Leseschwäche - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 09 Apr 2024 06:18:26 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Leseschwäche - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Reformspektakel als Geschäftsmodell https://condorcet.ch/2024/04/reformspektakel-als-geschaeftsmodell/ https://condorcet.ch/2024/04/reformspektakel-als-geschaeftsmodell/#comments Tue, 09 Apr 2024 06:18:26 +0000 https://condorcet.ch/?p=16436

Im neuen Inform, der Verbandszeitung des Baselllandschaftlichen Lehrerinnen- und Lehrervereins, setzt sich Verbandspräsident und Condordet-Autor Philipp Loretz mit der alarmistischen Rhetorik und den Forderungen von "intrinsic" und Co. auseinander. Er kommt zu einem niederschmetternden Befund.

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«Die Schweiz ist das schlechteste Land der Welt», «ein überholtes Lernverständnis aus der industriellen Zeit erzeugt Frust und schlechte Leistung», «das Gleichschritt-Marsch-System zerstört das Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen».

So tönt derzeit die medial kolportierte alarmistische Krisenbewirtschaftung von Herausforderungen im Bildungswesen. Umtriebige Bildungs«experten» und gewiefte Geschäftemacher kämpfen gar für eine «radikale Bildungsrevolution». Mit ihrem martialisch-exaltierten Wording suggerieren sie, das gegenwärtige Schulsystem lasse lediglich verantwortungslose Lernwege zu – jenseits von Würde und Eigenmotivation. Starker Tobak, der von Felix Schmutz [1] oder Carl Bossard [2] dekonstruiert wird.

Erproben Sie Ihr Schulmodell doch über einen längeren Zeitraum an 10 verschiedenen Standorten in der Schweiz und lassen Sie es von unabhängigen Forschern im Vergleich zu 10 «traditionellen» Schulen mit Tests in Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen, Geschichte, Biologie und Physik evaluieren.

Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1,Präsident des lvb: Mehr Demut, meine lieben Bildungsrevolutionäre.

Unbestritten: Auf den grassierenden Illetrismus, den überfrachteten Lehrplan 21, den quantitativen und qualitativen Lehrpersonenmangel braucht es griffige, nachhaltige Antworten. Das hat die umfassende LVB-Mitgliederbefragung zu den Belastungsfaktoren im Lehrberuf eindrücklich gezeigt. Im Gegensatz zur seriösen Erhebung und sorgfältigen Auswertung des LVB setzen die Reformturbos auf pseudowissenschaftliches Spiegelfechten mittels selektiv ausgewählter, tendenziöser und mitunter abenteuerlich interpretierter Studien, u.a. konzipiert von einer Tochterfirma des US- Milliardenkonzerns Marsh & McLennan Companies.

Wer profitiert? Die üblichen Verdächtigen reiben sich die Hände, allen voran VR/KI-Firmen und private Anbieter heilsversprechender Weiterbildungen, denn die grösstmögliche Individualisierung vor Bildschirmen ist Teil der Konzepte. Prominent vertreten: Bildungsmanager der Stiftung Mercator, Geschäftsleitungsmitglieder des Schulleiterverbandes Schweiz (VSLCH) und Hochschul-Exponenten, die u.a. im Beirat des Privatunternehmens «intrinsic» sitzen. Dieses baut dank der Finanzspritzen seines Netzwerks Parallelstrukturen in der Lehrerbildung weiter aus und kann die öffentlichen Schulen wegen des anhaltenden Lehrpersonenmangels ungehindert mit seinen zweifelhaften Konzepten infiltrieren.

Vor dem Hintergrund der wohl einmaligen Integrationsleistung des Schweizer Bildungssystems, der 23 Medaillen der Schweizer Berufs-Champions an den WorldSkills Competitions 2022 in Shanghai oder der rekordtiefen Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Raum lege ich den ungemein sendungsbewussten Bildungsrevolutionären ans Herz, sich etwas mehr in Demut zu üben, die «Push-To-Talk- Taste» loszulassen und stattdessen die Auswirkungen der Grossreformen der letzten 20 Jahre zuerst genau unter die Lupe zu nehmen. Bessere Französischkenntnisse dank Frühfranzösisch? Mehr Wissen und Können dank des Lehrplans 21? Höhere Sek II-Abschlussquoten dank mehr Inklusion? Bessere Lehrerbildung dank Akademisierung der Pädagogischen Hochschulen? Welche überschwänglichen Versprechungen wurden tatsächlich Realität?

Die Verantwortungsträger aus Politik und Wirtschaft sind gut beraten, sich von den eindimensionalen Worthülsen der Kampagnenführer nicht Sand in die Augen streuen zu lassen.

Der Sturm-und-Drang-Fraktion der Schulreformer unterbreite ich folgenden Vorschlag: Erproben Sie Ihr Schulmodell doch über einen längeren Zeitraum an 10 verschiedenen Standorten in der Schweiz und lassen Sie es von unabhängigen Forschern im Vergleich zu 10 «traditionellen» Schulen mit Tests in Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen, Geschichte, Biologie und Physik evaluieren. Melden Sie sich erst wieder nach Abschluss der Evaluation, anstatt einmal mehr aufs Geratewohl ein Medikament ohne Wirksamkeitsnachweis auf den Bildungsmarkt zu werfen und den Beipackzettel mit den Nebenwirkungen zu unterschlagen. In der Arzneimittelforschung ist ein solches Vorgehen verboten. Zuwiderhandlungen werden mit Berufsverbot geahndet.

 

Eindimnsionale Worthülsen

Die Verantwortungsträger aus Politik und Wirtschaft sind gut beraten, sich von den eindimensionalen Worthülsen der Kampagnenführer nicht Sand in die Augen streuen zu lassen. Für ein funktionierendes Bildungssystem und eine erfolgreiche Integration unserer Jugend in den Arbeitsmarkt brauchen wir ganz bestimmt keine angloamerikanischen Verhältnisse mit Privatschulen für die Reichen und Restschulen für die weniger Begüterten, sondern eine starke, humanistisch wie leistungsorientiert geprägte öffentliche Volksschule für alle.

[1] Felix Schmutz, Der Vorstand des VSLCH bemüht sich um Schulrevolution
[2] Carl Bossard, Wer steuert eigentlich das Bildungsboot?
Philipp Loretz, Reformspektakel als Geschäftsmodell (publiziert in der Aprilausgabe der Verbandszeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB)

 

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Lesemisere – es braucht eine sorgfältige Analyse https://condorcet.ch/2023/12/lesemisere-es-braucht-eine-sorgfaeltige-analyse/ https://condorcet.ch/2023/12/lesemisere-es-braucht-eine-sorgfaeltige-analyse/#respond Mon, 11 Dec 2023 10:13:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=15449

Es sei – so die Autorin Eliane Perret - hinlänglich bekannt, dass heute eine grosse Anzahl von ihnen nicht über ausreichende Lese- und Schreibkompetenzen verfügen, um den privaten und beruflichen Alltag selbstständig und befriedigend gestalten zu können. Wir bringen Ihnen ihre unaufgeregte Analyse.

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Die PISA-Studie, wie immer man sie auch qualitativ bewerten mag, hat es wiederum gezeigt: Die Lesefertigkeit der Schweizer Jugendlichen nehmen stetig ab. In unserer Gesellschaft ist man unzählige Male am Tag mit Schrift und Text konfrontiert. Wer nur mit Mühe eine Text entziffern kann und kaum oder gar nicht versteht, was drin steht, ist nicht nur in seinem Lebensalltag und -zielen eingeschränkt, sondern auch in seiner Selbsteinschätzung ein wertvoller und gleichwertiger Mensch zu sein zutiefst betroffen.

Bereits um die Jahrtausendwende war der Anteil von Jugendlichen mit sehr schwachen Lesefähigkeiten mit 12 Prozent Besorgnis erregend. 2014 zählte man im Bundesamt für Statistik (BfS) 800’000 betroffene Menschen und befürchtete eine Zunahme in den nächsten Jahren. Den seither getroffenen Massnahmen lagen offensichtlich eine unsorgfältige Analyse und fehlgeleitete Massnahmen zugrunde – auch jetzt!

Einmal mehr: der Föderalismus

Wie nicht anders zu erwarten, kam der Föderalismus wieder auf die Anklagebank und es wurde nach einheitlichen, «von oben» diktierten Massnahmen gerufen. Eine Strategie hin zum Zentralismus, die mit und seit der Volksabstimmung 2006 zum Bildungsartikel verfolgt wird. Abgesehen davon, dass die Leselernmethoden und auch der Leseunterricht nicht an den Kantonsgrenzen wechseln und mit der Einführung des Lehrplans 21 sowieso angeglichen wurde, ist die noch verbliebene Kantonshoheit im Bildungsbereich nach wie vor ein Garant dafür, dass auf die Gegebenheiten und Bedürfnisse der jeweiligen Kantone ausgerichtet und schnell und gezielt Massnahmen ergriffen werden könnten.

Psychologin und Heilpädagogin Eliane Perret: “Eine Verbesserung ist nicht in Sicht.”

Migrantenkinder – schon aber

Eine weitere Erklärung richtet den Fokus auf die zunehmende Zahl von Kindern, die nicht Deutsch als Erstsprache haben. Natürlich steht damit ein pädagogisches Problem an, denn sie brauchen fundierte Deutschkenntnisse und nicht Fragmente verschiedener Sprachen. Das war lange Zeit durch speziell dafür eingerichtete Klassen gegeben, in denen Kinder, die neu in unser Land kamen, einen gründlichen, aufbauenden Unterricht in der neuen Sprache hatten. Heute müssen sich die meisten von ihnen von Anfang an mit einigen Stunden zusätzlichem Deutschunterricht in einer Regelklasse zurechtfinden, was für sie einen Mangel an Chancengerechtigkeit und eine Belastung für die Schulklasse bedeutet. Diese Argumentation übersieht aber auch die mangelnden Deutschkenntnisse auch bei den Kindern, die hier aufwachsen und Deutsch als Erstsprache lernen.

Es fehlen anregende Lernprozesse

Weiter hört man auch, dass die Heterogenität in den Klassen die Ursache des Problems sei. Als Lösung wird differenzierender Unterricht vorgeschlagen. Das negiert die Realität der heutigen Klassen, denn individualisierendes Lernen ist in den meisten Schulzimmern schon lange Realität. Hintergrund sind entsprechende Theorien oder besser Ideologien, erzwungen durch die sogenannte Integration aller Kinder in der Regelklasse – und ist gerade eine der Ursachen der Lesemisere. Wenn Kinder vereinzelt ihre Lernprogramme abarbeiten sollen, so verhindert gerade dies einen sprachlich anregenden Lernprozess. Es fehlen die Modellwirkung sprachgewandter Kinder und ein Übungsfeld des gemeinsamen, anregenden Gesprächs und Lesens – kurz das Lernen von- und miteinander, entscheidend für einen gelingenden Lese- und Sprachlernprozess.

Denkblockaden in der Analyse

Wenn tatsächlich eine Lösung der Lesemisere gefunden werden soll, dann müssten bestimmte Denkblockaden überwunden werden. Eine davon ist die Unantastbarkeit des digitalen Lernens. Schwedens Bildungsbehörden hatten vor einiger Zeit den Mut, Forschungsergebnisse ihres renommierten Karolinska-Forschungsinstitutes ernst zu nehmen und die bisher als Unterrichtsmittel üblichen digitalen Geräte, allen voran die Tablets, aus den Schulzimmern der Primarschüler zu entfernen und zu Schulbüchern zurückzukehren. Das fand in unseren Medien und offensichtlich auch bei unseren Bildungspolitikern wenig Gehör. Sie blieben beim längst überholten Argument, damit die Kinder auf die Welt von morgen vorbereiten zu wollen.

Die Lesemethoden unter die Lupe nehmen

Um die Lesemisere in der Schweiz zu beheben, müssten auch heisse Eisen angefasst werden: Vernachlässigt wurde bisher, dass Leseschwächen und -störungen oft verursacht sind durch untaugliche, mittlerweile im Ausland teilweise verbotene Methoden, mit denen sich Kinder falsche Lernstrategien und Fehler aneignen, die später nur noch schwer zu korrigieren sind. Viele Jugendliche, die heute die PISA-Tests machten, mussten noch mit Jürg Reichens Methode «Lesen durch Schreiben» lesen lernen, ähnliche Methoden sind auch heute noch üblich.

Kein weiterer Zuckerguss

Die nächste PISA-Untersuchung kommt bestimmt. Über deren Sinn und vor allem bildungspolitische Zielsetzung endlich zu diskutieren, wäre das eine. Sicher aber werden die Resultate nicht besser werden, wenn die «heissen Eisen» nicht angepackt werden.

 

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Plädoyer für eine Renaissance der Schullektüre https://condorcet.ch/2023/11/plaedoyer-fuer-eine-renaissance-der-schullektuere/ https://condorcet.ch/2023/11/plaedoyer-fuer-eine-renaissance-der-schullektuere/#comments Sun, 26 Nov 2023 15:25:55 +0000 https://condorcet.ch/?p=15376

Condorcet-Autor Carl Bossard mahnt zur Rückkehr zu einem konzentrierten Lesen und fordert eine Renaissance der Lektüre.

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Wir wissen es schon lange, doch wir verdrängen es. Die NZZ am Sonntag machte es vor Kurzem wieder publik: Die Lesefreude nimmt bei den Jugendlichen ab – ebenso wie die Lesefähigkeit generell. Seit Jahren sinkt sie. Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelt damit unter dem Durchschnitt und klar hinter Nachbar Deutschland!

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Die Gruppe derer, die einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Textteilen nicht herstellen können, wuchs auf 24 Prozent. Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verständig lesen, diagnostiziert die PISA-Studie. Er ist nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Er vermag das Geschriebene zwar zu entziffern, versteht aber das Gelesene im Gesamtkontext nicht. Das ist besorgniserregend. Auch demokratiepolitisch. Lesen bleibt der Schlüssel fürs Lernen und die Teilhabe an der Welt – und unserer Demokratie.

Das Kernproblem der mangelnden Lesekompetenz nicht weniger junger Menschen liegt beim Verstehen. Konzentrierte Lektüre wird seltener, das intensive Lesen nimmt ab. Usanz ist heute das Lesen von WhatsApp-Nachtrichten und von flüchtig gescannten Kurztexten. Das gehört zum Leben junger Leute, ebenso Social-Media-Kanäle wie Tiktok. Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones. Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen.

Steigendes Unbehagen am Lesen

Dass vieles so leicht zu haben ist, zeitigt Folgen. Wer kurze Wege gewohnt ist, reagiert unwirsch auf längere, oder anders gesagt: Die Welt der nicht alltäglichen Sprache, des differenzierenden Diskurses ist für manche Schülerinnen und Schüler eine unvertraute Gegend. Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird für sie zur Schwerstarbeit, die Aufgabe einer nuancierten Versprachlichung zur subjektiven Zumutung. So öffnen sich neue Sprachbarrieren. Das Unbehagen am Lesen steigt. Umso mehr müsste die Schule hier Gegensteuer geben und die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten herausholen und ihnen als Brückenbauerin andere (Lese-)Welten einsichtig machen – und sie darin trainieren. Die Freude am Lesen kommt mit dem Können. Es ist eine Überbrückungsarbeit zwischen den Schülerhorizonten und dem elementaren Bildungsauftrag der Schule. Dies nicht zuletzt im Interesse von Kindern, die aus sozial eher schwächeren Familien kommen und es schwerer haben. Hier liegt eine der ganz wichtigen Aufgaben der Schule. Auch in demokratiepolitischer Hinsicht. Lesekompetenzen und Formen des Lesens sind keine Relikte eines analogen Zeitalters.

Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird für so manche Schülerinnen und Schüler heute zur Schwerstarbeit.

Nicht “mehr und Zusätzliches” wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität. Das bedeutet für Lehrpersonen einen spürbaren Zuwachs an Anstrengung, bleibt aber als Aufgabe und didaktische Pflicht. Dieser Auftrag braucht Zeit. Doch sie fehlt. An der Schule muss zu vieles gleichzeitig erarbeitet werden: Deutsch, Frühenglisch, Frühfranzösisch, die ganze Integration und anderes mehr. Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Lehrerinnen und Lehrer kommen deutlich weniger zum Üben. Aus der Gedächtnispsychologie wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt auch für die grundlegende Kulturtechnik des Lesens.

Wachsende Aufgabenfülle reduziert die Übungszeit

Vertieftes und konzentriertes Lesen oder “deep reading”, wie es die Leseforschung nennt, muss geduldig gelehrt, intensiv und auch gemeinsam geübt und reflektiert werden. Aus Sicht der Wissenschaft zuerst mit analogen und erst dann mit digitalen Medien. Dazu schreibt Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler und Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: “Wir brauchen eine Renaissance der Lektüre, eine Renaissance des Leseunterrichts, und zwar im Kern des Curriculums, mit Lektürestunden in jeder Schulart und in jedem Schulfach.” Es ist das alte Postulat: “Get the fundamentals right, the rest will follow.” Auf die guten Grundlagen kommt es an!

 

Carl Bossard

Ehemaliger Direktor Kantonsschule Luzern und Gründungsrektor Pädagogische Hochschule PH Zug

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Braucht es den Nachteilsausgleich für Legastheniker? https://condorcet.ch/2020/03/braucht-es-den-nachteilsausgleich-fuer-legastheniker/ https://condorcet.ch/2020/03/braucht-es-den-nachteilsausgleich-fuer-legastheniker/#comments Sun, 29 Mar 2020 16:02:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=4458

Condorcet-Autor Felix Schmutz spricht in diesem Artikel ein heisses Eisen an. Der Nachteilsausgleich wird heute von immer mehr Eltern für ihre Kinder beansprucht. Doch bringt er wirklich das, was er verspricht? Felix Schmutz hat da seine Zweifel.

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Felix Schmutz, Baselland

Hilfsmassnahme für Benachteiligte

Vor etwa einem Jahrzehnt hielt der so genannte Nachteilsausgleich Einzug in die Volksschulen. Auf Kinder mit Lese-Rechtschreibe-Schwäche (LRS) sollte besser Rücksicht genommen werden. Lehrpersonen waren gehalten, ihnen in Prüfungen Erleichterungen und alternative Testverfahren anzubieten, damit ihre Chancen trotz des Handicaps gewahrt blieben.

Nur Inhalt wird beurteilt – keine Rechtschreibung

So erhalten sie seither zum Beispiel mehr Zeit zum Lösen der Aufgaben oder sie dürfen Textbeiträge mit dem Computer schreiben anstatt von Hand und erst noch ein Rechtschreibprogramm zur Fehlerkorrektur nutzen. In Aufsätzen wird nur der Inhalt beurteilt, nicht aber die Rechtschreibung; Vorlesen dürfen sie in einem Nebenraum anstatt vor der ganzen Klasse, usw.

Qualvolle Misserfolgserlebnisse

Was ist genau ein Nachteil?

Dass schulisches Lernen für Kinder mit LRS eine grosse Herausforderung ist, wird heute niemand mehr bestreiten. Wenn grundlegende Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen unüberwindliche Schwierigkeiten bieten, ist das ganze schulische und berufliche Lernen geprägt durch qualvolle Misserfolgserlebnisse. Lebenschancen verstreichen ungenutzt, manchmal resultiert aus der LRS ein funktioneller Analphabetismus im Erwachsenenalter.

Dennoch darf die Frage gestellt werden: Hilft diesen Kindern und Jugendlichen der Nachteilsausgleich (NA) in der Schule und später vielleicht sogar in der Lehre? Ist der NA tatsächlich ein taugliches Mittel zur Verbesserung der Chancengleichheit bei LRS-Betroffenen?

Die WHO schaltet sich ein

Die Einführung des NA hängt eng damit zusammen, dass die Weltgesundheitsorganisation die Lese-Rechtschreib-Schwäche in ihren ICD-Katalog der Krankheiten und Störungen aufgenommen hat. Allerdings wird LRS nicht als Krankheit aufgeführt, sie erscheint im Abschnitt «Psychische und Verhaltensstörungen», und zwar im Unterkapitel «Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten»[1].

Die alleinige Tatsache, dass diese Entwicklungsstörung im ICD-Katalog erscheint, hat sie in den Augen der auf Integration und Chancengleichheit eingeschworenen Bildungsfachleute zur «Krankheit» oder zur «Behinderung» aufgewertet. Das ist jedoch eine Umdeutung, es ist die etwas fragwürdige Pathologisierung eines Phänomens, das bis anhin verharmlosend mit dem Etikett «Übungsdefizite» versehen worden war. [2]

Die ICD-Klassifizierung unterscheidet die LRS-Störungen deutlich von tatsächlichen Behinderungen und Krankheiten wie Schwerhörigkeit, Mutismus, Aphasie, ADHS, usw. Sie charakterisiert LRS als behandelbare Entwicklungsstörung oder Entwicklungsverzögerung, bei der die auditiven und visuellen Sprachsignale im Gehirn nicht erwartungsgemäss verarbeitet werden. Sie unterscheidet LRS auch von Verarbeitungsproblemen infolge kognitiver Minderleistungsfähigkeit. Kognitive Einschränkungen können zu ähnlichen Symptomen führen wie LRS. Um LRS zu diagnostizieren, braucht man eine aufwändige Testbatterie, die es erlaubt, LRS von Gebrechen oder Intelligenzschwäche abzugrenzen und die Art der Verarbeitungsstörungen genau zu definieren. Eine solche Diagnostik ist wohl nur unter klinischen Bedingungen möglich.

Die Frage der Gerechtigkeit

Diskalkulie oder Faulheit?

Wenn bei einem Kind eine LRS von der Schulpsychologie bescheinigt wird, muss die Schule den Nachteilsausgleich gewähren. In der Praxis ist das jedoch nicht so einfach, wie sich das in den oben genannten Beispielen anhört. Wenn plötzlich formale Aspekte wie sprachliche Korrektheit, Textverständnis, Zeitdruck, Wortschatzkenntnisse, handschriftliches Formulieren durch alternative Verfahren erleichtert werden, entsteht eine Ungerechtigkeit den Kindern gegenüber, die diese Angebote nicht erhalten. Die genannten Leistungen beruhen für alle Kinder, auch für diejenigen ohne LRS, auf Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ihnen nicht angeboren sind, sondern die sie durch Übung und etwelche Mühe erwerben müssen.

Zuordnungskompetenz und Zugriffskompetenz sind nicht das Gleiche

Wer einem Lernenden, der sich wegen LRS Französischwörter nicht einprägen kann, erlaubt, die Wörter in einer Multiple Choice Aufgabe anzukreuzen, anstatt sie auswendig erinnern und einem Bild mündlich oder schriftlich ohne Vorlage zuordnen zu müssen, stellt diesem nicht mehr dieselbe Aufgabe wie dem Kind ohne LRS. Man erleichtert ihm die Aufgabe nicht nur, sondern prüft eine andere Kompetenz. Zuordnungskompetenz und Zugriffskompetenz sind nicht dasselbe. Die Aufgaben sind somit nicht gleichwertig, verlangen nicht eine gleichwertige Leistung. Die Frage der Gerechtigkeit stellt sich auch deshalb, weil Kindern mit unterdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten ein Nachteilsausgleich nicht zu Teil werden darf.

Das berufliche und private Leben oder auch der Sport kennen keinen solchen Nachteilsausgleich.

Nutzen des Nachteilsausgleichs

Ein weiteres Problem: Das berufliche und private Leben oder auch der Sport kennen keinen solchen Nachteilsausgleich. Wenn die erwarteten Kompetenzen zwingend vorhanden sein müssen, um einen Beruf oder einen Sport ausüben zu können, muss eine Schwäche überwunden werden. Lernenden solche Kompetenzen zu erlassen, um sie durch eine Prüfung zu bringen, nützt ihnen demzufolge nichts. Denn sie werden an den nicht vorhandenen Kompetenzen in jedem Fall scheitern.

In der Praxis sendet er jedoch unerwünschte Signale aus: Ein Kind bekommt gleichsam amtlich bestätigt, dass es etwas nicht kann und deshalb auch nicht können muss.

Gedacht ist der Nachteilsausgleich als Kompensation einer Chancenungleichheit. In der Praxis sendet er jedoch unerwünschte Signale aus: Ein Kind bekommt gleichsam amtlich bestätigt, dass es etwas nicht kann und deshalb auch nicht können muss. Das wirkt sich oft so aus, dass Kinder und Jugendliche mit einem verbrieften Recht auf Nachteilsausgleich gar keine Anstrengungen mehr unternehmen, an ihren Schwächen zu arbeiten. Während andere sich mit Üben und Lernen herumplagen, ruhen sich gewisse LRS-Kinder aus, verzichten bald einmal aufs Erledigen von Hausaufgaben, aufs Üben oder aufs Wörterlernen. Es braucht dann sehr viel Überredungskunst, um sie doch noch zur Anstrengung zu motivieren.

Die Hoffnung, Kindern mit Erleichterungen Diskriminierung zu ersparen, kann sozial genau das Gegenteil bewirken.

Nachteilsausgleich: Erreicht er das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt?

Schlimmer noch: Die Hoffnung, Kindern mit Erleichterungen Diskriminierung zu ersparen, kann sozial genau das Gegenteil bewirken. Sie werden in eine Opferrolle gedrängt, von wohlmeinenden Eltern darin noch bestärkt, wenn diese intervenieren, weil sie das Gefühl haben, die Schule nähme nicht genügend Rücksicht. Das weckt mit der Zeit den Neid der andern in der Klasse, denen die Anstrengung nicht erspart bleibt. Häme, Ausgrenzung können leicht die Folge sein. Es gibt auch Eltern, die den Arzt oder Psychologen so lange bestürmen, bis ihr Sprössling einen NA zugesprochen bekommt, obwohl objektive klinische Kriterien dies nicht wirklich nahelegen würden.

Scheinlösung und Ausweg

Der Nachteilsausgleich ist vor allem eine Scheinlösung, weil sich die Schule, bzw. die Bildungsbehörden, dadurch die Kosten für eine genaue Diagnostik und eine effiziente Therapie sparen können. Wie der Neurologe Burkart Fischer aus Freiburg i.Br. ausführt, können die Schwächen mit einer gezielten Diagnostik genau dingfest gemacht und anschliessend gezielt individuell therapiert werden. Die Therapien, die er zum Blicktraining, zur Blicksteuerung, zur auditiven Wahrnehmung entwickelt hat, ermöglichen Kindern, die Schwächen, die sie an der Verarbeitung der Sprache hindern, signifikant zu verbessern, so dass sie mit nur noch geringen Abstrichen die schulischen Leistungen erbringen können, zu denen sie ohne LRS fähig wären.[3]

Nachteilsausgleich als Sparübung

Der NA ist eine Sparübung auf dem Buckel der LRS-Betroffenen. Vor der Einführung des NA gewährten ihnen die Behörden ein eng umgrenztes, einheitliches Kontingent an logopädischer Hilfe, ohne Rücksicht darauf, wie intensiv und wie lange ein Kind therapiert werden musste. Wenn das Kontingent in der Sekundarstufe I aufgebraucht war, hiess es: «Débrouillez-vous.»

Die Hoffnung, Kindern mit Erleichterungen Diskriminierung zu ersparen, kann sozial genau das Gegenteil bewirken.

Eine erfolgversprechende Therapie müsste früh beginnen.
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Mit dem NA ziehen sich die Behörden bequem aus der Affäre. Der Schwarze Peter wird einfach an die Schule weitergereicht. Ein Beitrag zur Chancengerechtigkeit ist dies jedoch nicht. Im Gegenteil: Die Hoffnung, Kindern mit Erleichterungen Diskriminierung zu ersparen, kann sozial genau das Gegenteil bewirken.

Eine erfolgversprechende Therapie müsste gleich bei der Einschulung beginnen und, wenn nötig, kontinuierlich weitergeführt werden, insbesondere, wenn mehrere Verarbeitungsschwächen zusammentreffen. Da die Kinder mit LRS per definitionem intelligent genug sind, können sie lernen, Strategien anzuwenden, mit denen sie ihre Schwierigkeiten einigermassen in den Griff bekommen können. Das Training müsste im Übrigen stets von speziell ausgebildeten Logopädinnen durchgeführt und den jeweiligen schulischen Anforderungen angepasst werden. Es wäre ein ehrlicherer Beitrag zur Verhinderung des funktionellen Analphabetismus als die Scheinlösung mit dem Nachteilsausgleich.

 

[1] https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2019/block-f80-f89.htm

[2] Bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts bezeichnete der Schulpsychologe Dr. F. Schniepper lediglich multiple Verarbeitungsstörungen als Legasthenie.

[3] Burkart Fischer, Hören – Sehen – Blicken – Zählen. Teilleistungen und ihre Störungen, Bern 2007.

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