Lehrplan 21 - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 25 Apr 2024 05:49:39 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Lehrplan 21 - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Es braucht den starken Druck der Förderklassen-Initiative! https://condorcet.ch/2024/04/es-braucht-den-starken-druck-der-foerderklassen-initiative/ https://condorcet.ch/2024/04/es-braucht-den-starken-druck-der-foerderklassen-initiative/#respond Thu, 25 Apr 2024 05:49:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=16577

Für den aktuellen Newsletter der Starken Volksschule Zürich zeigt sich Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz verantwortlich

The post Es braucht den starken Druck der Förderklassen-Initiative! first appeared on Condorcet.

]]>

Schon seit zwanzig Jahren wird am Modell der integrativen Volksschule herumgeflickt, ohne dass sich ein überzeugender Erfolg abzeichnet. Begründet durch das Dogma vom Recht aller Schüler auf eine Schullaufbahn in Regelklassen, wird den Lehrpersonen ein Auftrag zugemutet, den sie in vielen Fällen trotz unermüdlichem Einsatz nicht befriedigend erfüllen können. Die Unterstützung in wenigen Lektionen durch Heilpädagoginnen reicht bei Weitem nicht, um in einer heterogenen Klasse oft mehrere verhaltensauffällige Schüler zu stabilisieren. Diese können den Unterricht in den Regelklassen arg durcheinanderbringen, wenn die Lehrerin überall gefordert ist.

Gastautor Hanspeter Amstutz, Starke Schule Zürich: Die Förderklassen-Initiative ist ein konstruktiver Vorschlag

Benötigen einzelne Schüler aussergewöhnlich viel pädagogische Aufmerksamkeit, geht dies klar auf Kosten des Lernfortschritts der ganzen Klasse. Ganz schwache Schüler wiederum, die mit dem Schulstoff generell überfordert sind, fallen im Unterricht zwar weniger auf. Aber sie sind die grossen Verlierer, da ihnen die Erfolgserlebnisse fehlen und sie sich in der Klasse oft ausgegrenzt fühlen. Das Beharren auf dem Dogma der totalen Integration führt zu schulischen Tragödien, die sich im Rahmen einer gut betreuten Förderklasse nicht abspielen würden.

Es liegt an der Politik, flexible Lösungen mit Förderklassen zu ermöglichen

Es wirkt lähmend, dass sich die aktuelle Bildungspolitik in der Integrationsfrage überhaupt nicht flexibel zeigt. Statt das Scheitern der bisherigen Bemühungen einzugestehen und Offenheit für Lösungen mit Förderklassen zu signalisieren, wird das Stigma der Ausgrenzung einzelner Schüler bis zum Überdruss ins Feld geführt. Das anhaltende Beschönigen der Probleme droht unterdessen zu einem ernsten Konflikt mit den Schulpraktikern zu führen. Diese haben absolut genug von den finanziellen und personellen Versprechungen, die von der Bildungspolitik nicht eingelöst werden können.

Die Förderklassen-Initiative ist ein konstruktiver Vorschlag, um die gegenwärtige Krise zu überwinden. Im Gegensatz zur Zürcher Bildungsdirektion nimmt das breit abgestützte Initiativkomitee die Notsignale aus den Schulklassen ernst und verlangt eine Neuorientierung beim Integrieren. Mit der Unterschriftensammlung kommt Bewegung in eine Sache, die unerträglich lang auf die lange Bank geschoben wurde. Man muss nicht in allen Details mit der Initiative einverstanden sein, um sie zu unterstützen. Aber sie ist ein guter Wegweiser, um aus der Sackgasse herauszukommen.

Es steht der Bildungsdirektion frei, einen Gegenvorschlag zur Volksinitiative auszuarbeiten. Macht sie dies im Sinne einer Öffnung zugunsten der Führung von finanziell vom Kanton besser unterstützten Förderklassen, kann ein Rückzug der Initiative ins Auge gefasst werden. Unternimmt die Regierung nichts oder präsentiert sie nur alten Wein in neuen Schläuchen, kommt die Initiative voll zum Zug.

Eine Diskussionsrunde deckt grosse Frustration an den Schulen auf

Wie die Berichte meiner Redaktionskollegin Marianne Wüthrich und von Condorcet-Redaktorin Claudia Wirz eindrücklich belegen, hat das fair geleitete Podiumsgespräch vom 11. April über die Förderklassen-Initiative den Nerv der Zeit getroffen. Es wurde leidenschaftlich diskutiert und es zeigte sich, dass sich im Publikum ein gewaltiger Frust über die aktuelle Lage in den Klassenzimmern angestaut hat. In überzeugenden Voten gab es heftige Kritik am belastenden System der integrierten Schule. Die gelungene Veranstaltung war ein unüberhörbarer Appell an die Bildungspolitik, sich endlich den Herausforderungen zu stellen und Hand für überzeugende Lösungen zu bieten.

Thomas Minder, Präsident des VSLCH löst Kopfschütteln aus

Abschaffung der Noten als zusätzliche Grossbaustelle?

Nach wie vor löst die vom Vorstand des Schulleiterverbands und anderen Bildungsorganisationen konzertiert vorgetragene Idee einer Abschaffung der Zeugnisnoten grosses Kopfschütteln aus. Ausgerechnet jetzt, wo sich herausstellt, dass eine ganze Reihe von Reformen die Erwartungen bei Weitem nicht erfüllt, soll eine weitere Grossbaustelle eröffnet werden. Das Dreisprachenkonzept der Primarschule erweist sich als hohles Versprechen, das überladene Bildungsprogramm des neuen Lehrplans bleibt ein Papiertiger und von einer wirkungsvollen Bildungssteuerung durch ein übergeordnetes Monitoring kann angesichts des Deutschdebakels im PISA-Test nicht die Rede sein. Dazu kommt die erwähnte Integration, die krachend gescheitert ist.

Die in vielen Medien geführte Diskussion über die Schülerbeurteilung lenkt davon ab, dass es für mehr Schulqualität sehr viel dringendere Massnahmen braucht als eine allfällige Abschaffung der Zeugnisnoten. Es wirkt wie eine Flucht nach vorn, wenn an den offenen Baustellen vorbeigerast und ein weiteres Heilsversprechen in Form einer Schule ohne Noten angekündigt wird. Man fragt sich schon, wie lange diese Art der Schulpolitik noch weitergehen soll.

Oberflächliche Notendiskussion lenkt von zentralen Herausforderungen ab

Bei genauerem Hinsehen auf die Vorschläge zur Abschaffung der Noten fällt auf, dass vieles überhaupt nicht neu ist. An die in Reformschulen praktizierte Grundidee, dass demotivierende schlechte Noten vermieden werden sollen, halten sich gute Pädagogen auch im Rahmen der bisherigen Notenpraxis schon lange. Werden Prüfungen so konzipiert, dass faire Grundanforderungen für das Erreichen einer genügenden Note bei seriösem Üben gestellt werden, entfällt ein zentraler Konfliktpunkt. Wie Carl Bossard zu diesem Thema schreibt, ist es viel wichtiger, dass Lehrpersonen in regelmässigen Schülergesprächen über individuelle Leistungsziele sprechen. Wenn ein im Französisch schwacher Schüler die Grundanforderungen im Hauptteilung der Prüfung (mit begrenztem Stoffumfang) erfüllt und deshalb mindestens eine Vier erreicht, wird er den Kurzkommentar «gut gelernt» neben der Note durchaus schätzen. Dazu braucht es weder Farben für halbwegs noch für vollständig erreichte Ziele oder gar die Abschaffung der Noten.

Die aktuelle Notendiskussion verläuft in höchstem Mass oberflächlich. Sie blendet weitgehend aus, dass ein überladener Lehrplan, ein überforderndes Mehrsprachenkonzept und massiv störende Mitschüler erfolgreiches Lernen in den Klassen weit mehr beeinflussen als jedes Notensystem mit den bekannten Schwächen. Verantwortungsvolle Bildungspolitik zeichnet sich aus durch das Anpacken der zentralen Herausforderungen und nicht durch Schaumschlägerei an Nebenschauplätzen. Für diese Art der Politik besteht zurzeit einiges an Nachholbedarf.

Unsere Textsammlung weist eine ganze Reihe hoch politischer Texte und gründlicher Analysen zu Bildungsthemen auf. Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der spannenden Lektüre!

 

 

 

 

The post Es braucht den starken Druck der Förderklassen-Initiative! first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/04/es-braucht-den-starken-druck-der-foerderklassen-initiative/feed/ 0
Schulrevolution? So ein Blödsinn! https://condorcet.ch/2024/04/schulrevolution-so-ein-bloedsinn/ https://condorcet.ch/2024/04/schulrevolution-so-ein-bloedsinn/#comments Fri, 12 Apr 2024 20:33:48 +0000 https://condorcet.ch/?p=16479

Mit diesem Schreiben rät ein Vater schulpflichtiger Kinder dazu, die geplante Schulrevolution abzusagen. Seine Beobachtungen stimmen nachdenklich.

The post Schulrevolution? So ein Blödsinn! first appeared on Condorcet.

]]>

Als bildungsinteressierter Vater schulpflichtiger Kinder komme ich aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus, wenn ich an die Interviews und Berichte von der Schulrevoluzzer-Front denke, die seit Wochen die Zeitungen füllen. Abschaffung von Noten und Leistungsniveaus in der Sek als Heilmittel für die Volksschule? Noch weiter daneben kann man ja gar nicht liegen.

Was sind stattdessen die tatsächlichen Herausforderungen der Volksschule?

  1. chaotische Zustände in den Klassenzimmern, u.a. als Folge der als alternativlos verkauften physischen Integration nicht beschulbarer Kinder und Jugendlicher, aber auch als Konsequenz «moderner» Unterrichtskonzepte, z.B. Kinder mit iPads oder irgendwelchen Aufträgen auf dem ganzen Schulareal verteilen, ohne Kontrolle, ohne Überblick, ohne Ergebnissicherung (Leerlauf, der am Elternabend als «Selbständigkeit» verkauft wird)
  2. als Folge davon Abdelegieren des Vermittelns von Unterrichtsinhalten an uns Eltern, die sich fragen, wofür sie eigentlich Steuern bezahlen, wenn sie den Bildungsauftrag privat in ihrer Freizeit übernehmen müssen
  3. bei Punkt 2. meine ich explizit auch Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben – diese werden zunehmend im Unterricht nicht mehr richtig geübt, vermittelt, gesichert; gerade in Sachen Rechtschreibung muss zuhause schauen, wer will, dass seine Kinder diese lernen – wie können eigentlich ausgebildete Lehrpersonen die Rechtschreibung als vernachlässigbar taxieren, wo sie erwiesenermassen einen massiven Einfluss auch auf das Verstehen von Texten hat?
  4. die von den Schulrevoluzzern angeprangerten «bösen» Noten sind vor allem dann ein Problem, wenn sie keine Aussagekraft besitzen (z.B. jahrelang 6er im Frühfranzösisch, obwohl das Kind überhaupt gar kein Französisch lernt) oder wenn offensichtlich wird, dass die Lehrperson keine Ahnung hat, wie man eine sinnvolle, altersgerechte Prüfung schreibt, korrigiert und bewertet (der Fachkräftemangel lässt grüssen)
  5. der vollgestopfte Lehrplan 21 hat dazu geführt, dass niemand eine Ahnung hat, was behandelt wird, jeder macht, was er will oder kann oder auch nicht – hatte man nicht Harmonisierung damit versprochen? So kannst du also mehrere Kinder an der gleichen Primarschule haben, die in NMG vollkommen unterschiedliche Themen behandeln – und als Folge davon wissen an der Sek die Lehrer nicht, worauf sie aufbauen könnten – aber das gilt offenbar auch als modern, Slogan: «Abholen, wo sie stehen», nur schade, wenn die Kinder im Regen stehen

Darum: Schulrevolution absagen! Stattdessen dafür sorgen, dass die Schule ihren Bildungsauftrag wieder erfüllen kann – und sicherstellen, dass sie das auch tatsächlich tut!

(Der Name des Verfassers ist der Redaktion bekannt.)

The post Schulrevolution? So ein Blödsinn! first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/04/schulrevolution-so-ein-bloedsinn/feed/ 6
Reformspektakel als Geschäftsmodell https://condorcet.ch/2024/04/reformspektakel-als-geschaeftsmodell/ https://condorcet.ch/2024/04/reformspektakel-als-geschaeftsmodell/#comments Tue, 09 Apr 2024 06:18:26 +0000 https://condorcet.ch/?p=16436

Im neuen Inform, der Verbandszeitung des Baselllandschaftlichen Lehrerinnen- und Lehrervereins, setzt sich Verbandspräsident und Condordet-Autor Philipp Loretz mit der alarmistischen Rhetorik und den Forderungen von "intrinsic" und Co. auseinander. Er kommt zu einem niederschmetternden Befund.

The post Reformspektakel als Geschäftsmodell first appeared on Condorcet.

]]>

«Die Schweiz ist das schlechteste Land der Welt», «ein überholtes Lernverständnis aus der industriellen Zeit erzeugt Frust und schlechte Leistung», «das Gleichschritt-Marsch-System zerstört das Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen».

So tönt derzeit die medial kolportierte alarmistische Krisenbewirtschaftung von Herausforderungen im Bildungswesen. Umtriebige Bildungs«experten» und gewiefte Geschäftemacher kämpfen gar für eine «radikale Bildungsrevolution». Mit ihrem martialisch-exaltierten Wording suggerieren sie, das gegenwärtige Schulsystem lasse lediglich verantwortungslose Lernwege zu – jenseits von Würde und Eigenmotivation. Starker Tobak, der von Felix Schmutz [1] oder Carl Bossard [2] dekonstruiert wird.

Erproben Sie Ihr Schulmodell doch über einen längeren Zeitraum an 10 verschiedenen Standorten in der Schweiz und lassen Sie es von unabhängigen Forschern im Vergleich zu 10 «traditionellen» Schulen mit Tests in Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen, Geschichte, Biologie und Physik evaluieren.

Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1,Präsident des lvb: Mehr Demut, meine lieben Bildungsrevolutionäre.

Unbestritten: Auf den grassierenden Illetrismus, den überfrachteten Lehrplan 21, den quantitativen und qualitativen Lehrpersonenmangel braucht es griffige, nachhaltige Antworten. Das hat die umfassende LVB-Mitgliederbefragung zu den Belastungsfaktoren im Lehrberuf eindrücklich gezeigt. Im Gegensatz zur seriösen Erhebung und sorgfältigen Auswertung des LVB setzen die Reformturbos auf pseudowissenschaftliches Spiegelfechten mittels selektiv ausgewählter, tendenziöser und mitunter abenteuerlich interpretierter Studien, u.a. konzipiert von einer Tochterfirma des US- Milliardenkonzerns Marsh & McLennan Companies.

Wer profitiert? Die üblichen Verdächtigen reiben sich die Hände, allen voran VR/KI-Firmen und private Anbieter heilsversprechender Weiterbildungen, denn die grösstmögliche Individualisierung vor Bildschirmen ist Teil der Konzepte. Prominent vertreten: Bildungsmanager der Stiftung Mercator, Geschäftsleitungsmitglieder des Schulleiterverbandes Schweiz (VSLCH) und Hochschul-Exponenten, die u.a. im Beirat des Privatunternehmens «intrinsic» sitzen. Dieses baut dank der Finanzspritzen seines Netzwerks Parallelstrukturen in der Lehrerbildung weiter aus und kann die öffentlichen Schulen wegen des anhaltenden Lehrpersonenmangels ungehindert mit seinen zweifelhaften Konzepten infiltrieren.

Vor dem Hintergrund der wohl einmaligen Integrationsleistung des Schweizer Bildungssystems, der 23 Medaillen der Schweizer Berufs-Champions an den WorldSkills Competitions 2022 in Shanghai oder der rekordtiefen Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Raum lege ich den ungemein sendungsbewussten Bildungsrevolutionären ans Herz, sich etwas mehr in Demut zu üben, die «Push-To-Talk- Taste» loszulassen und stattdessen die Auswirkungen der Grossreformen der letzten 20 Jahre zuerst genau unter die Lupe zu nehmen. Bessere Französischkenntnisse dank Frühfranzösisch? Mehr Wissen und Können dank des Lehrplans 21? Höhere Sek II-Abschlussquoten dank mehr Inklusion? Bessere Lehrerbildung dank Akademisierung der Pädagogischen Hochschulen? Welche überschwänglichen Versprechungen wurden tatsächlich Realität?

Die Verantwortungsträger aus Politik und Wirtschaft sind gut beraten, sich von den eindimensionalen Worthülsen der Kampagnenführer nicht Sand in die Augen streuen zu lassen.

Der Sturm-und-Drang-Fraktion der Schulreformer unterbreite ich folgenden Vorschlag: Erproben Sie Ihr Schulmodell doch über einen längeren Zeitraum an 10 verschiedenen Standorten in der Schweiz und lassen Sie es von unabhängigen Forschern im Vergleich zu 10 «traditionellen» Schulen mit Tests in Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen, Geschichte, Biologie und Physik evaluieren. Melden Sie sich erst wieder nach Abschluss der Evaluation, anstatt einmal mehr aufs Geratewohl ein Medikament ohne Wirksamkeitsnachweis auf den Bildungsmarkt zu werfen und den Beipackzettel mit den Nebenwirkungen zu unterschlagen. In der Arzneimittelforschung ist ein solches Vorgehen verboten. Zuwiderhandlungen werden mit Berufsverbot geahndet.

 

Eindimnsionale Worthülsen

Die Verantwortungsträger aus Politik und Wirtschaft sind gut beraten, sich von den eindimensionalen Worthülsen der Kampagnenführer nicht Sand in die Augen streuen zu lassen. Für ein funktionierendes Bildungssystem und eine erfolgreiche Integration unserer Jugend in den Arbeitsmarkt brauchen wir ganz bestimmt keine angloamerikanischen Verhältnisse mit Privatschulen für die Reichen und Restschulen für die weniger Begüterten, sondern eine starke, humanistisch wie leistungsorientiert geprägte öffentliche Volksschule für alle.

[1] Felix Schmutz, Der Vorstand des VSLCH bemüht sich um Schulrevolution
[2] Carl Bossard, Wer steuert eigentlich das Bildungsboot?
Philipp Loretz, Reformspektakel als Geschäftsmodell (publiziert in der Aprilausgabe der Verbandszeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB)

 

The post Reformspektakel als Geschäftsmodell first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/04/reformspektakel-als-geschaeftsmodell/feed/ 1
Notendebatte ist deplaziert und geht an den reellen Problemen vorbei https://condorcet.ch/2024/03/notendebatte-ist-deplaziert-und-geht-an-den-reellen-problemen-vorbei/ https://condorcet.ch/2024/03/notendebatte-ist-deplaziert-und-geht-an-den-reellen-problemen-vorbei/#respond Sun, 03 Mar 2024 19:05:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=16075

Nach den wochenlangen Wunschprosa-Debatten der Noten- und Selektionsabschaffer, meldet sich die GLP-Nationalrätin Katja Christ und erinnert an die wirklichen Baustellen unseres Schulsystems.

The post Notendebatte ist deplaziert und geht an den reellen Problemen vorbei first appeared on Condorcet.

]]>

Die Kritik an den Schulnoten beruht auf falschen Annahmen. Noten sind keine objektiven Aussagen über das fachliche Können wie der geeichte Wert eines Intelligenzquotienten. Noten sind Messlatten, die laufend den Lernerfolg im jeweiligen Unterricht dokumentieren. Sie hängen ab vom Grad der Mitarbeit, der Anstrengungsbereitschaft und der Begabung. Die Bereitschaft, sich anzustrengen, kann im Jugendalter immer wieder stark variieren.

Katja Christ, Nationalrätin der GLP, Basel-Stadt, Mitglied der Bildungskommission: Aufhören mit diesen praxisfernen Forderungen.

Zeugnisnoten sind Durchschnittswerte. Sie bilden ab, was im Laufe eines Semesters oder Jahres im Unterricht geleistet wurde. Wenn Lehrbetriebe das objektive Können eines Jugendlichen für einen spezifischen Beruf kennen wollen, müssen sie dies selbst überprüfen. Noten sind eine einfache, schnelle Rückmeldung an die Schülerinnen und Schüler, wie gut sie etwas in den vergangenen Lektionen gelernt und begriffen haben, nicht mehr und nicht weniger.

Reformvorschläge sollten praxisnah und umsetzbar sein und die täglichen Herausforderungen des Unterrichts nicht noch zusätzlich belasten. Es ist Zeit, Nebenschauplätze zu verlassen und die Energie in konstruktive und nachhaltige Lösungsvorschläge zu investieren.

* Katja Christ ist GLP-Nationalrätin und Mitglied der Bildungskommission.

The post Notendebatte ist deplaziert und geht an den reellen Problemen vorbei first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/03/notendebatte-ist-deplaziert-und-geht-an-den-reellen-problemen-vorbei/feed/ 0
Beziehung statt Bildschirm https://condorcet.ch/2023/12/beziehung-statt-bildschirm/ https://condorcet.ch/2023/12/beziehung-statt-bildschirm/#respond Sun, 17 Dec 2023 20:22:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=15515

Carl Bossard ist Condorcet-Autor der ersten Stunde und einer der profundesten Kenner der Schweizer Bildungslandschaft. Nun wurde er im Magazin Zeitpunkt von Samia Guemei, die ebenfalls schon im Condorcet-Blog publizierte, interviewt. In diesem Gespräch warnt der Doyen der Bildung vor Reformen und Tools, die vor allem Kinder aus bildungsfernen Milieus schwächen.

The post Beziehung statt Bildschirm first appeared on Condorcet.

]]>

 

Zeitpunkt: Herr Bossard, Sie gehören zu den Erstunterzeichnern von Wissenschaftlern, die in Deutschland ein Moratorium für elektronische Geräte (Tablets, Handys) in Schulen und Kitas fordern. In der Schweiz finden sich kaum Politiker oder Organisationen, die Ihr Anliegen unterstützen. Woran liegt das? Und warum haben Sie unterzeichnet?

Carl Bossard: Das Moratorium ist ja erst vor Kurzem publiziert worden – und darum nur wenigen bekannt. Das Anliegen aufgenommen hat die SonntagsZeitung. In einem Interview fordert der Neuropsychologe und Hirnforscher Lutz Jäncke, Universität Zürich: “Delete die Digitalisierung an Schulen!” Er argumentiert aus hirnbiologischer Sicht.

Gastautorin Samia Guemei

Warum ich unterzeichnet habe? Bildungspolitik und Wirtschaft kennen zwei primäre Stossrichtungen: Ökonomisierung und Digitalisierung. Gleichzeitig drängen EdTech-Konzerne (EdTech ist Lernsoftware) und IT-Unternehmen in die Schule. Sie nehmen Einfluss auf Bildungsgehalte. Es ist der Ruf nach dem Digital Turn – mit der forcierten Digitalisierung der (Primar-)Schulen und dem Imperativ des «Bring your own device» (BYOD): jeder und jede mit dem eigenen Gerät im Schulzimmer, seien es Laptops, Tablets oder -Smartphones. Ich erlebe ein einseitiges Denken. Pädagogik aber ist kein Entweder-oder. Sie ist ein pädagogisches “Sowohl-als-auch”. Anders gesagt: Es braucht das Analoge wie das Digitale. Vernünftig digitalisieren, ohne die humane Kraft des Analogen zu vergessen.

 

Was muss geschehen, damit Ihr Anliegen von einer breiten Masse von Entscheidungsträgern vertreten wird?

Ich bin kein Prophet. Der Weg in die Zukunft ist bekanntlich umsäumt von den Skeletten nicht eingetroffener Prognosen.

    Ich hoffe einfach, dass das aktuelle PISA-Resultat mit der fatalen Leseschwäche so vieler Jugendlicher als Warn- und Weckruf wirkt.

Wir kennen die Tendenz ja längst. Seit Jahren wird unsere Schule reformiert und umgebaut – Reform an Reform, und gleichzeitig sinken die Lernleistungen im internationalen Vergleich kontinuierlich.

Da stimmt doch etwas im Kern der Schule nicht, bei den Mikroprozessen des Lernens, beim Aufbau der Basiskompetenzen Lesen, Rechnen, Schreiben. Allein das sollte doch die Verantwortlichen in der Bildungspolitik und den Bildungsstäben hellhörig machen.

 

Ist ein Verbot, wie die Deutsche Gesellschaft für Bildung und Wissen es fordert, mit einer liberalen Geisteshaltung überhaupt vereinbar?

Ich votiere aus einer aufklärerisch-liberalen Haltung heraus. Das Gravitationszentrum pädagogischen Geschehens ist für mich ein aufklärerischer Gedanke: Es ist Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern, ihre Kinder und Jugendlichen zu selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln zu erziehen und zu bilden. Das ist ein dialektischer Prozess. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, mit den neuen Medien vernünftig umzugehen. So etwas geht nur über Anleitung, nicht über Verbote.

 

Selbst Organisationen, die ihren Forschungs- bzw. ihr Tätigkeitsfeld in der frühen Kindheit haben, reden die Gefahren der Bildschirme klein. Sie sagen, die digitalen Geräte gehören nun einmal zu unserer Gesellschaft. Und die Kinder müssten einen angemessenen Umgang mit ihnen lernen. Können Kinder das überhaupt: angemessen mit den elektronischen Geräten umgehen?

Das ist das Kernanliegen: der vernünftige Umgang mit diesen Medien. Doch die Frage in der Primarschule ist wohl die: Wie lernen wir in diesem Alter am besten? Selbständig mit elektronischen Geräten oder im intensiven Austausch mit einem vitalen Gegenüber?

Wir wissen es aus der Unterrichtsforschung: Bildung braucht Bindung und Beziehung, braucht darum ein Gegenüber, von dem Zuversicht und Hoffnung ausgehen. Es ist ein Gegenüber, das mich inspiriert, mich zum Selber-Denken anregt, das mich, wie das der Dichterlehrer Peter Bichsel einmal so schön gesagt hat, “von mir selbst überzeugt”. Es ist ein Gegenüber, das mir klares und konsequentes Feedback gibt. Denken kann ich nur selber, ebenso wie lernen. Dazu brauche ich aber ein Gegenüber, das mich ermutigt und mir etwas zutraut und an mich glaubt. Dieses Zwischenmenschliche lässt sich nicht digitalisieren; das Persönliche bleibt – und ist für die Schule konstitutiv.

Es braucht das Echte, nicht die Konserve.

Zusammengefasst: Lernen ist nach wie vor ein Prozess zwischen Menschen, eine Interaktion zwischen Lehrerin und Schüler, zwischen Schülerin und einem verantwortungsbewussten Gegenüber, ein “Meeting of Minds”. Salopp signalisiert: Es braucht das Echte, nicht die Konserve.

 

Sie haben in vielen Artikeln die sogenannte Kompetenzorientierung des Lehrplans 21 beklagt. Der Lehrer verkommt zum Coach. Statt zu lernen und zu üben, müssen sich die Schüler ihr verzerrtes Wissen am Bildschirm selber beibringen. Mit Ihrer Haltung stossen Sie bei den PHs dieses Landes auf taube Ohren. Was gibt Ihnen Hoffnung, weiterzumachen?

Die Kompetenzorientierung und die Lehrperson als Coach sind zwei verschiedene Dinge. Das Erste, die Kompetenzorientierung: Gegen Kompetenzen kann man gar nichts haben: Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll uns besser denken und handeln lassen. Ich habe mich aber dagegen gewehrt, alles und jedes in der Sprache der Kompetenzen auszudrücken. Meine Überzeugung: Kein Kind interessiert sich für Kompetenzen. Es interessiert sich für Inhalte, für Dinosaurier, für Sterne, für Meerschiffe und Entdeckungsfahrten. Es will etwas wissen, es will etwas können, es will etwas verstehen, zum Beispiel das Werden der EU. Das ist ein Inhalt. Im Lehrplan 21 tönt das dann so: “[Schülerinnen und Schüler] können unterschiedliche Positionen zum Verhältnis Schweiz – Europa skizzieren und selber dazu Stellung nehmen.”

    Daran beisst sich ja selbst der Bundesrat die Zähne aus!

Es gibt in der Pädagogik eben viele Bereich, die sich kompetenztheoretisch gar nicht fassen lassen, dazu zählt beispielsweise die menschliche Grundhaltung. Darum meine Skepsis.

Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte

Das Zweite: Der Lehrer ist nicht nur Coach, die Lehrerin nicht nur Lernbegleiterin. Beide sind auch Pädagogen. Das schöne Wort kommt aus dem Griechischen: paid-agogein. Das heisst: Kinder, Jugendliche führen, sie anleiten und hinleiten. Der Neurobiologe Joachim Bauer spricht von ‘verstehender Zuwendung’ – bei gleichzeitiger Klarheit und Führung. Das ist das Dialektische des pädagogischen Berufs. Diese Ambiguitäten müssen Lehrerinnen und Lehrer annehmen und aushalten.

 

Was könnten die Pädagogischen Hochschulen (PHs) dazu bewegen, den eingeschlagenen Weg zu verlassen?

Meine Meinung ist klar: Wir brauchen eine Volksschule, die nicht in der Definitionsmacht der PHs liegt. Ein Diskurs ist heute leider fast nicht mehr möglich. Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel aus den Pädagogischen Hochschulen hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie – die Definitionsmacht über die Schulen übernommen. Sie bestimmen, was gelehrt und wie unterrichtet werden muss – oft auch gegen die Praktiker. Das bedeutetet eine Marginalisierung der Praxisempirie. Kurz: Die Stimmen der Basis müssten wieder gehört werden. Sie weiss, was in den Schulen nottut. Die Bildungspolitik muss diese Praxiserfahrung aufnehmen.

Ebenso prägend wie die Leidenschaft für die Pädagogik war für mich stets die Freiheit, die ich als Lehrer hatte.

Wenn ich die gesetzlich vorgeschriebenen Lehrmittel in Deutsch und Mathematik betrachte, dann ist es eindeutig: Sie sind wohl für die hochbegabten Akademikerkinder der Autoren geschrieben worden. Statt den Kindern stetes Üben zu vermitteln, lassen sie sie von Fallstrick zu Fallstrick stolpern. Verlierer in diesem System sind eindeutig die Migrantenkinder, die weder auf ein akademisches Zuhause noch auf bezahlte Nachhilfe zurückgreifen können. Noch auf Lehrer, die die Lehrmittel explizit gegen den Strich bürsten und eigenes Material bereitstellen. Das haben auch die neuesten PISA-Ergebnisse gezeigt: 25 Prozent können mit 15 Jahren nicht einmal die einfachsten Texte verstehen. Ist da eine Art versteckter Rassismus am Werk?

Das glaube ich nicht. So etwas kann doch keinem verantwortungsbewussten Menschen einfallen.

Die PISA-Studie 2022 bringt nichts Neues. Wir wissen es schon lange. Was mich bedrückt und was für mich eines der grössten Probleme darstellt: Die unzähligen Schulreformen haben die Chancengleichheit kaum verbessert. Die eher schwächeren Schülerinnen und Schüler leiden am stärksten unter den überfüllten Lehrplänen – und darunter, wenn der Lehrperson Zeit und Möglichkeit fürs Üben und Anwenden fehlen. Ausserdem setzt der Lehrplan stark auf selbständiges Lernen. Das überfordert viele und bevorteilt die eh schon lernstarken Kinder.

Ich formuliere damit ein Plädoyer für einen geführten und strukturierten Unterricht – schülerzentriert, sachorientiert, aber lehrergesteuert. Gerade sozial benachteiligte Kinder sind darauf angewiesen. Oder wie es der kürzlich verstorbene, linksliberale Pädagoge Hermann Giesecke formuliert hat:

 «Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.»

Hermann Giesecke, Pädagoge

 

Sie beschreiben immer wieder sehr treffend, wie dem Lehrerberuf durch den Zwang zu Reporting und Einschränkung auf Methoden des offenen Unterrichts die Freiheit abhandengekommen ist. Mir kommt es so vor, als gehörte diese Ausrottung des Individuums zum Projekt Transhumanismus, in dem sich alle aalglatt durch Algorithmen steuern lassen. Übertreibe ich da?

Ob hinter Ihren Beobachtungen eine Agenda steckt, kann ich nicht beurteilen. Das weiss ich nicht. Ich weiss einfach, wie wichtig die Freiheit im Lehrberuf ist. Ich argumentiere für einmal aus persönlicher Warte: Ich war leidenschaftlich gerne Lehrer. Mich fasziniert es, mit Schülerinnen und Schülern unterwegs zu sein, ihren Gedankenkreis zu erweitern und sie so zu verstehenden Menschen auszubilden.

Mit Freiheit ist Verantwortung verbunden – in diesem Fall die Verantwortung für die Kinder und ihre Lernfortschritte. Verantwortung wahrnehmen braucht Freiheit. Die Leidenschaft fürs Pädagogische und damit die humane Energie kommen aus Freiheit, nicht aus lehrmethodischen Direktiven und engen operativen Vorgaben. Heute gibt es so viele Vorschriften. Die Freiheit wird eingeengt, gar erstickt. Das müsste sich dringend ändern.

The post Beziehung statt Bildschirm first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/12/beziehung-statt-bildschirm/feed/ 0
Geschichte unter Druck https://condorcet.ch/2023/11/geschichte-unter-druck/ https://condorcet.ch/2023/11/geschichte-unter-druck/#respond Sun, 26 Nov 2023 13:59:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=15358

Condorcet-Autor Urs Kalberer war auch am Podium des Vereins „Starke Volksschule St. Gallen“ zugegen, auf dem Professor Andreotti und Hanspeter Amstutz ihre Kritik am gegenwärtigen Geschichtsunterricht präsentierten.

The post Geschichte unter Druck first appeared on Condorcet.

]]>

Im Zusammenhang mit der Einführung des Lehrplans 21 wurde das bisher eigenständige Fach «Geschichte» mit dem bisher eigenständigen Fach «Geografie» fusioniert zum Fach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» (RZG). Dazu wurde den beiden Fächern noch eine Wochenlektion gekappt. Das heisst, aus den bisherigen vier Wochenlektionen für zwei Fächer sind es jetzt noch deren drei. Hinzu kommt, dass die Stoffmenge nicht entsprechend gekürzt wurde. Ausserdem bleibt Staatskunde und politische Bildung weiter als Teil des Faches Geschichte bestehen. Dies ist die Situation, die die Starke Volksschule St. Gallen bewog, das Thema aufzugreifen und dessen vielseitige Implikationen an die Öffentlichkeit zu bringen.

Urs Kalberer, Sekundarlehrer

Die beiden Referenten Mario Andreotti und Hanspeter Amstutz stellten aus unterschiedlichen Blickwinkeln die folgenden Befunde zur aktuellen Lage des Geschichtsunterrichts an der Volksschule und an den Gymnasien fest:

  • Drastische Abnahme der Geschichtskenntnisse.
  • Abschied vom reinen Faktenwissen zugunsten von Kompetenzen, was zu einer Beliebigkeit in der Stoffauswahl führt.
  • Geschichte wird mehr und mehr in thematischen Längsschnitten unterrichtet (z.B. Geschichte des Sklavenhandels) statt in Epochen.
  • Geschichte der Schweiz wird vernachlässigt.
  • Kompetenzziele sind zu akademisch

Verhinderer oder Ewiggestrige?

Angesichts des ungebremsten gesellschaftlichen und technologischen Wandels stellt sich die Frage, weshalb sich die Referenten so vehement für eine Aufwertung des Faches Geschichte stark machen. Sie setzen sich damit der Gefahr aus, als Verhinderer oder Ewiggestrige abgestempelt zu werden. Diesem Vorwurf halten sie die grosse kulturelle und gesellschaftspolitische Bedeutung des Wissens über Geschichte entgegen:

  • Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.
  • Geschichte hilft uns zu begreifen, wer wir sind und wie wir dazu geworden sind.
  • Wissen um unsere Vergangenheit ist Teil unserer Kultur.
  • Mythen stiften Sinn und Identität (vgl. Gründungssaga der Stadt Rom), sie sollten aber als Mythen erkennbar sein.
  • Landes-, respektive Lokalgeschichte als Gegengewicht zur Globalisierung.

Die Forderungskataloge für die Volksschule und das Gymnasium wurden vom Publikum intensiv diskutiert. Es bleibt zu hoffen, dass sich Politik und Bildungsverwaltung im Klaren darüber sind, welch grossen Schatz sie mit der fortschreitenden Marginalisierung des Geschichtsunterrichts im Begriff sind zu verspielen.

The post Geschichte unter Druck first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/geschichte-unter-druck/feed/ 0
Geschichtslehrer fordern Umdenken https://condorcet.ch/2023/11/geschichtslehrer-fordern-umdenken/ https://condorcet.ch/2023/11/geschichtslehrer-fordern-umdenken/#respond Wed, 22 Nov 2023 17:04:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=15341

Professor Mario Andreotti und Hanspeter Amstutz haben an einem Podium des Vereins „Starke Volksschule St. Gallen“ ihre Thesen zum Geschichtsunterricht vorgestellt. Die beiden Geschichtslehrer, die auch im Condorcet-Blog regelmässig Beiträge veröffentlichen, sparten dabei auch nicht mit Kritik am Lehrplan 21 und der Lehrplanreform der Gymnasien. Daniel Wahl, Journalist des "Nebelspalter", war dabei.

The post Geschichtslehrer fordern Umdenken first appeared on Condorcet.

]]>

Die Fakten: Seit mehr als 100 Jahren hat die Geschichte im Fächerkanon der Gymnasien einen festen Platz: mindestens zwei Wochenlektionen über alle vier Jahre. Mit der Maturitätsreform findet dort nun ebenso ein Abbau statt, wie er bereits an Primar- und Sekundarschulen erfolgt ist. Jetzt formulieren Geschichtslehrer Hanspeter Amstutz und Mario Andreotti Thesen, um die anstehenden Debatten in Bildungsräten und diversen Kantonsparlamenten gegen den weiteren Abbau des Geschichtsunterrichts zu unterstützen.

Gastautor Daniel Wahl, Journalist beim “Nebelspalter”

Warum das wichtig ist: Immer weniger Jugendliche können erzählen, wie sich die Schweiz konstituiert hat. Wie Germanist und Geschichtslehrer, Professor Mario Andreotti, als Kompanie-Kommandant bei Fourier-Anwärtern nach Befragungen festgestellt hat, ist “wichtiges Geschichtswissen praktisch nicht mehr vorhanden”.

  • Die drei Gewalten Judikative, Legislative und Exekutive könnten nicht mehr benannt werden.
  • Das Wissen, wie sich eine repräsentative von einer direkten Demokratie unterscheidet, sei nahezu nicht mehr vorhanden.
  • Das Desinteresse an der Geschichte zeige sich auch an den Universitäten. Dort sei ein dramatischer Einbruch der Geschichtsstudenten von 40 Prozent über die letzten fünf Jahre zu verzeichnen.

O-Ton Andreotti: “Man muss sich nicht wundern, wenn Leute, die nie von Demokratie etwas gehört haben, nicht an Abstimmungen teilnehmen.”

Bei der Geschichtskunde gehe es nicht einfach darum, aus der Vergangenheit das Heute zu verstehen. Es gehe um die Möglichkeit, die menschliche Existenz zu begreifen. “Die Geschichte gibt Antwort auf die Frage: Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind”, sagt der Professor.

O-Ton Amstutz: “Das Fach Geschichte braucht wieder ein klares Profil. Lehrer und Eltern möchten gerne wissen, was denn an Schweizer Sekundar- und Primarschulen verbindlich unterrichtet wird.”

Es könne nicht sein, dass nur in einigen wenigen Klassen ein lebendiger Einblick ins 20. Jahrhundert vermittelt wird, während die Mehrheit irgendwo zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg stecken bleibt.

  • Die Schweizer Geschichte trägt bei zum nationalen Zusammenhalt.
  • Geschichte ist identitätsbildend.

The Big Picture: Die Marginalisierung des Geschichtsunterrichts hat verschiedene Ursachen und mit der linken Gegenkultur der 1968er-Bewegung eingesetzt. Zunächst wurden die Schattenseiten von historischen Persönlichkeiten hervorgehoben. Zum Beispiel wird Alfred Escher angebliche Beziehung zur Sklaverei unterstellt (Link). Demontiert wurden Schritt für Schritt Wilhelm Tell, die Schlacht von Morgarten und Arnold Winkelried. Hauptverantwortlich macht Andreotti dafür die beiden Historiker Thomas Maissen und Werner Meyer, die beide Geschichtsmythen bekämpften.

O-Ton Andreotti: “Es geht mir nicht um Verklärung von Helden. Aber Mythen sind der Kitt der Gesellschaft und für die Identitätsfindung wichtig. Es gibt keinen Staat ohne mythisches Fundament.”

Der Geschichtsabbau an den Schulen fand gemäss Amstutz und Andreotti wie folgt statt:

  • 2000 erste PISA-Studie: Der Geschichtsunterricht wird nicht “gemessen”, sondern nur das, was volkswirtschaftlich “nützlich” erscheint, wie Rechnen oder Leseverständnis. Die unterschwellige Botschaft an die Historiker: Geschichte ist überflüssig
  • 2004 verabschiedete die Eidgenössische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) das Konzept mit zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe. Es ging auf Kosten des Geschichtsunterrichts.
  • Ab 2014 Lehrplan 21: Reduzierung des Geschichtsunterrichts auf Primarschulebene im Sammelfach “Räume Zeiten Gesellschaften”. Ohne verbindlichen Aufbau, was die Beliebigkeit der Lehrinhalte begünstigte.
  • Lehrplan 21: An den Sekundarschulen ist Geschichte mit Geografie vereint und von vier auf drei Stunden reduziert worden. Die Lehrer verteilen die Stunden oft nach ihren eigenen Präferenzen.
  • Lehrplan 21: Statt Inhalte werde Kompetenzen formuliert. Dazu Andreotti: “Für den Geschichtsunterricht sind Kompetenzen Gift. Es geht um Inhalte.”
  • Maturitätsreform: Geschichte wird nur noch im zweiten, dritten und vierten Gymnasialjahr vermittelt. Eine dritte Stunde findet im vierten Jahr als Thema “politische Bildung” statt.
Mit Geschichte steht der Fächerkanon auf Kriegsfuss.

Die Indikatoren dafür, dass der “Geschichtsunterricht in den Schulen am Boden” ist, wie sich Hanspeter Amstutz ausdrückt, sind folgende:

  • Es gibt (wie Andreotti und Amstutz sagen) keinen eigenen Lehrstuhl mehr für Schweizer Geschichte an einer Schweizer Universität.
  • An den Schweizer Lehrerfortbildungstagen in St. Gallen gab es bei 111 Kursen keinen einzigen Weiterbildungskurs im Bereich Geschichte.
  • Als Kursleiter in Weiterbildung für Geschichte an der Sekundarschule hat Amstutz Einblick in den Geschichtsunterricht: die Vermittlung von aufbauender Geschichte, die zu einem chronologischen Geschichtsverständnis führt, ist die Ausnahme. Häufig sind nur noch Längsschnitte – “eine Postmoderne Beliebigkeit”: Man unterrichte beispielsweise Geschichte zum Thema Energie oder zum Thema Kolonialismus.
  • All dies kratzt am Berufsbild: Das Interesse am Geschichtsfach an Universitäten nimmt rapide ab, trotz steigender Studentenzahl.

 

Die neusten Zahlen will die Universität Zürich dem “Nebelspalter” nicht vorlegen, weil es sich angeblich noch um eine provisorische Erhebung handeln würde. Der Abbau der vergangenen Jahre ist aber wie folgt dokumentiert.

Grafik Datawrapper Sinkende Zahl von Studenten an der Universität Zürich

 

Wie es weitergeht: Zur Aufwertung des Geschichtsunterrichts haben Amstutz und Andreotti Thesen aufgestellt und diese vergangene Woche Interessierten in St. Gallen präsentiert.

Fürs Gymnasium in Kürze:
  • Durchgehender Unterricht von der ersten bis zur vierten Klasse mit mindestens zwei Wochenlektionen
  • “Politische Bildung” soll als eigenständiges Fach geführt werden
  • Chronologischer Aufbau des Geschichtsunterrichts
  • Genügend Raum für die Schweizer Geschichte, zum besseren Verständnis der Demokratie
  • Geschichte soll in Deutsch unterrichtet werden und ein vollwertiges Maturafach sei
Für die Volksschule:
  • Verbindliche Inhalte statt Kompetenzziele. “Kompetenzen sind das Nebenprodukt”
  • Vermittlung der Erfolgsgeschichte Schweiz als verbindlicher Auftrag an die Schule
  • Chronologischer Aufbau der Schweizer Geschichte anhand von “Meilensteinen”
  • Förderung der Erzählkunst an den Pädagogischen Hochschulen
  • Erhöhung der Lektionenzahl wieder auf mindestens zwei Geschichtsstunden pro Woche.

The post Geschichtslehrer fordern Umdenken first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/geschichtslehrer-fordern-umdenken/feed/ 0
Ein verkannter Gestalter, der die Schule verändern wollte https://condorcet.ch/2023/10/ein-verkannter-gestalter-der-die-schule-veraendern-wollte/ https://condorcet.ch/2023/10/ein-verkannter-gestalter-der-die-schule-veraendern-wollte/#comments Fri, 27 Oct 2023 10:10:11 +0000 https://condorcet.ch/?p=15210

Der ehemalige Bildungsdirektor des Kantons Zürich (1992 -2003) ist im Alter von 80 Jahren gestorben. Condorcet-Autor Alain Pichard verband mit ihm eine Art "Hass-Liebe". In seinem Beitrag erklärt er uns weshalb.

The post Ein verkannter Gestalter, der die Schule verändern wollte first appeared on Condorcet.

]]>

Als junger linker Lehrer und Vertreter einer modernen, reformorientierten Schule hatte ich – im Gegensatz zu meinem Umfeld – durchaus Sympathien für den Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor, der 1995 den Bildungssektor nach betrieblichen Grundsätzen umzupflügen begann. Das hatte viel mit meiner damaligen beruflichen Situation zu tun. Wir wollten die Schule verändern, die Selektion abschaffen, Experimente wagen, Schülermitbestimmung einführen, Noten abschaffen und stiessen dabei immer wieder auf den Widerstand unserer älteren Kollegen und scheiterten an den starren Strukturen. Da kam Ernst Buschor gerade recht.  Seine sogenannte wirkungsgeführte Verwaltung (New Public Management) verfolgte die Trennung von strategischer und operativer Führung, wobei die einzelnen Verwaltungseinheiten eine Leistungs- und Kostenvorgabe erhielten. Mit diesen Leitlinien schuf Buschor die teilautonomen Schulen – eine einschneidende Änderung, gegen die sich vor allem ältere Lehrer zur Wehr setzten. Wir hingegen erhofften uns dadurch mehr Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Er war ein Visionär.

Obwohl der «Reformturbo», wie Ernst Buschor oft genannt wurde, 2002 mit der Ablehnung seines Volksschulgesetzes gebremst wurde, war sein Einfluss immens. Zwar war die Schule, wie Herr Buschor sie antraf, längst nicht in Lethargie versunken, wie er es der Öffentlichkeit weismachen wollte. Aber wir sahen die immer noch bestehenden Mängel unseres Schulsystems und all die Widerstände, die wir auch bei kleinsten Veränderungswünschen überwinden mussten oder sogar an ihnen scheiterten.

Die Gründung der pädagogischen Hochschulen

Bis dahin hatte jeder Lehrer im Grunde seine eigene Schule geführt. Diesem Einzelkämpfertum sagte Buschor den Kampf an, was durchaus in unserem Sinne war. In den teilautonomen Schulen sollten die Lehrer gemeinsam pädagogische Schwerpunkte setzen, Leitbilder und Jahresprogramme erarbeiten, und wenn sie Probleme mit ihren Klassen hatten, diese im Team besprechen. Buschor kritisierte das behördliche Weisungsgehabe und verlangte die Abtretung von möglichst viel Autonomie an die einzelnen Einheiten des Bildungswesens. Neben der Universitätsreform zählt die Einrichtung einer pädagogischen Hochschule zu Buschors grössten Leistungen. Die zuvor verstreuten Seminarien wurden an einem Ort zusammengefasst; die Straffung der Weiterbildungsangebote ermöglichte es den Lehrern, von einer Schulstufe auf eine andere zu wechseln. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Buschor die Aufwertung des Lehrerberufs anstrebte, was die Vertreter dieses Standes aber nicht wahrhaben wollten, wir hingegen als positiv erachteten. Ernst Buschor wollte das zürcherische Schulsystem vom hohen pädagogischen Ross herunterholen und zu einem Dienstleistungsunternehmen umformen.

Die Ideen für seine Reformen holte sich der anerkannte Verwaltungsspezialist öfters im Ausland. Nach einem kalifornischen Vorbild startete Buschor das Schulprojekt 21. Vorgesehen waren – notabene schon damals – der Einsatz von Computern im Unterricht, altersdurchmischte Lerngruppen sowie die sogenannte Immersion beim Fremdsprachenunterricht: Mathematik zum Beispiel wird auf Englisch unterrichtet. Zum Verhängnis wurde diesem Mann die fehlende Praxisnähe und das Tempo, mit dem er vieles auf einmal durchsetzen wollte. Langfristig jedoch hatten seine Ideen eine grosse Wirkung, vor allem – und das war uns nicht bewusst – weil vieles bereits im globalen Trend lag.

1996 wurden im Kanton Bern die geleiteten Schulen eingeführt. Die Schulkommissionen traten mit der Zeit einen grossen Teil ihrer Kompetenzen an die Schulleitung ab oder sie wurden sogar ganz abgeschafft und durch die örtliche Schuldirektion ersetzt. Wir empfanden dies als eine dringend notwendige Professionalisierung.

Die PISA-Tests sahen auch wir als einen Schritt in eine datenbasierte Forschung, welche gezielt die Schwächen und Stärken unseres Bildungssystems erkunden halfen.

Das Zusammenwirken linker Reformpolitik und liberaler Modernisierung hatte dazu geführt, dass unsere Schule vor der HarmoS-Debatte und der Einführung des Lehrplans 21 in einer recht guten Verfassung war, was sich z. B. auch in der Bewältigung der Migrationswelle der späten 90er-Jahre manifestierte. Niemand von uns wollte wieder zurück in die Schule der sechziger Jahre.

Die Tests zeigen seit Jahren einen Trend

Die PISA-Tests sahen auch wir als einen Schritt in eine datenbasierte Forschung, welche gezielt die Schwächen und Stärken unseres Bildungssystems erkunden halfen. Und die Tatsache, dass das teuerste Schulsystem der Welt es fertigbringt, dass ein Fünftel der Schüler nicht einmal die tiefsten Standards beim Lesen erreicht, also praktisch als Illetristen aus der Schulpflicht entlassen wurden, konnte man ja nicht einfach wegdiskutieren. Es war uns – und wohl auch Buschor – nicht bewusst, welche schädlichen Auswirkungen diese Tests auf unsere Bildungkultur hatten.

Ich erinnere mich noch gut an ein Podium, auf welchem ich 2004 mit dem linken Gymnasiallehrer und (wie ich) Vorstandsmitglied der VPOD-Lehrergruppe, Guy Lévy, die Klingen kreuzte. Ich verteidigte damals einen Teil der «Buschor-Reformen» und plädierte für die geleiteten Schulen, für Feedbackkultur, für Standards und für die teilautonome Schule. Mein Gegenpart Lévy kritisierte meine Haltung als «Neoliberalismus» und mich als Steigbügelhalter einer ökonomistischen Bildungspolitik. Die Ironie der Geschichte: Heute wehre ich mich gegen die Auswüchse eines auf Output getrimmten ökonomistischen Bildungssystems, während mein damaliger Kontrahent Guy Lévy als Chefbeamter der bernischen Erziehungsdirektion sämtliche von ihm kritisierten Reformen umsetzte. Was ist also hier passiert?

Proteste: Man empfand ihn als Provokateur und Störenfried.

Die Kritik vieler meiner Freunde, eine Art Steigbügelhalter einer ökonomistischen Bildung zu sein, muss ich heute teilweise akzeptieren. Die linken Lehrkräfte, welche ihren Beruf liebten und ihm treu blieben, hatten bei weitem nicht den wissenschaftlichen Background, über den die frühen Kritiker der nun einsetzenden Bildungsreformen verfügten. Wir wussten nichts von den Bildungsvorgaben der OECD, kannten die Agenda der PISA-Promotoren nicht. Wir waren ziemlich naiv. Vor allem aber waren wir intensiv mit unserem Unterricht beschäftigt und sahen die kommenden Signale des bevorstehenden Umbaus höchstens in Form der immer umfassender werdenden bürokratischen Bevormundung.

Ernst Buschor war ein Theoretiker, der damals die richtigen Fragen stellte, seine Antworten in der Wirtschaft fand und sie ohne Rücksicht auf die Praxis umsetzen wollte.

Es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, dass Ernst Buschor für das, was nach seinem Abgang als Bildungsdirektor im Jahre 2003 folgte, eine Verantwortung trägt. Ihn aber für die monströse Bürokratisierung unseres Bildungssystems, für die übergriffige Change-Management-Ideologie, für den Kompetenz-Quark und die stupide Überfrachtung unserer Lehrpläne verantwortlich zu machen, ist falsch. Ernst Buschor war ein Theoretiker, der damals die richtigen Fragen stellte, seine Antworten in der Wirtschaft fand und sie ohne Rücksicht auf die Praxis umsetzen wollte.

Es gehört zu einer gewissen Tragik dieses Mannes, dass er – betrachtet man die heutige Wirklichkeit – genau das Gegenteil erreichte.

Er strebte eigentlich die Befreiung der Schulen von staatlicher «Kontrollitis» an, er wollte eine «Öffentlich Rechtliche Schule» und ganz sicher keine Staatsschule, in welcher die Schulleitungen als die kleinen Feldwebel der Bildungsbehörden wirkten. Er war am Output interessiert und beabsichtigte, die Schule wirtschaftsfreundlicher zu machen. Es gehört zu einer gewissen Tragik dieses Mannes, dass er – betrachtet man die heutige Wirklichkeit – genau das Gegenteil erreichte. Heute haben wir eine Allianz von Wissenschaft, Politik und Verwaltung, welche ihre Agenda “top-down” durchzusetzen versucht. Die schulischen Inhalte sind so wirtschaftsfeindlich wie nie zuvor und der schulische Output sinkt. Dennoch gilt es festzuhalten: Ernst Buschor war ein Gestalter und Visionär, intelligent, hochanständig und wirkungsmächtig. Der Tages-Anzeiger schreibt: “Peter Grünenfelder, der spätere Avenir-Suisse-Chef, ist quasi der Ziehsohn von Buschor. Er war damals dessen persönlicher Mitarbeiter und erinnert sich: “Wir mussten ihn jeweils daran erinnern, dass Wahlkampf ist. Buschor war ein Anti-Politiker, der sich nicht um seine Wiederwahl kümmerte, aber mit extremer Arbeits- und Lebenslust etwas bewegen wollte.”  Wenn man sich die heutigen Bildungsdirektoren vergegenwärtigt, hat man unweigerlich das Gefühl, es mit blutleeren Vollstreckungsgehilfen einer ausser Rand und Band geratenen Bildungsverwaltung zu tun zu haben.

Ernst Buschor ist im Alter von 80 Jahren verstorben.

The post Ein verkannter Gestalter, der die Schule verändern wollte first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/10/ein-verkannter-gestalter-der-die-schule-veraendern-wollte/feed/ 1
Eine Leseprobe des Schreckens https://condorcet.ch/2023/10/eine-leseprobe-des-schreckens/ https://condorcet.ch/2023/10/eine-leseprobe-des-schreckens/#comments Fri, 06 Oct 2023 07:06:31 +0000 https://condorcet.ch/?p=15069

Fast 10 Jahre nach der Vorstellung des Monstrums Lehrplan 21 entdeckt der fünffache Vater Markus Somm die absurden Kompetenzziele dieses bürokratischen Machwerks und schüttelt den Kopf ob so viel Heilslehre. In seinem Newsletter im Nebelspalter seziert der Herausgeber des Nebelspalter die absurden Zielformulierungen und weist darauf hin, dass dieses Machwerk nur schwach legitimiert gewesen sei. Verkauft habe man diesen Lehrplan als Harmonisierungsvorlage.

The post Eine Leseprobe des Schreckens first appeared on Condorcet.

]]>

Die Fakten: Der Lehrplan 21 wurde inzwischen in allen Deutschschweizer Kantonen eingeführt. Er umfasst 470 Seiten, 363 Kompetenzen und 2304 Kompetenzstufen.

Markus Somm: Herausgeber und Chefredakteur des Nebelspalter: Ein Irrsinn

Warum das wichtig ist: Selten haben Bürokraten und Theoretiker einen grösseren Unsinn hervorgebracht. Eine Leseprobe des Schreckens.

Wenn ich Ihnen jetzt unterstelle, dass Sie den Lehrplan 21 nie gelesen haben, dann tue ich das aus zwei Gründen:

Weil ich nicht besser bin: Ich habe fünf Kinder, die in den letzten Jahren alle die öffentliche Schule besucht haben, trotzdem habe ich mich nie darum gekümmert, welchem Lehrplan sie dabei unterworfen waren

Und weil ich zweitens sicher bin: Hätten Sie diesen Lehrplan je gelesen, Sie hätten entweder Ihren Bildungsdirektor abgewählt oder Sie wären an irgendeine Universität gefahren und hätten dort das Institut für Erziehungswissenschaft in die Luft gesprengt.

Warum?

Lesen Sie selbst!

 

 

 

Unter dem Stichwort «Personale Kompetenzen» zum Beispiel (Lehrplan 21, Fassung des Kantons Zug) wird aufgeführt, was die Schüler alles so lernen müssen – wir reden hier von Primarschülern, Alter 6 bis 12. Um den wunderbaren O-Ton nicht zu beschädigen, zitiere ich vollständig:

«Schülerinnen und Schüler

  • können eigene Gefühle wahrnehmen und situationsangemessen ausdrücken.
  • können ihre Interessen und Bedürfnisse wahrnehmen und formulieren.
  • können Stärken und Schwächen ihres Lern- und Sozialverhaltens einschätzen.
  • können auf ihre Stärken zurückgreifen und diese gezielt einsetzen.
  • können Fehler analysieren und über alternative Lösungen nachdenken.
  • können auf Lernwege zurückschauen, diese beschreiben und beurteilen.
  • können eigene Einschätzungen und Beurteilungen mit solchen von aussen vergleichen und Schlüsse ziehen (Selbst- und Fremdeinschätzung).
  • können aus Selbst- und Fremdeinschätzungen gewonnene Schlüsse umsetzen»

Warum auch nicht? Sie sind mit 10 Jahren ja praktisch erwachsen. Wann dürfen Sie einen Grosskonzern gründen?

Selbst die Pädagogen, die diesen monströsen Katalog entworfen haben, dürften ihren eigenen Anforderungen in den seltensten Fällen gerecht werden.

Am meisten hat mich beeindruckt, wie unsere Kinder lernen, Konflikte zu lösen. Hätten die Russen und die Ukrainer doch nur rechtzeitig den Lehrplan 21 eingeführt!

«Die Schülerinnen und Schüler …

  • können sachlich und zielorientiert kommunizieren, Gesprächsregeln anwenden und Konflikte direkt ansprechen.
  • können sich in die Lage einer anderen Person versetzen und sich darüber klar werden, was diese Person denkt und fühlt.
  • können Kritik angemessen, klar und anständig mitteilen und mit konstruktiven Vorschlägen verbinden.
  • können Kritik annehmen und die eigene Position hinterfragen.
  • können Formen und Verfahren konstruktiver Konfliktbearbeitung anwenden.
  • können in einer Konfliktsituation einen Konsens suchen und diesen Konsens anerkennen.
  • können Konfliktsituationen, die sich nicht lösen lassen, aushalten und nach neuen Konfliktlösungsmöglichkeiten suchen; wenn nötig holen sie bei Drittpersonen Unterstützung.
  • können die von der Schule bereitgestellten Hilfen nutzen und Instrumente zur gewaltfreien Konfliktlösung akzeptieren»

Wenn ich daran denke, dass die meisten Erwachsenen (nicht nur russischer Herkunft) noch mit 50 Jahren nicht in der Lage sind, in einem Restaurant sich auch nur angemessen zu beschweren, wenn ihnen der Kellner die Suppe über den Kopf schüttet – wie etwa «Formen und Verfahren konstruktiver Konfliktbearbeitung anzuwenden» –, dann mag man ermessen, wie weltfremd dieses Programm der Menschenverbesserung ist.

Selbst die Pädagogen, die diesen monströsen Katalog entworfen haben, dürften ihren eigenen Anforderungen in den seltensten Fällen gerecht werden. Fragen Sie deren Ehefrauen bzw. Ehemänner. Hinzu kommt, dass dieser Lehrplan 21, der inzwischen in der ganzen Deutschschweiz gilt, demokratisch nur schwach legitimiert ist. Wir stimmten nie darüber ab.

Zwar nahmen Volk und Stände 2006 mit grossem Mehr den Bildungsartikel in der Bundesverfassung an, auf den sich der Lehrplan mit viel interpretatorischer Fantasie abstützen lässt, aber explizit war das damals kein Thema.

Man sprach über eine Harmonisierung der Ferien und der Schulpflicht. Kaum je darüber, dass man den Kindern schweizweit Hunderte von «Kompetenzen»vermitteln will

Es sind vielleicht zwei Dinge, die mich so bestürzen, wenn ich diesen Lehrplan studiere:

  1. Der naive Glaube, dass alles, was man reguliert, sich dann auch nach den Regulierungen richtet:Hauptsache, wir haben es aufgeschrieben, dann ist die Welt bereits gerettet
  2.  Der Detaillierungsgrad des Unsinns. Das sind offensichtlich Menschen, die sich nicht kurzfassen können, weil sie selber einen so grandiosen Salat im Kopf haben, dass sie das, was sie achtjährigen Primarschülern beibringen möchten, wohl selbst zuerst lernen müssten:

Den klaren Gedanken, das pralle Leben, Erfahrung. Die zehn Gebote, denen bis heute die meisten Juden und Christen in irgendeiner Art und Weise nachleben, umfassen: zehn Regeln und je nach Übersetzung rund 313 Wörter (hebräische Originalfassung) bzw. 320 (Deutsch)

Der Lehrplan 21 besteht aus:

  • 470 Seiten
  • 363 Kompetenzen
  • 2304 Kompetenzstufen

Ursprünglich waren es 557 Seiten, 453 Kompetenzen und 3123 Kompetenzstufen. Nachdem Kritik aufgekommen war, kürzte man den Lehrplan 21 um rund 20 Prozent.

Da haben unsere Kinder aber Glück gehabt.

Oder um es mit Karl Kraus, dem österreichischen Schriftsteller, zu sagen:«Es genügt nicht, keinen Gedanken zu haben: man muss ihn auch ausdrücken können.»

Dieser Beitrag erschien zuerst im Nebelspalter: https://www.nebelspalter.ch/lehrplan-21,-lehrplan-des-irrsinns

 

The post Eine Leseprobe des Schreckens first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/10/eine-leseprobe-des-schreckens/feed/ 3
Man kratzt an der Oberfläche und erreicht das Gegenteil https://condorcet.ch/2023/09/man-kratzt-an-der-oberflaeche-und-erreicht-das-gegenteil/ https://condorcet.ch/2023/09/man-kratzt-an-der-oberflaeche-und-erreicht-das-gegenteil/#comments Thu, 21 Sep 2023 15:06:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=14971

Condorcet-Autorin Christine Staehelin, Primarlehrerin mit Pädagogik-Studium, beschäftigt sich in Ihrem Beitrag mit der ungenügenden Begründbarkeit vieler Reformen und analysiert messerscharf die gravierenden Konsequenzen.

The post Man kratzt an der Oberfläche und erreicht das Gegenteil first appeared on Condorcet.

]]>

In den letzten Jahren prägen Schlagzeilen wie “Lehrpersonen am Ende – Druck auf die integrative Schule”, “Frühfranzösisch und integrative Schule – alles ein Fehler?”, “Frühfranzösisch an der Primarschule ist gescheitert”, “Wegen Gewalt an Schulen – 1000 Lehrer mussten zum Arzt”, “Viele Lehrer schmeissen wegen hoher Belastung hin”, “Eltern erstatten häufiger Anzeige gegen Lehrer”, “Wenn wir nichts unternehmen, geht die Volksschule kaputt”, “Lehrplan 21 im Sperrfeuer der Kritik” den schulischen Diskurs.

Christine Staehelin, Primarlehrerin, Mitglied des Bildungsrates und Nationalratskandidatin der GLP-Basel: Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische.

Die Schlagzeilen, die Debatte und die Kritik beschäftigen sich mit Oberflächlichkeiten. Die Schule steht nicht mehr als Repräsentantin der Kultur und ihrer Aufgabe, diese mittels eines pädagogischen Auftrags zu tradieren, im Zentrum der Debatte. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass die Reformen der letzten Jahrzehnte, welche das Selbstverständnis der Schule erschüttert haben, reine Oberflächeninterventionen waren. Sie haben diese behäbige, prinzipiell konservative Institution mit Neuem überflutet. Dem Neuen, das seine Begründung und damit seinen Sinn weder aus der pädagogischen Praxis oder ihrer Theorie noch aus dem gesellschaftlichen Auftrag der Schule abgeleitet hat, sondern letztlich allein aus der Idee des Neuen selbst. Zusammenhangslos, theorielos, erfolglos und ziellos wurden unzählige Reformen – Beispiele werden weiter unten aufgeführt – den Schulen einfach übergestülpt.

Das hat nicht nur das Selbstverständnis der Schule, sondern auch das pädagogische Selbstverständnis der Lehrerinnen und Lehrer aus dem Gleichgewicht gebracht. Und die Auswirkungen auf verschiedenen Eben zeigen: Es hat das Vertrauen in die Institution und ihre Glaubwürdigkeit geschwächt. Und in der Debatte rund um die Oberflächlichkeitsphänomene geht vergessen, dass diese nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Es scheint, als wisse die Gesellschaft nicht mehr, was die pädagogische Praxis vor Ort leisten kann und soll. Es wird ihr viel zu viel zugemutet und gleichzeitig wird sie ständig kritisiert. Sie soll also alles richten und gleichzeitig traut man es ihr nicht zu. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, lebenslanges Lernen verlangt, aber an den Schulen verschwindet das Pädagogische, das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.

Die praxisfremden Oberflächenneuerungen

Der Lehrplan 21 mit seinen unzähligen Kompetenzen wurde erfunden; neue methodisch-didaktische Konzepte ausgeklügelt, die immer mehr Verantwortung an die Schülerinnen und Schüler delegieren, weil die ältere Generation meint, die jüngere wisse es besser. Gleichzeitig stiehlt sich die ältere damit der Verantwortung; die Integration aller Kinder vorangetrieben ohne zu berücksichtigen, dass es Kinder gibt, die auf einen spezifischen, ihren Fähigkeiten angemessenen Unterricht angewiesen sind, damit sie später an der Gesellschaft teilhaben können; das Frühfranzösisch wurde eingeführt, ohne zu beachten, dass frühes Erlernen einer Fremdsprache nicht einfach besser ist, sondern dass das Erlernen von Neuem immer auch in einem altersabhängig angemessenen Kontext stattfinden muss, damit es Erfolg haben kann; die Schule wurde mit digitalen Geräten geflutet, um auf die Digitalisierung vorzubereiten, was auch immer das heissen mag, ohne zu berücksichtigen, dass Lernen und Lehren eine grundsätzlich personale Angelegenheit ist und dass die Nutzung technischer Hilfsmittel keine pädagogische Praxis an sich ist.

Die Wirkung der Neuerungen

Dem kann man entgegenhalten, dass dies alles ja nur Oberflächeninterventionen seien, doch diese haben die Schule in ihrem Kern getroffen, da damit eine grundlegende Umgestaltung der pädagogischen Praxis erfolgt ist.

Die unzähligen Kompetenzen des Lehrplans 21 führen in ihrer Oberflächlichkeit genau dazu, dass alles Wesentliche nur noch angetippt wird; es fehlt die Zeit für die vertiefte Beschäftigung, für das Verstehen, für das Üben. Hektisch und atemlos wird versucht, diese Können-Formulierungen irgendwie umzusetzen. Und da die Lehrpersonen hier an ihre Grenzen stossen, werden die Kompetenzformulierungen einfach den Schülerinnen und Schülern übergeben zusammen mit entsprechenden Aufträgen und so genannten Dossiers.

Die methodisch-didaktischen Konzepte treiben die Individualisierung des Unterrichts in unterschiedlichen Variationen voran, die Klasse als Ganzes rückt aus dem Blickfeld, denn es muss auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse jedes Einzelnen eingegangen werden; die gemeinsame Ansprache, worauf das Unterrichten im Kollektiv, wie es an der Schule nun einmal stattfindet, angewiesen ist, wird als Frontalunterricht diskreditiert und dem Prinzip der Individualisierung als unterrichtsleitend gegenübergestellt.

Die integrative Schule ist eine Schule für immer weniger

Die so genannt integrative Schule hat genau das Gegenteil ihrer Absicht verwirklicht: Noch nie hatten so viele Kinder einen so genannten Förderbedarf, noch nie wurden so viele Diagnosen gestellt, verstärkte Massnahmen finanziert, Therapien an Schulen durchgeführt und noch nie wurde so oft moniert, dass die Lehrpersonen aufgrund der Zunahme von verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern an ihre Grenzen stossen. Die integrative Schule ist nicht eine Schule für alle, sondern eine Schule für immer weniger, denn immer mehr brauchen Unterstützung, um dort zu bestehen.

Dass das Frühfranzösisch scheitern würde, war vorhersehbar, denn das Konzept des Sprachbads während zwei bis drei Lektionen pro Woche ist weder begründbar noch nachvollziehbar. Doch es ist auch ein Zeichen der Zeit, dass das Experiment das Mittel der Wahl ist und das Argument im Vorfeld keine Chance hat. Dass mit diesem Konzept mehrere Millionen in den Sand gesetzt wurden, dass der Stellenwert des Französisch als Landessprache zusätzlich geschwächt wurde, dass Kinder unzählige Lektionen in einem ineffektiven Unterricht verbringen, das wurde einfach in Kauf genommen.

Die Schule als Ort, an dem ältere Menschen jüngere Menschen bilden, befindet sich in einem tragischen Zustand, weil Geräte das offenbar besser können.

Die Turbodigitalisierung hat den Lernerfolg nicht gesteigert, im Gegenteil. Es ist empirisch erwiesen, dass das Lesen am Bildschirm oberflächlicher erfolgt als in Büchern, dass der Wortschatz kleiner wird und die Fähigkeit zur Textproduktion sinkt, je häufiger digitale Medien genutzt werden, dass das Schreiben von Hand dem Schreiben mit digitalen Endgeräten überlegen ist. Ganz abgesehen davon führt die extensive Nutzung digitaler Geräte an Schulen dazu, dass die sozialen Interaktionen abnehmen, dass jeder zunehmend nur mit seinem Gerät beschäftigt ist, dass die Lehrperson hinter den Bildschirmen verschwindet und das Wissen irgendwo in den Sphären gesucht werden muss, kurz: Die Schule als Ort, an dem ältere Menschen jüngere Menschen bilden, befindet sich in einem tragischen Zustand, weil Geräte das offenbar besser können.

Die Debatte der Oberflächlichkeiten

Die nun sichtbar gewordenen problematischen Auswirkungen der oberflächlichen Reformen führen zu öffentlichen Debatten, bei welchen alle mitreden, alle sich aufregen, alle kritisieren, alle alles besser wissen können. Sie führen zu oberflächlichen Diskursen und verfehlen damit einerseits die grundsätzliche Problematik eines möglichen Scheiterns der öffentlichen Schule und andererseits werden sie der Komplexität des gesellschaftlichen Auftrags an die Schule, der pädagogischen Praxis und deren Widersprüchlichkeiten nicht gerecht. Man redet über jene Phänomene des Scheiterns, die nun sichtbar werden, ohne nach den eigentlichen Ursachen zu fragen.

Ein Lehrplan, der das Können formuliert, vergisst, dass dieses nicht einfach hergestellt werden kann und dass es grundsätzlich ausschliesst, dass Bildung viel mehr ist, als dass, was verwertet werden kann. Eine finale Formulierung von Kompetenzen schliesst Neugierde, Begeisterung, verstehen Wollen und alles Schöne, aber vielleicht nicht direkt Verwertbare aus. Ausserdem erhebt sie den Anspruch, dass es Instanzen gibt, die genau wissen, was überhaupt gewusst werden soll. Sie nehmen der pädagogischen Praxis die Sinnhaftigkeit, die weit über das hinausgeht zu vermitteln, was unmittelbar als nützlich erachtet wird. Und so diskutieren wir über die Ausformulierung und die Anzahl von Kompetenzen, statt über das Lernen im Kollektiv mit dem Ziel, sich die Welt ein Stück weit anzueignen und sich dadurch einbringen zu können.

Zunehmend weniger stehen Instruieren und Intervenieren im Zentrum, sondern Beobachten, Beurteilen Begutachten.

Individualisierende Unterrichtsformen sollen den Lernbedürfnissen des einzelnen Kindes entgegenkommen, jedes Kind soll als Individuum wahrgenommen und sich selbst sein dürfen, sein aktueller Lernstand soll erhoben und spezifische, darauf ausgerichtete Lernangebote sollen bereitgestellt werden oder es soll aus einem breiten Angebot in einer Lernlandschaft selbst wählen können, was es gerade lernen möchte. Dabei stiehlt sich die Erwachsenenwelt aus ihrer Verantwortung gegenüber der nächsten Generation und lässt sie zunehmend allein und auf sich selbst bezogen. Zunehmend weniger stehen Instruieren und Intervenieren im Zentrum, sondern Beobachten, Beurteilen Begutachten. Das heisst, die Erwartungen bleiben dieselben, aber sie werden nicht mehr direkt kommuniziert, sondern die Schülerinnen und Schüler müssen sie selbst entdecken, was bedeutend schwieriger ist. Wir Menschen sind soziale Wesen und leben in einer geteilten Welt. Nicht die Debatten darüber, wie die Schule noch mehr auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes eingehen könnte, ist zielführend, sondern die Besinnung darauf, dass wir soziale Wesen sind. Gerade diese herausfordernde Praxis, dass wir, auch wenn wir alle unterschiedlich sind, die Welt teilen und stets von Neuem aushandeln müssen, wie wir zusammenleben wollen, können wir in der Schule erlernen.

Wir reden darüber, mit wie viel zusätzlichen finanziellen Mitteln und zusätzlichen therapeutischen Angeboten wir die integrative Schule retten können, statt darüber zu reden, dass es einige wenige Kinder gibt, für welche die Regelschule nicht das angemessene Setting bieten kann, weil sie nicht auf ihre spezifischen Bedürfnisse eingeht. Wir schaffen Unterrichtssituationen, die mit ihrer anwachsenden Komplexität, der zunehmenden Unruhe und der steigenden Anzahl von Lehr- und Fachpersonen bei immer mehr Kinder vor Herausforderungen stellen, die sie nicht mehr meistern können. Die Konzentrations- und Lernprobleme und die Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu. Dies wird dann mit gesellschaftlichen Veränderungen begründet, auch wenn die Probleme systemimmanent sind. Wir gehen tatsächlich so weit, eine immer grössere Anzahl von Kindern und Jugendlichen als förder- und therapiebedürftig zu bezeichnen, anstatt darüber zu reden, wie sehr wir die Schülerinnen und Schüler allein lassen, weil sie sogar ihre Lernziele selbst wählen können, obwohl sie wissen, dass überall versteckte Erwartungen lauern.

Wir streiten über die Ineffizienz des Französischunterrichts, statt darüber zu reden, wie wichtig es für ein mehrsprachiges Land ist, sich gegenseitig zu verstehen und sich austauschen zu können.

Obwohl Digitalisierung ein sehr unscharfer Begriff ist, hat diese Idee und die dafür bereitgestellten Millionenbudgets an den Schulen dazu geführt, dass zunehmend digitale Endgeräte eingesetzt werden. Aktuell wird darüber diskutiert, ob KI und ChatGPT für die Schulen eine Gefahr, eine Revolution oder ein Segen seien. Sie sollen personalisierte Lernprogramme erstellen, den Förderbedarf von Schülerinnen und Schülern eruieren können und sie beim Lernen unterstützen. Wir aber sollten öffentlich darüber diskutieren, ob wir als Menschen, die das Wissen in unseren Köpfen an die Köpfe der nächsten Generation weitergeben, angereichert mit unserer Begeisterung und unseren Erfahrungen, in einer pädagogischen Beziehung, die auf Vertrauen, Zutrauen, Zumuten und einer manchmal kontrafaktisch positiven Erwartungshaltung basiert, diese Aufgabe tatsächlich an Maschinen delegieren wollen.

Worüber wir eigentlich debattieren sollten

Die Ausführungen wollen aufzeigen, dass die oberflächlichen Reformen der letzten Jahrzehnte und die ausufernden Zumutungen an die Schule sowie die damit einhergehenden oberflächlichen, öffentlichen Debatten die pädagogische Praxis und die Schule als wesentliche Institution einer Demokratie irritiert und verunsichert haben Die Schule als Ort der Widersprüchlichkeiten, des möglichen Scheiterns, der Horizonterweiterung, der personalen pädagogischen Beziehungen, der Begeisterung und der Langeweile, des Lernens im Kollektiv, der Weltzugänge sowie der Freundschaften und der Streitigkeiten ist eine äusserst komplexe Institution. Sie ist auf ein pädagogisches Selbstverständnis angewiesen, das ihren Sinn zumindest teilweise begründet. Das ist der unsichtbare, aber überlebenswichtige Teil des Eisbergs, über welchen wir nicht debattieren. Wenn wir uns nicht damit befassen, sondern nur mit den über dem Meeresspiegel sichtbaren Oberflächlichkeiten, die jeder aus seiner individuellen Perspektive wahrnimmt, interpretiert und kritisiert, dann wird der unsichtbare Teil möglichweise eines Tages geschmolzen sein, ohne dass wir es bemerkt haben. Und wir werden uns fragen, warum die öffentliche Schule verschwunden ist, spätestens dann, wenn niemand mehr dort unterrichten wird.

The post Man kratzt an der Oberfläche und erreicht das Gegenteil first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/09/man-kratzt-an-der-oberflaeche-und-erreicht-das-gegenteil/feed/ 1