Mitbestimmung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 01 Dec 2022 20:23:17 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Mitbestimmung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Bildung und Demokratiefähigkeit https://condorcet.ch/2022/12/bildung-und-demokratiefaehigkeit/ https://condorcet.ch/2022/12/bildung-und-demokratiefaehigkeit/#comments Thu, 01 Dec 2022 20:23:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=12500

Demokratie braucht gebildete Bürgerinnen und Bürger. Das war der Schlachtruf der Helvetik. Sie revolutionierte das Bildungswesen. Gefragt war Lesekompetenz. Heute nimmt sie bei den Jugendlichen wieder ab. Eine Gefahr für unsere Demokratie?, fragt Concorcet-Autor Carl Bossard.

The post Bildung und Demokratiefähigkeit first appeared on Condorcet.

]]>
Condorcet-Autor Carl Bossard

Eine Studie der Universität Zürich gibt zu denken: Fast 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung konsultieren keine Nachrichten über Politik. Das ist für unsere direkte Demokratie ein Alarmsignal. Nachrichten oder „News“, wie sie heute heissen, lesen junge Erwachsene im Alter zwischen 19 und 24 Jahren nur noch während rund sieben Minuten – dies via Smartphone und im Tages-Durchschnitt gemessen. Wer Social-Media-Kanäle wie Instagramm oder TikTok benutzt, greife kaum auf journalistische Texte und publizistische Inhalte zurück. Das sei problematisch, heisst es im «Jahrbuch Qualität der Medien».[i]

Mehr Staatskundeunterricht gefordert 

Die Nachrichten-Abstinenz nimmt spürbar zu. Die Studie spricht von Deprivation oder von Mangelversorgung. Das hat Folgen. «News-Deprivierte», wie die Forscher es nennen, also uninformierte Staatsbürgerinnen und -bürger, beteiligen sich deutlich weniger an Abstimmungen und Wahlen.[ii] Es ist die brisante Frage politischer Teilhabe. Dass sie im Berner Bundeshaus Besorgnis auslöst, überrascht nicht. Gesellschaftliche Debatten und politische Prozesse brauchen informierte Bürgerinnen und interessierte Bürger.

Mindestens 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule nach neun Jahren als funktionale Analphabeten oder Illiteraten. Die Bildungspolitik schweigt.

Die Politik reagiert. Und sie reagiert in gewohnter Manier. Man fordert von der Schule «mehr und verstärkten Staatskundeunterricht».[iii] Erneut sollen es Lehrerinnen und Lehrer richten. Wie wenn die Bildungspolitik die Schulen während der letzten Jahre inhaltlich nicht entgrenzt und sie ins fachliche Vielerlei gedrängt hätte. Jedes gesellschaftlich relevante Problem wurde flugs zu einem curricularen Inhalt umformuliert und in den Unterricht getragen – vom Frühfranzösisch bis zur Integration. Es ist immer die Addition, die helfen soll: diesmal mehr Medienkunde und mehr Staatskunde! Ein Problem geht dabei vergessen: die schwindende Lesekompetenz vieler junger Leute. Sie ist ein verdrängtes Faktum.

Schweizer Schüler: schwach im Lesen

Die Lesefreude nimmt bei den Jugendlichen ab – ebenso wie die Leseleistung generell. Seit Jahren sinkt sie. Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelt damit unter dem Durchschnitt und klar hinter Nachbar Deutschland! Die Gruppe derer, die einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Textteilen nicht herstellen können, wuchs auf 24 Prozent. Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verständig lesen, diagnostiziert die PISA-Studie. Er ist nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Er vermag das Geschriebene zwar zu entziffern, versteht aber das Gelesene im Gesamtkontext nicht. Und dies im Land mit den höchsten Kosten pro Schüler![iv] Das ist besorgniserregend.

Wir wissen es seit Jahren: Mindestens 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule nach neun Jahren als funktionale Analphabeten oder Illiteraten. Die Bildungspolitik schweigt. Das Systemversagen im teuersten Bildungssystem der Welt scheint sie nicht zu stören. Dabei gehört Lesen zu den Kernkompetenzen eines jeden. Sie bleibt der Schlüssel fürs Lernen und die Teilhabe an der Welt – und unserer Demokratie.

Konzentriertes Lesen, Bild: zVg

Wenn Verstehen zur Schwerstarbeit wird

Das Kernproblem der mangelnden Lesekompetenz nicht weniger junger Menschen liegt beim Verstehen. Konzentrierte Lektüre wird seltener, das «Deep Reading» nimmt ab. Usanz ist heute das Lesen von WhatsApp-Nachtrichten und von flüchtig gescannten Kurztexten. Das gehört zum Leben junger Leute. Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones. Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen. Dazu kommt, dass diese elektronischen Geräte – anders als gedruckte Bücher – kaum materielle Orientierung im Text ermöglichen. Dies schmälert das kognitive Weiterkommen und führt zu Verstehens- wie auch zu Akzeptanzproblemen.

Nicht «mehr und Zusätzliches» wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität.

Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird so für manche Schülerinnen und Schüler zur Schwerstarbeit und die Aufgabe einer differenzierten Versprachlichung zur subjektiven Zumutung. So öffnen sich neue Sprachbarrieren. Umso mehr müsste die Schule hier Gegensteuer geben und die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten herausholen und ihnen als Brückenbauerin andere (Lese-)Welten einsichtig machen. Dies nicht zuletzt im Interesse von Kindern, die aus sozial eher schwächeren Familien kommen und es schwerer haben. Hier liegt eine der ganz wichtigen Aufgaben der Schule. Auch in demokratiepolitischer Hinsicht.

Sich vor Desinformation schützen

Nicht «mehr und Zusätzliches» wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität. Das bedeutet für Lehrpersonen einen erheblichen Zuwachs an Anstrengung, bleibt aber als Aufgabe und didaktische Pflicht.

Nur ein gebildetes Volk kann demokratisch mitbestimmen.

Unwidersprochen bleibt auch die Tatsache: «Nur wer in konzentrierter Lektüre verschiedene Lesarten eines Textes erkennen und miteinander abgleichen kann, wer Widersprüche in ihm erkennt oder Widersprüche zum eigenen Wissen und den eigenen Überzeugungen, der schützt sich selbst wirkungsvoll vor den vielfachen Versuchen alltäglicher Desinformation.»[v] Das aber setzt Lesefähigkeit voraus.

Vom Wert des Lesens

Philipp Stapfer, erster Bildungsminister der Helvetischen Republik: Nur ein gebildetes Volk kann demokratisch mitbestimmen

Wir wissen um den Zusammenhang zwischen Bildung, Wirtschaftsleistung und Wohlfahrt. Der amerikanische Bildungsökonom Eric Hanushek und sein deutscher Kollege Ludger Wössmann weisen seit Jahren darauf hin.[vi] Diesen Bezug gibt es auch zwischen Bildungsniveau und Demokratiefähigkeit. Das wusste auch die helvetische Regierung von 1798.

Nur ein gebildetes Volk kann demokratisch mitbestimmen. Davon waren die politischen Pioniere um 1800 überzeugt; dafür kämpften sie: Jedes Kind sollte lesen und schreiben können. Der helvetische Bildungsminister Philipp Albert Stapfer (1766-1840) gab dem Auf- und Ausbau der Schulen darum höchste Priorität. Die Helvetik (1798-1803) kannte den Wert des Lesens und einer gut ausgebildeten Lesefähigkeit – dass dieser Wert auch heute noch intensiv gepflegt werden muss, geht im digitalen Zeitalter leicht vergessen.

 

 

 

[i] Jahrbuch Qualität der Medien (2022). Zunahme der News-Deprivation mit negativen Folgen für den demokratischen Prozess.Hrsg. vom Fög. Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich, S. 1.

[ii] Ebda, S. 4.

[iii] Vgl. Rafael von Matt, Interesse an Informations-Journalismus schwindet. Echo der Zeit vom 24.10.2022.

[iv] SKBF (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 73.

[v] Fridtjof Küchemann, Eine Frage gesellschaftlicher Teilhabe, in: FAZ, 24.10.2022, S. 1.

[vi] Vgl. u.a. Ludger Wössmann (2009), Wirksame Bildungsinvestitionen. Was unzureichende Bildung kostet. Eine Berechnung der Folgekosten durch entgangenes Wirtschaftswachstum. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

 

The post Bildung und Demokratiefähigkeit first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/12/bildung-und-demokratiefaehigkeit/feed/ 2
Stimmrechtsalter 16 setzt besseren Geschichtsunterricht voraus https://condorcet.ch/2022/04/stimmrechtsalter-16-setzt-besseren-geschichtsunterricht-voraus/ https://condorcet.ch/2022/04/stimmrechtsalter-16-setzt-besseren-geschichtsunterricht-voraus/#comments Tue, 19 Apr 2022 10:01:31 +0000 https://condorcet.ch/?p=10847

Hanspeter Amstutz setzt sich unermüdlich für einen aufbauenden Geschichtsunterricht ein. Die Diskussion um das Stimmrechtsalter 16 rückt seiner Meinung nach den aktuellen Geschichtsunterricht bzw. seine Bedeutung erneut in den Fokus.

The post Stimmrechtsalter 16 setzt besseren Geschichtsunterricht voraus first appeared on Condorcet.

]]>
Hanspeter Amstutz:
Man trägt viel eher zu etwas Sorge, das man kennt.

Ein Stimmrechtsalter 16 setzt die optimistische Annahme voraus, dass unsere Volksschüler mit einem Rucksack voll geschichtlich-politischer Grundkenntnisse die Sekundarschule verlassen. Doch ist dies tatsächlich der Fall? Geschichtliche Bildungsinhalte sind eingestreut in das Sammelfach «Räume, Zeiten, Gesellschaft», wo für Geschichte höchstens anderthalb Wochenlektionen zur Verfügung stehen. An den meisten Schulen herrscht Unklarheit über die Verbindlichkeit der Bildungsziele, da der Lehrplan mit seiner Fülle an Möglichkeiten den Blick aufs Wesentliche erschwert.

Wieweit 16-Jährige für verantwortungsvolle Entscheide auf politischer Ebene wirklich reif sind, bleibt umstritten. Sicher ist hingegen, dass sie auf diese Aufgabe besser vorbereitet werden müssten, als dies zurzeit der Fall ist. Ohne Grundkenntnisse über die neuere Geschichte unseres Landes fehlen wesentliche Elemente für das Verstehen politischer Zusammenhänge. Da können auch die attraktiven Lernangebote des Aarauer Zentrums für Demokratie die breite Lücke kaum füllen.

Die Vermittlung geschichtlicher Bildungsinhalte besteht nicht in einem beflissenen Abhaken unzähliger Ereignisse zur Erfüllung eines umfangreichen Stoffprogramms. Nachhaltigkeit wird nur erreicht, wenn man sich an Meilensteinen epochaler Entwicklungen der schweizerischen und europäischen Geschichte zu orientiert. So kann die Industrialisierung im 19. Jahrhundert mit den Pionierleistungen von Schweizer Unternehmern aufzeigen, welche gesellschaftlichen Veränderungen die gesteigerte Wirtschaftskraft mit sich brachte. Mit Einblicken ins Leben von Arbeiterfamilien in den Mietskasernen werden aber auch die Schattenseiten des Maschinenzeitalters den Schülerinnen und Schülern vor Augen geführt. Allein schon aus der inneren Spannung dieser Entwicklung tauchen Fragen zur sozialen Gerechtigkeit und zur Bedeutung des technischen Fortschritts auf.

Inszenierte Massenveranstaltungen, systematische Hetze gegen Andersdenkende, Anzünden des Reichstags und Ausschaltung des demokratischen Rechtsstaats durch das Vollmachtregime Hitlers lassen die Schüler erkennen, dass es in der aktuellen Gegenwart erschreckende Parallelen gibt.

Ist das Vorverschieben von politischer Verantwortung mit der faktischen Abwertung des Geschichtsunterrichts in der Volksschule in Einklang zu bringen?

Zu den geschichtlichen Meilensteinen des 20. Jahrhunderts gehören sicher die Vorgänge rund um die Machtergreifung der Nationalsozialisten in den Dreissigerjahren. Jugendliche sind betroffen, wenn sie sehen, mit welch teuflischen Machenschaften Hitlers Anhänger die politische Opposition ausgeschaltet haben. Inszenierte Massenveranstaltungen, systematische Hetze gegen Andersdenkende, Anzünden des Reichstags und Ausschaltung des demokratischen Rechtsstaats durch das Vollmachtregime Hitlers lassen die Schüler erkennen, dass es in der aktuellen Gegenwart erschreckende Parallelen gibt.

In einem lebendigen Geschichtsunterricht werden Themen aufgegriffen, die sich bezüglich inhaltlicher Attraktivität und politischer Relevanz für offene Diskussionen in der Klasse eignen. Jugendliche erkennen dabei, dass zentrale Werte unseres Staates im Lauf der letzten 200 Jahre hart errungen werden mussten. Die AHV der Grosseltern ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist entstanden aus den Möglichkeiten einer starken Wirtschaft und der Einsicht einer politischen Mehrheit in unserem Land, dass möglichst alle vom steigenden Wohlstand profitieren sollen.

Das erwachte politische Interesse eines Teils unserer der Jugend darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Volksschulabgänger sich erst durch starke didaktische Impulse für politische Fragen erwärmen können. Faktenorientierter narrativer Geschichtsunterricht, unterstützt durch aussagekräftiges Bildmaterial, hat sich dabei als effizient erwiesen. 14-Jährige gehen voll mit, wenn sie in einer spannenden Erzählung das Schicksalhafte historischer Ereignisse für den einzelnen Menschen oder für ganze Völker erfahren. Wie aus der Entwicklungspsychologie bekannt ist, spielt die Imagination beim Eintauchen ins historische Geschehen eine zentrale Rolle, damit sich Jugendliche der geschichtlichen Realität annähern können. So erzielt ein Brief eines Soldaten aus dem Kessel von Stalingrad als Quellentext eine ganz andere Wirkung, wenn die Dramatik der Lage vorher eindrücklich geschildert wurde.

Man trägt viel eher zu etwas Sorge, das man kennt. Dazu gehört auch unser Staatswesen und dessen politische Einrichtungen. Geschichte befasst sich mit dem Werdegang gesellschaftlicher Werte und dem Ausgleich von Interessen. Deshalb braucht es einen gewissen Aufbau mit geschichtlichen Bildern aus bedeutenden Epochen, um politische Entwicklungslinien zu erkennen. Doch dieser systematische Aufbau ist in den meisten Sekundarklassen kaum noch zu erkennen. Narrative Konzepte geniessen in der aktuellen Didaktik leider wenig Kredit, was den Zeitdruck für die Lehrpersonen verschärft. An vielen Schulen werden Jugendliche angehalten, mit entdeckendem Lernen sich geschichtliches Wissen selbst anzueignen. Das kann zu teils grossartigen Resultaten führen, doch übers Ganze gesehen kommt man so viel weniger weit.

Mit dem Wegfall einer aufbauenden Darstellung unserer neueren Geschichte haben Jugendliche ohne gymnasiale Ausbildung offensichtlich ein Bildungsmanko bei den geschichtlichen Grundkenntnissen. Die Befürworter des Stimmrechtsalters 16 müssen sich die Frage gefallen lassen, ob das Vorverschieben von politischer Verantwortung mit der faktischen Abwertung des Geschichtsunterrichts in der Volksschule in Einklang zu bringen ist.

Hanspeter Amstutz

 

The post Stimmrechtsalter 16 setzt besseren Geschichtsunterricht voraus first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/04/stimmrechtsalter-16-setzt-besseren-geschichtsunterricht-voraus/feed/ 1
Politische Bildung: Zuerst die Missverständnisse ausräumen, dann debattieren! https://condorcet.ch/2020/01/politische-bildung-zuerst-die-missverstaendnisse-ausraeumen-dann-debattieren/ https://condorcet.ch/2020/01/politische-bildung-zuerst-die-missverstaendnisse-ausraeumen-dann-debattieren/#respond Fri, 24 Jan 2020 05:22:40 +0000 https://condorcet.ch/?p=3684

Georg Geigers Artikel "Politische Bildung: Sich um die Welt als Ganzes Sorgen machen" hat in unserem Autorenkreis eine lebhafte Debatte ausgelöst. Mit einigen Aussagen ist der Autor nicht einverstanden, und auf diverse Kritiken antwortet er in seiner Replik, die wir hier gerne veröffentlichen.

The post Politische Bildung: Zuerst die Missverständnisse ausräumen, dann debattieren! first appeared on Condorcet.

]]>

Am 6. Januar ist von mir ein Beitrag unter dem Titel „Politische Bildung: Sich um die Welt als Ganzes Sorgen machen“ erschienen. Die Condorcet-Redaktion hat dann direkt unter dem Titel noch eine verwirrende Frage dazugesetzt: “Soll ein Fach ‘Politische Bildung’ eingeführt werden, wie die Historikerin Béatrice Ziegler fordert? Condorcet-Autor Georg Geiger ist skeptisch.” Einspruch, Euer Ehren. Gegenüber der Einführung dieses Faches bin ich nicht skeptisch, denn an meiner Schule (lieber Leser, liebe Leserin, leider darf ich gemäss einer Weisung meiner Vorgesetzten nicht öffentlich sagen, an welcher Schule ich genau unterrichte. Es ist mir nur gestattet zu verraten, dass ich an einem der fünf Basler Gymnasien unterrichte …) habe ich selbst massgeblich an der Erarbeitung eines entsprechenden Lehrplanes mitgewirkt, und ich habe dieses Wahlpflichtfach, das als Doppelstunde während eines halben Jahres im zweitletzten Jahr vor der Matur angeboten wird, bereits zweimal durchgeführt.

Gegenüber der Einführung dieses Faches bin ich nicht skeptisch, wie Alain Pichard behauptete.

Skeptisch bin ich nur, dass Frau Ziegler der Meinung ist, dass nur Lehrkräfte mit einer speziellen didaktischen Zusatzausbildung Politische Bildung unterrichten sollten. Die Fachhochschule verteidigt so einfach ihre Vormachtstellung und will, dass auch in diesem neuen Fach niemand an der Fachhochschule vorbeikommt. Ich finde, dass alle politisch interessierten LehrerInnen, die ja in ihren Fachausbildungen didaktisch bereits geschult worden sind, kompetent genug sind, als Citoyen und Citoyenne die Jugendlichen in aktuelle politische Zusammenhänge einzuführen.

Dieses interdiszipläne Hybridfach RZG („Räume, Zeiten, Gesellschaften“) ist eine Pfuscherei und die SchülerInnen in der Volksschule sind die Leidtragenden.

Skeptisch bis ablehnend dagegen bin ich gegenüber der Situation auf der SekI-Stufe, denn dort wird nicht über die Einführung eines zusätzlichen Angebotes “Politische Bildung” verhandelt, sondern dort hat man bekanntlich die bisher mit je zwei Jahresstunden dotierten Fächer Geschichte und Geographie zusammengelegt und dabei eine Jahresstunde gestrichen. Und man akzeptiert stillschweigend, dass eines von den beiden Teilfächern oft fachfremd unterrichtet wird. Für die Schülerinnen und Schüler, die mit 16 Jahren definitiv aus der Schule in die Berufswelt wechseln, bedeutet dies eine klare Verschlechterung im Zusammenhang mit dem politischen Grundwissen. Dieses interdiszipläne Hybridfach RZG („Räume, Zeiten, Gesellschaften“) ist eine Pfuscherei und die SchülerInnen in der Volksschule sind die Leidtragenden.

Felix Schmutz, BL:
Schülerparlamente sind verkrampfte Alibi-Übungen.

Am 13. Januar hat Felix Schmutz kritisch Stellung genommen zu meinem Beitrag. Er fragt sich darin, wie sich Politische Bildung und das Grundlagenfach Geschichte auf der SekII zueinander verhielten. Ganz einfach: An meiner Schule müssen die SchülerInnen ein Projekt abliefern, das benotet wird. Diese Einzelnote fliesst dann entweder in die Jahresnote für Geschichte, Wirtschaft+Recht oder Geographie, je nachdem, welche Lehrkraft Politische Bildung gerade unterrichtet.

Schülerparlamente sinnvoll?

Dann unterstellt mir Felix Schmutz, dass ich auf der SekI politische Bildung interdisziplinär anbieten möchte. Von Schülerparlamenten, “die meist krampfhaft von Lehrpersonen am Leben erhalten werden müssen”, hält er nicht viel, denn das Ganze sei oft eine reine “pädagogische Alibiübung von Erwachsenen”. In der Volksschule soll man kein neues Fach einführen, da bin ich genau gleicher Meinung wie Du, lieber Felix Schmutz. Aber man soll Geschichte und Geographie wieder zu zwei eigenständigen Fächern mit je zwei Jahresstunden aufwerten, dann hat dort vielleicht auch so etwas wie Politische Bildung ein bisschen Platz! Und SchülerInnen-Parlamente halte ich nur dann für eine krampfhafte Alibi-Übung, wenn es dort nichts Reales zu besprechen und zu entscheiden gibt. Voraussetzung dafür, das schulische Partizipationsstrukturen, wie sie Alain Pichard am 15. Januar im Condorcet-Blog unter dem Titel “Partizipation statt Konzepte” als ein Stück gelebter Schuldemokratie anschaulich schildert, wirklich sinnvoll sind, ist aber, dass die Schulleitungen und die Kollegien den Jugendlichen auch tatsächlich Entscheidungsbefugnisse anvertrauen. Doch in der heutigen Zeit haben wir ja auch als Lehrkräfte zunehmend nichts mehr wirklich mitzubestimmen. Die Entdemokratisierung steht in eklatantem Widerspruch zum permanenten Gerede von Partizipation. Das nervt. Aber sowohl Kollegien wie Schülerparlamente müssen sich diese Mitbestimmungsrechte aktiv zurückholen. Die gibt’s nicht gratis. Für die muss man kämpfen. Und das ist eben gelebte Politik!

Die Entdemokratisierung steht in eklatantem Widerspruch zum permanenten Gerede von Partizipation. Das nervt. Aber sowohl Kollegien wie Schülerparlamente müssen sich diese Mitbestimmungsrechte aktiv zurückholen. Die gibt’s nicht gratis. Für die muss man kämpfen. Und das ist eben gelebte Politik!

 

Alain Pichard verdreht meine Gedanken

Alain Pichard, Lehrer SekI: Wirkung von Unterricht ist beschränkt.

Alain Pichard meldete sich am 15. Januar noch mit einem zweiten Beitrag „Ja kein neues Schulfach mehr!“ zu Wort. Darin hängt er mir wieder mal den Weltverbesserer-Mantel um und vermittelt den Eindruck, ich sei so naiv, “mithilfe eines interdisziplinären Faches die ganze Welt retten” zu wollen. Um Gottes Willen, wie werden mir hier meine Gedanken verdreht und verbogen! Ich weiss wie Du, lieber Alain, dass die Wirksamkeit von Schule sehr beschränkt ist und dass man in einem Zusatzfach “Politische Bildung” nur ganz elementares Wissen vermitteln kann. Und auch ich finde, dass die Etablierung und Stärkung von SchülerInnen-Parlamenten eigentlich viel wichtiger ist als ein neues Schulfach. Diese Strukturen muss man aber beharrlich pflegen, die wachsen nur sehr langsam. Und auch die Gesamtkonferenzen der Lehrkräfte müssen wieder zu einer Art Schul-Parlament werden, wo die Lehrerinnen und Lehrer debattieren und auch substantiell etwas zu entscheiden haben.

Politische Bildung als dauerhaften Auftrag verstehen

Politische Debatten in die Schule bringen

An unserer Schule haben wir bei den allgemeinen Bildungszielen im neuen Fach “Politische Bildung” klar zum Ausdruck gebracht, dass wir politische Bildung als einen dauerhaften Auftrag an unserer Schule verstehen.Wir beginnen den Kurs jeweils mit einer klassenübergreifenden Startveranstaltung, die von den Lehrkräften meist an einem ausserschulischen Ort auf die Beine gestellt wird. Kernstück des neuen Faches ist es, pro Klasse ein oder mehrere Themen zu finden, die für die Jugendlichen relevant und von Interesse sind. Das zentrale Bildungsziel haben wir folgendermassen umschrieben: “Wir erkennen und formulieren, was uns als gesellschaftliche Wesen etwas angeht, wir bemühen uns, sachlich die Widersprüchlichkeit und die Komplexität eines Themas besser verstehen zu lernen, und wir tragen unser Thema und unser Anliegen in einen öffentlichen Raum und stellen uns den Diskussionen, die sich daraus ergeben.”

Das können dann etwa Podiumsdiskussionen an der Schule sein, Debatten mit Direktbetroffenen ausserhalb der Schule, eine Radiosendung, eine Ausstellung, eine Infoveranstaltung mit Fachleuten oder der Besuch einer historischen Stätte oder die Lancierung einer Petition. Das rettet alles noch nicht die Welt, aber das gehört zum Rüstzeug eines politischen Bewusstseins, das es in unserem Staate dringend braucht! So hab ich das gemeint.

The post Politische Bildung: Zuerst die Missverständnisse ausräumen, dann debattieren! first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2020/01/politische-bildung-zuerst-die-missverstaendnisse-ausraeumen-dann-debattieren/feed/ 0
Partizipation statt Konzepte https://condorcet.ch/2020/01/partizipation-statt-konzepte/ https://condorcet.ch/2020/01/partizipation-statt-konzepte/#respond Wed, 15 Jan 2020 17:10:23 +0000 https://condorcet.ch/?p=3635

In seinem 2. Beitrag zum Thema "Politische Bildung" zeigt Condorcet-Autor Alain Pichard anhand eines ganz praktischen Beispiels, wie die Schüler in Entscheidungsprozesse eingebunden werden.

The post Partizipation statt Konzepte first appeared on Condorcet.

]]>

Im  OSZ-Orpund  treffen sich die die Klassenvertreter sechsmal im Jahr im Schülerrat, debattieren, formulieren Kritik oder machen Verbesserungsvorschläge. Die Sitzungen finden jeweils während der Schulzeit statt. Bedingung: Es muss ein Protokoll geführt werden (das unsere Lehrkräfte übrigens mit grösstem Interesse lesen).

Der Schülerrat schuf die althergekommene Weihnachtsfeier ab und organisierte eine Weihnachtsdisco im selbst umgebauten Schülerraum.

Die junge Truppe hat in der Vergangenheit einiges erreicht: Sie sorgte dafür, dass aus der ehemaligen Abwartswohnung ein Schülerraum geschaffen wurde, wehrte  sich gegen Ernährungsvorschriften, sorgte dafür, dass zweimal in der Woche ein Pausenbeck kommt und erstritt sich die Wiederholung eines ins Wasser gefallenen Sportanlasses.

Lustig wird es immer, wenn die Schüler die Regeln, welche in unserem Schulhaus gelten, diskutieren.

Pausenregelung und Handyverbot wird regelmässig bestritten

Einige Verbote nerven. Und so kommt es regelmässig vor, dass ihre Sprecher an der Lehrerkonferenz den Antrag stellen, diese zu streichen oder abzuschwächen. Das war auch letztes Jahr so. Es ging um das Handyverbot und die Pausenregelung. Die beiden Ratspräsidentinnen erinnerten daran, dass sie selber keine Unterstufenschüler mehr seien und selber entscheiden könnten, ob sie in der Pause hinausgehen können. Das Handyverbot fochten sie nicht an, da am OSZ-Orpund die Handys im Unterricht schon lange eingesetzt werden können. Das Problem ist die 10-Uhr-Pause, auch dort wollten die SchülerInnen das Handy frei benutzen können. Das stiess bei den Lehrkräften auf Widerstand. Und so entstand eine animierte Diskussion, wie sie auch in einem Stadtparlament hätte stattfinden können. Den Schülern ging es um Eigenverantwortung und Selbstbestimmung, während auf der Lehrerseite Sorgen um die Handhabung geäussert wurden.

Wurden die Forderungen des SchülerInnenrats letztmals noch abgelehnt, so stimmte diesmal die Mehrheit des Kollegiums dem Antrag zu. Der Kniff war, dass der Schülerrat vorschlug, die Neuregelung mal auf Versuchsbasis durchzuführen, um dann zu schauen, wie es funktioniert.

Partizipation statt eine neues theoretisches Schulfach

Jungfreisinnigen haben soeben das Schulfach “Politik”  gefordert und die Stadt Biel hat kürzlich ein Konzept ausarbeiten lassen, wie man das politische Interesse der Schüler steigern könne.

Natürlich ist eine Debatte über die Finkenregelung nicht so sexy wie eine Petition gegen den Klimawandel. Aber was die Nachhaltigkeit in Sachen politischer Bildung betrifft, glaube ich, hat eine Debatte über den Pausenbeck oder das Handyverbot ihre Vorteile.

Vertrauen zahlt sich aus

Im OSZ-Orpund setzt man auf Partizipation. Und die SchülerInnen lernen mit ihrer Tätigkeit nicht nur viel über reelle politische Prozesse. Sie geben das Vertrauen der Lehrkräfte auch zurück. So waren sie es, welche vor einem Jahr die Urheber einer zerbrochenen Türe im Schülerraum überführten. Und sie gestalten das Schuljahr mit eigenen Ideen mit. Sie entstaubten die traditionellen Weihnachtsfeiern, indem sie eine Weihnachtsdisco organisierten, oder hatten die geniale Idee, einen Weltuntergangsball zu inszenieren.

Natürlich ist eine Debatte über die Finkenregelung nicht so sexy wie eine Petition gegen den Klimawandel. Aber was die Nachhaltigkeit in Sachen politischer Bildung betrifft, glaube ich, hat eine Debatte über den Pausenbeck oder das Handyverbot ihre Vorteile.

Natürlich geht es nicht ganz ohne Hilfe. Dreimal dürfen Sie raten, wer den Schülern den Tipp gegeben hat, ihre Vorstösse als Versuch zu deklarieren.

 

 

The post Partizipation statt Konzepte first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2020/01/partizipation-statt-konzepte/feed/ 0