler in die Notwendigkeit des Lernens soll das Ungleichgewicht dann in die Gegenrichtung verschoben werden.

Überzeugen könnte dieser Vorschlag nur, wenn die Inhalte des Lernens für die Lernmotivation ohne Bedeutung wären. Dem ist aber nicht so, weshalb wir auch mit einem kognitiven Problem konfrontiert sind. Dieses besteht darin, dass die Repräsentationssysteme in ökologische Nischen eingebunden sind, die sich wesentlich voneinander unterscheiden. Das Lernen nimmt damit in Abhängigkeit von den Repräsentationssystemen eine andere Gestalt an. Mimetisch lernen wir anders als narrativ und narrativ anders als theoretisch. Dabei fällt es in der Regel leicht, sich mimetisch und narrativ repräsentiertes Wissen anzueignen, während es mit Anstrengung verbunden ist, symbolisch bzw. theoretisch repräsentiertes Wissen zu erwerben.

Biologisch primäre und biologisch sekundäre Fähigkeiten

Dazu passt die Unterscheidung zwischen biologisch primären und biologisch sekundären Fähigkeiten, wie sie der Evolutionspsychologe David Geary (1995) vorgeschlagen hat. Biologisch primäre Fähigkeiten werden leicht gelernt, biologisch sekundäre nur mit Aufwand. Ein triviales Beispiel geben die Lautsprache (biologisch primäre Fähigkeit) und die Schriftsprache (biologisch sekundäre Fähigkeit). Vergleichbar der Sprache gibt es auch mathematische Kompetenzen, die relativ leicht gelernt werden, wie Elemente der euklidischen Geometrie, Klassifikation und Reihenbildung sowie elementare arithmetische Operationen wie Addition und Subtraktion, und Kompetenzen, deren Erwerb deutlich anspruchsvoller ist.

Der Erwerb von Fähigkeiten, die an die Beherrschung von Symboltechniken gebunden sind (Formeln, Algorithmen, Kennzahlen, Regeln, Karten, Musiknoten etc.), ist generell aufwendig und auf Seiten der Lernenden anfällig für Fehlleistungen aller Art. Das hat nicht nur damit zu tun, dass das schulische Lernen aufgrund des Inhaltsbezugs der Unterrichtsfächer unterschiedliche Interessen anspricht, sondern auch damit, dass die Inhalte wissenschaftsbasiert bzw. wissenschaftsorientiert sind und damit fast ausnahmslos im Gegensatz zum intuitiven Wissen stehen, über das die Schülerinnen und Schüler in einem Fach verfügen.

Da die menschlichen Repräsentationsformen nicht einer Entwicklungslogik folgen, das wissenschaftliche Denken also nicht auf dem mimetischen und narrativen Denken aufbaut, können die Lehrpersonen nur bedingt am lebensweltlichen Wissen der Schülerinnen und Schüler anknüpfen oder den Unterricht an Naturphänomenen orientiert gestalten. Bei allen Empfehlungen, dies aus motivationalen Gründen trotzdem zu tun, müssen sie darauf achten, nicht gegen die eigenen Ziele zu handeln. Wie der französische Philosoph Gaston Bachelard (1938/2016), der über längere Zeit als Gymnasiallehrer tätig war, überzeugend darlegt, kann ein anschaulicher Unterricht zum Lernhindernis werden, da er den Schülerinnen und Schülern geradezu verunmöglicht, die Fachinhalte richtig zu verstehen. Die “Bildung des wissenschaftlichen Geistes» – so der Titel des Buches von Bachelard – muss sich von der intuitiven Alltagserfahrung der Schülerinnen und Schüler absetzen; sie muss «mit einer intellektuellen und affektiven Katharsis beginnen” (S. 53).

Kritik der didaktischen Aufbaumetaphorik

Das tönt ungewohnt, deckt sich aber mit dem Menschenbild, das wir aufgrund der Analyse der Anthropogenese durch Merlin Donald gewonnen haben. Wenn wir Donald folgen, dann gibt es keinen linearen Weg von der Mimesis zu den Symboltechniken. Insofern das menschliche Bewusstsein “Spuren von sämtlichen Stufen der kulturellen Evolution in sich (trägt)” (Donald, 2008, S. 305), wird die mimetische Vernunft durch die narrative Vernunft genauso wenig abgelöst, wie die narrative Vernunft durch die wissenschaftliche Vernunft überwunden wird. Der Unterricht kann das mimetische und narrative Wissen der Schülerinnen und Schüler nicht als Sprungbrett nutzen, um sie in die Sphäre des wissenschaftlichen Denkens zu katapultieren. Die Aufbaumetaphorik, wie sie fast allen Lehrplänen zugrunde liegt, so auch dem Lehrplan 21, ist schlicht fehlkonzipiert. Was im Unterricht erreicht werden soll, liegt nicht auf einer Linie mit dem, was es zu überwinden gilt.

Gaston Bachelard, französischer Philosoph

Dass es nicht gelingt, Wissen und Kompetenzen in diesem Sinne aufzubauen, zeigen die Fehlauffassungen, die sich bei Schülerinnen und Schülern finden. Fehlauffassungen sind das Ergebnis eines inadäquaten Denkstils, der sich bei Stoffen bemerkbar macht, deren Vermittlung analytisch-wissenschaftliches Wissen voraussetzt. Während es leichtfällt, durch Beobachtung eines Vorbildes eine Fertigkeit zu erlangen oder mit einer Erzählung auf Gehör zu stossen, weil Menschen natürlicherweise zur Nachahmung disponiert und für Geschichten empfänglich sind, fällt es schwer, Schülerinnen und Schüler für Überlegungen theoretischer Natur zu begeistern, weil ihnen dafür das natürliche Empfangsorgan fehlt.

Bei aller didaktisch verbrieften Aufbaulogik müssen Lehrerinnen und Lehrer damit rechnen, dass es ihnen nicht gelingt, Fachinhalte verständlich zu vermitteln, weil das mimetische und narrative Denken der Schülerinnen und Schüler den Lernprozess sabotiert. Ich möchte dies an einigen Beispielen illustrieren.

Von Aristoteles zu Galilei

Als erstes Beispiel wähle ich den Physikunterricht. Unser intuitives Verständnis physikalischer Vorgänge liegt nahe bei der Physik von Aristoteles, die aufgrund ihrer geringen Distanz zur Alltagserfahrung ein anschauliches Bild der Wirklichkeit vermittelt. Das zeigt etwa der Begriff der Bewegung, der von Aristoteles im Hinblick auf das Ende einer Bewegung, nämlich den Zustand der Ruhe, definiert wird. Die Physik von Galilei und Newton abstrahiert dagegen von unserer Alltagserfahrung und konzipiert die materielle Wirklichkeit auf eine Weise, wie wir sie anschaulich gerade nicht erfahren. Im Falle der Bewegung heisst dies, dass der Zustand der Bewegung dem Zustand der Ruhe für gleichwertig erachtet wird, eine Bewegung von sich aus daher nicht zur Ruhe gelangt (Trägheitsgesetz).

Unser lebensweltlicher Alltag bildet eine ökologische Nische, in die die aristotelische Physik bestens eingepasst ist, so dass für Schülerinnen und Schüler spontanerweise wenig Anlass besteht, sich auf eine physikalische Theorie einzulassen, für die sie intuitiv keine Bestätigung finden. Wie sich Howard Gardner (1993) ausdrückt, haben wir in der Alltagserfahrung “kaum Gelegenheit, Bekanntschaft mit der Welt zu machen, wie Newton sie beschrieben hat” (S. 286). Die Folge ist, dass es Lehrkräfte nicht nur schwer haben, die Grundlagen der modernen Physik verständlich zu vermitteln, sondern Schülerinnen und Schüler auch dann noch an aristotelischen Fehlauffassungen festhalten, wenn sie die newtonschen Bewegungsgesetze eigentlich begriffen haben.

Von der Genesis zu Darwin

Mein zweites Beispiel stammt aus dem Biologieunterricht und betrifft die Evolutionstheorie. Auch Charles Darwin hat unsere Alltagsintuitionen gründlich entkräftet. Denn die Entstehung der Arten lässt sich nicht narrativ als Schöpfungsgeschichte erzählen, da sie rein mechanischen Prinzipien gehorcht, nämlich dem Zusammenspiel von Zufall (Variation) und Notwendigkeit (Selektion), um die Formel von Jacques Monod (1971) aufzugreifen.

Doch Schülerinnen und Schüler begreifen nur schwer, dass der Evolution keine Absicht zugrunde liegt und der Transformation der Lebensformen kein Plan vorausgeht. Intuitiv liegt die Annahme näher, dass die Fische willentlich das Wasser verliessen, als sie zu Landlebewesen wurden, als davon auszugehen, beim Landgang handle es sich um die absichtslose Anpassung einer aquatischen Lebensform an veränderte Umweltbedingungen. Der zufällige Prozess der Evolution widerspricht der lebensweltlichen Erfahrung, wonach Veränderungen zielgerichtet sind und vorsätzlich ausgelöst werden.

Naturwissenschaftler Charles Darwin, Begründer der Evolutionstheorie

Auch die Idee der Abstammung ist nicht leicht zu verstehen. Neue Arten entstehen nicht sprunghaft, sondern graduell, womit unser Alltagsverständnis von Lebewesen als Einheiten mit homogenen oder typischen Merkmalen unterlaufen wird. Arten bilden keine stabilen Grössen, sondern momenthafte Anhäufungen von Varietäten, die sich in einem ständigen Wandlungsprozess befinden. Wie sich Ernst Mayr (1994) ausdrückt, ersetzte Darwin “typologisches Denken durch Populationsdenken” (S. 204). Er nennt dies sogar das Wichtigste an der darwinschen Revolution. Da sich nicht nur die Lebewesen ständig verändern, sondern auch ihre Umwelten permanent in Veränderung begriffen sind, gibt es in der Evolutionsbiologie keine natürlichen Kategorien. Dies zu begreifen, macht Schülerinnen und Schülern, aber selbst ihren Lehrkräften oft grosse Schwierigkeiten (vgl. Shtulman, 2006).

Mathematikunterricht

Mein drittes Beispiel entstammt dem Mathematikunterricht. Die Fehlauffassungen liegen hier etwas anders als im Physik- und Biologieunterricht. Als problematisch erweist sich insbesondere der Übergang von anschaulichen mathematischen Aufgaben zu abstrakten und formalisierten Problemstellungen. Wie wir gesehen haben, werden gewisse mathematische Fähigkeiten intuitiv beherrscht, wie Elemente der euklidischen Geometrie oder einfache Additionen und Subtraktionen, während uns andere intuitiv unzugänglich sind und nur unter Anstrengung erworben werden.

Der Schritt zur Lösung mathematischer Aufgaben, die an die Beherrschung von Symboltechniken (Formeln, Gleichungen, Algorithmen etc.) gebunden sind, fällt vielen Schülerinnen und Schülern nicht nur schwer, sondern kann auch Fehlüberlegungen aller Art auslösen. Vor allem die Umsetzung von verbal formulierten Problemstellungen («eingekleidete Aufgaben») in mathematische Modelle stellt hohe Ansprüche und lässt nicht wenige Schülerinnen und Schüler in eine fiktive Zahlenwelt abdriften, in der sie jeden Bezug zur realen Welt verlieren. Gerechnet wird, was sich rechnen lässt, egal ob das Ergebnis Sinn macht oder nicht.

Die Lösung einer mathematischen Aufgabe kann sich als richtig erweisen, obwohl ein falscher Lösungsweg gewählt wurde. Die Lehrperson kann daher den Eindruck gewinnen, ein Schüler oder eine Schülerin habe verstanden, während sie in Wahrheit nichts verstanden haben.

 

Fehlauffassungen im Mathematikunterricht sind für Lehrpersonen oft schwer zu erkennen, wie Pearla Nesher (1987) in einer Studie bei israelischen Schülerinnen und Schülern nachweist. Der Grund liegt hauptsächlich darin, dass Fehlüberlegungen in der Mathematik nicht in jedem Fall zu falschen Lösungen führen. Die Lösung einer mathematischen Aufgabe kann sich als richtig erweisen, obwohl ein falscher Lösungsweg gewählt wurde. Die Lehrperson kann daher den Eindruck gewinnen, ein Schüler oder eine Schülerin habe verstanden, während sie in Wahrheit nichts verstanden haben. Solche kaum vermeidbaren Fehldiagnosen können bei Schülerinnen und Schülern zur Kumulation von Verständnisproblemen führen, was erklärt, weshalb die Gefahr, dass Schülerinnen und Schüler ‘abhängen’, im Mathematikunterricht besonders gross ist.

Hochsprache ist nicht gleich Schriftsprache

Es wäre falsch anzunehmen, das Lernen von Schülerinnen und Schülern würde nur in den naturwissenschaftlichen Fächern und in der Mathematik durch Fehlauffassungen oder Fehlüberlegungen behindert. Ich möchte aber nicht auf weitere Fächer eingehen, sondern als viertes Beispiel ein Problem aufgreifen, das sich in allen Unterrichtsfächern stellt, nämlich das Verhältnis von Laut- und Schriftsprache.

Als mündliche Form der Kommunikation dient an Deutschschweizer Schulen in der Regel die deutsche Standardsprache, die oft auch «Hochdeutsch» genannt wird. Diese unterscheidet sich von der Alltagssprache, wie sie in den verschiedenen Deutschschweizer Kantonen gesprochen wird (Schweizerdeutsch). Nicht selten ergibt sich daraus das Missverständnis, die (gesprochene) Standardsprache entspreche der ‘hochdeutschen’ Schriftsprache, da es zu den schweizerdeutschen Dialekten keine standardisierte Schriftsprache gibt. Dem Missverständnis wird Vorschub geleistet, wenn als Synonym für die (gesprochene) deutsche Standardsprache der Ausdruck “Schriftdeutsch” verwendet wird.

Das ist deshalb falsch, weil keine gesprochene Sprache mit ihrer schriftlichen Form gleichgesetzt werden kann. Eine Schriftsprache ist niemals lediglich die Notationsform der ihr zugehörigen Lautsprache. Wie schon Lev Vygotskij (1934/2017) wusste, unterscheidet sich das schriftliche Sprechen “in Struktur und Funktionsweise vom mündlichen Sprechen nicht weniger […] als das innere Sprechen vom äusseren” (S. 314). Die Schriftsprache ist eine abstrakte Sprache, die strenggenommen “nur gedacht und nicht ausgesprochen wird” (ebd.). Sie ist zudem eine Sprache ohne direkten Gesprächspartner, was für die Kommunikation im Unterricht, der eine ausgesprochen soziale Situation darstellt, höchst eigenartig wäre. Die lange Zeit, die es brauchte, bis sich die Logik der Schriftsprache in der europäischen Kulturentwicklung durchsetzen konnte, zeigt eindringlich, dass die Schriftsprache nicht nur eine andere Funktion erfüllt als die Lautsprache, sondern auch mit einem anderen Weltbild verbunden ist.

Lev Vygotskij, Psychologie und Linguist

Das heisst, dass an unseren Schulen zwei Formen von “Hochdeutsch” verwendet werden: eine mündliche und eine schriftliche, die sich in keiner Weise zu decken brauchen, sich aber unter Umständen decken können. Zweifellos besteht die Möglichkeit, dass eine Lehrperson ‹spricht wie gedruckt›, der Normalfall ist dies aber nicht. Es wäre auch unklug, in der Face-to- face-Situation des Unterrichts das Mehr an kommunikativen Möglichkeiten, das die gesprochene Sprache im Vergleich zur geschriebenen Sprache bietet, nicht zu nutzen.

Lesen und Schreiben

Allerdings kann Schriftkompetenz durchaus auch mündlich eingeübt werden, beispielsweise in einem Referat, das aufgrund seines monologischen Charakters näher bei einem Aufsatz als bei einem Gespräch liegt. Von der Rhetorik wissen wir, dass ihre Grundlagen erst ausgearbeitet wurden, nachdem der Schritt von der mündlichen zur schriftlichen Sprachkultur bereits vollzogen war. Ähnlich wie die Logik als “Kunst des Denkens” ist die Rhetorik als “Kunst der Rede” paradoxerweise “ein Produkt des Schreibens” (Ong, 1987, S. 119). Sie kann insbesondere in Bezug auf den Aufbau einer Argumentation und die Gliederung eines Gedankenganges vom schriftlichen Sprachvermögen wesentlich profitieren.

Müssen beim Schreiben sämtliche Informationen, die für das Verstehen eines Textes erforderlich sind, in den Text aufgenommen werden, muss umgekehrt beim Lesen davon ausgegangen werden können, dass sämtliche Informationen, die für das Verstehen des Textes benötigt werden, in ihm enthalten sind.

 

Das aber heisst umso mehr, dass die schriftliche Sprache im schulischen Unterricht Probleme verursachen kann, die die gesprochene Sprache – egal ob Schweizerdeutsch oder “Hochdeutsch” – nicht kennt, da sich das Schreiben vom Reden in wesentlicher Hinsicht unterscheidet. Texte bilden geschlossene Sinnbezirke, die verständlich sein müssen, ohne dass – wie im Falle der Unterrichtssprache – kontextuelle Informationen beigezogen werden, um allfällige Unklarheiten auszuräumen.

Das gilt auch für das Lesen. Müssen beim Schreiben sämtliche Informationen, die für das Verstehen eines Textes erforderlich sind, in den Text aufgenommen werden, muss umgekehrt beim Lesen davon ausgegangen werden können, dass sämtliche Informationen, die für das Verstehen des Textes benötigt werden, in ihm enthalten sind. Für Schülerinnen und Schüler heisst dies, dass sie die Vorinformationen, die sie über den Inhalt eines Textes haben, mit dem sie im Unterricht konfrontiert werden (wie z.B. bei einer “eingekleideten” Mathematikaufgabe), suspendieren müssen. Zumindest müssen sie im Verlaufe der Textlektüre minutiös überprüfen, ob ihr Vorverständnis des Textinhalts richtig oder falsch war.

Je nachdem wie eng der Alltagsbezug eines Faches ist, ergeben sich daraus kleinere oder grössere Verständnisprobleme. Wenn der “natürliche Mensch”, wie Eric Havelock (1991) meint, “weder ein Schreiber noch ein Leser ist, sondern ein Sprecher und ein Hörer” (S. 20 – eigene Übersetzung), dann darf eine Lehrperson zu keinem Zeitpunkt davon ausgehen, dass die Schülerinnen und Schüler die geschriebene Form der deutschen Sprache völlig beherrschen, egal ob im Unterricht “Hochdeutsch” gesprochen wird oder nicht.

Schnelles und langsames Denken

Fehlauffassungen und Fehlüberlegungen sind kein Privileg von Kindern und Jugendlichen, wie die Studien zeigen, die Daniel Kahneman (2012) in seinem Bestseller Schnelles Denken, langsames Denken zusammengefasst hat. Vergleichbar der Unterscheidung von David Geary (1995) in biologisch primäre und biologisch sekundäre Fähigkeiten postuliert Kahneman zwei Kognitionssysteme. Das eine, langsame System 1 funktioniert aufgrund seiner evolutionären Vergangenheit auf einer intuitiven Basis und ermöglicht schnelle Entscheidungen, die sich jedoch als falsch herausstellen können. Das andere, langsame System 2 ist kulturell bedingt und ermöglicht eine rationale Urteilsbildung. Es erfordert aber nicht nur viel Aufmerksamkeit, Konzentration und Anstrengung, sondern auch ein hohes Mass an Selbstkontrolle. Kahneman zeigt an vielen Beispielen, wie Menschen, die einer Aufgabe gegenüberstehen, zu deren Lösung sie eigentlich System 2 aktivieren müssten, versuchen, mit Hilfe von System 1 eine Lösung zu finden, mit dem Ergebnis, dass sie bei der Problemlösung scheitern.

Daniel Kahneman, Psychologe und Hochschullehrer

Die Fehlnutzung unserer kognitiven Ressourcen ist besonders fatal angesichts der Tatsache, dass System 1 “nicht abgeschaltet werden kann” (Kahneman, 2012, S. 38). Bei aller Distanz, die wir uns selbst gegenüber einzunehmen vermögen, können wir unsere evolutionäre Vergangenheit nicht von uns abschütteln. In die Sprache von Merlin Donald übersetzt, heisst dies, dass wir unser mimetisches und unser narratives Denken zu keinem Zeitpunkt ausser Betrieb setzen können. In jeder Situation steht uns die Option offen, auf eine rationale Problemanalyse zu verzichten und stattdessen ein vorschnelles Urteil zu fällen.

System 1 lässt sich aber nicht nur nicht abschalten, es scheint auch unbelehrbar zu sein. Obwohl er sich in vielen Studien eingehend mit dem Thema befasst habe, schreibt Kahneman, sei sein eigenes intuitives Denken noch genauso anfällig für Selbstüberschätzung, Fehlprognosen und Planungsfehler wie zuvor. “Nur meine Fähigkeit, Situationen zu erkennen, in denen Fehler wahrscheinlich sind, hat sich verbessert” (S. 516). Wenn selbst ein Nobelpreisträger (Kahnemann erhielt 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften) eingesteht, vor Fehlauffassungen nicht gefeit zu sein, dann dürfen wir getrost annehmen, dass es nicht einfach ein Versagen der Schule ist, wenn es Lehrerinnen und Lehrern nur schwer gelingt, Kindern und Jugendlichen ein Denken beizubringen, über das sie natürlicherweise nicht verfügen.

Der Kompromiss der korrekten Antwort

Wie der Literaturwissenschaftler Bryan Boyd (2018) ausführt, leben wir in einer wissenschaftsdominierten ökologischen Nische, die unser Leben tiefgreifend verändert hat, aber unser Bewusstsein lässt sich dieser Nische nur mühsam anpassen. “Wir sind noch keine Spezies, die der Wissenschaft verfallen wäre” (S. 12 – eigene Übersetzung). Nur über den beschwerlichen Weg des schulischen Unterrichts ist das wissenschaftliche Weltbild überhaupt tradierbar. Dabei muss sich das Wissen der Unterrichtsfächer gegen Wissensformen durchsetzen, an denen die Kinder hartnäckig festhalten, weil sie spontanerweise über sie verfügen.

Auf keinen Fall ist es hinreichend, den Schülerinnen und Schülern zu sagen, wie es wirklich ist. Vielmehr muss ihnen geschildert werden, weshalb ihre intuitive Physik oder Biologie falsch und die wissenschaftliche richtig ist.

 

Wie Merlin Donald (2008) ausführt, gewinnen theoretische Systeme dann Einfluss auf eine Kultur, “wenn es ihnen gelingt, an den richtigen Stellen des kognitiv-kulturellen Gefüges anzusetzen und die direkte Kontrolle über die episodische, mimetische und narrative Kognitionsebene zu erlangen” (S. 308). Pädagogisch interpretiert heisst dies, dass der schulische Unterricht das intuitive Wissen, das die Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer mimetisch und narrativ codierten Erfahrungen in den Unterricht mitbringen, ernst nehmen muss, wenn er sein Ziel erreichen will. Auf keinen Fall ist es hinreichend, den Schülerinnen und Schülern zu sagen, wie es wirklich ist. Vielmehr muss ihnen geschildert werden, weshalb ihre intuitive Physik oder Biologie falsch und die wissenschaftliche richtig ist. Lauren Resnicks (1996) Feststellung, dass wir “noch keine sehr guten Möglichkeiten gefunden haben, wie dies zu leisten ist” (S. 50 – eigene Übersetzung), trifft leider auch heute noch zu.

Was den Schülerinnen und Schülern in die Quere kommt, ist nicht ihr fehlendes Interesse am Schulstoff oder ihre mangelnde Lernbereitschaft, sondern ihr ausserschulisch erworbenes Wissen, von dem kein direkter Weg zum wissenschaftlichen Wissen führt, das im Unterricht vermittelt wird. Weil es pädagogisch und didaktisch schwerfällt, das mimetische und narrative Denken der Schülerinnen und Schüler aus seiner lebensweltlichen Nische herauszulösen, bleibt es oft bis zum Ende der Schulzeit erhalten. Selbst bei Studierenden lassen sich physikalische und biologische Fehlauffassungen noch leicht nachweisen (vgl. Shtulman & Valcarcel, 2012).

Wie Howard Gardner und Veronica Boix-Mansilla (1994) beklagen, dominiert an unseren Schulen ein ritualisiertes Auswendiglernen und kopfloses Abfragen des Gelernten, statt dass Fehlauffassungen ausgeräumt und die Schülerinnen und Schüler zu echtem Verstehen geführt würden. Eingegangen wird der “Kompromiss der korrekten Antwort”, wie er von Howard Gardner (1993) genannt wird, der darin besteht, dass man bereits zufrieden ist, wenn die Schülerinnen und Schüler den Eindruck erwecken, verstanden zu haben, ohne dass nachgeprüft wird, ob sie auch wirklich verstanden haben.

Pluralität der Wissensformen

Auf dem Hintergrund unserer Darstellung der Evolutionsgeschichte des Menschen bestätigen die referierten Studien zu Fehlauffassungen und Fehlüberlegungen bei Schülerinnen und Schülern, dass die lineare Fortschrittslogik, die unseren Lehrplänen zugrunde liegt, das schulische Lernen unzulänglich zur Darstellung bringt. Das Lernen in den Unterrichtsfächern ist nicht einem kontinuierlich aufsteigenden Stufengang vergleichbar, sondern entspricht weit eher einem sich verzweigenden Rhizom, dessen Wachstum nur schwer kontrollierbar ist. Gerade wenn dem wissenschaftlichen Wissen zum Durchbruch verholfen werden soll, darf das intuitive Wissen, das sich die Schülerinnen und Schüler mimetisch und narrativ angeeignet haben, nicht ignoriert werden. Alltagsphysikalische und alltagsbiologische Auffassungen, die dem Wissensstand von Physik und Biologie widersprechen, finden sich selbst bei naturwissenschaftlichen Expertinnen und Experten (vgl. Goldberg & Thompson-Schill, 2009; Shtulman & Harrington, 2015), die sich allerdings bewusst sind, wann sie welche Art von Wissen nutzen.

Eingegangen wird der “Kompromiss der korrekten Antwort”, wie er von Howard Gardner (1993) genannt wird, der darin besteht, dass man bereits zufrieden ist, wenn die Schülerinnen und Schüler den Eindruck erwecken, verstanden zu haben, ohne dass nachgeprüft wird, ob sie auch wirklich verstanden haben.

 

Es sollte nicht Ziel des Unterrichts sein, die evolutionsgeschichtlich bedingten Überzeugungen der Schülerinnen und Schüler zu ersetzen, jedoch sollten sie auf ihre alltagspraktische Tauglichkeit zurückgebunden werden. Im Alltag richten wir wenig Schaden an, wenn wir von der auf- und untergehenden Sonne sprechen, fälschlicherweise unterstellend, dass die Sonne um die Erde kreist. Auch wenn von kalten und warmen Temperaturen die Rede ist, wie selbst in den Wetterprognosen des Schweizer Fernsehens, mag dies im Kontext alltäglicher Interaktionen kein Problem darstellen, obwohl dabei sträflich missachtet wird, dass Wärme und Temperatur physikalisch gesehen zwei gänzlich verschiedene Konzepte bilden. Der schulische Unterricht muss solche intuitiven Fehlauffassungen korrigieren, aber nicht, um sie auszulöschen, sondern in der Absicht, den Schülerinnen und Schülern das relative Recht verschiedener Repräsentations- und Wissensformen aufzuzeigen (vgl. Shtulman & Lombrozo, 2016).

Das setzt allerdings voraus, dass wir bereit sind, Wissen nicht nur unter dem Aspekt seiner Wahrheit zu beurteilen, sondern auch hinsichtlich seiner Nützlichkeit, seiner Repräsentationsform, seiner Herkunft, seiner Verfügbarkeit sowie allfälliger weiterer Kriterien. Die Pluralität menschlicher Lebensformen geht mit einer Vielzahl von Wissensformen einher, die von der Schule nicht ignoriert werden darf. Allerdings sind wir noch nicht so weit, über eine Differenzierung des Wissens und der Wissensformen zu verfügen, die sich didaktisch umsetzen liesse. Das sollte Lehrerinnen und Lehrer aber nicht davon abhalten, der Vielfalt und Heterogenität menschlicher Wissensformen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Das Unterrichten wird damit zwar nicht einfacher, aber vielleicht erfolgreicher.

Rückblick

Wenn ich zum Schluss nochmals einen Blick auf das Problem der Überbrückung des Grabens zwischen der sinnfreien Wirklichkeit des Gehirns und der sinnhaften Wirklichkeit von Erziehung und Unterricht werfe, dem sich dieser Beitrag letztlich verdankt, dann glaube ich nicht, dass ich es gelöst habe, aber es scheint mir, dass ich es auf eine Art neu formuliert habe, die eine Lösung wahrscheinlicher macht. Dabei spielt die Kritik an Descartes und dem unartikulierten Cartesianismus gewisser Vertreterinnen und Vertreter der Neurowissenschaften eine wichtige Rolle. Indem Descartes’ Zweiteilung der Welt in Körper und Geist durch die Zweiteilung von Gehirn und Geist einfach ersetzt wird, ergibt sich kein Ansatz für ein neues Menschenbild. Vielmehr bleiben wir in Denkkategorien gefangen, die es verunmöglichen, die Dimension von geteiltem Sinn und kongruenter Bedeutung zu erschliessen.

Nur eine Neurowissenschaft, die bereit ist, die soziale Natur des Menschen anzuerkennen, ist in der Lage, den Graben zwischen sinnfreier und sinnhafter Wirklichkeit zu überbrücken. Damit ist jede Art von Reduktionismus psychischer und geistiger Phänomene auf Hirnstrukturen und Hirnprozesse pädagogisch verfehlt.

 

Insofern das Gehirn sein Potenzial ausserhalb von Kultur und Gesellschaft nicht entfalten kann, führt kein direkter Weg vom Gehirn zum menschlichen Geist. Nur eine Neurowissenschaft, die bereit ist, die soziale Natur des Menschen anzuerkennen, ist in der Lage, den Graben zwischen sinnfreier und sinnhafter Wirklichkeit zu überbrücken. Damit ist jede Art von Reduktionismus psychischer und geistiger Phänomene auf Hirnstrukturen und Hirnprozesse pädagogisch verfehlt. Es genügt nicht, die neuronalen Grundlagen formaler Lernprozesse zu untersuchen und daraus abzuleiten, wie richtig zu lehren wäre, nämlich “hirngerecht”. Beim schulischen Lernen ist nicht das Lernen per se der kritische Faktor, sondern dessen intentionale Ausrichtung an fachlichen Inhalten. Diese sind uns aber nur zugänglich, wenn wir den Menschen als ein Lebewesen verstehen, das im Verlaufe seiner Evolutionsgeschichte die Kultur zum Merkmal seiner Natur gemacht hat.

So kritisch wir der Neuropädagogik und den pädagogisierenden Hirnforscherinnen und Hirnforschern begegnen sollten, so wenig besteht jedoch Anlass, die Neurowissenschaften per se zu diskreditieren. Anders als die Neuropädagoginnen und Neuropädagogen, die sich der Problematik der Übertragung neurowissenschaftlicher Befunde auf pädagogische Situationen oft nicht bewusst sind, wissen die forschenden Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler im Allgemeinen um die Grenzen ihrer Disziplin. Die Hirnforschung kann Wesentliches zum Verständnis des Menschen beitragen, vorausgesetzt sie anerkennt, dass der Blick ins menschliche Gehirn nicht hinreicht, um ein Menschenbild zu begründen, an dem sich die Pädagogik orientieren kann.

Literaturverzeichnis (für alle vier Teile)

Anderson, Jane (2022). Biological Naturalism and the Mind-Body Problem. Cham: Palgrave Macmillan.

Bachelard, Gaston (1938/2016). Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis. Franklfurt a.M.: Suhrkamp.

Bandura, Albert (1976). Lernen am Modell. Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie. Stuttgart: Klett.

Barkley, Russell A. (2001). The Executive Functions and Self-Regulation: An Evolutionary Neuropsychological Perspective. Neuropsychology Review, 11, 1-29.

Bateson, Gregory (1985). Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Bennett, Maxwell R. & Peter M. S. Hacker (2010). Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Blanshard, Brand (1967). The Problem of Consciousness – A Debate: Opening Remarks by Professor Blanshard. Philosophy and Phenomenological Research, 27, 317-324.

Boesch, Ernst E. (2005). Von Kunst bis Terror. Über den Zwiespalt in der Kultur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Bohn, Manuel, Josep Call & Christoph J. Völter (2020). Evolutionary Precursors of Negation in Non-Human Reasoning. In Viviane Déprez & M. Teresa Espinal (Hrsg.), The Oxford Handbook of Negation (S. 577-588). Oxford: Oxford University Press.

Boyd, Brian (2018). The Evolution of Stories: From Mimesis to Language, from Fact to Fiction. WIREs Cognitive Science, 9 (January/February). Download: https://doi.org/10.1002/wcs.1444.

Call, Josep & Michael Tomasello (2008). Does the Chimpanzee Have a Theory of Mind? 30 Years Later. Trends in Cognitive Sciences, 12, 187-192.

Cassirer, Ernst (1923/1985). Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Cassirer, Ernst (1929/1982). Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Cassirer, Ernst (1990). Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philsoophie der Kultur. Frankfurt a.M.: Fischer.

Diamond, Adele (2013). Executive Functions. Annual Review of Psychology, 64, 135-168.

Diamond, Jared (2003). Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen. Frankfurt a.M.: Fischer.

Donald, Merlin (1991). Origins of the Modern Mind: Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition. Cambridge: Harvard University Press.

Donald, Merlin (1997). The Mind Considered from a Historical Perspective: Human Cognitive Phylogenesis and the Possibility of Continuing Cognitive Evolution. In David M. Johnson & Christina E. Erneling (Hrsg.), The Future of the Cognitive Revolution (S. 355-365). New York: Oxford University Press.

Donald, Merlin (1998). Mimesis and the Executive Suite: Missing Links in Language Evolution. In James R. Hurford, Michael Studdert-Kennedy & Chris Knight (Hrsg.), Approaches to the Evolution of Language: Social and Cognitive Bases (S. 44-67). Cambridge: Cambridge University Press.

Donald, Merlin (2000). The Central Role of Culture in Cognitive Evolution: A Reflection on the Myth of the ‹Isolated Mind›. In Larry P. Nucci, Geoffrey B. Saxe & Elliot Turiel (Hrsg.), Culture, Thought and Development (S. 19-38). Mahwah: Lawrence Erlbaum.

Donald, Merlin (2004a). The Definition of Human Nature. In Dai Rees & Steven Rose (Hrsg.), The New Brain Sciences: Perils and Prospects (S. 34-58). Cambridge: Cambridge University Press.

Donald, Merlin (2004b). Is a Picture Really Worth a 1.000 Words? History & Theory. Studies in the Philosophy of History, 43, 379-385.

Donald, Merlin (2004c). The Virtues of Rigorous Interdisciplinarity. In Joan M. Lucariello, Judith A. Hudson, Robyn Fivush & Patricia J. Bauer (Hrsg.), The Development of the Mediated Mind: Sociocultural Context and Cognitive Development (S. 245-256). New York: Psychology Press.

Donald, Merlin (2005). Imitation and Mimesis. In Susan Hurley & Nick Chater (Hrsg.), Perspectives on Imitation: From Neuroscience to Social Science, Vol. 2: Imitation, Human Development, and Culture (S. 283–300). Cambridge: The MIT Press.

Donald, Merlin (2006). Art and Cognitive Evolution. In Mark Turner (Hrsg.), The Artful Mind: Cognitive Science and the Riddle of Human Creativity (S. 3-20). Oxford: Oxford University Press.

Donald, Merlin (2007a). The Slow Process: A Hypothetical Cognitive Adaptation for Distributed Cognitive Networks. Journal of Physiology, 101, 214-222.

Donald, Merlin (2007b). Evolutionary Origins of the Social Brain. In Oscar Vilarroya & Francesc Forn i Argimon (Hrsg.), Social Brain Matters: Stances on the Neurobiology of Social Cognition (S. 215-222). Amsterdam: Rodopi.

Donald, Merlin (2008). Triumph des Bewusstseins. Die Evolution des menschlichen Geistes. Stuttgart: Klett-Cotta.

Donald, Merlin (2010). The Exographic Revolution: Neuropsychological Sequelae. In Lambros Malafouris & Colin Renfrew (Hrsg.), The Cognitive Life of Things: Recasting the Boundaries of the Mind (S. 71-79). Cambridge: McDonald Institute for Archaeological Research.

Donald, Merlin (2012). An Evolutionary Approach to Culture. In Robert N. Bellah & Hans Joas (Hrsg.), The Axial Age and Its Consequences (S. 47–76). Cambridge: Harvard University Press.

Donald, Merlin & Lars Andreassen (2007). Consciousness and Governance: From Embodiment to Enculturation – An Interview. Cognitive Semiotics, 1(0), 68-83.

Draaisma, Douwe (1999). Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Dunbar, Robin I. M. (1998). The Social Brain Hypothesis. Evolutionary Anthropology, 6, 178-190

Dunbar, Robin I. M. (2001). Brains on Two Legs: Group Size and the Evolution of Intelligence. In Frans B. M. de Waal (Hrsg.), Tree of Origin: What Primate Behavior Can Tell Us about Human Social Evolution (S. 173-191). Cambridge: Harvard University Press.

Dunbar, Robin I. M. (2008). Mind the Gap; or Why Humans Are Not Just Great Apes. Proceedings of the British Academy, 154, 403-423.

Dutilh Novaes, Catarina (2015). A Dialogical, Multi-Agent Account of the Normativity of Logic. Dialectica, 69, 587-609.

Eco, Umberto (1977). Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Elias, Norbert (1976). Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Elias, Norbert (1983). Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Feyerabend, Paul (2009). Naturphilosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Fitch, W. Tecumseh (2012). The Biology and Evolution of Rhythm: Unravelling a Paradox. In Patrick Rebuschat, Martin Rohrmeier, John A. Hawkins & Ian Cross (Hrsg.), Language and Music as Cognitive Systems (S. 73-95). Oxford: Oxford University Press.

Fuchs, Thomas (2013). Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart: Kohlhammer.

Fuchs, Thomas (2022). Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie. Berlin: Suhrkamp.

Füssel, Stephan (1999). Gutenberg und seine Wirkung. Frankfurt a.M.: Insel.

Gamble, Clive, John Gowlett & Robin Dunbar (2016). Evolution, Denken, Kultur. Das soziale Gehirn und die Entstehung des Menschlichen. Berlin: Springer-Spektrum.

Gardner, Howard (1985). The Mind’s New Science: A History of the Cognitive Revolution. New York: Basic Books.

Gardner, Howard (1993). Der ungeschulte Kopf. Wie Kinder denken. Stuttgart: Klett-Cotta.

Gardner, Howard & Veronica Boix-Mansilla (1994). Teaching for Understanding in the Disciplines – and Beyond. Teachers College Record, 96, 198-218.

Geary, David C. (1995). Reflections of Evolution and Culture in Children’s Cognition: Implications for Mathematical Development and Instruction. American Psychologist, 50, 24–37

Gebauer, Gunter & Christoph Wulf (1998). Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft. Reinbek: Rowohlt.

Gehlen, Arnold (1940/2016). Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Frankfurt a.M.: Klostermann.

Goldberg, Robert F. & Sharon L. Thompson-Schill (2009). Developmental «Roots» in Mature Biological Knowledge. Psychological Science, 20, 480-487.

Gopnik, Alison (1993). How We Know Our Minds: The Illusion of First-Person Knowledge of Intentionality. Behavioral and Brain Sciences, 16, 1-14.

Gopnik, Alison (2010). Kleine Philosophen. Was wir von unseren Kindern über Liebe, Wahrheit und den Sinn des Lebens lernen können. Berlin: Ullstein.

Gould, Stephen Jay (1998). Illusion Fortschritt. Die vielfältigen Wege der Evolution. Frankfurt a.M.: Fischer.

Gowlett, John, Clive Gamble & Robin I. M. Dunbar (2012). Human Evolution and the Archeology of the Social Brain. Current Anthropology, 53, 693-722.

Habermas, Jürgen (2006). Das Sprachspiel der verantwortlichen Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit. Wie lässt sich der epistemische Dualismus mit einem ontologischen Monismus versöhnen? Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 54, 669-707.

Haidle, Miriam Noël (2008). Kognitive und Kulturelle Evolution. Erwägen – Wissen – Ethik, 19, 149-159.

Harari, Yuval Noah (2013). Eine kurze Geschichte der Menschheit. München: Deutsche Verlags Anstalt.

Harvey, Inman (2008). Misrepresentations. In Seth Bullock, Jason Noble, Richard Watson & Mark A. Bedau (Hrsg.), Artificial Life XI: Proceedings of the Eleventh International Conference on the Simulation and Synthesis of Living Systems (S. 227-233). Cambridge: MIT Press.

Havelock, Eric (1991). The Oral-Literate Equation: A Formula for the Modern Mind. In David R. Olson & Nancy Torrance (Hrsg.), Literacy and Orality (S. 11-27). Cambridge: Cambridge University Press.

Hrdy, Sarah Blaffer (2010). Mütter und Andere. Wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat. Berlin: Berlin Verlag.

Insel, Thomas R. & Russell G. Fernald (2004). How the Brain Processes Social Information: Searching for the Social Brain. Annual Review of Neuroscience, 27, 697-722.

Jaynes, Julian (1988). Der Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche. Reinbek: Rowohlt.

Kahneman, Daniel (2012). Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler.

Kant, Immanuel (1803/1983). Über Pädagogik. In Werke in sechs Bänden, Bd. VI (S. 691-761). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Kapp, Ernst (1965). Der Ursprung der Logik bei den Griechen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Kotz, Sonja A., Andrea Ravignani & W. Tecumseh Fitch (2018). The Evolution of Rhythm Processing. Trends in Cognitive Sciences, 22, 896-910.

Levins, Richard & Richard Lewontin (1985). The Dialectical Biologist. Cambridge: Harvard University Press.

Mayr, Ernst (1994). Evolution – Grundfragen und Missverständnisse. Ethik und Sozialwissenschaften, 5, 203-209.

Millikan, Ruth Garrett (1989). Biosemantics. The Journal of Philosophy, 86, 281-297.

Monod, Jacques (1971). Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. München: Piper.

Nesher, Pearla (1987). Towards an Instructional Theory: The Role of Student’s Misconceptions. For the Learning of Mathematics, 7, 33-40.

Olson, David R. (1994). The World on Paper: The Conceptual and Cognitive Implications of Writing and Reading. Cambridge: Cambridge University Press.

Ong, Walter J. (1987). Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Pauen, Michael (2012). The Second-Person Perspective. Inquiry, 55, 33-49.

Piaget, Jean (1974). Biologie und Erkenntnis. Über die Beziehungen zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen. Frankfurt a.M.: Fischer.

Plessner, Helmuth (1928/2003). Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Gesammelte Schriften, Bd. IV. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Plessner, Helmuth (1948/2003). Zur Anthropologie der Nachahmung. Gesammelte Schriften, Bd. VII (S. 389-398). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Putnam, Hilary (1991). Repräsentation und Realität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Resnick, Lauren B. (1996). Situated Rationalism: The Biological and Cultural Foundations for Learning. Prospects, 26, 37-53.

Rizzolatti, Giacomo & Corrado Sinigaglia (2008). Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Roth, Gerhard (1997). Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Roth, Heinrich (1966). Erziehungswissenschaft zwischen Psychologie und Soziologie. In Präsidium des Pädagogischen Hochschultages & Vorstand des Arbeitskreises Pädagogischer Hochschulen (Hrsg.), Psychologie und Soziologie in ihrer Bedeutung für das erziehungswissenschaftliche Studium (S. 75-84). Weinheim: Beltz.

Sandkühler, Hans Jörg (2009). Kritik der Repräsentation. Einführung in die Theorie der Überzeugungen, der Wissenskulturen und des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Schleiermacher, Friedrich (1813-14/2000). Aphorismen zur Pädagogik. In Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe, Bd. 1 (S. 202-211). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Schleiermacher, Friedrich (1826/2000). Grundzüge der Erziehungskunst (Vorlesungen 1826). In Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe, Bd. 2 (S. 5-404). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Seel, Martin (2005). Teilnahme und Beobachtung. Zu den Grundlagen der Freiheit. Neue Rundschau, 116(4), 141-153.

Shtulman, Andrew (2006). Qualitative Differences between Naïve and Scientific Theories of Evolution. Cognitive Psychology, 52, 170-194.

Shtulman, Andrew & Kelsey Harrington (2015). Tensions Between Science and Intuition Across the Lifespan. Topics in Cognitive Science, 8, 118-137.

Shtulman, Andrew & Tania Lombrozo (2016). Bundles of Contradiction: A Coexistence View of Conceptual Change. In David Barner & Andrew Scott Baron (Hrsg.), Core Knowledge and Conceptual Change (S. 53-71). New York: Oxford University Press.

Shtulman, Andrew & Joshua Valcarcel (2012). Scientific Knowledge Suppresses but Does Not Supplant Earlier Intuitions. Cognition, 124, 209-215.

Singer, Wolf (2002). Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Singer, Wolf (2003). Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Skinner, Burrhus F. (1967). The Problem of Consciousness – A Debate: Reply by Professor Skinner. Philosophy and Phenomenological Research, 27, 325-332.

Spranger, Eduard (1974). Geist und Seele. In Gesammelte Schriften, Bd. IV (S. 65-90). Tübingen: Niemeyer.

Stetter, Christian (1997). Schrift und Sprache. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Strawson, Peter F. (1972). Einzelding und logisches Subjekt (Individuals). Ein Beitrag zur deskriptiven Metaphysik. Stuttgart: Reclam.

Szücs, Dénes & Usha Goswami (2007). Educational Neuroscience: Defining a New Discipline for the Study of Mental Representations. Mind, Brain, and Education, 1, 114-127.

Tomasello, Michael (1993a). It’s Imitation, Not Mimesis. Behavioral and Brain Sciences, 16, 771-772.

Tomasello, Michael (1993b). Where’s the Person? Behavioral and Brain Sciences, 16, 84-85.

Tomasello, Michael (1996). Do Apes Ape? In Cecilia M. Heyes & Bennett G. Galef, Jr. (Hrsg.), Social Learning in Animals: The Roots of Culture (S. 319-346). New York: Academic Press.

Tomasello, Michael (2002). Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Tomasello, Michael (2009). Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Tomasello, Michael (2010). Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp.

Tomasello, Michael (2014). A Natural History of Human Thinking. Cambridge: Harvard University Press.

Tomasello, Michael (2020). Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese. Berlin: Suhrkamp.

Tomasello, Michael, Ann Cale Kruger & Hilary Horn Ratner (1993). Cultural Learning. Behavioral and Brain Sciences, 16, 495-511.

Vernant, Jean-Pierre (1982). Die Entstehung des griechischen Denkens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Vowinckel, Gerhard (1995). Verwandtschaft, Freundschaft und die Gesellschaft der Fremden. Grundlagen menschlichen Zusammenlebens. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Vygotskij, Lev S. (1934/2017). Denken und Sprechen. Psychologische Untersuchungen. Weinheim: Beltz.

Vygotsky, Lev S. (1978). Mind in Society: The Development of Higher Psychological Processes. Cambridge: Harvard University Press.

Wenzel, Horst (1995). Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im MiIttelalter. München: Beck.

The post Der Mensch als Symbiose von Gehirn und Kultur, 4. Teil first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/04/der-mensch-als-symbiose-von-gehirn-und-kultur-4-teil/feed/ 3
Der Mensch als Symbiose von Gehirn und Kultur, 3. Teil https://condorcet.ch/2024/03/der-mensch-als-symbiose-von-gehirn-und-kultur-3-teil/ https://condorcet.ch/2024/03/der-mensch-als-symbiose-von-gehirn-und-kultur-3-teil/#respond Sat, 23 Mar 2024 15:43:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=16237

Nachdem wir im 1. Teil unseres Beitrags das Terrain plafoniert haben, um der Frage nach der Symbiose von Gehirn und Kultur in der Evolutionsgeschichte des Menschen nachzugehen, und im 2. Teil die theoretischen Grundlagen gelegt haben, um die Frage zu beantworten, wollen wir nun skizzieren, wie sich die Symbiose vollzogen haben könnte. Wie schon im 2. Teil stützen wir uns in erster Linie auf den kanadischen Neuropsychologen Merlin Donald.

The post Der Mensch als Symbiose von Gehirn und Kultur, 3. Teil first appeared on Condorcet.

]]>

Für Donald (2008) stehen die Menschen “in vorderster Linie eines weit zurückreichenden Evolutionsprozesses” (S. 159), dessen Verlauf ihnen ermöglichte, sich von den natürlichen Bedingungen ihrer Existenz in einem Ausmass zu distanzieren, über das andere Lebewesen nicht verfügen. Angetrieben wurde diese Entwicklung zunächst nicht von der Sprache, sondern von der Fähigkeit der Menschen, ihre Aufmerksamkeit zu koordinieren und ihre Intentionen mental zu teilen. Dadurch waren sie in der Lage, “kognitive Verbände” zu bilden, in deren Rahmen sie Wirklichkeit mittels Zeichen und Symbolen repräsentieren konnten.

Emer. Professor Walter Herzog, Bern

Donald (1991) nimmt an, dass der sprachgebundenen Kultur eine Kultur vorausgegangen ist, die zeichengebunden, aber noch nicht symbolisch war. Der Begriff des Repräsentationssystems dient dem Zweck, dieses vorsprachliche Zeichensystem in die Evolutionsgeschichte des Menschen einzufügen. Wir klären im Folgenden, was Donald unter einem Repräsentationssystem versteht, und stellen dann die drei Repräsentationssysteme vor, die der menschlichen Evolutionsgeschichte gemäss Donald zugrunde liegen.

Repräsentationssysteme

Wir haben bereits im 1. Teil erläutert, wie wir den Begriff der Repräsentation verwenden wollen. Repräsentationen sind an Intentionalität gebunden, wobei individuelle Intentionalität nicht ausreicht, um den Begriff im hier gemeinten Sinn zu definieren. Wir müssen uns gemeinsam auf etwas beziehen können, um uns mittels Zeichen oder Symbolen zu verständigen. Das schliesst nicht aus, dass ein Symbol auch eine persönliche Bedeutung haben kann und Konnotationen aufweist, die von seiner denotativen Bedeutung abweichen. Jedoch beruht die menschliche Kultur auf geteilten Bedeutungen, weshalb wir den Begriff der Repräsentation als vierstellige Relation eingeführt haben: Etwas (ein Zeichen oder Symbol) repräsentiert etwas (ein Ding oder einen Sachverhalt) für mich und dich.

Der Begriff des Repräsentationssystems knüpft an diese Begrifflichkeit an. Repräsentationssysteme sind gemäss Donald (1991) Medien zur Vergegenwärtigung von Wirklichkeit. Sie ermöglichen, Erfahrungen zu konservieren und Wissen zum Zweck der Reflexion bereitzuhalten. Als kollektive Formen der mentalen Handhabung von Wirklichkeit erlauben sie, Gedanken oder Erinnerungen in die Gegenwart zu rufen und mit anderen auszutauschen. Damit ist eine wesentliche Voraussetzung für die kommunikative Verständigung über Wirklichkeit erfüllt.

Merlin Donald, Kanada, Neuroanthropologe

Repräsentationssysteme sind mit spezifischen Formen von Kultur verbunden, so dass der Wechsel eines Repräsentationssystems mit einer Umgestaltung des menschlichen Bewusstseins einhergeht (vgl. Donald, 1991, S. 16). Aber nicht nur die Kultur, sondern auch die neuronale Architektur des Gehirns wird durch den Übergang zu einem neuen Repräsentationssystem beeinflusst. Es findet eine Art Invasion des Gehirns durch kulturelle Errungenschaften statt, in deren Folge die Hirnanatomie durch funktionale Reorganisation für neue Zwecke nutzbar gemacht wird (vgl. Donald, 1997, 2010).

Vier Entwicklungsstufen

Gemäss Donald haben unsere Vorfahren in den vergangenen zwei Millionen Jahren drei Übergänge durchlaufen, die jeweils mit einer fundamentalen Umgestaltung ihrer Repräsentationssysteme, ihrer kognitiven Kompetenzen, ihrer Kultur und ihres Bewusstseins einhergingen (vgl. Donald, 1991, 2004a, 2008, 2012). Den drei Übergängen entsprechen vier Entwicklungsstufen, denen sich folgende Ereignisse zuordnen lassen:

  • Die Verzweigung der Entwicklungslinien der Homininen (moderner Mensch und seine Vorfahren) und Schimpansen (inkl. Bonobos) vor ca. 6 Millionen Jahren.
  • Das Erscheinen der Gattung Homo vor ca. 2 Millionen Jahren.
  • Das Erscheinen von Homo sapiens vor ca. 200’000 Jahren.
  • Die “kognitive Revolution” bzw. der “grosse Sprung nach vorn” vor ca. 40’000 Jahren.

Als Ausgangspunkt nimmt Donald (1991) eine kognitive Konstellation an, die auf aktuelle Ereignisse und die Erinnerung von Episoden beschränkt war. Das Verhalten der Frühformen des Menschen war situationsbestimmt und reaktiv. “Aus den Augen, aus dem Sinn” war die Devise, die ihre Lebensweise bestimmte. In ihrem Bewusstsein dominierte die Gegenwart, deren Horizont weder räumlich noch zeitlich nennenswert überschritten werden konnte.

Die Möglichkeiten der Reflexion waren damit beschränkt. Lebewesen, die lediglich über ein episodisches Gedächtnis verfügen, sind nicht in der Lage, sich komplexe Sachverhalte zu vergegenwärtigen oder darüber nachzudenken (vgl. Donald, 1991, S. 159ff.). Es fehlt ihnen ein Medium zur anhaltenden Repräsentation von Wirklichkeit. Selbst höhere Tiere, wie heutige Schimpansen, leben in einer episodenartigen Wirklichkeit, die von aktuellen Ereignissen bestimmt wird, denen sie kognitiv nur beschränkt entfliehen können.

Mimetische Repräsentation

Als ersten Übergang postuliert Donald (1991) einen mimetischen Repräsentationsmodus, der auf körperlicher und motorischer Basis funktioniert. Gebärden, Mimik, Gestik, Blicke, Ausrufe, Pfiffe und weitere nonverbale Äusserungen sind Formen der aktiven Körpernutzung zum Zweck der Repräsentation von Ereignissen. Die Mimesis beruht auf der Umsetzung von wahrgenommenen Aspekten der Wirklichkeit in eigenes Verhalten. Insofern stellt sie eine analoge (nicht-symbolische) Form der Repräsentation dar, die auf Anschauung, Ähnlichkeit, Assoziation und Metaphorik beruht. Mit einer in der Semiotik geläufigen Unterscheidung haben wir es mit ikonischen Zeichen zu tun (vgl. Eco, 1977, S. 60ff.).

Tomasello (2009, 2020) spricht von “ikonischen Gesten” und “Pantomimen”. Verstehen kann man diese nur, wenn man in der Lage ist, intentionale Handlungen aus dem Kontext, in dem sie normalerweise vollzogen werden, herauszulösen. Nur so können sie eine kommunikative (geteilte) Bedeutung erlangen. Der neuronale Mechanismus, der dabei in Anspruch genommen wird, ist derselbe, der auch dem Beobachtungslernen zugrunde liegt, wie es von Albert Bandura (1976) beschrieben wird. Beobachtetes Verhalten wird so angeeignet, dass es in eigenes Verhalten umgesetzt werden kann.

Michael Tomasello (* 18. Januar 1950 in Bartow, Florida, USA), amerikanischer Anthropologe und Verhaltensforscher.

Die Nutzung des Körpers zu darstellenden und kommunikativen Zwecken ist daran gebunden, dass die Bereiche, die miteinander in Beziehung gesetzt werden, gleichzeitig im Bewusstsein präsent sind. Ohne ein funktionierendes Arbeitsgedächtnis ist dies nicht möglich. Zudem ist ein Minimum an Kreativität gefordert, da den motorischen Äusserungen eine übertragene Bedeutung zugewiesen wird. Das zeigen Gebärdensprachen, die noch heute wesentlich darauf beruhen, dass die Hände, der Mund und die Gesichtsmuskulatur zur Bildung von ikonischen Zeichen genutzt werden. Auch wenn wir uns in einem fremden Land, dessen Sprache wir nicht beherrschen, verständigen wollen, setzen wir unseren Körper auf kreative Weise ein, indem wir gestikulierend auf unser Anliegen aufmerksam machen.

Zwei weitere Voraussetzungen

Die Mimesis ist an zwei weitere Voraussetzungen gebunden, die beide in Beziehung zu den Exekutivfunktionen stehen. Erstens ist ein erhebliches Mass an Körperbeherrschung erforderlich, ohne die die Motorik nicht für kommunikative Zwecke genutzt werden kann. Auch wenn wir an die Lautsprache denken, auf die wir noch näher eingehen werden, ist es ausgeschlossen, gesprochene Laute für kommunikative Zwecke zu nutzen, wenn deren Artikulation nicht vollständig kontrolliert werden kann. Nichtmenschliche Primaten sind unfähig, in diesem Ausmass über ihren Körper zu verfügen.

Tatsächlich vermögen Menschen ihren Körper auf mannigfaltige Weise einzusetzen, wie Zirkusartisten, Tänzerinnen, Musiker, Schauspieler oder Schlangenmenschen zeigen. Auch spielende Kinder geben davon reichlich Anschauungsmaterial. In einem gewissen Alter üben sie sich unermüdlich in sensomotorischen Fertigkeiten wie auf einem Bein hüpfen, über ein Seil springen, Purzelbäume schlagen, das Gleichgewicht halten, einen Ball an die Wand schlagen, Grimassen schneiden etc.

Zweitens erfordert die Mimesis den willentlichen Zugriff auf Gedächtnisinhalte. Die eben genannten Beispiele für kindliche Spiele zeigen, dass die Übung motorischer Fertigkeiten daran gebunden ist, dass eine vollzogene Handlung aktiv in Erinnerung gerufen werden kann, denn nur so lässt sich der motorische Ablauf verfeinern. Wie Donald (2006) deutlich macht, sind Tiere weder in der Lage, willentlich auf ihr Gedächtnis zuzugreifen, noch ihr Verhalten gezielt zu verbessern. “Nur Menschen reflektieren ihr eigenes Verhalten und modifizieren es entsprechend” (S. 16 – eigene Übersetzung).

Mimesis als Humanspezifikum

Donald (1991) verwendet den Begriff der Mimesis, weil verwandte Begriffe wie Nachahmung, Imitation oder Mimikry seiner Meinung nach das aktive und kreative Moment der körperlichen Repräsentation nicht deutlich genug zum Ausdruck bringen. Michael Tomasello (1993b) stimmt Donald im Urteil über die Bedeutung der körperlichen Darstellung von Wirklichkeit für die Evolution des Menschen zu, meint aber, dass mit den Begriffen der Nachahmung und Imitation das aktive und kreative Moment durchaus abgedeckt wäre, denn nur Menschen seien fähig, durch Nachahmung zu lernen.

Die Haltung Tomasellos lässt sich mit einem Gedanken von Helmuth Plessner stützen. Plessner (1948/2003) betont, dass Tiere aufgrund ihrer “zentrischen” Existenzform Verhaltensweisen anderer Lebewesen zwar mitvollziehen, aber nicht im echten Sinn nachahmen können. Echte Nachahmung setzt Distanz zum eigenen wie zum fremden Verhalten voraus; nur aufgrund dieser Distanz kann dem beobachteten Verhalten intentional eine Bedeutung zugeschrieben werden. Die «Fernstellung des Menschen zu sich» (S. 398), die den Tieren verwehrt ist, bildet gemäss Plessner die Basis für echte Nachahmung. Als Merksatz formuliert: «Nachäffen kann nur der Mensch, nicht der Affe» (S. 396).

Helmuth Plessner, deutscher Philosoph und Soziologe

Mit dem Begriff der Mimesis will Donald aber nichts anderes zum Ausdruck bringen, denn der willentliche Gebrauch der Motorik zum Zweck der Darstellung und Kommunikation von Wirklichkeit stellt ein Humanspezifikum dar (vgl. Donald, 2007b, S. 216ff.). Wie auch Gunter Gebauer und Christoph Wulf (1998) betonen, wird mit Mimesis eine Fähigkeit bezeichnet, “die den Menschen vom Tier unterscheidet” (S. 435).

Spiegelneuronen

Die Existenz eines mimetischen Repräsentationssystems hat durch die Entdeckung der so genannten Spiegelneuronen im prämotorischen Cortex eine unerwartete Bestätigung gefunden. Spiegelneuronen werden aktiviert, wenn man sieht, wie jemand anderer eine Bewegung ausführt. Dabei werden dieselben Neuronen aktiv, wie wenn man die Bewegung selbst ausführen würde. Das motorische System wird also nicht erst aktiv, wenn das sensorische System seine Leistung erbracht hat, sondern ist bereits während des Wahrnehmungsprozesses aktiv. Wie der italienische Neurophysiologe Giacomo Rizzolatti, der Entdecker der Spiegelneuronen, in einem mit Corrado Sinigaglia (2008) verfassten Buch schreibt, gestatten die Spiegelneuronen unserem Gehirn, “die beobachteten Bewegungen mit unseren eigenen in Beziehung zu setzen und dadurch deren Bedeutung zu erkennen” (S. 14).

Giacomo Rizzolatti, italienischer Neurophysiologe, Entdecker der Spiegelneuronen

Der Begriff der Spiegelneuronen ist etwas unglücklich gewählt, da ein Spiegel eine Passivität vortäuscht, die es im Gehirn gerade nicht gibt. Zudem findet auf der neurophysiologischen Ebene keine Spiegelung statt, die in irgendeiner Weise der Reflektion von Lichtstrahlen gleichkäme. Mit dem Begriff der Resonanz, der von Rizzolatti ebenfalls verwendet wird, kommt besser zum Ausdruck, worum es geht. Auch der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs (2013) zieht diesen Begriff vor und nennt das Gehirn insgesamt ein Resonanzorgan, “dessen rhythmische Oszillationen durch interne ebenso wie externe Synchronisierungen eine fortwährend erneuerte Kohärenz zwischen Organismus und Umwelt herstellen” (S. 181).

Indem Nervenzellen in den motorischen Arealen unseres Gehirns in Schwingung versetzt werden, wenn wir eine Bewegung wahrnehmen, wird die sensorische Information mit unserem motorischen Wissen verbunden, was uns ermöglicht zu verstehen, welche Bedeutung die wahrgenommene Bewegung hat. Mit “Wissen”, “Verstehen” und “Bedeutung” sind allerdings keine bewussten oder reflektierten Vorgänge gemeint, sondern rein neurale Abläufe. Diese bilden eine wesentliche Grundlage dessen, was wir Nachahmung nennen. Sowohl bei Affen wie bei Menschen “führt der Anblick von Akten, die von anderen ausgeführt werden, zur unmittelbaren Einbeziehung jener motorischen Areale, deren Aufgabe die Organisation und Durchführung dieser Akte ist” (Rizzolatti & Sinigaglia, 2008, S. 131).

Imitationslernen

Eine Besonderheit der menschlichen Spiegelneuronen liegt darin, dass wir fähig sind, die Intentionen des Verhaltens anderer zu erkennen. Beim Lernen durch Nachahmung spielt dies eine wichtige Rolle, da eine beobachtete Verhaltensweise besser gelernt wird, wenn wir erkennen, mit welcher Absicht sie ausgeführt wird. Das Verstehen anderer als intentionale Wesen ist entscheidend für das kulturelle Lernen, wie es von Michael Tomasello, Ann Cale Kruger und Hilary Horn Ratner (1993) beschrieben wird. “Kinder, die verstehen, dass andere Personen intentionale Beziehungen zur Welt unterhalten, die ihren eigenen intentionalen Beziehungen ähnlich sind, können die Möglichkeiten nutzen, die andere Individuen sich ausgedacht haben, um ihre Ziele zu erreichen” (Tomasello, 2002, S. 96). Ab etwa neun Monaten sind Kinder dazu in der Lage; sie vermögen andere als intentional Handelnde zu erkennen und auf diese Weise aus der Beobachtung von deren Verhalten zu lernen.

Die Fähigkeit, anderen Menschen Gedanken, Absichten, Wünsche und weitere mentale Zustände zuzuschreiben, ermöglicht es, nicht nur von anderen Personen, sondern auch durch andere Personen zu lernen. Schimpansen sind zu dieser Art von Lernen nicht in der Lage.

 

Mit etwa drei bis vier Jahren erkennen sie zudem, dass Menschen über mentale Kapazitäten wie Wissen, Glauben oder Erwartungen verfügen, dank derer sie sich von den aktuellen Gegebenheiten der Wirklichkeit absetzen können. Sie vermögen Handlungen zu erklären, indem sie berücksichtigen, was Menschen denken oder wollen, auch und gerade, wenn ihnen bewusst ist, dass die handelnde Person von falschen Annahmen ausgeht. Sie sind zu dem fähig, was in der Entwicklungspsychologie Mentalisierung genannt wird, ein Ausdruck, der zumeist als Synonym für den Begriff der Theory of Mind gebraucht wird, dem wir im 1. Teil unseres Beitrags begegnet sind. Die Fähigkeit, anderen Menschen Gedanken, Absichten, Wünsche und weitere mentale Zustände zuzuschreiben, ermöglicht es, nicht nur von anderen Personen, sondern auch durch andere Personen zu lernen. Schimpansen sind zu dieser Art von Lernen nicht in der Lage (vgl. Call & Tomasello, 2008; Tomasello, 1996).

Flucht aus dem Nervensystem

Die Erfassung der Absichten und Einstellungen anderer ist eine wesentliche Voraussetzung für die Nutzung motorischer bzw. nonverbaler Äusserungen zum Zweck der Kommunikation. Anders lässt sich kaum erklären, wie eine gemeinsame Referenz durch Koordination der Aufmerksamkeit und Teilung der Intentionen hergestellt werden kann. Wie Donald (1998) schreibt, bildet die Mimesis die erste vollumfänglich intentionale Form der Repräsentation von Wirklichkeit in der Evolution des Menschen. Die Mimesis ermöglichte unseren Vorfahren “nicht weniger als eine Flucht aus der Isolation des Nervensystems der Wirbeltiere” (Donald, 2000, S. 34 – eigene Übersetzung).

Donald, der diese Metapher verschiedentlich verwendet, bringt damit zum Ausdruck, dass Gedanken und Erinnerungen solange im Gehirn eingeschlossen bleiben, wie es nicht möglich ist, sie anderen auf verständliche Weise mitzuteilen. Dank des ersten, noch rudimentären Repräsentationssystems, das die Mimesis darstellt, ist es den Menschen gelungen, dem Gefängnis ihrer Gehirne zu entfliehen und ihre Gedanken mit anderen zu teilen.

Eine erste Form von Kultur

Daraus ist eine archaische Form von Kultur entstanden. Die mimetische Kultur war “die erste Kulturform, in der mentale Repräsentationen geteilt wurden, wenn auch auf vage und ungenaue Weise” (Donald, 2005, S. 293 – eigene Übersetzung). “Vage” und “ungenau” deshalb, weil der Mimesis linguistische Merkmale wie eine Grammatik und ein Lexikon fehlen. Die mimetische Kultur ist ans Konkrete und Anschauliche gebunden; die Menschen sind noch kaum zu Abstraktionsleistungen fähig.

Bei aller “Flucht aus dem Nervensystem” (Donald) spielt das biologische Gedächtnis in einer mimetischen Kultur weiterhin eine wesentliche Rolle. Denn es sind noch keine Notationssysteme wie die Schrift oder Aufzeichnungsgeräte wie eine Bildkamera verfügbar, die für die externe Speicherung von Erfahrungen genutzt werden könnten. Eine partielle Abhilfe bieten Mnemotechniken, die wie die Mimesis auf einer sensomotorischen Basis funktionieren. Bei der so genannten Loci-Methode (auch “Gedächtnispalast” genannt) werden die zu erinnernden Inhalte in den fiktiven Räumen eines imaginären Hauses ‘abgelegt’, wo sie bei Gelegenheit wieder ‘aufgenommen’ werden können (vgl. Draaisma, 1999, S. 48ff.). Bei freien Vorträgen spielt diese Technik noch heute eine wesentliche Rolle.

Als kulturelles Medium bestimmt die Mimesis in der Tat noch heute unser Leben, wie im Theater, im Kino, in der Oper, im Sport etc. Auch handwerkliche und andere Fertigkeiten wie Tanz oder Radfahren werden zu einem grossen Teil über Prozesse der Beobachtung und Imitation des Beobachteten tradiert. Man denke an die bei uns fest verankerte Institution der Berufslehre. Obwohl die Sprache der kulturellen Entwicklung des Menschen einen enormen Schub verlieh, ist die Mimesis “nach wie vor die elementare Äusserungsform, die uns zu eng verbundenen, stammesartigen Gruppen zusammenschweisst” (Donald, 2008, S. 273f.). Gemäss Tomasello (2014) kommt die mimetische Form der Kommunikation immer dann ins Spiel, wenn wir gemeinsame Aktivitäten, die situativ verankert sind und situativ kontrolliert werden, unternehmen.

Kultur der Mündlichkeit

Der zweite Übergang im Schema von Donald (2008) führte unsere Vorfahren in die Kultur der Mündlichkeit, “die bis vor kurzem die universelle Form menschlicher Gesellschaften war” (S. 273). Die gesprochene Sprache ermöglicht eine weit effizientere Form der Repräsentation von Wirklichkeit als das nonverbale System der Mimesis. Wörter sind die ersten echten Symbole, die nicht mehr auf einer analogen (bildhaften), sondern auf einer arbiträren Basis funktionieren.

Ernst E. Boesch, Schweizer Kulturpsychologe

Die natürliche Form, in der sich Sprache artikuliert, sind Erzählungen, weshalb die gesprochene Sprache zu einer narrativen Darstellung der Wirklichkeit führt. Auch die Denkform einer oralen Kultur ist narrativ. Es ist daher nicht abwegig, wenn Donald (2004b) in Geschichten das Herz und die Seele der menschlichen Kultur sieht und den Menschen in seinem Kern einen Geschichtenerzähler nennt. Darin trifft er sich nicht nur mit dem britischen Psychologen Robin Dunbar (2008), der das Archetypische der menschlichen Kultur im Erzählen von Geschichten (eingeschlossen religiösen Geschichten) sieht, sondern auch mit dem Schweizer Kulturpsychologen Ernst Boesch (2005), der den Menschen unumwunden als Homo narrator bezeichnet.

Der Mensch als Mythenerzähler

Entsprechend seinem Verständnis des Menschen als Geschichtenerzähler, steht die orale Kultur für Donald nicht in erster Linie mit der Verfeinerung von Werkzeugen oder der Tradierung von handwerklichen Fertigkeiten in Verbindung, sondern mit der Entstehung von Mythen, weshalb er auch von einer mythischen Kultur spricht (vgl. Donald, 1991, S. 201ff.). Das mag erstaunen, ist aber nachvollziehbar, wenn wir bedenken, dass eine mimetische Kultur wenig Möglichkeiten bietet, um eine zusammenhängende Darstellung der Wirklichkeit zu geben, während genau dies dank der Sprache möglich wird. Erzählungen schaffen Kohärenz; sie geben einer Abfolge von Ereignissen einen inneren Zusammenhalt.

Mythen sind vorwiegend Ursprungserzählungen, die von der Herkunft des Menschen, der Götter, der Welt und des Kosmos handeln. Insofern bilden sie kulturelle Bindemittel, die einer Gemeinschaft helfen, ein Wir-Bewusstsein zu entwickeln. Es gibt keine Kultur, die nicht über Erzählungen verfügte, “die dazu beitragen, ihre Gruppe als kohärentes Gebilde über die Zeit hinweg zu definieren” (Tomasello, 2009, S. 302). Noch heute erbringen Mythen diese Leistung. Denken wir an Mythen, die Nationalstaaten zu ihrer geschichtlichen Legitimation nutzen (wie der Rütlischwur oder Wilhelm Tell im Falle der Schweiz), Mythen, mit denen sich Firmen eine corporate identity geben (wie im Falle der Gründungsgeschichte von Ford oder Renault), oder Mythen, die Religionsgemeinschaften mit dem Jenseits verbinden (wie die Schöpfungsgeschichte im Falle von Juden- und Christentum).

Friedrich Schiller, deutscher Dichter, Philosoph, Historiker und Arzt

Während die maximale Grösse einer Gruppe von Menschen, die sich gegenseitig kennen, gemäss der so genannten Dunbar-Zahl bei rd. 150 Individuen liegt (vgl. Dunbar, 2008, S. 410ff.; Gamble, Gowlett & Dunbar, 2016, S. 17ff.), ermöglichen Mythen, die Gruppengrösse massiv zu erweitern, indem die Ursprungserzählung eine Einheit stiftet, die auch fremde Menschen miteinschliesst (vgl. Harari, 2013, S. 38ff.). Plötzlich sind nicht mehr nur diejenigen Brüder und Schwestern, die von denselben Eltern abstammen, sondern auch diejenigen, die denselben Gott, Guru oder politischen Führer verehren oder derselben Partei angehören (vgl. Vowinckel, 1995). Der Rütlischwur als Nationalmythos der Schweiz beruht auf genau dieser Logik: “Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr”, wie uns Friedrich Schiller im Wilhelm Tell in den Mund legt (Zweiter Aufzug, Dritte Szene).

Orales Memorieren

Anders als die mimetische Repräsentationsform ermöglichen Erzählungen eine minimale Form von externer Speicherung menschlicher Erfahrungen. Erinnerungen, die durch permanente Reaktivierung in sprachlicher Form wachgehalten werden, lassen sich konservieren, wenn auch ohne grosse Präzision und ohne Garantie auf Vollständigkeit. Geht es um kulturell bedeutsames Wissen, sind es spezialisierte Individuen wie Schamanen, Priesterinnen, Barden oder professionelle Geschichtenerzähler, die als lebendige Speicher die Verantwortung für dessen Bewahrung tragen. Durch orale und gesangliche Rezitation halten sie in Erinnerung, was sonst schnell vergessen ginge.

Walter Jackson Ong, US-amerikanischer Priester, Kulturhistoriker und Literaturprofessor

Interessant ist, wie dabei dem Körper eine wichtige Rolle zukommt. Walter Ong (1987) weist in seiner klassischen Studie Oralität und Literalität darauf hin, dass das orale Gedächtnis eine bedeutende somatische Komponente aufweist. Handbewegungen, Gesten, Tanzen, Stampfen mit den Füssen, Hin- und Herbewegen des Oberkörpers etc., zumeist untermauert von rhythmischer Musik (Trommeln, Zupfen von Saiteninstrumenten), begleiten den Vortrag des Rezitators oder Barden. Gesprochen oder gesungen wir unter vollem Einsatz des Körpers. Das orale Wort existiert “niemals in einem rein verbalen Zusammenhang, wie dies beim geschriebenen Wort der Fall ist” (S. 71). Das gilt vermutlich auch für das Lernen, das in einer oralen Kultur kein stilles Memorieren ist, sondern ein lautes Wiederholen dessen, was die Lehrperson rezitierend vorträgt. Man denke an die Praxis des Auswendiglernens, wie sie an Koranschulen noch heute weltweit üblich ist.

Rhythmus

Wie der Altphilologe Eric Havelock (1991) herausstreicht, sind orale Kulturen auch rhythmische Kulturen. Der Rhythmus unterstützt das Lernen, indem er dem Lerngegenstand eine repetitive Struktur gibt. Orale Memorierhilfen wie Metren, Verse, Reime, Phrasen und Floskeln sowie die Schematisierung von Personen und Handlungen geben der Sprache eine getaktete Struktur, die Affinitäten zur Musik aufweist. Die Fähigkeit, wiederkehrende akustische Vorgänge in körperliche Bewegungen umzusetzen, ist ein mimetischer Vorgang, auch wenn dabei nicht der visuelle, sondern der auditive Sinn involviert ist (vgl. Donald, 1991, S. 186f.).

Praktisch gehörlos: die schottische Schlagzeugerin Evelyn Glennie

Menschen sind fähig, Rhythmen auch über körperliche Vibrationen aufzunehmen, wie die taubstumme Schlagzeugerin Evelyn Glennie eindrücklich zeigt. Rhythmen durchdringen unseren Körper; sie fahren uns geradezu wörtlich in die Glieder. Wie die Mimesis generell ist die Imitation von Rhythmen ein sinnesübergreifendes Phänomen. Wir vermögen mit allen Muskeln unseres Körpers, über die wir eine willentliche Kontrolle haben, Rhythmen zu erzeugen – mit den Fingerspitzen, den Händen, den Füssen, dem Kopf, den Lippen, den Zähnen, den Augen, dem Rumpf oder dem ganzen Körper. Die Kompetenz, den Körper synchron zu einem rhythmischen Muster zu bewegen, ist auch die Grundlage für die Fähigkeit des Menschen, allein oder gemeinsam mit anderen zu tanzen.

Drang zur Kooperation

Wie verschiedene Studien zeigen, handelt es sich auch beim Rhythmus und beim Tanz um grossenteils humanspezifische Phänomene. Zwar gibt es bei einigen Tierarten Ansätze spontanen rhythmischen Verhaltens, wie beispielsweise Hämmern auf Baumwurzeln bei Schimpansen oder Trommeln auf die eigene Brust bei Gorillas, und einige Tiere vermögen wahrgenommene Tonfolgen zu imitieren, wie beispielsweise Singvögel, Papageien, Grillen und Frösche. Die Fähigkeit, aus komplexen auditorischen Wahrnehmungen rhythmische Muster zu extrahieren und in eigenes Verhalten zu übersetzen, findet sich in der Tierwelt jedoch selten und nur ansatzweise (vgl. Fitch, 2012; Kotz, Ravignani & Fitch, 2018). Und was bei Tieren gänzlich fehlt, ist die synchrone Befolgung von Rhythmen, wie dies Menschen beim Paar- oder Gruppentanz tun. Schimpansen und Gorillas trommeln allein, und auch die “Gesangs-Duette” von Singvögeln oder Papageien erfolgen nicht simultan, sondern wechselweise.

Wer schon einmal kleine Kinder beim Musizieren beobachtet hat, weiss, dass die synchrone Einstellung auf einen Rhythmus erst nach längerem Üben gelingt. Sich beim Musizieren in den Verlauf eines Stücks einzufügen, indem man aufeinander hört, ist Kindern solange nicht möglich, wie sie nicht zu kollektiver Intentionalität fähig sind. Da Schimpansen dazu grundsätzlich nicht in der Lage sind, ist nicht zu erwarten, dass sie gemeinsam Musik machen können. Gleiches gilt für das Tanzen. Zu Solotänzen und einem formlosen Nebeneinandertanzen sind Kinder zwar schon früh in der Lage, aber erst mit der Fähigkeit zu geteilter Intentionalität vermögen sie auch wirklich gemeinsam zu tanzen. Wie der Kognitionspsychologe Tecumseh Fitch (2012) vermutet, könnte dem rhythmischen Verhalten des Menschen ein allgemeiner Drang zur Kooperation zugrunde liegen, d.h. eine Motivation, Erfahrungen, Aktivitäten und Emotionen mit anderen zu teilen, “die so typisch ist für unsere Spezies und so ungewöhnlich in der Natur” (S. 86 – eigene Übersetzung).

Symboltechniken

Vor etwa 40’000 Jahren erfolgte ein weiterer Schritt in der Evolution des Menschen. Jared Diamond (2003) spricht von einem “grossen Sprung nach vorn” (S. 46), Yuval Noah Harari (2013) von einer “kognitiven Revolution” (S. 9ff.). Charakteristisch für diesen dritten Übergang sind verbesserte Werkzeuge, die Herstellung von Schmuck und anderen Kunstgegenständen, Musikinstrumente, Felsmalereien, Grabbeigaben und – was sehr wahrscheinlich ist – Bestattungsrituale und Totenkulte.

Jared Mason Diamond ist ein US-amerikanischer Evolutionsbiologe, Physiologe und Biogeograph

Für Merlin Donald (1991) liegt die Essenz dieser dritten Etappe auf dem Weg zum modernen Menschen in einer Revolution der Symboltechniken. Das ausschlaggebende Moment bildet die Möglichkeit, Gedächtnisinhalte extern zu speichern. Donald spricht von einer Differenz der Hardware: “Waren die ersten beiden Übergänge von neuer biologischer Hardware abhängig, insbesondere von Veränderungen im Nervensystem, ist der dritte Übergang von einer äquivalenten Veränderung der technologischen Hardware abhängig, insbesondere von externen Speichergeräten” (S. 274 – eigene Übersetzung).

Voraussetzung war die Entwicklung einer Schriftsprache sowie vergleichbarer Notationssysteme, wie Piktogrammen, Diagrammen, Zahlen, Formeln, Tabellen, Karten, Münzen etc. (vgl. Donald, 1991, S. 279ff., 306ff.). Auch Bauwerke können als Symboltechniken verstanden werden. So deutet Donald die megalithische Anlage von Stonehenge als externalisiertes Gedächtnis, da vermutlich Sternkonstellationen in materialisierter Form repräsentiert wurden. Die Anlage stellt gemäss Donald genauso ein Speichermedium dar “wie die synoptischen Muster im Gehirn” (Donald & Andreassen, 2007, S. 80 – eigene Übersetzung).

Sehen statt Hören

Wesentlich für die verschiedenen Techniken der “Auslagerung von Erinnerungen” (Donald, 2008, S. 273) ist ihr visueller Charakter. Im Unterschied zur Lautsprache, die an den Hörsinn gebunden ist und den akustischen Raum nicht verlassen kann, wird eine Schriftsprache nicht gehört, sondern gesehen. Damit findet eine Ausrichtung des Bewusstseins auf das Auge statt. Anders als das Ohr lässt das Auge Abstand nehmen und die Wirklichkeit auf Distanz halten. Während wir als Hörende vom Gehörten gleichsam in Beschlag genommen werden, vermögen wir uns als Sehende der Aufdringlichkeit der Wirklichkeit zu erwehren. Dabei kommt uns zu Hilfe, dass Sprechen und Hören simultane Geschehnisse sind, während zwischen Schreiben und Lesen Zeit verstreicht.

In einer schriftlosen Kultur ist das Selbstbewusstsein der Menschen noch wenig gefestigt. Die Menschen sehen sich einer Welt gegenüber, von der sie sich angesprochen fühlen. Die Natur erscheint ihnen eher wie ein Du als wie ein Es. So spekulativ seine Analysen auch sein mögen, Julian Jaynes (1988) nimmt an, dass die Menschen der frühen Hochkulturen in einer Geistesverfassung lebten, die es ihnen verunmöglichte, aus sich selbst heraus zu handeln. Noch das christliche Menschenbild zeugt von dieser Konstellation, insofern es den Menschen als “Hörer des Wortes” (Rahner) bestimmt. “Der Glaube kommt aus dem Hören”, heisst es im Römerbrief (Röm 10, 17), “Wer Ohren hat, der höre” im Matthäusevangelium (Mt 13, 9) und “Selig sind, die nicht sehen und doch glauben” im Johannesevangelium (Joh 20,29). Da sich Gott offenbart, indem er den Menschen anspricht, ist der Mensch nach christlicher Auffassung nur dann wirklich Mensch, wenn er auf Gottes Wort hört und seinen Geboten gehorcht.

Wo nicht mehr Mund und Ohr, sondern Hand und Auge das Menschenbild bestimmen, avanciert das Ich zum Zentrum des Handelns. Nicht zufällig operieren aufklärerische Systeme mit visuellen Metaphern.

 

Mit der Akzentverschiebung vom Hören zum Sehen wird das menschliche Selbstbewusstsein gestärkt. Wo nicht mehr Mund und Ohr, sondern Hand und Auge das Menschenbild bestimmen, avanciert das Ich zum Zentrum des Handelns. Nicht zufällig operieren aufklärerische Systeme mit visuellen Metaphern. Schon Platons Höhlengleichnis schildert den Weg der Erkenntnis als befreienden Aufstieg aus dem Dunkeln ans Licht. Der Mensch wandelt sich vom Hörenden zum Sehenden, der nicht mehr glauben, sondern wissen soll, indem er die Wahrheit im «natürlichen Licht» (Descartes) seiner Vernunft erschaut. Die niederen Sinne geraten in den Sog der Unvernunft und verfallen dem Hörensagen.

Dekontextualisierung des Bewusstseins

Die befreiende Kraft des Sehens erstreckt sich auch auf die Sprache. Während wir uns der Suggestivkraft gesprochener Worte nur schwer entziehen können, vermögen uns geschriebene Worte nicht im gleichen Ausmass gefangen zu nehmen. Es spricht daher einiges dafür, dass die Menschen erst in dem Moment ein Bewusstsein der Sprache erlangten, als sie des Schreibens und Lesens mächtig wurden (vgl. Olson, 1994, S. 258ff.).

Während wir die Sprache beim Reden gleichsam überhören, da sprachliche Ungenauigkeiten oder Unklarheiten durch parasprachliche und nonverbale Informationen sowie Hinweise aus der aussersprachlichen Situation laufend korrigiert werden, gilt dies im Falle des Schreibens und Lesens nicht. Ein Text muss sich selber genügen, d.h. alles enthalten, was es braucht, um ihn zu verstehen. Mag sein, dass es im Einzelnen einer hermeneutischen Auslegung bedarf, um seinen Sinn zu eruieren, die Informationen, die dazu benötigt werden, müssen aber ihrerseits im Text enthalten sein oder diesem entnommen werden können. Wer schreibt oder liest, wird regelrecht gezwungen, über Sprache nachzudenken.

Johannes Gutenberg, Erfinder des Buchdrucks

Trotzdem vermag eine Schriftsprache per se noch keinen kulturellen Wandel zu erzeugen. Noch in der frühen Neuzeit wurden Schriftstücke nicht als Medien zur externen Speicherung von Erinnerungen wahrgenommen. Bücher wurden zwar als Gedächtnisstütze genutzt, waren aber noch lange in die direkte mündliche Kommunikation eingebunden. Weit über das 16. Jahrhundert hinaus dominierte in Europa eine Kultur der Mündlichkeit (vgl. Wenzel, 1995). Erst die Verbreitung von Schriftdokumenten dank der Erfindung der Druckerpresse durch Johannes Gutenberg führte allmählich zur Alphabetisierung der Gesellschaft (vgl. Füssel, 1999). In deren Folge konnte das Potential ausgeschöpft werden, das in der Schrift und anderen Symboltechniken liegt: ihre Nutzung als extrazerebrale Gedächtnisspeicher. In Analogie zum Begriff des Engramms als physiologischer Gedächtnisspur im Gehirn spricht Donald (1991, 2010) von Exogrammen als medialen Speichermedien ausserhalb des Gehirns.

Objektivierung der Gedanken

Damit konnte die Schriftsprache zum Katalysator der Wissenschaft werden. Zwar ist nicht anzunehmen, dass sich das wissenschaftliche Denken allein der Schriftsprache verdankt. Jedoch ist schwer vorstellbar, wie die Menschen den Schritt zu einem wissenschaftlichen Weltbild ohne die Leistungen der Schrift und anderer Symboltechniken hätten vollziehen können. Zu diesen Leistungen gehören die dekontextualisierte Beschreibung von Wirklichkeit, der Anspruch auf die Vollständigkeit der Darstellung repräsentierter Sachverhalte, die Reflexion auf die Form der Repräsentation von Wirklichkeit und die Objektivierung der Gedanken im Medium der Sprache.

Tatsächlich wurden sich die Menschen durch Reflexion der Sprache auch der Eigenart ihrer Gedanken bewusst. Wer in der Lage ist, sich Gedanken ‘vor Augen zu führen’, indem er sie ‘zu Papier bringt’, vermag sein Denken zu objektivieren. Er kann seine Ideen und Überlegungen auf Folgerichtigkeit und Konsistenz überprüfen und allfällige Widersprüche im Argumentationsgang ausräumen. Während sich in einer oralen Kultur logische Schnitzer kaum aufdecken lassen, fällt dies in einer literalen Kultur leichter. Schriftlich können wir unsere Gedanken auch einfacher mit anderen teilen und der Kritik aussetzen, indem wir sie im wörtlichen Sinn aufschreiben.

Logik

Allerdings ermöglicht nicht jede Art von Schrift diese Leistung. Wenn wir dem Sprachwissenschaftler Christian Stetter (1997) folgen, dann ist das formale Denken ein Produkt der Alphabetschrift. Es scheint kein Zufall zu sein, dass die Logik als System des korrekten deduktiven Schliessens in der Schriftkultur der griechischen Antike entstanden ist, insbesondere bei Aristoteles, während sich im Kulturkreis der chinesischen Schrift weder eine Grammatik noch eine formale Logik entwickelt haben. Als Notationsform für Sprachlaute (Phoneme) und nicht für Ideen (wie im Falle von Ideogrammen, Piktogrammen und Hieroglyphen) löst das Alphabet die Sprache aus den kontextuellen Bedingungen ihrer Nutzung heraus und macht sie zu einer Wirklichkeit eigener Art. Das Bildhafte, das der mimetischen Repräsentationsform zugrunde liegt, ist aus der phonetischen Schrift gänzlich getilgt.

Damit sich ein logischer Formalismus entwickeln konnte, genügte die Alphabetschrift gleichwohl noch nicht. Wie verschiedene Studien zeigen, ist die Entstehung der deduktiven Logik wesentlich durch die Praxis der dialogischen Auseinandersetzung im Rahmen der attischen Demokratie befördert worden (vgl. Kapp, 1965; Vernant, 1982). Wenn in einer Debatte unter Gleichen eine Entscheidung herbeigeführt werden muss, dann bildet die logisch abgesicherte Korrektheit eines Gedankenganges ein potentes Mittel, um einen Gegner zur Änderung seiner Meinung zu bewegen (vgl. Dutilh Novaes, 2015). Insofern war die griechische Polis Geburtshelferin der deduktiven Logik. Auch wenn dies im ersten Moment verwundern mag, kann es angesichts der fundamentalen Sozialität des Menschen nicht wirklich erstaunen, dass selbst die Logik eine soziale Grundlage aufweist. Zum Instrument des korrekten individuellen Denkens wurde die Logik erst durch die Verinnerlichung der sozialen Praxis des Argumentierens.

Im Rahmen der Ausarbeitung logischer Regeln hat auch die Negation, die in Form der Verneinung durchaus schon der mündlichen Sprache verfügbar ist, ihren Status als formales Denkwerkzeug erhalten. Tiere können nicht nein sagen; selbst Schimpansen “fehlt der Sinn fürs Negative” (Plessner, 1928/2003, S. 340 – im Original hervorgehoben). Sie können zwar zwischen zwei sich ausschliessenden (konträren) Gegensätzen wählen (z.B. anwesend vs. abwesend; gefährlich vs. ungefährlich; geniessbar vs. ungeniessbar), aber nicht Tatsachen oder Sachverhalte negieren oder in ihr kontradiktorisches Gegenteil verkehren (vgl. Bohn, Call & Völter, 2020).

Das Bild einer Pfeife ist in der Tat keine Pfeife, die man rauchen kann, was sich aber nicht bildlich, sondern nur sprachlich ausdrücken lässt.

 

Solange sie lediglich über die Fähigkeit zur mimetischen Repräsentation verfügten, waren auch unsere Vorfahren zur logischen Negation noch nicht fähig. Das folgt daraus, dass sich bildhafte Repräsentationen mit anschaulichen Mitteln nicht verneinen lassen. Man denke an das Bild “La trahison des images” (Der Verrat der Bilder) von René Magritte, auf dem eine Pfeife dargestellt ist, wobei uns Magritte durch einen Schriftzug zu verstehen gibt: “Ceci n’est pas une pipe!” Das Bild einer Pfeife ist in der Tat keine Pfeife, die man rauchen kann, was sich aber nicht bildlich, sondern nur sprachlich ausdrücken lässt.

Theoretische Kultur

Das Denken, das bei der mimetischen und der narrativen Repräsentationsform in die Darstellung der Wirklichkeit eingebunden ist, vermag sich dank der Regeln der formalen Logik von der Wirklichkeit abzulösen. Das historische Ereignis bildete die Trennung zwischen Denken und Anschauung zur Zeit der griechischen Vorsokratiker (Thales, Parmenides, Zenon, Heraklit u.a.). “Die Anschauung verliert überall an Autorität, der Mensch entfernt sich in zunehmendem Masse von der Natur, die ihn umgibt” (Feyerabend, 2009, S. 253f.). Mithilfe der Logik konnten erstmals Theorien formuliert werden, die dem Menschen einen Zugriff auf die Wirklichkeit erlaubten, der rein rational begründet ist. Donald (1991) belegt die dritte Stufe der Evolutionsgeschichte des Menschen daher mit dem Begriff der theoretischen Kultur, nicht weil Theorien in einer Schriftkultur von Anfang an bestimmend gewesen wären, sondern weil sie deren Wesenskern ausmachen.

Mithilfe der Logik konnten erstmals Theorien formuliert werden, die dem Menschen einen Zugriff auf die Wirklichkeit erlaubten, der rein rational begründet ist.

 

Auch wenn die Griechen die Möglichkeit zur Bildung wissenschaftlicher Theorien erkannten, hat der Übergang zur theoretischen Kultur erst in den vergangenen rd. 200 Jahren an Fahrt aufgenommen, und abgeschlossen ist er noch lange nicht. Sobald sich ein wissenschaftliches Bewusstsein einmal etabliert hat, scheint dessen Überlegenheit allerdings kaum noch in Frage gestellt zu werden. Was im Zentrum der oralen Kultur steht, wird nun der Kritik unterzogen: der Mythos. Das mythische Denken wird als subjektiv und anthropomorph diskreditiert, kann aber aufgrund seiner Inkompatibilität mit dem theoretischen Denken genauso wenig überwunden werden wie das mimetische Denken.

Der Mensch als Hybridwesen

Die drei Übergänge in der Entwicklungsgeschichte des Menschen haben zu Verschiebungen im menschlichen Bewusstsein geführt, aber nicht so, dass die Denkformen der früheren Stufen ausser Kraft gesetzt worden wären. Ein Grundprinzip der Evolution lautet, dass Anpassungen, die sich bewährt haben, erhalten bleiben. Was einmal funktioniert, wird nicht ohne Grund aufgegeben.

Anders als die Stufen der kognitiven Entwicklung von Piaget (1974), die einer integrativen Logik folgen, insofern die jeweils höhere Stufe die tiefere in sich aufnimmt, handelt es sich bei Donalds Stufen der Anthropogenese um eine Abfolge, die einer Kaskade gleichkommt. Wie bei einem künstlich angelegten Wasserfall das Wasser über mehrere Stufen nach unten fliesst, ist die Evolutionsgeschichte des Menschen in mehreren Schritten erfolgt, ohne dass die überwundenen Stufen verlorengegangen wären. Für unser kognitives System sind die episodischen, mimetischen und narrativen Muster der Repräsentation noch genauso relevant wie die jüngste Errungenschaft des theoretischen Denkens.

Da jede Entwicklungsstufe auch heute noch in ihre kulturelle Nische eingepasst ist, enthält eine moderne Kultur “Spuren aus jeder früheren Phase der kognitiven Evolution” (Donald, 2008, S. 273). Für unser Verständnis des Menschen heisst dies, dass das Bewusstsein des modernen Menschen eine mosaikartige Struktur aus Elementen der verschiedenen Phasen der Menschheitsgeschichte bildet. Menschen sind kognitive Hybride, wie Donald (2004c) formuliert, gleichermassen angepasst an ihre natürliche wie an ihre kulturelle Umwelt.

Ausblick

Der entscheidende Schritt in der Evolution des Menschen liegt in der Nutzung von Zeichen und Symbolen zur intentionalen und geteilten Repräsentation von Wirklichkeit. Ermöglicht wurde dieser Schritt durch die Exekutivfunktionen, deren anatomische Basis ein stark erweiterter präfrontaler Cortex beim Menschen bildet. Den Anlass zur Ausschöpfung des Potentials der Exekutivfunktionen gaben die veränderten Lebensbedingungen unserer Vorfahren, insbesondere die wachsende Komplexität ihrer Sozialbeziehungen.

Indem es ihnen gelang, aus dem Gefängnis ihres Nervensystems auszubrechen, errangen unsere Vorfahren den grössten evolutionären Vorteil des Menschen, nämlich “den Beschränkungen der Evolution zu entfliehen”.

 

Die grosse Wasserscheide in der Evolution des Menschen bildet daher “nicht die Entstehung der Sprache, sondern die vorausgehende Bildung kognitiver Verbände”(Donald, 2008, S. 266). Wie Merlin Donald in Übereinstimmung mit Michael Tomasello und anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern feststellt, sind wir als Menschen “bis in die Struktur unseres Bewusstseins hinein” (S. 309) soziale Wesen. Ohne die Symbiose, die Gehirn und Kultur in der Evolutionsgeschichte des Menschen eingegangen sind, liessen sich die kognitiven Leistungen, zu denen heutige Menschen fähig sind, nicht erklären. Indem es ihnen gelang, aus dem Gefängnis ihres Nervensystems auszubrechen, errangen unsere Vorfahren den grössten evolutionären Vorteil des Menschen, nämlich “den Beschränkungen der Evolution zu entfliehen” (Gopnik, 2010, S 16).

Im abschliessenden 4. Teil meines Beitrags werde ich mich mit der Frage beschäftigen, welche Konsequenzen sich aus dem Nachweis der symbiotischen Verbindung von Gehirn und Kultur für das pädagogische Menschenbild und die pädagogische Praxis ergeben.

The post Der Mensch als Symbiose von Gehirn und Kultur, 3. Teil first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/03/der-mensch-als-symbiose-von-gehirn-und-kultur-3-teil/feed/ 0
Lehrende und lernende Gehirne. Abgesang auf die Neuropädagogik, Teil 3 https://condorcet.ch/2023/07/lehrende-und-lernende-gehirne-abgesang-auf-die-neuropaedagogik-teil-3/ https://condorcet.ch/2023/07/lehrende-und-lernende-gehirne-abgesang-auf-die-neuropaedagogik-teil-3/#comments Sat, 08 Jul 2023 19:23:24 +0000 https://condorcet.ch/?p=14507

Sie lesen hier den dritten und letzten Teil des Beitrags von Condorcet-Autor Professor Walter Herzog zur Neurodidatik. Er stellt fest, dass ein naturalistischer Reduktionismus nach dem Motto «Geist ist, was das Gehirn tut» sich im pädagogischen Diskurs breitzumachen droht. Der Beitrag wird mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis abgeschlossen.

The post Lehrende und lernende Gehirne. Abgesang auf die Neuropädagogik, Teil 3 first appeared on Condorcet.

]]>

Brückenschlag zwischen den Sprachspielen

Die Empfehlungen, mit denen sich Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler an die pädagogische Praxis wenden, zeigen allerdings auch, wie schwer sich die Erste-Person-Perspektive mit der Dritten-Person-Perspektive verbinden lässt. Wenn zum Beispiel Wolf Singer (2002a) von den Mechanismen spricht, «über welche Wissen ins Gehirn gelangt» (S. 43) und «dort verankert wird» (S. 87), oder wenn er fragt, wie «Wissen in den Kopf kommt» (Singer, 2004, S. 54), dann ist schlicht unklar, wovon überhaupt die Rede ist. Denn im Kopf und im Gehirn gibt es, wie wir bereits vermerkt haben, keine Gedanken und kein Wissen, weshalb auch keine Gedanken und kein Wissen ins Gehirn gelangen und dort verankert werden können. Wissen kann wahr oder falsch sein, im Gehirn gibt es aber weder Wahrheit noch Falschheit, sondern lediglich anatomische Strukturen, Hirnareale, Neuronen und Synapsen. «Alles Wissen, über das ein Gehirn verfügt», schreibt Singer (2004) selber, «residiert in seiner funktionellen Architektur, in der spezifischen Verschaltung der vielen Milliarden Nervenzellen» (S. 54). Wie also muss man es anstellen, Wissen in die neuronalen Netzwerke von Gehirnen zu bringen?

Wissen kann wahr oder falsch sein, im Gehirn gibt es aber weder Wahrheit noch Falschheit, sondern lediglich anatomische Strukturen, Hirnareale, Neuronen und Synapsen.

Prof. Walter Herzog: Statt überbrückt, werden die Sprachspiele kurzgeschlossen.

Die Frage richtet sich auch an den Neurowissenschaftler Dénes Szücs und die Neurowissenschaftlerin Usha Goswami (2007), die die Aufgabe der Neuropädagogik darin sehen, die Grundlagen zu schaffen, damit im Unterricht durch die gezielte Auslösung von Erfahrungen auf die Gehirne der Schülerinnen und Schüler eingewirkt werden kann. Dabei unterstellen sie, dass Informationen neurologisch in Form von elektrochemischen Aktivitätsmustern codiert werden, die sich durch direkte Beeinflussung verändern lassen. Der Unterricht verliert den Charakter eines symbol- bzw. zeichenvermittelten Kommunikationsprozesses, denn pädagogisch relevant ist – wenn wir Szücs und Goswami (2007) folgen – nicht mehr die soziale Interaktion mit den Schülerinnen und Schülern, sondern der direkte Zugriff auf deren Gehirne.

Das ist immerhin konsequent gedacht, denn die Dritte-Person-Perspektive, in der die Naturwissenschaften an ihren Gegenstand herangehen, ist prinzipiell sinnfrei. Auch wenn dies im Falle der Biologie nicht ganz zutrifft, da Lebensphänomene in gewisser Hinsicht durchaus Sinn machen (z.B. in Bezug auf die Fortpflanzung oder die Selbsterhaltung eines Lebewesens), so handelt es sich dabei um standardisierten Sinn, während Sinnhaftes im Falle des Menschen mehr umfasst und auch persönlichen Sinn meint. Dieser Sinn ist naturwissenschaftlich nicht einholbar. Gerhard Roth (2009) bringt es daher auf den Punkt, wenn er darauf hinweist, dass für die Hirnforschung «ein Brückenschlag zwischen bedeutungsfreien und bedeutungshaften, erklärenden und verstehenden Prozessen unverzichtbar (ist)» (S. 227). Ein solcher Brückenschlag zwischen den Sprachspielen der ersten und der der dritten Person verbietet es aber, die Begriffe «Wissen» und «Gehirn» ohne Kommentar in einem Atemzug zu nennen.

Sprachverwirrung

Niemandem ist es bisher gelungen, die geforderte Brücke zwischen den Sprachspielen der naturwissenschaftlichen Hirnforschung und der alltäglichen Lebenswelt zu schlagen. Es gibt bislang auch keine «Metasprache», wie sie von Wolf Singer (2002a, S. 174) gefordert wird, mittels derer die Sprachspiele ineinander übersetzt werden könnten. Darin liegt der Grund für die grassierende Sprachverwirrung in der neuropädagogischen und neurodidaktischen Literatur. Statt überbrückt, werden die Sprachspiele kurzgeschlossen.

Ulrich Herrmann, Neurodidaktiker: Das Gehirn organisiert und generiert Informationen.

Ein besonders deutliches Beispiel gibt der selbst erklärte Neurodidaktiker Ulrich Herrmann (2004), bei dem man lesen kann: «das Gehirn organisiert und generiert Informationen und ihre regelhaften Verknüpfungen; es bewertet neue Informationen nach Neuigkeit und Bedeutung und entscheidet von sich aus über Erinnern und Vergessen» (S. 472 – Hervorhebungen im Original). Dem Gehirn werden Leistungen attestiert, die wir eigentlich Personen zuschreiben. Leicht finden sich auch Beispiele, wonach nicht das Kind neugierig ist, sondern sein Gehirn, nicht das Kind wahrnimmt, sondern sein Gehirn, nicht das Kind versteht, sondern sein Gehirn, nicht das Kind lernt, sondern sein Gehirn, nicht das Kind etwas weiss, sondern sein Gehirn etc. Das kann so weit gehen, dass die Referenz zwischen Kind und Gehirn innerhalb eines Textes, ja innerhalb ein und desselben Satzes hin und her springt.

Ein schlagendes Beispiel für die Sprachverwirrung gewisser pädagogisierender Hirnforscherinnen und Hirnforscher gibt eine Passage aus einem Text von Gerhard Roth. Roth (2004b) erläutert, weshalb Bedeutungen nicht übertragen werden können, sondern konstruiert werden müssen – ein Grundpostulat des Konstruktivismus, das nicht weiter kontrovers ist. Aber wer ist das Subjekt der Konstruktion von Bedeutung? Roth larviert zwischen dem Gehirn und der Person, wie das folgende Zitat zeigt: «Der Chef steht mit hochrotem Kopf vor dem

Wer ist das Subjekt der Konstruktion von Bedeutung?

Mitarbeiter und schreit ‹raus!›. Da braucht das Gehirn des Mitarbeiters nicht viel zu konstruieren, was das Gegenüber meint. Bei langen gelehrten Vorträgen von Kollegen hingegen fragt man sich häufig: ‹Was meint er? Worauf will er hinaus? Was ist überhaupt das Problem?›, weil im Zuhörer das nötige Vorwissen und der Bedeutungskontext nicht klar sind, die im Gehirn des Kollegen herrschten, als er seine Sätze formulierte» (S. 498). Wer also ist das Subjekt der Konstruktion von Bedeutung: der Mitarbeiter oder sein Gehirn, der Referent oder sein Gehirn, die Person oder ihr Gehirn?

Kann man das Gehirn – um ein anderes Beispiel zu nehmen – eine «Lernmaschine» (Spitzer, 2002, S. XVI) und eine «statistische Regelextraktionsmaschine» (S. 322) nennen und ihm zugleich den Status eines Akteurs zuschreiben? Wenn man das Gehirn schon mit einer Maschine vergleichen will, dann ist es – nicht anders wie ein Computer – eine rein syntaktische Maschine. Da Neuronen, wie Spitzer selber schreibt, subsymbolisch arbeiten (S. 54), finden sich im Gehirn weder Bedeutungen noch eine Semantik. Der Blick ins Gehirn fördert nicht nur keine Gedanken und kein Wissen zutage, sondern auch keine Zeichen oder Symbole, die sich entziffern oder entschlüsseln liessen.

Was im Gehirn übertragen wird, sind Signale im Sinne der Nachrichtentechnik, d.h. elektrische Impulse ohne semantische Dimension.

Was im Gehirn übertragen wird, sind Signale im Sinne der Nachrichtentechnik, d.h. elektrische Impulse ohne semantische Dimension. Deshalb ist auch der viel gebrauchte Informationsbegriff ungeeignet, um Klarheit zu schaffen. Denn Information im nachrichtentechnischen bzw. kybernetischen Sinn weist ebenfalls keine semantische Dimension auf. Auch wenn öfter von einem «neuronalen Code» die Rede ist, haben wir es – genauso wenig wie im Falle des «genetischen Codes» (vgl. Kay, 2005) – mit der Verschlüsselung von Bedeutungen zu tun, sondern mit neuralen Aktivitätsmustern.

Da wir Personen und nicht Gehirnen den Subjektstatus zuschreiben, dient der ständige Wechsel zwischen Gehirn und Person letztlich nur einem Zweck: der Verschleierung der Tatsache, dass es nicht gelingt, das Brückenproblem (wie wir es nennen können) zu lösen.

Mereologischer Trugschluss

Da wir Personen und nicht Gehirnen den Subjektstatus zuschreiben, dient der ständige Wechsel zwischen Gehirn und Person letztlich nur einem Zweck: der Verschleierung der Tatsache, dass es nicht gelingt, das Brückenproblem (wie wir es nennen können) zu lösen. Das Brückenproblem besteht darin, dass die Neurowissenschaften der Pädagogik nur dann etwas zu sagen haben, wenn sie in der Lage sind, zwischen der bedeutungsfreien (‹sinnlosen›) Welt der Hirnforschung und der bedeutungshaltigen (‹sinnvollen›) Welt der pädagogischen Praxis zu vermitteln. Da bisher niemand weiss, wie das Gehirn Bedeutungen hervorbringt, verheddert man sich in einer irrlichternden Begrifflichkeit und einer konfusen Terminologie.

Die Verwirrung der Sprachspiele hat auch einen Namen: mereologischer Trugschluss. Einfach gesagt, besteht ein mereologischer Trugschluss – oder wie der Neurobiologe Maxwell Bennett und der Philosoph Peter Hacker korrekter sagen: eine mereologische Verwechslung – darin, dass ein Merkmal, das auf ein Ganzes zutrifft, einem Teil des Ganzen zugeschrieben wird. Insofern ein Gehirn kein selbständiges Wesen ist, sondern Teil eines Menschen bildet, ist es falsch, vom «Lernen des Gehirns», von der «Wahrnehmung des Gehirns» oder von den «Empfindungen des Gehirns» zu sprechen. Denn Subjekt des Lernens, des Wahrnehmens und des Empfindens ist der Mensch (das Ganze) und nicht das Gehirn (ein Teil des Ganzen). «Psychologische Prädikate», schreiben Bennett und Hacker (2010), «sind Prädikate, die notwendigerweise auf das ganze Lebewesen zutreffen, nicht auf Teile von ihm» (S. 93).

Wenn Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler die Sprachspiele durchmischen und Gehirnen Leistungen zuschreiben, die nur Personen zukommen können, dann ist dies ein übles Manöver, da den Pädagoginnen und Pädagogen suggeriert wird, ihre Praxis lasse sich neurowissenschaftlich substituieren, während wir in Wahrheit meilenweit davon entfernt sind.

Ein ‹sinnloser› Lernbegriff

Wir sind nicht zuletzt deshalb meilenweit von einer neurowissenschaftlichen Substituierung des Unterrichts entfernt, weil der Lernbegriff der Hirnforschung rein formal begründet ist. Darin zeigt sich die behavioristische Erblast der Neurowissenschaften. Lernen ist Veränderung von Verhalten (Behaviorismus) oder Veränderung von synaptischen Verbindungen (Hirnforschung). Weder für den behavioristischen noch für den neurowissenschaftlichen Lernbegriff spielen die Inhalte des Lernens eine Rolle. Damit kann man zwar sagen, wie gelernt wird, aber nicht, wie etwas gelernt wird. Ausschlaggebend für das schulische Lernen ist aber nicht die Form, sondern der Inhalt des Lernens.

Der neurowissenschaftliche Lernbegriff ist aber nicht nur formal, sondern auch hochgradig abstrakt. Das ergibt sich aus einer weiteren Parallele zwischen Behaviorismus und Neurowissenschaften. Wie die Behavioristen zwischen tierischem und menschlichem Verhalten keinen Unterschied machten, weshalb die behavioristischen Lernprinzipien (z.B. das Prinzip der Verstärkung) für jede Art von Lebewesen Gültigkeit beanspruchen, wird in den Neurowissenschaften davon ausgegangen, dass es bezüglich des Lernens von Tieren und Menschen keine nennenswerten Unterschiede gibt. Dies deshalb, weil «menschliche und tierische Gehirne sich fast nicht unterscheiden» (Singer, 2004, S. 37).

Was bei Schnecken und anderen Weichtieren über zelluläre Eigenschaften bekannt ist, lässt sich gemäss Wolf Singer (2002a) «in der Regel direkt auf höhere Säuger und den Menschen übertragen» (S. 63). Es gibt zudem «fast keine Überträgersubstanzen im Säugetiergehirn, die nicht auch schon in einfachen Organismen, wie Insekten und Schnecken, zu finden wären» (ebd.). Selbst die Architektur des Gehirns ist bei Menschen und Tieren nicht wesentlich verschieden. Wie auch Gerhard Roth (1997) bemerkt, kann am menschlichen Gehirn «im Vergleich zu den ihm stammesgeschichtlich nahestehenden Tieren nichts grundlegend Neues und Anderes festgestellt werden» (S. 76). Lernen lässt sich daher ohne weiteres auf einer höchst abstrakten Ebene als Veränderung in der Verbindung von Nervenzellen definieren. Auch erforschen lässt sich das Lernen – wie schon im Behaviorismus – genauso gut an Tieren wie am Menschen.

Was können ein Lehrer und eine Lehrerin mit diesem Lernbegriff anfangen? Kann der Gehirnscan eines Schülers, der den Satz des Pythagoras partout nicht verstehen will, der ratlosen Lehrperson weiterhelfen?

Wie es bei Manfred Spitzer (2002) heisst, «besteht jegliches Lernen neurobiologisch betrachtet in der Veränderung der Stärke synaptischer Übertragung. Immer dann, wenn gelernt wird, nimmt die Stärke der Verbindung zwischen Neuronen zu» (S. 277). In ihrer didaktischen Belanglosigkeit ist eine solche Aussage kaum zu überbieten. Was können ein Lehrer und eine Lehrerin mit diesem Lernbegriff anfangen? Kann der Gehirnscan eines Schülers, der den Satz des Pythagoras partout nicht verstehen will, der ratlosen Lehrperson weiterhelfen? Wie das Lernen der behavioristischen Psychologie hat das Lernen der Neurowissenschaften mit dem schulischen Lernen wenig bis gar nichts zu tun. Wie der Erziehungswissenschaftler Thomas Müller (2007) zu Recht feststellt, ist pädagogisch nicht ein Lernbegriff gefordert, der sich auf die Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen abstützt, «sondern auch oder gerade Diskontinuitäten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Spezies berücksichtigt» (S. 211).

Sinnhaftes Lernen

Schulisches Lernen ist auf Inhalte bezogen, die Sinn machen und eine sachliche Gliederung aufweisen, an der sich die Gestaltung des Unterrichts orientieren kann. Im Lernverständnis der Hirnforschung haben Inhalte aber keinen Platz, weshalb sich sinnhaftes Lernen in den neurologischen Strukturen des Gehirns auch nicht abbilden lässt. Wenn sich Manfred Spitzer (2002) dem Mathematikunterricht zuwendet, wechselt er daher nicht zufällig das Sprachspiel. «Gerade in der Mathematik» sei «die so viel zitierte Vernetzung der zu lernenden Inhalte von grösster Bedeutung» (S. 275 – meine Hervorhebung). Damit hat er den formalen und abstrakten Lernbegriff der Neurowissenschaften hinter sich gelassen, muss sich aber nun die Frage gefallen lassen, wie er den Rollenwechsel vom Spezialisten für synaptische Verbindungen zum Mathematikdidaktiker bewerkstelligen kann. Lernen im Mathematikunterricht ist sinnvolles Lernen und setzt voraus, dass die Lernenden verstehen, worum es geht. Ein Gehirn dagegen versteht nichts davon, was in ihm abläuft.

Nach geläufiger Ansicht ist Verstehen Einordnen in einen grösseren Zusammenhang. Damit besteht immer die Möglichkeit des Missverstehens. Dann nämlich, wenn der Lerngegenstand in einen falschen oder unpassenden Kontext eingeordnet wird. Schulisches Lernen steht daher auch unter dem normativen Anspruch, richtig oder falsch zu sein. Auch dafür findet sich im Gehirn keine Entsprechung. Denn genauso wenig wie es im Gehirn einen Massstab gibt, mit dem sich über wahr oder falsch entscheiden liesse, gibt es einen Massstab, um Richtiges und Falsches abzumessen. Auch Irrtümer gibt es im Gehirn nicht, während sich sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrerinnen und Lehrer in Vielem irren können. Was immer mit dem Begriff der Neurodidaktik gemeint ist, begründen lässt sich schulisches Lernen mit den Mitteln, die von den Neurowissenschaften zur Verfügung gestellt werden, nicht. Ralph Schumacher (2006) spricht daher zu Recht von der prinzipiellen Unterbestimmtheit der Hirnforschung im Hinblick auf die Gestaltung von schulischem Unterricht.

Es ist unnötig zu betonen, dass auch in der Schule ohne Gehirne nicht gelernt werden kann. Die Rede vom «gehirngerechten» oder «gehirnbasierten» Lernen ist daher pleonastisch, denn selbstverständlich hat alles Lernen eine neurologische Grundlage. Aber bei der Unterrichtsgestaltung spielen die Gehirne der Schülerinnen und Schüler bestenfalls eine Nebenrolle. Zwar findet ohne Veränderung in den neuralen Netzwerken der Schülerinnen und Schüler kein Lernen statt, von ausschlaggebender Bedeutung für das Handeln der Lehrerinnen und Lehrer sind diese Veränderungen aber nicht, und sei es nur, weil den Lehrpersonen der Blick ins Gehirn der Lernenden verwehrt ist.

Besonnene Vertreterinnen und Vertreter der Neurowissenschaften sind sich dieser Tatsache bewusst. Sie zeigen sich skeptisch gegenüber den überzogenen Versprechungen von Neuropädagogik und Neurodidaktik, wie zum Beispiel der Zürcher Neuropsychologe Lutz Jäncke (2009), der «eine metastatisch anmutende Flut von wenig durchdachten Übertragungsversuchen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse auf den Schulalltag» (S. 47) beobachtet. Noch weiter geht ein dezidierter Kritiker der Neuropädagogik wie Jeffrey Bowers (2016): «Es ist schwer zu sehen, wie die Neuropädagogik den Unterricht jemals wird verbessern können» (S. 607 – eigene Übersetzung).

Da Lehrpersonen in neurowissenschaftlicher Hinsicht in der Regel Laien sind, sind die Studien nicht ohne Brisanz. Die Glaubwürdigkeit einer Erklärung psychischer Phänomene scheint für neurowissenschaftliche Laien grösser zu sein, wenn auf Hirnstrukturen und Hirnfunktionen verwiesen wird, als wenn lediglich Verhaltensdaten im Spiel sind.

Die Nervenzelle als Urgrund des Seins

Fragen wir uns noch, weshalb die Hirnforschung in pädagogischen Kreisen so viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermag. Offenbar geht von neurowissenschaftlichen Studien eine verführerische Suggestivkraft aus. Darauf deutet eine Studie hin, in der drei Gruppen von Versuchspersonen – Laien, Studierende einer neurowissenschaftlichen Einführungsveranstaltung sowie Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler – Aussagen vorgelegt wurden, die sie hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit zu beurteilen hatten (vgl. Weisberg, Keil, Goodstein, Rawson & Gray, 2008). Die Aussagen enthielten Erklärungen für psychische Phänomene, die 1) entweder in sich schlüssig (gute Erklärung) oder nicht schlüssig (schlechte Erklärung) waren und sich auf neuropsychologische Begründungen stützten, die 2) entweder sachlich relevant oder sachlich irrelevant waren. Die vier Aussagenvarianten wurden kombiniert und den drei Versuchsgruppen vorgelegt. Es zeigte sich, dass die beiden Nicht-Expertengruppen (Laien und Studierende) schlechte Erklärungen für psychische Phänomene eher für korrekt hielten, wenn sie mit neurowissenschaftlichen Hinweisen versehen waren, und zwar auch dann, wenn die Hinweise sachlich irrelevant waren. Die dritte Versuchsgruppe (neurowissenschaftliche Expertinnen und Experten) liessen sich erwartungsgemäss durch die sachwidrigen Hinweise nicht beirren. Die Ergebnisse sind inzwischen durch weitere Studien bestätigt worden (vgl. Weisberg, Taylor & Hopkins, 2015).

Ein naturalistischer Reduktionismus nach dem Motto «Geist ist, was das Gehirn tut», scheint sich nicht nur in unserer Gesellschaft generell, sondern insbesondere auch in pädagogischen Kreisen breitzumachen.

Da Lehrpersonen in neurowissenschaftlicher Hinsicht in der Regel Laien sind, sind die Studien nicht ohne Brisanz. Die Glaubwürdigkeit einer Erklärung psychischer Phänomene scheint für neurowissenschaftliche Laien grösser zu sein, wenn auf Hirnstrukturen und Hirnfunktionen verwiesen wird, als wenn lediglich Verhaltensdaten im Spiel sind. Von Bildern von Gehirnen und Gehirnschnitten scheint eine zusätzliche Suggestivität auszugehen, wie eine weitere Studie zeigt (vgl. McCabe & Castel, 2008). Je tiefer eine Erklärung in die neuronalen Grundlagen unserer Existenz hinabreicht, desto eher scheint ihr Vertrauen entgegengebracht zu werden. Ein naturalistischer Reduktionismus nach dem Motto «Geist ist, was das Gehirn tut», scheint sich nicht nur in unserer Gesellschaft generell, sondern insbesondere auch in pädagogischen Kreisen breitzumachen. Als ob in der Nervenzelle der Urgrund menschlichen Seins liegen würde.

Ausblick

Das ist ein problematischer Trend, insbesondere im Hinblick auf die einleitend angesprochene Thematik einer Pädagogischen Anthropologie. Problematisch ist der naturalistische Reduktionismus, weil das Gehirn aus seiner Einbettung in biologische, soziale und kulturelle Kontexte herausgelöst und zur «eigentlichen» Determinante für pädagogische Entscheidungen erklärt wird. Dadurch ergibt sich ein armseliges Bild dessen, was den Menschen ausmacht und was die Aufgaben von Bildung und Erziehung sind. Der Reduktionismus verbindet sich mit einem verfehlten Glauben an den Determinismus, womit der Überzeugung von der Bildsamkeit des Menschen zu vernünftiger und verantwortlicher Selbstbestimmung gleichsam der Boden unter den Füssen weggezogen wird.

Ich werde daher in einem folgenden Beitrag für den Condorcet-Blog, der noch in Ausarbeitung ist, einen alternativen Zugang zur Nutzung der Neurowissenschaften diskutieren und dabei das Brückenproblem, wie ich es genannt habe, ins Zentrum stellen. Solange menschliche Gehirne nicht direkt beeinflussbar sind, liegt zwischen der Lehrperson und ihren Schülerinnen und Schülern ein Meer von Bedeutungen – der Neuropädagoge Paul Howard-Jones (2008) spricht von einem «Meer von Symbolen, die die menschliche Kommunikation in all ihren Formen repräsentieren» (S. 373 – eigene Übersetzung). Dieses Meer an Symbolen und Zeichen muss durchquert bzw. überbrückt werden, wenn Lernen in Gang gesetzt werden soll. Wie dieses Meer angesichts von Gehirnen, in denen sich nichts dergleichen wie Sinn und Bedeutung findet, im Verlauf der evolutionären und kulturellen Geschichte des Menschen entstehen konnte, ist die Frage, der ich nachgehen möchte.

Literaturverzeichnis

Battro, Antonio M. (2010). The Teaching Brain. Mind, Brain and Education, 4, 28-33.

Bennett, Maxwell R. & Peter M. S. Hacker (2010). Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Bowers, Jeffrey S. (2016). The Practical and Principled Problems With Educational Neuroscience. Psychological Review, 123, 600–612.

Braun, Anna Katharina & Michaela Meier (2004). Wie Gehirne laufen lernen oder: «Früh übt sich, wer ein Meister werden will». Überlegungen zu einer interdisziplinären Forschungsrichtung «Neuropädagogik». Zeitschrift für Pädagogik, 50, 507-520.

Bruer, John T. (1997). Education and the Brain: A Bridge Too Far. Educational Researcher, 26(8), 4-16.

Das Manifest (2004). Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. Gehirn & Geist, Heft 6, 30-37.

Dichgans, Johannes (1994). Die Plastizität des Nervensystems. Konsequenzen für die Pädagogik. Zeitschrift für Pädagogik, 40, 229-246.

Falkenburg, Brigitte (2012). Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die Hirnforschung? Berlin: Springer.

Feiler, Jacob B. & Maureen E. Stabio (2018). Three Pillars of Educational Neuroscience from Three Decades of Literature. Trends in Neuroscience and Education, 13, 17-25.

Fuchs, Thomas (2020). Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie. Berlin: Suhrkamp.

Fuller, Jocelyn K. & James G. Glendening (1985). The Neuroeducator: Professional of the Future. Theory Into Practice, 24, 135-137.

Giesinger, Johannes (2006). Erziehung der Gehirne? Willensfreiheit, Hirnforschung und Pädagogik. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9, 97-109.

Hasler, Felix (2012). Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Bielefeld: transcript.

Herrmann, Ulrich (2004). Gehirnforschung und die Pädagogik des Lehrens und Lernens: Auf dem Weg zu einer «Neurodidaktik»? Zeitschrift für Pädagogik, 50. 471-474.

Herrmann, Ulrich (2008). Lernen – vom Gehirn aus betrachtet. Wie schulisches Lernen verbessert werden kann: Neurowissenschaften und Pädagogik auf dem gemeinsamen Weg zur Neurodidaktik. Gehirn & Geist, Heft 12, 44-48.

Howard-Jones, Paul (2008). Philosophical Challenges for Researchers at the Interface between Neuroscience and Education. Journal of Philosophy of Education, 42, 361-380.

Huber, Matthias (2015). Neuropädagogische Massgeblichkeiten? Pädagogische Spurensicherung neurowissenschaftlicher Bildungsempfehlungen. In Sabine Krause & Ines Maria Breinbauer (Hrsg.), Im Raum der Gründe. Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft IV (S. 161–184). Würzburg: Königshausen & Neumann.

Hüther, Gerald (2004). Die Bedeutung sozialer Erfahrungen für die Strukturierung des menschlichen Gehirns. Welche sozialen Beziehungen brauchen Schüler und Lehrer? Zeitschrift für Pädagogik, 50, 487-495.

Jäncke, Lutz (2009). Neuro-Pädagogik: Ein Irrtum? Journal für Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 9(4), 33-49.

Kagan, Jerome (2000). Die drei Grundirrtümer der Psychologie. Weinheim: Beltz.

Kay, Lily E. (2005). Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code? Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Keil, Geert (2009). Willensfreiheit und Determinismus. Stuttgart: Reclam.

Markowitsch, Hans J. (2004). Warum wir keinen freien Willen haben. Der sogenannte freie Wille aus Sicht der Hirnforschung. Psychologische Rundschau, 55, 163-168.

Mausfeld, Rainer (2007). Über Ziele und Grenzen einer naturwissenschaftlichen Zugangsweise zur Erforschung des Geistes. In Adrian Holderegger, Beat Sitter-Liver, Christian W. Hess & Günter Rager (Hrsg.), Hirnforschung und Menschenbild. Beiträge zur interdisziplinären Verständigung (S. 21-39). Freiburg i.Ue.: Academic Press.

McCabe, David P. & Alan D. Castel (2008). Seeing Is Believing: The Effect of Brain Images on Judgments of Scientific Reasoning. Cognition, 107, 343-352.

Metzinger, Thomas (2006). Der Preis der Selbsterkenntnis. Gehirn & Geist, Heft 7/8, 42-49.

Müller, Thomas (2007). Lernende Gehirne. Anthropologische und pädagogische Implikationen neurobiologischer Forschungspraxis. In Ulrike Mietzner, Heinz-Elmar Tenorth & Nicole Welter (Hrsg.), Pädagogische Anthrolpologie – Mechanismus einer Praxis (S. 202-219). Weinheim: Beltz.

Pauen, Michael (2007). Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes. München: Deutsche Verlags Anstalt.

Pauen, Michael & Gerhard Roth (2008). Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Pflüger, Hans-Joachim (2006). Von den Neurowissenschaften erziehen lernen? In Annette Scheunpflug & Christoph Wulf (Hrsg.), Biowissenschaft und Erziehungswissenschaft (S. 43-49). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Prinz, Wolfgang (2004a). Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch. In Christian Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente (S. 20-26). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Prinz, Wolfgang (2004b). Kritik des freien Willens. Bemerkungen über eine soziale Institution. Psychologische Rundschau, 55, 198-206.

Rösler, Frank (2004). Es gibt Grenzen der Erkenntnis – auch für die Hirnforschung! Gehirn & Geist, Heft 6, 32.

Roth, Gerhard (1997). Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Roth, Gerhard (2004a). Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise? Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 52, 223-234.

Roth, Gerhard (2004b). Warum sind Lehren und Lernen so schwierig? Zeitschrift für Pädagogik, 50, 496-506.

Roth, Gerhard (2008). Homo neurobiologicus – ein neues Menschenbild? Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 44/45, 6-12.

Roth, Gerhard (2009). Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Schumacher, Ralph (2006). Die prinzipielle Unterbestimmtheit der Hirnforschung im Hinblick auf die Gestaltung schulischen Lernens. In Dieter Sturma (Hrsg.), Philosophie und Neurowissenschaften (S. 167-186). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Singer, Wolf (2002a). Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Singer, Wolf (2002b). «Ein Frontalangriff auf unser Selbstverständnis und unsere Menschenwürde». Interview mit Wolf Singer und Thomas Metzinger. Gehirn & Geist, Heft 4, 32-35.

Singer, Wolf (2003). Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Singer, Wolf (2004). Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. In Christian Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente (S. 30-65). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Spitzer, Manfred (2002). Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Berlin: Springer.

Spitzer, Manfred (2003). Unter Strom. Die Hirnforschung darf als Schlüssel zum Lernen nicht ignoriert werden. Frankfurter Rundschau Nr. 251 vom 28.10.2003, S. 31.

Szücs, Dénes & Usha Goswami (2007). Educational Neuroscience: Defining a New Discipline for the Study of Mental Representations. Mind, Brain, and Education, 1, 114-127.

Tetens, Holm (1994). Geist, Gehirn, Maschine. Philosophische Versuche über ihren Zusammenhang. Stuttgart: Reclam.

Weisberg, Deena Skolnick, Frank C. Keil, Joshua Goodstein, Elizabeth Rawson & Jeremy R. Gray (2008). The Seductive Allure of Neuroscience Explanations. Journal of Cognitive Neuroscience, 20, 470-477.

Weisberg, Deena Skolnick, Jordan C. V. Taylor & Emily J. Hopkins (2015). Deconstructing the seductive allure of neuroscience explanations. Judgment and Decision Making, 10, 429-441.

Wuketits, Franz M. (2008). Die Illusion des freien Willens. Aus Politik und Zeitgeschehen Nr. 44/45, 1-5.

 

 

The post Lehrende und lernende Gehirne. Abgesang auf die Neuropädagogik, Teil 3 first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/07/lehrende-und-lernende-gehirne-abgesang-auf-die-neuropaedagogik-teil-3/feed/ 1
Hirnaktivität von Kindern durch viel Bildschirmzeit gestört https://condorcet.ch/2023/02/hirnaktivitaet-von-kindern-durch-viel-bildschirmzeit-gestoert/ https://condorcet.ch/2023/02/hirnaktivitaet-von-kindern-durch-viel-bildschirmzeit-gestoert/#respond Wed, 22 Feb 2023 09:47:45 +0000 https://condorcet.ch/?p=13193

Der Deutschlandfunk hat es in der Vergangenheit nie versäumt, das deutsche Schulsystem ob seiner mangelnden Digitalisierung zu kritisieren. Umso überraschender ist der Beitrag des Senders, den die Redaktion des Condorcet-Blogs für Sie entdeckt hat.

The post Hirnaktivität von Kindern durch viel Bildschirmzeit gestört first appeared on Condorcet.

]]>

Für manche Eltern mag es eine Entlastung sein, wenn sich die Kleinen Videos oder anderes auf dem Smartphone angucken. Diese Bildschirmzeit kann aber langfristig die Hirnaktivität negativ beeinflussen.

Forschende aus Singapur haben mit einer Langzeitstudie untersucht, wie sich die Nutzung von Fernsehen oder Smartphones auf Kleinkinder auswirken. Dazu haben sie 437 Kinder seit der Schwangerschaft ihrer Mütter begleitet.

Gastautorin Sonja Meschkat vom Deutschlandfunk

Im Alter von 12 Monaten haben die Forschenden die Mütter nach dem Bildschirmkonsum ihrer Kinder befragt. Als die Kinder 18 Monaten alt waren, haben die Forschenden Elektroenzephalogramme (EEG) ihrer Hirnströme erstellt. Im Alter von 9 Jahren haben die Kinder an einer neuropsychiatrischen Untersuchung teilgenommen und ihre Lehrer und Lehrerinnen wurden zu ihrem Verhalten befragt. Die Forschenden wollten so herausfinden, wie sich die Bildschirmzeit auf ihre Hirnaktivität, aber auch auf ihre Konzentrationsfähigkeit, Impulsivität und die Fähigkeit, Aufgaben zu lösen, auswirkt, erklärt Neurowissenschaftler Henning Beck.

Ihre Ergebnisse haben sie Ende Januar 2023 in der Fachzeitschrift Neuroscience vorgestellt.

Weniger aufmerksam und konzentriert

In den EEG habe sich gezeigt, dass die Hirnströme sich durch viel Bildschirmzeit verändert haben. So gebe es mehr langsamere Wellen, die laut der Forschenden für eine schlechtere Aufmerksamkeitskontrolle oder eben Konzentrationsfähigkeit verantwortlich sein können. Die Kinder können dann Aufgaben weniger gut priorisieren, sich nicht so gut oder lange fokussieren, schweifen leichter ab oder verlieren schneller das Interesse an mehrstufigen Aufgaben, erklärt Henning Beck. “Das setzt sich dann bis ins spätere Leben fort, also bis zum Alter von neun Jahren”, so der Neurowissenschaftler.

Die Hirnströme der Kinder verändern sich durch viel Bildschirmzeit

In der Regel sei die Entwicklung bei Kindern so, dass sie sich mit zunehmendem Alter besser oder länger auf Aufgaben konzentrieren können. Daraus leitet sich auch die Schulfähigkeit ab dem sechsten oder siebten Lebensjahr ab. “Diese kognitiven Kontrollfunktionen werden eigentlich immer besser mit der Zeit”, sagt Henning Beck. Aus seiner Sicht ist das Erschreckende an der Studie, dass genau diese Fähigkeit durch Technik oder Smartphone-Nutzung gestört wird.

Zur Handlungsunfähigkeit trainiert?

Der ständige Informationsfluss und die immer neuen Angebote in Form von Apps hindere die Kinder daran, ihre “exekutiven Funktionen zu trainieren”. Das sind Funktionen, die dafür sorgen, dass eintreffende Informationen genutzt werden, um eigene Entscheidungen zu treffen. Diese Funktionen seien wichtig, um eigene Handlungsziele zu entwickeln und umzusetzen.

    “Die durchschnittliche Bildschirmzeit von Einjährigen lag bei zwei Stunden am Tag in dieser Studie.”

Dr. Henning Beck, Neurowissenschaftler und Biochemiker

Das bedeute aber nicht, dass Smartphones für Kinder jetzt ganz verboten werden müssten, meint Henning Beck, sondern dass sie dosiert genutzt werden sollten. Das empfiehlt der Neurowissenschaftler aber nicht nur für Kindern, sondern auch für Erwachsene. “Dass man immer Zeiten oder Räume hat, in denen man solche Geräte nicht nutzt”, sagt der Neurowissenschaftler. So können wir unser Gehirn darauf trainieren, in diesen Räumen oder Zeiten besser abzuschalten oder uns besser zu konzentrieren.

 

The post Hirnaktivität von Kindern durch viel Bildschirmzeit gestört first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/02/hirnaktivitaet-von-kindern-durch-viel-bildschirmzeit-gestoert/feed/ 0