Neoliberalismus - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 12 Oct 2022 07:55:17 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Neoliberalismus - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Ökonomisierte Bildung – Überlegungen zu neoliberalen Bildungsreformen und ihren Folgen https://condorcet.ch/2022/10/oekonomisierte-bildung-ueberlegungen-zu-neoliberalen-bildungsreformen-und-ihren-folgen/ https://condorcet.ch/2022/10/oekonomisierte-bildung-ueberlegungen-zu-neoliberalen-bildungsreformen-und-ihren-folgen/#comments Mon, 10 Oct 2022 13:40:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=11911

Der Condorcet-Blog ist ein Diskursblog, der von linken, liberalen und konservativen Persönlichkeiten gemeinsam betrieben wird. Es freut uns daher sehr, dass wir mit Dominic Iten einen pointiert linken Bildungsfachmann als Autor aufschalten dürfen. Seine Analysen des Ist-Zustands werden wohl auf viel Zustimmung stossen. Bei der Ursachenforschung dürfte es auch Widerspruch geben. Der WOZ-Journalist und Widerspruch-Herausgeber sieht die Anfänge der Ökonomisierung unserer Bildungslandschaft in den USA.

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Dominic Iten, Lehrer in Bern, Redaktor des Widerspruch: Ein Teil der Linken hat hier mitgemacht.

Die neoliberale Wende: Das Paradebeispiel USA

Die Umsetzung der neoliberalen Agenda hat ein Eindringen von ökonomischen Prinzipien in sämtliche Lebensbereiche zur Folge: Alles wird zur Ware – auch die Bildung und jene, die sie vermitteln oder sich aneignen. Entgegen geläufigen Vorstellungen bedeutete die neoliberale Wende aber nicht das Zurückstutzen des Staates bis zu seiner Bedeutungslosigkeit. Vielmehr soll er die optimalen Rahmenbedingungen für einen Wettbewerb schaffen, der das Kapital begünstigt, und nur dort eingreifen, wo Korrekturen vonnöten sind. Staatsausgaben werden reduziert und die ehemals verstaatlichten Bereiche so weit privatisiert, als sich damit profitable Geschäfte machen lassen.

Das Individuum wird ins Zentrum gerückt, die individuelle Leistung wird zur massgeblichen Bestimmungsgrösse für den Wert des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft.

Demokraten und Republikaner haben in den USA die Bildungsreformen zu verantworten.

Die USA gelten als Paradebeispiel für einen neoliberalen Umbau des Bildungswesens. Mit dem Amtsantritt von Ronald Reagan, der präsidialen Speerspitze des Neoliberalismus, lässt sich dieser Wandel eindrücklich nachvollziehen: War die öffentliche Volksschule in den USA bis in die frühen 80er Jahre eine weitgehend anerkannte Institution, wurde die Bildung nun zunehmend dem Markt überlassen. Typischerweise geht damit eine verstärkte Evaluationstätigkeit einher: Schulische Leistungen werden mittels standardisierten Tests gemessen und überprüft, Schulen und Lehrpersonen haften für die Qualität des Unterrichts. Sollten die erbrachten Leistungen den eingeführten Standards nicht genügen, hat dies Schulschliessungen und Entlassungen der Bildungsverantwortlichen zur Folge. Sowohl Erfolg als auch Misserfolg hat jede:r selbst zu verantworten: Das Individuum wird ins Zentrum gerückt, die individuelle Leistung wird zur massgeblichen Bestimmungsgrösse für den Wert des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft. Der Staat soll genau dafür die nötigen Anreize setzen. In der Konkurrenz mit privaten Anbietern sollen die öffentlichen Schulen zu mehr Effektivität und Effizienz gezwungen werden. Marktkräfte mussten entfesselt, öffentliche Dienstleister wie die Schule durch private Konkurrenten herausgefordert werden.

Die Durchsetzung der Bildungs- und anderer neoliberaler Reformen konnte nur unter tatkräftiger Mithilfe sozialdemokratischer und gesellschaftlicher Kräfte gelingen.

Fitzgerald Crain, ehemaliger Dozent für pädagogische Psychologie an der Universität Basel und Professor an der Pädagogischen Hochschule FHNW

Der Fluss öffentlicher Gelder wurde also nicht eingestellt, sondern umgeleitet: Fitzgerald Crain, ehemaliger Dozent für pädagogische Psychologie an der Universität Basel und Professor an der Pädagogischen Hochschule FHNW, stellt fest: «Die Privatisierung wurde schliesslich dadurch gefördert, dass öffentliche Gelder in private beziehungsweise halbprivate Bildungseinrichtungen – die sogenannten ‘Charter Schools’ – umgeleitet wurden. Eine Parallelwelt von Unternehmen, die sich mit Testentwicklung, Testdurchführung, Schulentwicklung und Beratung befasst, etablierte sich.» Diese in den 80er Jahren angestossene Entwicklung wurde bis heute weitergefördert, unabhängig davon, ob sich das Land gerade unter demokratischer oder republikanischer Führung befand. Es spricht für die Wirkmächtigkeit des neoliberalen Paradigmas, dass seine Forderungen zu wesentlichen Teilen in die Programmatik seiner ‘Gegner’ eingeflossen sind. Dass sich die Sozialdemokratien im Laufe der vergangenen Jahrzehnte von ihrem ursprünglichen Ziel, der Überwindung der Marktwirtschaft, abgewandt und inzwischen ihr reibungsloses Funktionieren zu ihrem Ziel erklärt haben, ist für den Erfolg neoliberaler Politik entscheidend gewesen. Die Durchsetzung der Bildungs- und anderer neoliberaler Reformen konnte nur unter tatkräftiger Mithilfe sozialdemokratischer und gesellschaftlicher Kräfte gelingen.

Die öffentliche Schule wird im Vergleich mit den privaten und halb privaten Schulen tendenziell schlechter, was unter Umständen zu Schulschliessungen oder Umwandlungen in halbprivate Charter Schools führt.

Vordergründig wurde mit diesem Wandel eine Verbesserung des Schulsystems und die Förderung von Chancengleichheit angestrebt. In Wahrheit ging es natürlich um die Bereinigung der ökonomischen Krise der 70er Jahre im Rahmen einer umfassenderen Reduktion der Sozialausgaben und einer insgesamt restriktiven, prozyklischen Haushaltspolitik. Entsprechend die Folgen: Crain weist darauf hin, dass die standardisierten Tests für die Schulen und die Schüler:innen in einem Masse entscheidend werden, dass Bildung zu einem ‘Teaching to the test’ verkommt. Das mag zwar bessere Testresultate hervorbringen, hat aber ein Abfallen des allgemeinen Bildungsniveaus zur Folge, auch weil Fächer wie Geschichte an Bedeutung verlieren, da sie nicht getestet werden. «Die Idee einer Bildung im umfassenden Sinn geht verloren. Die öffentliche Schule wird immer mehr zur Restschule, da sämtliche Kinder aufgenommen werden müssen, während die halbprivaten Charter Schools wie natürlich auch die privaten Schulen Kinder mit einer Behinderung, leistungsschwache oder verhaltensauffällige SchülerInnen nicht aufnehmen müssen und sie vom Unterricht ausschliessen können.» Die öffentliche Schule wird im Vergleich mit den privaten und halb privaten Schulen tendenziell schlechter, was unter Umständen zu Schulschliessungen oder Umwandlungen in halbprivate Charter Schools führt.

Auf Seiten der Linken stand zwar Bildungsgerechtigkeit im Zentrum der angestrebten Bildungspolitik. Damit war aber in erster Linie die Überwindung des Bildungsföderalismus und die Etablierung nationaler Bildungsstandards gemeint, an denen sich der künftige Schulunterricht orientieren sollte.

Die Idee einer Bildung im umfassenden Sinn geht verloren.

Die Entwicklung in den USA ist ein etwas zugespitzter Vorläufer dessen, was sich in der Schweiz nach 1989 beobachten lässt: Auch hier passte sich die politische Linke dieser Grundströmung zu wesentlichen Teilen an. Die Schweizer Sozialdemokratie einigte sich mit den Bürgerlichen darauf, dass die Schweiz als Wirtschaftsstandort und im Hinblick auf die moderne Wissensgesellschaft auch eine leistungsstarke Bildung brauche. Auf Seiten der Linken stand zwar Bildungsgerechtigkeit im Zentrum der angestrebten Bildungspolitik. Damit war aber in erster Linie die Überwindung des Bildungsföderalismus und die Etablierung nationaler Bildungsstandards gemeint, an denen sich der künftige Schulunterricht orientieren sollte. Auch hier sind also Evaluationen und Testverfahren gefragt, um die einzelnen Schulen und Lehrkräfte auf eine Linie zu bringen. Dieses Begehren wurde mittels parteiübergreifender Annahme des Bildungsartikels von 2006 ermöglicht, in dessen Gefolge der Lehrplan 21, entsprechende Lehrmittel und flächendeckende Vergleichstests eingeführt wurden. Auch wenn der neue Lehrplan die Sicherung der Qualität im Bildungswesen mithilfe der neu eingeführten Bildungsstandards verspricht und die Tests angeblich der individuellen Förderung der Schüler:innen dienen sollen – in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft ist die Folge von Standardisierung und Testverfahren erhöhter Druck, verstärkte Konkurrenz, Orientierung an Ranglisten, Vereinzelung und Verringerung kooperativen Verhaltens.

Ökonomisierung des Bildungswesens I: Gestärkte Schulautonomie

Bis heute sind die Ausgaben der öffentlichen Hand für die Finanzierung privater Dienstleistungen der Bildungs- und Testindustrie weiter gestiegen. Im Zuge der Ausrichtung der Bildungsprozesse auf die Bedürfnisse der Wirtschaft hat die Evaluation von Schüler:innen, Lehrkräften und Schulen und damit der Wettbewerb zwischen ihnen weiter zugenommen. Das drängt humanistische Bildungsziele in den Hintergrund, während instrumentelles, beruflich verwertbares Wissen einen Bedeutungszuwachs erfährt. Die öffentliche Bildungspolitik wird über Engagements bei Bildungsinitiativen, Sponsoring von Veranstaltungen, Schulmaterial und Lehrmitteln oder auch über den Auf- und Ausbau privater Fort- und Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte und Schüler:innen zunehmend durch nicht demokratisch legitimierte Akteure wie Stiftungen, NGOs oder Unternehmen bestimmt. Richard Münch hat diese Prozesse in seinen Arbeiten zur Schule im Wettbewerbsstaat überzeugend beleuchtet und anhand zahlreicher Beispiele belegt. Er weist darauf hin, dass sich die Schule weit davon entfernt hat, die in der Gesellschaft beobachtbaren Verwerfungen, Ungleichheiten und Konflikte aufzulösen. Wenn sich internationale Organisationen, Denkfabriken, missionarische Milliardärsstiftungen und Bildungsreformer mit der Bildungs- und Testindustrie zusammenschliessen, um die Bildung einer minutiösen externen Kontrolle zu unterwerfen, hat dies eben keine Einebnung gesellschaftlicher Unterschiede, sondern eine Restaurierung der Klassenverhältnisse zur Folge.

Die Stärkung der Schulautonomie geht mit einer Vernachlässigung der lokalen Verhältnisse und der Anliegen der schulischen Akteure einher.

Bildungsmärkte sind als eine legalisierte Form von Diskriminierung und als wesentliche Treiber der Segregation zu verstehen.

Ein anschauliches Beispiel für die Kluft zwischen Versprechen und realen Folgen der durchgesetzten Reformen ist die freie Schulwahl beziehungsweise die Stärkung der Schulautonomie. Seit den 1970er Jahren wird diese mit einer Demokratisierung der Schule in Verbindung gebracht. Autonome Schulen sollen eigenständige pädagogische Konzepte erarbeiten, die sich an den Bedürfnissen ihrer Schüler:innen, deren Eltern, den Lehrkräften und den lokalen Eigenheiten ausrichten. Tönt gut, eingetreten ist aber das Gegenteil: Die Stärkung der Schulautonomie geht mit einer Vernachlässigung der lokalen Verhältnisse und den Anliegen der schulischen Akteure einher. Von dem Wettbewerb profitieren nur die ohnehin besser gestellten Schulen, während die Probleme in den schlechter gestellten Schulen zunehmen. Die Schulen treten durch die Reform in einen Wettbewerb untereinander und sind zu verstärkter Rechenschaft verpflichtet, was zu Konkurrenzdruck führt. Unter dem gesteigerten Druck bilden Schulen immer häufiger spezifische Profile heraus, um sich von der Konkurrenz zu unterscheiden und ein spezifisches Schülerklientel anzuziehen. Herbert Altrichter und Matthias Rürup haben 2010 darauf aufmerksam gemacht, dass dies, gepaart mit der Freigabe der Schulwahl, Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien «insofern diskriminiert, als ihre Mobilität aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, ihrer religiösen Zugehörigkeit und/oder ihrer familiären Bildungsarmut eingeschränkt ist.» Sally Tomlinson hat in Grossbritannien untersucht, wie sich die Entwicklung von Bildungsmärkten auf ethnische Minderheiten auswirkt und entdeckt Parallelen zu den USA. Erfolgsorientierte Schulen sehen sich gedrängt, Schüler:innen mit erhöhtem Förderbedarf abzulehnen, während die zwangsweise als Auffangbecken funktionierenden Schulen in benachteiligten Stadtvierteln für ihr vermeintlich selbstverschuldetes Bildungsversagen noch mit Budgetkürzungen oder Schliessungen bestraft werden. Insofern sind Bildungsmärkte als eine legalisierte Form von Diskriminierung und als wesentliche Treiber der Segregation zu verstehen. Typischerweise fehlt es dann auch ausgerechnet dort an angemessener pädagogischer Betreuung, wo pädagogische Kompetenz in besonderer Weise gefragt wäre: An Schulen in sogenannten sozialen Brennpunkten ist die Fluktuation an Lehrkräften und die Quote an Quereinsteiger:innen überdurchschnittlich hoch.

Weitreichende Schulautonomie, freie Schulwahl und die Einrichtung von Schulleitungen mit weitreichenden Kompetenzen sollten gute Schulleistungen erbringen.

Die Stärkung der Schulautonomie hat ihr Versprechen nicht einlösen können, weil es nicht ernst gemeint war. Die Revision der Volksschulgesetze gegen Ende der 1990er Jahre sowie die neoliberalen Reformen insgesamt spielten sich einerseits vor dem Hintergrund einer Wirtschaftslage ab, welche die öffentliche Hand zu Sparmassnahmen gezwungen hatte. Andererseits hatte sich die Bildungspolitik mit neuen Methoden der Verwaltungsführung auseinandergesetzt und war zum Schluss gekommen, dass weitreichende Schulautonomie, freie Schulwahl und die Einrichtung von Schulleitungen mit weitreichenden Kompetenzen gute Schulleistungen erbringen würden. Inspiriert von New-Public-Management-Konzepten sollte Schluss sein mit Übersteuerung, festgefahrenen Entscheidungswegen und Mangel an betriebswirtschaftlichem Führungsverständnis. Die geplanten Reformen zielten auf Steuerung von den Resultaten her, Trennung von operativer und strategischer Führung, Controlling, Evaluation, Führung der Lehrpersonen durch Schulleitungen. Vor diesem Hintergrund dürften die erzielten Resultate eigentlich kaum mehr überraschen.

Ökonomisierung des Bildungswesens II: Der Zugriff der Privatwirtschaft

Die seit der neoliberalen Wende drastisch gekürzten beziehungsweise umgeleiteten Mittel haben eine chronische Unterfinanzierung des Schulsystems zur Folge gehabt. Dies manifestiert sich nicht nur in baufälligen Schulgebäuden, tiefen Löhnen, Lehrkräftemangel, Abbau der Schulsozialarbeit, integrativem Unterricht und so weiter – sie leistet auch privaten Anbietern von Bildungsinhalten Vorschub. Das schulische Engagement von Unternehmen erstreckt sich von Sponsoring von Schulfesten über die Produktion und Verteilung von Lehr- und Lernmaterialien, bis hin zu Angeboten von Lehrkräfteweiterbildungen. Weil es den Schulen an der nötigen finanziellen Ausstattung fehlt, werden diese Angebote gerne angenommen. Das ist insofern problematisch, als die Lehr- und Lerninhalte davon nicht unberührt bleiben. Auch diese stehen unter dem Druck der Ökonomisierung und werden auf die praktisch verwertbaren Erfordernisse des Arbeitsmarktes zugeschnitten. Weil private Akteure vermehrt in die Schule eindringen, treten aufklärerische oder humanistische Bildungsinhalte zugunsten funktionaler in den Hintergrund. Verhalten und Einstellungen der Schüler:innen werden dadurch entscheidend mitgeprägt.

87.5% der Schulleitungen gab an, dass Wirtschaft und Industrie Einfluss auf ihre Lerninhalte ausüben würden.

Insbesondere im Kontext der Berufswahlvorbereitung werden Kooperationen mit Vertreter:innen der Privatwirtschaft bedeutsamer. Da können die Unternehmen dann nicht nur gezielte Nachwuchsgewinnung und -förderung betreiben, sondern auch gleich ihr Image bei der Jugend aufpolieren. Insgesamt lässt sich ein Bedeutungsverlust der ‘neutralen’ Instanzen zur Berufsorientierung (wie etwa Berufsberatung oder schulinterne Angebote) gegenüber den von Unternehmen dominierten Instanzen (wie Jobmessen oder Social Media) feststellen. Ein im Rahmen der PISA-Studie 2006 durchgeführte Befragung der Schulleitungen in Deutschland beweist das bedenkliche Ausmass, welche die Einflussnahme auf den Unterricht angenommen hat: 87.5% der Schulleitungen gab an, dass Wirtschaft und Industrie Einfluss auf ihre Lerninhalte ausüben würde.

Seit 40 Jahren unterstützt Apple Lehrerinnen und Lehrer dabei, das kreative Potenzial jedes einzelnen Schülers freizusetzen.

Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Digitalisierung und wie die Digitalkonzerne diese für sich nutzen. Apple wirbt etwa aktiv für die intensive Einbindung ihrer Produkte in den Unterricht: «Seit 40 Jahren unterstützt Apple Lehrerinnen und Lehrer dabei, das kreative Potenzial jedes einzelnen Schülers freizusetzen. Heute tun wir das auf mehr Arten als je zuvor. Und das nicht nur mit leistungsstarken Produkten. Sondern auch mit Werkzeugen, Inspirationen und Programmen, die Lehrkräften dabei helfen, geradezu magische Lernerlebnisse zu schaffen.» Dass die neuen Werkzeuge den Unterricht tatsächlich erleichtern können und neue Möglichkeiten der Unterrichtsgestaltung eröffnen, ist nicht zu bestreiten. Aber freilich steckt hinter diesem Angebot die Strategie, die Schüler:innen an die Produkte zu gewöhnen und ihre späteren Kaufentscheidungen vorwegzunehmen. Apple bietet auch zahlreiche auf den Unterricht ausgerichtete Apps und Weiterbildungsprogramme für Lehrkräfte an. Dort können sie ihre Kompetenzen im Umgang mit den angebotenen Apps stärken und diese gezielter im Unterricht einsetzen: iMovie, iBooks, Baiboard, Schoolwork, Classroom – diese Apps erleichtern nicht nur den Unterricht, sondern liefern dem Anbieter auch eine Fülle von verwertbaren Daten.

Kein Zurück

Die gestärkte Schulautonomie und der wachsende Zugriff privater Akteure auf die Schulen sind nur zwei Beispiele dafür, wie sich die Versprechen der neoliberalen Bildungsreformen in ihr Gegenteil verkehrt haben beziehungsweise sich als das erweisen, was sie von Anfang an gewesen sind: Eine Unterwerfung der Bildung unter die Gesetze des Marktes mithilfe eines neoliberal gewendeten Staates. Wenn mit mehr Schulautonomie nur gesteigerte Konkurrenz zwischen Schulen gemeint ist; wenn Förderung der Individualität bedeutet, dass jeder für sich selbst schauen muss und dadurch bestehende Unterschiede verschärft werden; wenn verstärkte Zusammenarbeit mit privaten Akteuren nur die Nutzbarmachung der Schüler:innen verbessern soll  – dann erweist sich die Einlösung neoliberaler Versprechen als Grauen.

Wir brauchen kein ‘Zurück’, sondern eine Befreiung der Bildung aus den kapitalistischen Zwängen.

Diese Ausführungen sollten nicht als Plädoyer für die Schule vor den Bildungsreformen verstanden werden. Als Reaktion auf die ökonomische Krise und die unübersichtlich gewordene Bildungslandschaft waren sie gewissermassen die logische Antwort eines kapitalistisch organisierten Bildungswesens. Insofern brauchen wir kein ‘Zurück’, sondern eine Befreiung der Bildung aus den kapitalistischen Zwängen.

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Bildungsdebakel und neoliberale Konzepte https://condorcet.ch/2022/09/bildungsdebakel-und-neoliberale-konzepte/ https://condorcet.ch/2022/09/bildungsdebakel-und-neoliberale-konzepte/#respond Mon, 12 Sep 2022 09:36:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=11500

Dr. Eliane Perret knüpft an die Ausführungen des Sekundarlehrers Iten an, der sich mit den Ursachen des Lehrkräftemangels beschäftigte (https://condorcet.ch/2022/09/lehrkraeftemangel-falsche-ursachen-verkehrte-schlussfolgerungen/). Auch sie legt den Fokus auf die neoliberalen Reformen der Vergangenheit.

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Der Mangel an Lehrkräften, die hohe Fluktuation in den Schulhäusern, fach- oder stufenfremdes Unterrichten und Burnouts sind seit einigen Jahren Probleme unserer Schulen. Eine Analyse der Ursachen (1) braucht den Blick auf die Vorgänge im Bildungswesen während mindestens der letzten drei Jahrzehnte. In dieser Zeit ist ein Tornado über die Schulen hinweggefegt. Zuvor war den Schweizer Schulen im internationalen Vergleich stets sehr hohe Qualität attestiert worden. Das änderte sich Mitte der 90er Jahre, als die OECD die Unesco (auf Druck der USA) aus deren Führungsaufgabe drängte. Die Wirtschaftsorganisation arbeitete fortan die Indikatoren aus, mit denen Bildungssysteme international verglichen werden sollten. Dazu konzipierte sie die Pisa-Tests. Sie hatten keinerlei Zusammenhang mit der europäischen Bildungstradition und den nationalen Bildungskonzepten und Lehrplänen, sondern gründeten auf dem anglo-amerikanischen Bildungssystem. Trotz des damit verbundenen Theorie- und Kulturbruchs gegenüber der europäischen Bildungstradition segneten die OECD-Länder das Pisa-Konzept ab. Der Schock über die unerwartet schlechten Resultate des ersten Pisa-Tests wirkte als Katalysator einer Reformkaskade, mit denen unser Volkschulsystem aus seinen demokratischen Strukturen herausgelöst wurde. Es kam zu Volksabstimmungen mit wenig transparenten, gesetzlichen Vorlagen, die ausreichend Spielraum für Verordnungen aufwiesen und mit denen umstrittene Massnahmen eingeführt werden konnten. Beispiele waren die Abstimmungen 2006 über einen  Bildungsartikel in der Bundesverfassung und die Errichtung des HarmoS-Konkordats. In einer der wenigen unabhängigen Studien wunderte man sich, wie locker diese grundlegenden Reformen in der Schweiz möglich waren (2).

Das Bildungwesen wurde damit zu einem Objekt neoliberaler Konzepte, welche aktueller Fehlentwicklungen bestimmen.

Einige Zeit zuvor (1995) waren von Welthandelsorganisation WTO globale Freihandelsverträge beschlossen worden. Eines dieser Abkommen war das General Agreement on Trade in Services GATS (=Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen). Es fordert einen laufenden Prozess der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, auch des Bildungswesens. Die Schweiz unterzeichnete dieses Abkommen 1995 und belegte es mit keiner der möglichen Ausnahmeklauseln. Das Bildungwesen wurde damit zu einem Objekt neoliberaler Konzepte, welche aktueller Fehlentwicklungen bestimmen.

Schulen und Universitäten als kundenorientierte Dienstleistungsunternehmen

Ernst Buschor, ehemaliger Professor für Betriebswirtschaftslehre an der HSG

NPM, diese drei Buchstaben stehen für New Public Management, zu deutsch Reform der öffentlichen Verwaltung (3). Es ist das Werkzeug neoliberaler Regierungen, mit dem öffentliche Ausgaben reduziert und aus dem Staat ein kundenorientiertes Dienstleistungsunternehmen gemacht werden soll. Mit NPM erfolgte nun die Umgestaltung unseres demokratisch organisierten und kontrollierten Bildungswesen zu einem betriebswirtschaftlichen gemanagten Schulbetrieb. Es ging um Sparprogramme, Effizienz und Effektivität. Im Kanton Zürich ist damit der Name des damaligen Regierungsrats Ernst Buschor verbunden. Der ehemalige Professor für Betriebswirtschaftslehre an der HSG übernahm 1995 die Leitung des Zürcher Erziehungsdepartements unter der Bedingung, es mit diesen Methoden umgestalten zu können. Es folgte ein Reformsturm – immer begründet mit Finanzknappheit, Spardruck und dringend notwendiger Modernisierung. (4)

Entdemokratisierung, Firmenstrukturen und CEOs

NPM gab also den Fahrplan vor, mit dem unsere Schulen zu Dienstleistungsunternehmen mit Globalbudgets und entsprechenden Hierarchieebenen umstrukturiert wurden. Dazu gehörten Firmenstrukturen: An Stelle des bisherigen Kollegialitätsprinzips traten Schulleitungen (=CEOs), die heute von Managern ohne Lehrbefähigung  und Unterrichtserfahrung übernommen werden können. Ein sehr wichtiger Reformpunkt war die Abschaffung der subsidiär organisierten Behördenstrukturen durch zentralisierte Verwaltungsbehörden: Schulleitungen statt Schulpflegen, Fachstellen für Schulbeurteilung statt Visitatoren usw. Sie machten eine Top-Down-Strategie zur Durchsetzung der Reformen möglich.

Viele LehrerInnen hatten genug, sie stiegen aus dem Beruf aus, übernahmen nur noch kleine Pensen oder suchten sich pädagogische Nischen.

Berufsbild völlig verändert.

Die Lehrkräfte wurden neu mit in der Privatwirtschaft üblichen Verträgen eingestellt, lohnwirksamen Mitarbeiterbeurteilungen unterzogen und erhielten einen neuen Berufsauftrag. Die Lehrerausbildung wurde im Kontext der von der OECD und dem Aktionsrahmen Bildung 2030 der Unesco neu konzipiert. An Stelle der Seminarien traten die  Pädagogische Hochschulen, an denen heute die Studierenden vorrangig in die methodischen und inhaltlichen Unterrichtsprinzipien (individualisierte Lernprogramme und Classroom-Management) aus dem anglo-amerikanischen Raum eingeführt werden. Das führte zu einem völlig veränderten Berufsbild von LehrerInnen.

Eine ehrlich geführte öffentliche Debatte über diesen Kulturwandel unseres Bildungswesens fand nie statt. Im Gegenteil, die kritischen Einwände und fundierten Analysen wurden nicht nur in den Wind geschlagen und als Verschwörungstheorien abgetan, sondern über Jahre hinweg mit einer für die Schweiz unüblichen, hässlichen Medienkampagne ausgeschaltet. Viele LehrerInnen hatten genug, sie stiegen aus dem Beruf aus, übernahmen nur noch kleine Pensen oder suchten sich pädagogische Nischen.

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Lehrkräftemangel : Falsche Ursachen, verkehrte Schlussfolgerungen https://condorcet.ch/2022/09/lehrkraeftemangel-falsche-ursachen-verkehrte-schlussfolgerungen/ https://condorcet.ch/2022/09/lehrkraeftemangel-falsche-ursachen-verkehrte-schlussfolgerungen/#comments Mon, 05 Sep 2022 11:36:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=11416

Statt die Gründe für den Mangel an Lehrkräften in der demografischen Entwicklung zu suchen, sollte der Fokus auf die Hauptursache gelegt werden: die neoliberale Bildungspolitik. Einwurf eines Sekundarlehrers: Dominic Iten.

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Dominic Iten widerspricht dem allgemeinen Tenor zum aktuellen Lehrkräftemangel: Die Überbelastung resultiert aus grundlegenden Widersprüchen des kapitalistisch organisierten Schulwesens und neoliberalen Schulreformen.

Das Problem ist nicht neu, die mediale Aufmerksamkeit schon. «Not an den Schulen ist gross», «Der akute Lehrermangel spitzt sich zu» oder «Die nächsten fünf Jahre könnten dramatisch werden», titeln die grossen Medienhäuser. Erfahrene, junge und auch pensionierte Lehrkräfte erläutern in Interviews, wie schlimm es sei, Lehrer:in zu sein. Und spätestens seit Ausbruch der Coronapandemie sind auch von gewerkschaftlicher Seite Klagen und bescheidene Forderungen zu hören.

Wer nun aber gehofft hatte, dass auch die prekären Arbeitsbedingungen mehr öffentliche Aufmerksamkeit gewinnen, wird enttäuscht: In erster Linie werden die vielen Pensionierungen für das Fehlen von Lehrer:innen verantwortlich gemacht. Und die gleichzeitig steigende Zahl der Schüler:innen verschärfe das Problem. Diese Befunde taugen aber wenig zur Analyse. Sie wollen den Lehrkräftemangel rein demografisch erklären – als hätte die Politik nicht für genau solche Umstände vorzusorgen. Ausserdem bietet diese falsche Logik Anknüpfungspunkte für rechte Politik. So schrieb das «Zofinger Tagblatt»: «Schon 11 400 Flüchtlingskinder im schulpflichtigen Alter: Wie die Ukraine-Krise den Lehrermangel in der Schweiz verschärft».

Die Überbelastung resultiert aus grundlegenden Widersprüchen des kapitalistisch organisierten Schulwesens und neoliberalen Schulreformen.

Weiter wird problematisiert, dass viele Lehrpersonen Teilzeit arbeiten. Würden alle ihr Pensum um zehn Prozent erhöhen, wäre das Problem gelöst, hat das Bundesamt für Statistik herausgefunden. Wohin solche Argumente führen können, zeigt die Aargauer FDP, die Mindestpensen vorschreiben will. Da aber die Lehrkräfte primär wegen Überbelastung in tiefere Pensen geflüchtet sind, hätte ein solcher Zwang zur Folge, dass das noch vorhandene Personal verheizt würde.

In erster Linie werden die vielen Pensionierungen für das Fehlen von Lehrer:innen verantwortlich gemacht.

Die Überbelastung resultiert aus grundlegenden Widersprüchen des kapitalistisch organisierten Schulwesens und neoliberalen Schulreformen. Der Alltag ist geprägt von Konflikten, das pädagogische Programm gekennzeichnet von stark abgesenkten Leistungsstandards und harten Disziplinarmassnahmen. Am deutlichsten zeigt sich das in sogenannten Brennpunktschulen, wo die Behauptung pädagogischer Ideale in einem von Armut und Zukunftslosigkeit geprägten Umfeld kaum mehr gelingen kann. Ein weiterer Widerspruch ist im doppelten Auftrag angelegt, einerseits zu lehren und andererseits zu selektieren. Zwischen persönlicher Interaktion und bürokratischer Organisation, benötigter Nähe und gebotener Distanz einen Weg zu finden, wird immer schwieriger. Die Durchsetzung der neoliberalen Agenda – Stärkung der Schulautonomie, gesteigerter Wettbewerb zwischen den Schulen, Kürzung der Mittel, Abbau der Schulsozialarbeit – hat den Druck zusätzlich erhöht.

Zu viel Aufwand für zu wenig Lohn.

Die Arbeitsbedingungen werden immer prekärer.

Nun gibt es durchaus Stimmen, die auf die prekären Arbeitsbedingungen hinweisen. Dabei wird jedoch der anstrengende Schulalltag stark auf die erschwerten Umstände der letzten beiden Jahre reduziert. So etwa im «Tages-Anzeiger»: «Zuerst die Pandemie: Fernunterricht, Maskenpflicht, Elternkonflikte. Dann der Ukraine-Krieg: Flüchtlingskinder, Extraklassen, Sprachprobleme.» Erstens hatten die Lehrkräfte mit mindestens der Hälfte dieser Punkte schon vorher zu kämpfen; zweitens wären diese Umstände in einem vernünftig organisierten Schulwesen nicht zur Belastung geworden – und drittens fehlen in dieser Liste die entscheidenden Faktoren, die den Beruf tatsächlich unattraktiv machen.

Eine Befragung der Gewerkschaft Bildung Bern bei rund 2000 Betroffenen im vergangenen März kommt der Wahrheit schon etwas näher. Als wichtigste Anliegen wurden in dieser Reihenfolge genannt: besseres Betreuungsverhältnis, Entlastung der Klassenlehrer:innen, mehr Teamteaching, mehr Unterstützung durch Lehrpersonen der besonderen Förderung, höhere Löhne, mehr ausgebildetes Personal im Kollegium. Kurz: zu viel Aufwand für zu wenig Lohn.

Man könnte den Klassenlehrer:innen eine zweite Entlastungslektion pro Woche zahlen, rät der «Bund». Angesichts des tatsächlichen Aufwands, neben dem der Unterricht fast zum Nebengeschäft wird, ist das ein Hohn.

Dass sich aus einer solchen Umfrage so ziemlich jedes politische Programm ableiten lässt, haben bürgerliche Medien in den letzten Wochen bewiesen. Gern wurde betont, dass der Wunsch nach höheren Löhnen erst an fünfter Stelle genannt wurde. Vielmehr mangle es an ausgebildetem Personal. Und wenn doch mal eine Lohnforderung kommt? Man könnte den Klassenlehrer:innen eine zweite Entlastungslektion pro Woche zahlen, rät der «Bund». Angesichts des tatsächlichen Aufwands, neben dem der Unterricht fast zum Nebengeschäft wird, ist das ein Hohn.

Eine übermotivierte Lehrerin soll als Beweis dafür dienen, dass die Lehrkräfte nicht wegen der Arbeitsbedingungen, sondern wegen des ewigen Gejammers fehlen.

Dazu muss festgestellt werden, dass Lehrkräfte in der Regel Mühe bekunden, sich als Lohnabhängige zu begreifen. Das mag an der hohen Identifikation mit dem Beruf liegen oder an der Vereinzelung, die er mit sich bringt. Das Fehlen eines Klassenbewusstseins manifestiert sich in einem tiefen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und schwachen Positionen in Lohnverhandlungen. Dabei wären Lohnerhöhungen ein effektives Mittel gegen den Lehrkräftemangel. Doch auch die Kritik an der hohen Zahl nichtausgebildeter Lehrkräfte kann nicht unhinterfragt in eine politische Forderung überführt werden. Dass Schulleitungen Diplomierte vorziehen und sich Lehrkräfte, die in eine Ausbildung investiert haben, von Quereinsteiger:innen bedroht fühlen, ist bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Die Realität ist aber, dass der Schulbetrieb, als Folge jahrzehntelang verfehlter Bildungspolitik, ohne solche schlicht nicht aufrechterhalten werden kann.

Lehrkräfte, die in eine Ausbildung investiert haben, fühlen sich von Quereinsteiger:innen bedroht.

Leider arbeiten die Gewerkschaften an der Spaltung der Lehrkräfte mit. Bildung Bern etwa meint, «Anstellungen werden in Folge fehlender Qualifikationen zum Blindflug» – und fordert von Quereinsteiger:innen, dass sie «die Ausbildung nachholen, sich weiterbilden» oder halt damit rechnen müssen, dass sie, falls es genügend ausgebildete Lehrpersonen gibt, «eine Schule auch wieder verlassen müssen». Ausdruck einer Gewerkschaftspolitik, die nicht alle Lohnabhängigen vertritt, sondern den Konkurrenzdruck unter ihnen erhöht.

Alles halb so schlimm?

Eine besonders absurde Argumentationsfigur präsentiert die «Aargauer Zeitung»: Die Geschichte einer Lehrerin, die für ihre Klasse vor den Sommerferien Stofftäschli genäht hatte, dient als Illustration für die Freuden des Berufs. Das Kind des Redaktors hatte sein Täschli nach kurzer Zeit verloren, worauf die Lehrerin ihm in den Ferien ein neues nähte. Wenn solche Wunder noch geschehen, kanns um diesen Beruf so schlecht nicht stehen. «Der Lehrerberuf wird schlechtgeredet, eindeutig», schreibt die Zeitung, es drohe «eine sich selbst erfüllende Prophezeiung». Eine übermotivierte Lehrerin soll hier als Beweis dafür dienen, dass die Lehrkräfte nicht wegen der Arbeitsbedingungen, sondern wegen des ewigen Gejammers fehlen. Die Arbeit sei ja gut bezahlt und mache Spass. Und wer diese Einsicht nicht teile, dem sei gesagt, dass «die meisten anderen Berufe auch anspruchsvoller geworden» seien.

In dieselbe Kerbe haut die NZZ. Da werden chinesische Sprichwörter zur Beruhigung empfohlen und Anekdoten erzählt, die die schönen Seiten des Schulalltags hervorheben sollen. Dass es die gibt, bestreitet niemand – nur leider werden sie immer seltener. Das aber liegt primär an der verfehlten Bildungspolitik.

Dominic Iten (31) arbeitet nach dem Studium der Geschichte und Soziologie seit einigen Jahren als Sekundarlehrer im Kanton Bern und als Redaktor bei der Halbjahresschrift «Widerspruch».

Dieser Artikel ist zuerst in der WOZ erschienen: https://www.woz.ch/2232/lehrkraeftemangel/falsche-ursachen-verkehrte-schlussfolgerungen

 

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5. Teil unserer Serie Worthülsen: Die Chancengleichheit https://condorcet.ch/2020/04/5-teil-unserer-serie-worthuelsen-die-chancengleichheit/ https://condorcet.ch/2020/04/5-teil-unserer-serie-worthuelsen-die-chancengleichheit/#comments Wed, 29 Apr 2020 16:23:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=4794

Der 5. Etappe unserer bissigen "Tour de Worthülsen". Diesmal beschäftigt sich Condorcet-Autors Felix Hoffmann mit dem Begriff "Chancengleichheit".

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Felix Hoffmann, Sekundarlehrer, BL, Redakteur des Condorcet-Blogs: Chancengleichheit ist eine Fata Morgana.

Zur Erörterung dieser Thematik drängt sich zunächst eine Grundsatzfrage auf: Gibt es Chancengleichheit oder gibt es sie nicht? Schaut man sich die vielfältigen Branchen an mit ihren unzähligen Berufen unterschiedlicher Entlohnung innerhalb einer Hierarchie der Verantwortung oder Beziehungen, ist die Antwort auf obige Frage ein eindeutiges Nein.

Töricht wäre andernfalls, wer sich innerhalb eines Berufszweigs freiwillig für einen kleinen Lohn entscheidet, obwohl ihm ein Zehn- oder gar Hundertfaches zur Auswahl stünde. Menschen würden sich somit aus freien Stücken im schlimmsten Falle für Entbehrung, Armut und damit auch für gesellschaftliche Ausgrenzung entscheiden. Da es ergo keine Chancengleichheit gibt, fusst jedes darauf basierende Schulsystem auf einer Fata Morgana. Es hat dann folglich kein Fundament und wird früher oder später scheitern. So geschehen beispielsweise bei der Basler Orientierungsschule (OS), die als sogenannte Gemeinschaftsschule, also ohne unterschiedliche Leistungsniveaus konzipiert war.

„Da es ergo keine Chancengleichheit gibt, fusst jedes darauf basierende Schulsystem auf einer Fata Morgana.“

Realitäten lösen sich nicht in Luft auf

Dennoch halten sich die Illusion der Chancengleichheit und der darauf beruhenden Konzepte beharrlich. Eine solche Konzeption zum Beispiel ist die Integration lernschwacher oder verhaltensauffälliger SchülerInnen in Regelklassen im Glauben, sie hätten so die gleichen Chancen. Da sich Realitäten aber nicht in Luft auflösen, indem man vor ihnen den Kopf in den Sand steckt, beisst sich die Integration selbst in den Schwanz. In der Realität sieht diese nämlich so aus, dass Lernschwache im regulären Unterricht überfordert sind und in der Folge nicht selten aus Frustration die Stoffvermittlung stören. Ihre Förderlehrkräfte nehmen sie dann als Konsequenz aus den Stunden, um sie im Widerspruch zur Integration separativ, d.h. ausserhalb des Klassenverbandes zu unterrichten. Dadurch wird ihr ohnehin vorhandenes Gefühl des Ungenügens noch verstärkt.

Auch die Wirtschaft glaubt an die Chancengleichheit

Interessanterweise ist der Glaube an die Chancengleichheit sogar in der Wirtschaft verbreitet, wo ihr illusionärer Charakter doch am deutlichsten zutage tritt. Im Zusammenhang mit seiner durchaus berechtigten Forderung nach mehr schulischer Wirtschaftskunde schreibt beispielsweise Dr. Hans Rentsch, Ökonom und freier Wirtschaftspublizist: „Aus sozialer Sicht besonders problematisch ist die Erkenntnis, dass es auch die wirtschaftlich Schwächsten sind, denen es an Finanzkompetenz fehlt.“[1] Dieser Schluss gründet letztlich auf dem Dogma der Chancengleichheit: Würden alle über Finanzkompetenz verfügen, gäbe es die „wirtschaftlich Schwächsten“ nicht. Letztere sind jedoch nicht ökonomisch schwach, weil es ihnen mangels Wirtschaftskunde an öffentlichen Schulen an Finanzkompetenz fehlt – dieser ermangelt es quasi allen Schulabgängern nach neun obligatorischen Schuljahren. Aber ungleich der Starken können die Schwächsten sich diese Kompetenz auch nach der Schule nicht aneignen, eben weil sie schwach sind.

„Da hilft auch die rhetorische Begriffsumwandlung von Chancengleichheit zu Chancengerechtigkeit nichts, denn die hier beschriebenen gesellschaftlichen Realitäten sind nun mal nicht gerecht.“

Der Irrtum der Chancengleichheit beruht auf dem linken Postulat der Gleichheit der Menschen. Denn

Würden alle über Finanzkompetenz verfügen, gäbe es die „wirtschaftlich Schwächsten“ nicht.

nur wenn alle gleich sind, haben auch alle die gleichen Chancen. Da wir uns in unserer Individualität aber alle unterscheiden, existiert keine Chancengleichheit. Der dreissigjährige Milliardär, der dank seines Genies den Rest seines Lebens auf dem Golfplatz verbringt, ist genauso eine Realität wie der Sozialhilfeempfänger, der schlicht keinen Beruf erlernen kann, da er die dazu notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt. Da hilft auch die rhetorische Begriffsumwandlung von Chancengleichheit zu Chancengerechtigkeit nichts, denn die hier beschriebenen gesellschaftlichen Realitäten sind nun mal nicht gerecht.[2]

„Hier trifft sich auf paradoxe Weise die soziale Linke mit der neoliberalen Rechten.“

Die Perversion des Dogmas der Chancengleichheit besteht darin, dass sie zur Bekämpfung eines finanziellen Ausgleichs zwischen den Stärksten und den Schwächsten einer Gesellschaft herangezogen werden kann: Wir haben alle die gleichen Chancen, also sind die Schwächsten selber schuld an ihrem Los. Hier trifft sich auf paradoxe Weise die soziale Linke mit der neoliberalen Rechten. Fast könnte man meinen, die beiden politischen Pole leisteten bei diesem Thema Teamarbeit.

[1]   https://condorcet.ch/2020/01/unkenntnis-ueber-finanzfragen-erhoeht-die-ungleichheit-in-der-gesellschaft/

[2]   Pragmatismus ist die Ausrichtung des Handelns an vorherrschende Gegebenheiten. Im Unterschied dazu richten Ideologen Realitäten sprachlich an der eigenen Ideologie aus. Sobald die Diskrepanz zwischen Ideologie und Wirklichkeit deutlich zutage tritt, werden die  Begrifflichkeiten angepasst. Gleichheit wird zu Chancengleichheit zu Chancengerechtigkeit. Das Gleiche passiert, wenn die Begriffe die Realität klar offenbaren:  verhaltensgestört wird dann zu verhaltensauffällig zu verhaltensoriginell. Die Realitäten bleiben gleich, die Begrifflichkeiten wandeln sich.

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Bildungszertrümmerung https://condorcet.ch/2019/10/bildungszertruemmerung/ https://condorcet.ch/2019/10/bildungszertruemmerung/#respond Sat, 12 Oct 2019 14:00:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=2401

Hans-Jürgen Bandelt, Mitglied der Gesellschaft für Bildung und Wissen, hat sich in den letzten Jahren mit den Wirkungen der Kompetenzorientierung auf den schulischen Unterricht in Mathematik auseinandergesetzt. In seinem Beitrag für den Condorcet-Blog stellt er die Transformation des Bildungssystems in einen größeren Rahmen.

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Neoliberalismus ist Macht des Finanzkapitals plus Digitalisierung aller Lebensbereiche

Das Bildungssystem eines Landes ist immer hegemonial bestimmt und nicht etwa durch die ureigensten Bedürfnisse der Bevölkerung. Nach jeder Revolution wird das Bildungssystem mehr oder weniger umgestaltet – eventuell mit einer gewissen Zeitverzögerung, die unter Umständen bis zur Vollendung mehr als eine Generation in Anspruch nehmen kann. Aber wo war da dieser Jahre eine Revolution in deutschsprachigen Landen? Nun, es gab eine schleichende, fast klandestine Konterrevolution [1]: Aus der Sozialen Marktwirtschaft des Nachkriegskapitalismus wurde die Asoziale Finanzwirtschaft des Neoliberalismus. Der kräftigste Umgestaltungsschub erfolgte durch das sozialdemokratisch-grüne Kabinett Schröder II in Deutschland. Ein Jahrfünft danach war im Anschluss Österreich dran und ein weiteres Jahrfünft später die Schweiz, wo der Umbau wegen der kantonalen Hemmnisse (als “Kantönligeist” diffamiert) schleppender erfolgte, aber dafür unter Einsatz massivster Propaganda zum Lehrplan 21 dann mit größerer Wucht.

Bundeskanzler Gerhard Schröder. Gerade rot-grüne Regierungen setzen sowohl die “Neue Lernkultur” als auch die Vorgaben der OECD besonderes konsequent durch. Bild AdobeStock

Der Neoliberalismus hat sich in Deutschland sozusagen auf der Hinterbühne bereits seit Mitte der 70er Jahre eingerichtet [2]. Inzwischen ist er auf der Vorderbühne angekommen, und der Vorhang vor BlackRock und Konsorten ist etwas gelüftet: Die prekäre Situation auf dem fast schon finanzmonopolisierten Wohnungsmarkt (Stichwort: Berlin) hat so manchem Bürger die Augen geöffnet. Der Blick auf die Bildung bleibt jedoch nachhaltig getrübt, da die Mainstreammedien landauf, landab seit Jahren nur die Verkündungen der Bertelsmann Stiftung oder der PISA-Auguren wiederkäuen. Die politische Linke scheint kollektiv an einer Art Katarakt zu leiden, denn ohne klaren Blick auf die stattgefundene Bildungstransformation durch Standardisierung und  Kompetenzorientierung kennt sie nur die Desiderata “Chancengleichheit” (eine neoliberale Vokabel in aller Munde) und “Mehr Geld für Bildung” (ein Mantra der GEW). Aber mehr Geld gibt’s nicht: An Bildung soll sogar noch leicht gespart werden.

Die Bildungslandschaft in Deutschland wird mit voller Absicht zerschlagen, um einer Lobby aus ‘Bildungs’-industrie, gekauften Didaktikern und Pädagogen und privaten Investoren die Tür zu öffnen [3]

Jochen Krautz: Ware Bildung
Bild: Diederichs

Planvoll wurde bereits in der Grundschule die Deckelung der Lese-, Schreib- und Rechenfertigkeit durch mehrere Maßnahmen nachhaltig vollzogen. Die seinerzeit verordnete Neue Rechtschreibung torpedierte die tradierte Orthographie und setzte für Lesetexte eine scharfe Zäsur zur älteren Literatur. Die unzureichend getestete “Vereinfachte Ausgangsschrift” gleicht mit ihrer mittigen Bindung eher einer Computerschrift und behindert flüssiges Schreiben [4]. Und das anfängliche Praktizieren des Druckbuchstabenmalens führt mancherorts zu einer bis zu einjährigen Verzögerung des Lernens einer verbundenen Schrift. Die Grundrechenarten werden nicht mehr in vollem Umfang unterrichtet (etwa der Divisionsalgorithmus) und nicht ausreichend geübt – frei nach der Devise ‘Die müssen nicht mehr rechnen, die haben später ja einen Taschenrechner’.

Die Standardisierung und das PISA-Testen waren der erste Streich. Der zweite Streich ein Jahrzehnt später betraf die Torpedierung des ‘lehrerzentrierten’ Unterrichts. Der dritte Streich steht bevor und wird die vorgebliche Rettung durch standardisierte Lernpakete in der digitalisierten Schule exekutieren, mit denen dann die Grundschüler der neuen Jahrgänge unter Testbedingungen besser als die noch von echten Lehrern unterrichteten früheren Jahrgänge abschneiden werden.

Jetzt muss nur noch das entspechend angelernte Personal, das weder eine Lehrer- noch Sozialarbeiterausbildung durchlaufen hat, in die Grundschulen geflutet werden.

Jetzt muss nur noch das entspechend angelernte Personal, das weder eine Lehrer- noch Sozialarbeiterausbildung durchlaufen hat, in die Grundschulen geflutet werden. Mit präzisem Timing hat die Bertelsmann Stiftung verkündet, dass in Deutschland im Jahre 2025 Tausende von Grundschullehrkräften fehlen werden. Jetzt schreiben wir das Jahr 2019, d.h. dass diejenigen, die jetzt ihr Lehramtsstudium beginnen, nicht mehr die entsetzliche Bedarfslücke füllen können. Um die geplanten Transformationen ohne Gegenwehr durchzuziehen, wird also zur bewährten Schocktherapie gegriffen.

Die Buchhaltung mit hochtrabenden Leitideen und allgemeinen Kompetenzen zeigt sich dort in ihrer ganzen Lächerlichkeit: Das bloße Ablesen der Temperatur an einem analogen Thermometer gilt in Deutschland als Kompetenzerwerb in Mathematik und in Österreich in Physik.

Gerade rot-grüne Regierungen setzen sowohl die “Neue Lernkultur” als auch die Vorgaben der OECD besonderes konsequent durch. [5]

Was den ersten Streich betrifft, spiegeln die Aufgaben der Neuen Lernkultur des bundesdeutschen IQBs und des österreichischen BIFIEs, die mutmaßlich den Kompetenzstand von Achtklässlern in Mathematik oder Physik abtesten sollen, den absurden Paradigmenwechsel wider. Die Aufgaben haben oftmals nur nominal mit Begriffen zu tun, die in einem Fachunterricht vorkommen könnten, aber in Wirklichkeit nur Alltagsroutinen den Grundschulkindern abverlangen. Die Buchhaltung mit hochtrabenden Leitideen und allgemeinen Kompetenzen zeigt sich dort in ihrer ganzen Lächerlichkeit: Das bloße Ablesen der Temperatur an einem analogen Thermometer gilt in Deutschland als Kompetenzerwerb in Mathematik und in Österreich in Physik [6]. Anderes Beispiel: Das Ablesen der Länge eines Balkens an der Koordinatenachse in einem Balkendiagramm wird der Leitidee ‘Zahl’ zugeordnet, jedoch wenn aus einem halben Dutzend Balken der längste abgelesen werden soll, handelt es sich auf einmal um die Leitidee ‘Daten und Zufall’. Leiten tut da in Wirklichkeit rein gar nichts.

Die Nebenfächer sind aufs Nebengleis gerückt und eingeschmolzen in sogenannte Fächerverbünde, die zum Teil “epochal” unterrichtet werden.

Im Deutsch- und Englischunterricht nimmt das Abtesten von angeblichem Textverständnis dilettantische bis makabere Züge an, wie Felix Schmutz aufzeigte [7]. An den Abitur-/Maturaprüfungen wird überdeutlich, dass es vorwiegend um Textverarbeitung in unterschiedlichen Formen geht und die Fächer bis zur Unkenntlichkeit dabei verstümmelt sind [8]. In diesem Sinne kann man die neuen PISA-Hauptfächer der Schule wie folgt kennzeichnen: Mathematik = Textverarbeitung mit vielen Zahlen sowie Deutsch (bzw. Englisch) = Textverarbeitung mit wenigen Zahlen. Die Nebenfächer sind aufs Nebengleis gerückt und eingeschmolzen in sogenannte Fächerverbünde, die zum Teil “epochal” unterrichtet werden.

Unter dem Schlagwort Inklusion soll ein jahrzehntelang gewachsenes ausdifferenziertes Fördersystem für langzeitig physisch und psychisch beeinträchtigte Kinder und Jugendliche kostensparend zerstört werden. Mit der notorischen personellen Unterbesetzung ist der Lehrer vollends zum Arbeitsblätter verteilenden Lerncoach und Inklusionsbegleiter mutiert.

Was den zweiten Streich betrifft, so betraf er direkt die Rolle des Lehrers, dessen “Epiphanie” nun endgültig verschwindet [9]. Das Verdammen eines lehrerzentrierten Unterrichts und das Preisen von Heterogenität der Lerngruppen, hat den Klassenunterricht in Richtung Kleingruppenarbeit und individualisiertes Lernen verschoben. Schließlich hat die Keule der totalen Inklusion, radikaler als man sie sich je vorstellen konnte, traditionelle Formen des Unterrichtens verunmöglicht. “Unter dem Schlagwort Inklusion soll ein jahrzehntelang gewachsenes ausdifferenziertes Fördersystem für langzeitig physisch und psychisch beeinträchtigte Kinder und Jugendliche kostensparend zerstört werden” [10]. Mit der notorischen personellen Unterbesetzung ist der Lehrer vollends zum Arbeitsblätter verteilenden Lerncoach und Inklusionsbegleiter mutiert.

Die Vereinzelung ist ganz im Sinne des Neoliberalismus: Jeder soll auf sich zurückgeworfen seinen persönlichen Lernvertrag erfüllen und sein Portfolio pflegen – zwecks Mehrung seines Humankapitals.

Schule ist nicht mehr Ort humaner Bildung, sondern Trainingsanstalt für künftiges Humankapital

Jeder für sich
Bild: api

Digitalisierung ist der ultimative Schlag, der unser althergebrachtes Bildungssystem vollends zertrümmert: “Statt Unterricht im Sozialverband der Klasse arbeiten Kinder und Jugendliche dann alleine an ihren Lernstationen” [11]. Die Vereinzelung ist ganz im Sinne des Neoliberalismus: Jeder soll auf sich zurückgeworfen seinen persönlichen Lernvertrag erfüllen und sein Portfolio pflegen – zwecks Mehrung seines Humankapitals. Das Selbst ist im Panspectron des digital gesteuerten Lernateliers der inneren Tyrranei seines fremdbestimmten Selbst ausgeliefert.

Braunschweig, Oktober 2019

 

[1] PROKLA Editorial: Neoliberale Konterrevolution – Die neue amerikanische Herausforderung auf dem Weltmarkt?. PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft, 11 (44), 1-3 (1981). https://doi.org/10.32387/prokla.v11i44.1543

[2] Sebastian Müller: Der Anbruch des Neoliberalismus. Promedia Verlag, 2016/2017

[3] Thomas Sonar: Endlich sagt es einer offen. Kundenrezension von “Ware Bildung: Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie” (J. Krautz), 2009. https://www.amazon.de/Ware-Bildung-Schule-Universit%C3%A4t-%C3%96konomie/dp/3720530159

[4] Maria-Anna Schulze Brüning & Stephan Clauss: Wer nicht schreibt, bleibt dumm. Piper, 2017

[5] Jochen Krautz:  Neoliberaler Ökologismus. “Markt” und “Natur” als Steuerungsparadigmen der “Neuen Lernkultur”. In: Bildung im Widerstand. Festschrift für Ursula Frost (M. Burchardt & R. Molzberger, Hrsg.). Königshausen & Neumann 2017, S. 121-146

[6] Hans-Jürgen Bandelt: Entfachlichung durch Kompetenzorientierung. Mitteilungen Math. Ges. Hamburg 36, 103-130 (2016)

[7] https://condorcet.ch/2019/06/kompetenzen-standards-alles-klar/, https://condorcet.ch/2019/06/2-teil-kompetenzen-standards-alles-klar/

[8] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/streit-um-das-mathe-abitur-in-niedersachsen-14256230.html

[9] Alfred Schirlbauer: Vom Verschwinden des Lehrers und seiner Epiphanie. In: Ders.: Die Moralpredigt. Sonderzahl, 2005, S. 40-58

[10] https://www.thueringen.freidenker.org/index.php/kreisverbaende/kv-jena/texte/inklusion-der-letzte-schwere-schlag-gegen-das-staatliche-schulwesen/

[11] https://condorcet.ch/2019/09/digitalpakt-schule-potemkinsche-doerfer-der-deutschen-bildungspolitik-oder-technikglaeubigkeit-als-paedagogischer-offenbarungseid/

 

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