Kompetenzorientierung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 02 Apr 2024 18:56:26 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Kompetenzorientierung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Der Erfahrungsschatz der Praxis wird negiert https://condorcet.ch/2024/04/16375/ https://condorcet.ch/2024/04/16375/#comments Tue, 02 Apr 2024 18:10:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=16375

Der Kommentar des BAZ-Chefredakteurs Marcel Rohr stiess in unserer Leserschaft auf grosses Interesse. Auch die Condorcet-Autorin Christine Staehelin reagierte auf die scharfe Analyse, empfand sie allerdings als zu oberflächlich. Für Condorcet-Autor Felix Hoffmann ist das Versagen des Basler Schulsystems allerdings ein Absturz mit Ansage.: Zu viel Ideologie, zu wenig Sachverstand und das Beiseiteschieben der Lehrkräfteexpertise.

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Die gemiedene Expertise der Profis

Dass die Lehrkräfte mittlerweile verstummt sind, ist absolut richtig, es geht allerdings darüber hinaus. Lehrpersonen wurden eben auch aktiv mundtot gemacht. Insbesondere im linken Basel wurde ihnen unter dem ehemaligen Leiter für Volksschulen, Dieter Baur, untersagt, sich öffentlich reformkritisch verlautbaren zu lassen. Erboste man sich als Lehrkraft dennoch, die eigene Meinung zu publizieren, wurde man zitiert und abgemahnt. – Der Kommunismus mit seiner autoritären Gleichschaltung lässt grüssen. Wer aber soll denn besser geeignet sein, den Schulbetrieb zu beurteilen, als erfahrene und bewährte Lehrkräfte, die täglich ihre Arbeit darin verrichten und die negativen Auswirkungen von Reformen unmittelbar erleben? Doch ausgerechnet die Expertise solcher Lehrpersonen scheut die Bildungspolitik wie der Teufel das Weihwasser. Sie will den Lead, die Deutungshoheit. In der Bildungspolitik agiert oft nicht, wer dafür qualifiziert ist, sondern wer bestimmen will.

So stützte man sich bei Passepartout nicht auf die für alle Lernenden, ob gross oder klein, wichtigen Prinzipien beim Fremdsprachenerwerb[2], sondern auf eine Ideologie.

Felix Hoffmann, BL, Sekundarlehrer, Condorcet-Autor: Keine Expertise der Lehrpersonen erwünscht.

Die Entmenschlichung des Schulbetriebs

Wie Stähelin sehr richtig bemerkt, ist «das pädagogische Tun in seinem Kern eine personale Angelegenheit…» Dies zeigt sich auch im sogenannten pädagogischen Dreieck zwischen  Thema, Lehrenden und Lernenden. Mit andern Worten steht neben der Wissens- und Kompetenzvermittlung letztlich der Mensch im Mittelpunkt des Schulbetriebs. Dieser geriet allerdings vor rund dreissig Jahren[1] aus dem Fokus der Bildungspolitik, und zwar nicht nur die Lehrenden, sondern auch die Lernenden.

So stützte man sich bei Passepartout nicht auf die für alle Lernenden, ob gross oder klein, wichtigen Prinzipien beim Fremdsprachenerwerb[2], sondern auf eine Ideologie, die letzten Endes auf einem unsäglich dümmlichen Irrtum beruhte.[3] Bei der Kompetenzorientierung orientierte man sich an den Bedürfnissen der Wirtschaft. Bei der Digitalisierung liegt die Rentabilität von Firmen wie Apple, Microsoft und Google im Vordergrund. Und beim Frühfranzösisch berief man sich u.a. auf behauptete Erkenntnisse aus der Gehirnforschung, statt sich an der die Lernenden umgebenden Realität zu orientieren: Zu viele fremdländische SchülerInnen sind mit drei Fremdsprachen heillos überfordert. Zu viele Lehrkräfte auf der Primarstufe sind nicht ausreichend für den Französischunterricht qualifiziert, zumal sie ferner auch noch mit den schlechten Passepartout-Lehrmitteln unterrichten. Die Klassen sind wegen der Integration bzw. Inklusion über die Massen heterogen, sodass stets mehr SchülerInnen immer weniger lernen.

Also auch bei dieser Reform standen die Belange der Lernenden nicht im Zentrum.

Selbst bei der so menschlich anmutenden Integration/Inklusion geht es nur vordergründig um das Wohl der Kinder und Jugendlichen. In Tat und Wahrheit dreht es sich auch hier um eine Ideologie, sprich der weltfremden ideologisch behaupteten Gleichheit der Menschen, was nichts anderes bedeutet als Gleichmacherei. Diese ist getarnt durch euphemistische Begrifflichkeiten wie Chancengleichheit, die sich klangheimlich zur nicht minder realitätsfernen Chancengerechtigkeit wandelte. Wie bei Passepartout liegt auch hier letzten Endes ein Irrtum zugrunde: Wenn man die Lernenden nur alle in den gleichen Topf wirft, haben sie alle die gleichen Chancen. Dies unter völliger Ausblendung der real existierenden Individualität der SchülerInnen.

Man darf gespannt sein, ob der neue Basler Erziehungsdirektor in spe, der Linke Mustafa Atici, bereit sein wird, über seinen ideologischen Schatten zu springen, um Förderklassen einzuführen. Dies wäre ausnahmsweise keine Reform, sondern eine längst fällige Korrektur.

Die durch die Ideologie der Integration/Inklusion verursachten Probleme treten insbesondere in Basel überdeutlich zutage, ein gewichtiger Grund für den Lehrkräftemangel und den dortigen schulischen Leistungsabfall. Man darf gespannt sein, ob der neue Basler Erziehungsdirektor in spe, der Linke Mustafa Atici, bereit sein wird, über seinen ideologischen Schatten zu springen, um Förderklassen einzuführen. Dies wäre ausnahmsweise keine Reform, sondern eine längst fällige Korrektur.

Das unsägliche Reformprojekt des  VSLCH

Christine Staehelin bringt es äusserst treffend auf den Punkt: «Es braucht nun keine weiteren Reformen und Massnahmen, um die Schule zu verbessern, sondern die Abkehr von der Idee, dass diese etwas dazu beitragen könnten.» Die vom Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz, (VSLCH) propagierte Abschaffung der Noten und der Selektion – einer weiteren Reform also, die alles auf den Kopf stellen will – könnte in der Folge zu keinem dümmeren Moment kommen. Abgesehen davon, würden die Interessen der Lernenden auch hier einmal mehr unberücksichtigt bleiben. Denn diese wollen Noten, da sie ihnen eine unkomplizierte, leicht verständliche und verlässliche Orientierung zum eigenen Leistungsstand  bieten. Und was die Abschaffung der Selektion betrifft, wurde uns anhand der selektionsbefreiten Basler Orientierungsschule (OS) ein Lehrstück geboten: Schon kurz nach deren Gründung wurde die Selektion durchs Hintertürchen wieder eingeführt über die sogenannten Emos-Klassen[4]. Dies, da die extreme Heterogenität der Regelklassen seitens der Lehrerschaft nicht mehr zu händeln war. Jener Schritt stellte sich jedoch als unzureichende Kosmetik heraus. Denn die OS war grundsätzlich ein integratives Fehlkonstrukt, insbesondere wegen der fehlenden Selektion und der fehlenden Noten. Abgesehen von deren PromotorInnen wollte sie niemand in Basel, weder die Schüler-, Eltern- und Lehrerschaft- noch die Wirtschaft. Nach einer Gesichtswahrungsfrist von etwa 12 Jahren, war sie folglich Geschichte.

Es stellt sich die Frage, in wessen Namen der VSLCH hier eigentlich agiert, im Namen des gesamten Verbands? Oder ist es vielleicht ein eigenmächtiges Projekt der Verbandsspitze um das der Mercator Stiftung nahestehende Geschäftsleitungsmitglied, Jörg Berger? «Das Wort “Mercator” stammt aus dem Lateinischen und bedeutet “Kaufmann” oder “Händler”…Insgesamt bezeichnet “Mercator” also eine Person, die sich mit Handel und Kommerz beschäftigt.»[5] Nomen est Omen! Der Schulbetrieb als Handelsplatz neoliberaler Geschäftsmodelle getarnt im Tarnkappenbegriff der «Reform».

Anstelle von weiteren unsäglichen Reformen brauchen wir einerseits eine Rechenschaftsplicht für ReformerInnen und andererseits die Abschaffung der Gesichtswahrungsfrist. Wären diese beiden Forderungen bereits erfüllt, gäbe es heute u.a. keine Kompetenzorientierung, kein Frühfranzösisch, keine gesundheitsschädigende schulische Digitalisierung in der heutigen Form und keine aus dem Ruder gelaufene Integration/Inklusion.

“Selbst das Wort Schule, das von griechisch scholé (Rast, Ruhe, Muße) herkommt, kann als Widerspruch angesehen werden.” Unbekannt[6]

[1] Als der damalige Zürcher Bildungsdirektor, Ernst Buschor, anfing, die Volksschule nach marktwirtschaftlichen Prinzipien umzugestalten.

[2] Vom Einfachen zum Schwierigen, klar strukturierter Aufbau, systematisches Üben und Repetieren, Lernziele auf Grundlage klar definierter Stoffinhalte, altersgerechte/r Wortschatz bzw. Themen und Texte usw.

[3] Das von den Passepartout-PromotorInnen proklamierte Sprachbad als Grundlage ihrer Ideologie gibt es nicht mit drei Fremdsprachenlektionen pro Woche. Folglich stürzte die ganze Reform wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

[4] Diese waren nichts anderes als “progymnasiale Klassen” für leistungsstarke deutschsprachige SchülerInnen.

[5] https://www.perplexity.ai/search/Was-bedeutet-das-0_qyP6XqSFi7FdzIaAuCiQ

[6] https://www.gutzitiert.de/zitate_sprueche-schule.html

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Wie ideologisch sind unsere Schulen? https://condorcet.ch/2024/03/wie-ideologisch-sind-unsere-schulen/ https://condorcet.ch/2024/03/wie-ideologisch-sind-unsere-schulen/#comments Fri, 29 Mar 2024 17:20:55 +0000 https://condorcet.ch/?p=16320

Der Tamedia-Journalist Philipp Loser hält die Befürchtungen, wonach der neue Rahmenlehrplan in eine ideologische Richtung führt, für übertrieben – und blickt nach Russland, wo kritisches Denken wirklich gefährlich ist. Dieser Artikel ist im Tagimagi und in den Tamedia-Zeitungen veröffentlicht worden.

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Hat unsere Armee die Schweiz im Zweiten Weltkrieg heldenhaft beschützt? Verzichtete Adolf Hitler auf einen Einmarsch bei uns, weil er Angst vor dem «stacheligen Igel» hatte? War das Réduit eine strategisch brillante Idee? Wer irgendwann in der Nachkriegszeit eine Schweizer Volksschule besucht hat, der weiss auf alle drei Fragen die richtige Antwort: Jawoll!

Bis weit in die 1980er-Jahre (an manchen Orten auch darüber hinaus) wurde im Geschichtsunterricht ein geschöntes Selbstbild vermittelt. Eine Erzählung der bürgerlich-konservativen Mehrheit über ein kleines und wehrhaftes Land, das sich tapfer der Welt entgegenstellte. Nazigold? Kollaborateure? Abgewiesene Juden an der Grenze? Nicht der Rede wert.

Die berechtigte Kritik an den vermittelten Inhalten in der Schule (am verblendeten Geschichtsbild der Eidgenossenschaft überhaupt) kam damals von links. Heute haben sich die Vorzeichen umgekehrt: Es sind konservative Politiker, die sich am von ihnen beobachteten «Linksdrall» in der Staatsschule stören. Sie stören sich an angeblich links-grünen Lehrpersonen (!), die die Schüler auf Linie bringen. Sie stören sich am Lehrplan 21, der wolkige Kompetenzen statt echtes Wissen vermittle. «Lernziel Gutmensch», nannte es die «NZZ am Sonntag».

Aktuell wird der aktualisierte Lehrplan für die Gymnasien heftig kritisiert, weil dort neu «Bildung für Nachhaltige Entwicklung» unterrichtet werden soll. Dieses Fach beinhaltet laut Lehrplan 21 «die Zielvorstellung, dass für die Befriedigung der materiellen und immateriellen Grundbedürfnisse aller Menschen heute und in Zukunft eine solidarische Gesellschaft und wirtschaftliches Wohlergehen notwendig sind».

Es ist die Umsetzung des im zweiten Artikel der Bundesverfassung festgehaltenen Zwecks der Eidgenossenschaft, die gemeinsame Wohlfahrt und die nachhaltige Entwicklung zu fördern.

Und das soll links sein?

Vielleicht nicht links. Aber gefährlich. Im neuen Lehrplan würden Haltungen als Kompetenzen definiert, sagte der Berner GLP-Grossrat Alain Pichard, einer der prominentesten Kritiker des Lehrplan 21, gegenüber der «Sonntagszeitung». «Damit entwickelt sich unser Bildungssystem in eine gefährliche Richtung, die in eine totalitäre Umerziehung münden kann.»

Das ist natürlich völlig überzogen. Wie «totalitäre Umerziehung» in der Realität funktioniert, sieht man gerade in Russland, wo Wladimir Putin alles dafür tut, seine Bevölkerung gleichzuschalten – von Anfang an. Es brauche eine staatliche Version der Geschichte für alle, die heute Schüler und morgen Staatsbürger seien, sagte Putin im Dezember lobend über ein neues Schulbuch für die elfte Klasse. Darin steht unter anderem, dass der Prager Frühling von den Amerikanern inszeniert, dass Stalin vom Volk aufrichtig geliebt und die DDR von Westdeutschland annektiert worden seien.

Totalitäre Propaganda. Die «Zeit», die über das Buch berichtete, traf in Moskau eine Lehrerin, die mit ihren Schülern eine Technik trainiert, um in Russland «als denkender Mensch» zu überleben. Bei Prüfungen solle man schreiben, was die Obrigkeit sich wünsche. Daheim dann solle man noch einmal für sich aufschreiben, was tatsächlich wahr sei. Doppeldenk.

Und anders als in Schweizer Schulen in den 1980er-Jahren, in denen sich aufgebrachte Schülerinnen und Schüler mit ihren Geschichtslehrern über das Verhalten der Eidgenossenschaft im Krieg stritten, oder in Schweizer Schulen der 2030er-Jahre, wo sich Schülerinnen und Schüler über – dereinst vielleicht total falsche – Nachhaltigkeitsansätze aufregen (wer weiss), ist es in Russland tatsächlich gefährlich zu widersprechen.

Da ist es fast schon rührend, wie fest sich manche über den Zeitgeist aufregen können, der heute durch unsere Schulen weht.Solange die Schülerinnen und Schüler zu eigenständigem Denken und kritischem Fragen erzogen werden: alles easy.

https://www.derbund.ch/ideologie-an-schulen-wie-links-ist-unser-bildungssystem-660998667555

 

 

 

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Wann kommt die Initiative für einen ausgewogenen Regenfall? https://condorcet.ch/2024/01/wann-kommt-die-initiative-fuer-einen-ausgewogenen-regenfall/ https://condorcet.ch/2024/01/wann-kommt-die-initiative-fuer-einen-ausgewogenen-regenfall/#respond Sun, 28 Jan 2024 18:07:36 +0000 https://condorcet.ch/?p=15792

Der aargauische und der bernische Lehrerinnen- und Lehrerverband lancierten diese Tage eine Verfassungsinitiative, welche eine qualitativ gute Bildung in ihren Kantonen garantieren soll. Alain Pichard erklärt, weshalb er dieser Initiative nicht viel abgewinnen kann.

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Am 28. November 2021 wurde die Initiative «Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)» von Volk und Ständen mit einem Ja-Anteil von 61% angenommen. Artikel 117b Bundesverfassung verlangt, dass Bund und Kantone die Pflege als wichtigen Bestandteil der Gesundheitsversorgung anerkennen und fördern. Der Zugang zu einer Pflege von hoher Qualität soll für alle Menschen garantiert sein.

Alain Pichard, GLP-Grossrat im Kanton Bern, Mitglied der Bildungskommission: Das Muster ist immer dasselbe.

Heute nach 3 Jahren herrscht bezüglich der Wirkung dieses politischen Begehrens eine Katerstimmung. Diese Initiative habe nichts gebracht, eine Prognose, die viele Fachleute der Initiative vorausgesagt hatten. Aber wer konnte schon gegen eine qualitativ gesicherte Alterspflege für alle sein?

Ähnlich verhielt es sich mit dem Klimagesetz. Die Eidgenössische Abstimmung über die Totalrevision des CO2-Gesetzes wurde am 13. Juni 2021 mit einer Mehrheit von 51,59 % abgelehnt. Deshalb versuchte man es mit einem Klimagesetz, dessen konkrete und spürbare Umsetzungen aber noch bevorstehen und ebenfalls vor dem Souverän bestehen müssen.

Nun lancierten der bernische Lehrerinnen- und Lehrerverein (Bildung Bern) und der aargauische Lehrerinnen- und Lehrerverein je eine kantonale Volksinitiative, welche die Sicherung der Bildungsqualität in die Verfassung schreiben will.

Das Muster dabei ist immer dasselbe. Man versucht, einen Missstand – zu wenig Pflegende, zu wenig Lehrkräfte, zu viel CO2 – zu bekämpfen und formuliert daraufhin griffige Forderungen. Die Krux: Auch bei konkreten Gesetzesvorlagen und Budgetforderungen gibt es Debatten, werden Kosten-Nutzen-Analysen erstellt, können sich Geister scheiden. Und wenn dann diese konkreten Massnahmen von der Wirklichkeit umzingelt werden, einen Realitätscheck oder gar ein Referendum durchlaufen müssen und schliesslich an der Urne scheitern, flüchtet man in Wunschprosa und formuliert ein hehres Ziel für die Verfassung.

Kathrin Scholl, Mitglied der Geschäftsleitung des ALV: Es muss was geschehen.

Die Präsidentin des aargauische Lehrer- und Lehrerinnenverbands, Kathrin Scholl, verweist darauf, dass bis 2031 47’000 neue Lehrpersonen benötigt, derzeit aber nur 34’000 ausgebildet würden. Auf die Frage, was da eine Initiative nützen soll, meinte sie: «Wir wollen Druck auf die Politik ausüben!»

Das Beispiel des Kantons Basel-Stadt, wo die Ausgaben pro Schüler mit jährlich 25’000 Fr. ausgewiesen werden, also 10’000 Fr. über den bernischen liegen, lässt vermuten, dass in der Forderung des “Immer mehr” vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss liegt.

Immerhin wird der Grüne Grossrat und Lehrer Manuel C. Widmer – ein vehementer Unterstützer der Initiative –  konkreter: In einem Beitrag auf LinkedIn formuliert er den ganzen Katalog der Begehrlichkeiten der Personalverbände, ohne Priorisierung und Reflexion:

  • Gute Infrastruktur inklusive Mittel für Digitalisierung
  • Teamteaching im Zyklus 1 und bei schwierigen Klassenzusammensetzungen
  • Stärkung des Frühbereichs und der Kindertagesstätten
  • Niederschwellige Angebote von Fachstellen für Kinder und Jugendliche
  • Zeitliche Ausstattung der Klassenlehrpersonen aller Stufen
  • Unterstützung bei der Zusammenarbeit von Eltern
  • Aufstockung der Pensen von Schulleitungen für ihre mit hoher Verantwortung verbundenen Führungsaufgaben
  • konkurrenzfähige Löhne
  • Schlanke, effiziente Abläufe in der Administration
  • Kantonale Unterstützung der Gemeinden für Schulsekretariate
  • Verpflichtung zur Ausbildung für Lehrpersonen ohne Lehrdiplom
  • Unterstützung für qualifizierte Quereinststeiger:innen
  • Eine der Qualität der Bildung direkt dienendes Weiterbildungsangebot
  • Vorausschauende Partizipative Planung von geeigneten Schulgebäuden
Grossrat und Lehrer Manuel C. Widmer: Mehr …

Abgesehen davon, dass dieser grandiose Wunschzettel die im Kanton Bern vorhandene Schuldenbremse pulverisieren würde, müssen sich die Lautsprecher dieser Forderungen auch die Frage der Wirksamkeit stellen. Das Beispiel des Kantons Basel-Stadt, wo die Ausgaben pro Schüler mit jährlich 25’000 Fr. ausgewiesen werden, also 10’000 Fr. über den bernischen liegen, lässt vermuten, dass in der Forderung des “Immer mehr” vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss liegt.

Der Verdacht liegt nahe, dass die Verbände den Druck, der auf ihnen selbst lastet, abmildern wollen. Regierungsnah und politisch weitgehend impotent, will man eine gewisse Mitverantwortung für das gegenwärtige Malaise nicht wahrhaben. Denn der Lehrkräftemangel hat auch mit den Reformen der letzten Jahre zu tun: «Teamteaching, kleinere Schulklassen, Lektionenausweitung durch Lehrplan 21, Frühfranzösisch, Frühenglisch, Kompetenzorientierung, Digitalisierung, Bewertung der überfachlichen Kompetenzen, Kreuzchenorgie in Zeugnissen, die Pflicht, über jedes Elterngespräch ein Protokoll zu führen, unausgegorene Inklusionsprojekte, Sitzungsmarathons, Weiterbildungsdokumentationen, die ständige Bevormundung seitens der Behörden, die den freien Gestaltungsraum einengen, Konzeptionitis auf allen Stufen… usw.  All diese Massnahmen haben unsere Gewerkschaftskollegen in den Berufsorganisationen teilweise frenetisch unterstützt.

Mehr Geld? In kaum einem Bereich unseres Staatshaushalts stiegen die Ausgaben wie in der Bildung. Erfolg: Sagenhafte 25% der Schülerinnen und Schüler können nach neun Schuljahren keinen einfachen Text entschlüsseln. Mehr Lehrkräfte? Bitte sehr, wer will das nicht? Aber wo sollen die herkommen? Frau Scholl meint: «Unsere Mitglieder haben in unseren Umfragen mehrfach gesagt, dass endlich etwas passieren muss.» Ja bitte sehr, aber was? Und da wären wir wieder bei der Pflegeinitiative oder dem Klimagesetz. Mit solchen Volksbegehren rennt man mit martialisch-nebulösen Rammböcken offene Türen ein. Ein Mitglied der kantonalen Bildungskommission in Bern meinte ironisch: «Wann kommt die Verfassungsinitiative, welche ausgewogene Niederschläge fordert? Genannt will er natürlich nicht werden, denn wer kann schon gegen eine gesicherte Bildungsqualität sein?

 

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Nicht nur einflussreich, sondern auch sterbenslangweilig https://condorcet.ch/2024/01/nicht-nur-einflussreich-sondern-auch-sterbenslangweilig/ https://condorcet.ch/2024/01/nicht-nur-einflussreich-sondern-auch-sterbenslangweilig/#respond Wed, 03 Jan 2024 12:47:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=15611

Condorcet-Autor Bernhard Krötz, Mathematik-Professor in Paderborn, eröffnet das Jahr 2024 in unserem Bildungsblog mit einem Beitrag über den Bertelsmann-Konzern und erklärt uns den Einfluss der Bertelsmann-Stiftung auf die Bildungsreformen der vergangenen Jahre.

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Eine halbchaotische Institution, die viel Kreativität und wenig Steuerung braucht https://condorcet.ch/2023/11/eine-halbchaotische-institution-die-viel-kreativitaet-und-wenig-steuerung-braucht/ https://condorcet.ch/2023/11/eine-halbchaotische-institution-die-viel-kreativitaet-und-wenig-steuerung-braucht/#comments Mon, 13 Nov 2023 05:25:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=15296

Es war die Starke Volksschule Zürich, welche zu einem Referat mit dem Psychologen und Psychotherapeuten Allan Guggenbühl eingeladen hatte. Die etwa 50 Anwesenden erlebten ein Feuerwerk geistreicher Analysen und verblüffend einfacher Erkenntnisse. Condorcet-Autor Alain Pichard war dabei.

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Natürlich hat der bekannte Ausbildner und Autor zahlreicher Fachbücher und Artikel zu den Themen Konfliktmanagement, Gewaltprävention, Bildung sowie Jungen- und Männerarbeit ein Heimspiel. Vor den 50 eher älteren Zuhörerinnen und Zuhörern wirkt der auch schon in die Jahre gekommene Referent spritzig, ja fast jugendlich. Der Vater von vier Kindern – das wird sofort klar – weiss, wovon er spricht. Kaum einer kennt die Jugendlichen in ihren Nöten und Bedürfnissen besser, und in der Gilde der Psychologen ist er – der ständig nah an der Praxis ist – schon fast seltener als der Apollo-Falter auf unseren Wiesen.

Allan Guggenbühl in Zürich bei einem Referat der Starken Volksschule Zürich: PH’s schaffen sich eine eigene Definitionsmacht

Guggenbühl kommt denn auch sofort zur Sache. Die Schule sei derzeit auf einer falschen Bahn. Ein Heer von Erziehungswissenschaftlern versucht seit ca. 15 Jahren, die Schule top-down von oben zu gestalten und umzuformen. Das erweise sich als schwierig, weil die Schule sehr schwierig zu steuern sei. Es handle sich hier um eine halbanarchische Institution mit vielen chaotischen Färbungen.

Die Arbeit in dieser Institution erfordere viel Kreativität, im Moment gehe aber gerade diese in einem auf Kompetenzen getrimmten Unterricht verloren. Der ehemalige Gitarrenlehrer weist darauf hin, wie wichtig die Vermittlung eines Kulturkanons sei, betont beispielsweise die Bedeutung des Singens. «Singen ist ein Teil der Arbeit, schon die Arbeitenden auf den Baustellen oder auf dem Felde pflegten früher zu singen.» Heute liest man im Lehrplan zur Musik Sätze wie: «Kann seinen Körper funktionell wahrnehmen und musisch darauf reagieren.»

Alle 10 Jahre kämen von den Pädagogischen Hochschulen neue Trends. Was bleibe, seien – vor allem auf der Oberstufe – demotivierte Schüler.

Skeptisch beurteilt der Referent auch die Tendenz, die Schule zu einem Erziehungsort verschiedener gesellschaftlicher Anliegen zu machen. Das führe meist ins Leere und zu einer Überfrachtung des Schulprogramms.

Guggenbühl – nun ganz in seinem Element – betont die Wichtigkeit der Klassengemeinschaft. Es sei für die Kinder wichtig dazuzugehören, denn die Schüler orientierten sich an Menschen. Die Rede von der kompletten Individualisierung sei ein Blödsinn. Die Idee des selbsttätigen Schülers, der alleine schon aufgrund der Tatsache, dass er selbst entscheiden könne, woran er arbeite, vor lauter Lernfreude explodiere, sei ein Betrug an den Lernenden. Man lerne in der Gemeinschaft und man lerne, weil die anderen es auch tun. Die Lehrkraft – am besten ein verantwortlicher Klassenlehrer oder eine selbstbewusste Klassenlehrerin – sei hier zentral. Sie müsse belastbar und risikofreudig sein, hinstehen, wenn es nötig ist, und auch Mut zur Emotion zeigen. Die Persönlichkeit des Lehrers sei ein zentraler Gelingensfaktor. Der Einzug der vielen zusätzlichen Bezugspersonen im Klassenzimmer führe zu einer Verantwortungsdiffusion.

Hingabe und Mut zur Emotion – die Lehrperson hat eine zentrale Bedeutung.

Kritisch geht er auch mit den Lernzielen in Sachen Sozialkompetenz ins Gericht. Für einen Lacher sorgte Guggenbühl, als er von einem Experiment an einer Schule erzählte, in der die Schüler den Unterricht hielten und die Lehrpersonen die Lernenden waren. «Sie können sich kaum vorstellen, wie oft die Lehrkräfte zu spät in den Unterricht kamen, wie undiszipliniert sie sich während der Lektionen verhielten.»

Hart ins Gericht geht Guggenbühl auch mit den Pädagogischen Hochschulen, die sich immer mehr eine eigene Definitionsmacht von Schule schaffen würden.

Es gibt Kritiker, die Guggenbühl eine gewisse Intellektuellenfeindlichkeit vorwerfen. Das hat auch mit dessen Referatstechnik zu tun. Guggenbühl untermauert seine Thesen immer wieder mit Praxisbeispielen und Anekdoten – positiven und negativen – und verzichtet gänzlich auf Literaturhinweise oder Quellenangaben. Es gilt die freie Rede ohne Manuskript. Es fallen verblüffende Sätze, deren Evidenz man dennoch überprüfen sollte. So behauptet Guggenbühl, dass die Anwesenheit einer zweiten Lehrperson sofort die Aufmerksamkeit beider Lehrkräfte auf die Schüler reduzieren würde. Da würde man gerne erfahren, welche Untersuchung dies belegt.

«Es wird in der Schule noch nie so viel Papier produziert wie heute und noch nie so wenig gelesen».

Hart ins Gericht geht Guggenbühl auch mit den Pädagogischen Hochschulen, die sich immer mehr eine eigene Definitionsmacht von Schule schaffen würden. Die würden aber in separaten Räumen fernab der schulischen Realität kreiert, gefüttert von ständig fliessenden Forschungsmitteln. Sie entwickelten sich damit immer mehr zu Playern der Bildungssteuerung. «Die obligatorische Weiterbildung gehört abgeschafft, es braucht mehrere Anbieter. Die Lehrkräfte sollen selber auswählen, was ihnen dient.»

Timotheus Bruderer moderierte den Abend souverän

Er fordert zudem einen Stopp der Papierproduktion: «Es wird in der Schule noch nie so viel Papier produziert wie heute und noch nie so wenig gelesen». In der Bürokratiekritik spricht man von Datenfriedhöfen. Als eine Massnahme schlägt der Psychologe – nun in typischer Guggenbühl-Art – vor, mit dem Protokollieren der Elterngespräche aufzuhören. So etwas zerstöre den Gesprächsfluss und die ungezwungene Gesprächskultur. Es schaffe auch einen autoritätsbehafteten Graben zwischen Lehrkraft und Eltern.

Der Mahner und Analyst Guggenbühl trägt seine Forderungen – und das unterscheidet ihn von vielen anderen Reformkritikern – stets charmant und freundlich vor. Man vernimmt kaum einen Alarmismus, und die missionarische Strenge fehlt völlig. Er verlässt sich auf die gnadenlose Plausibilität seiner Aussagen.

Wie wäre diese Veranstaltung wohl abgelaufen, wenn sich Allan Guggenbühl auf einem Podium an einer PH mit einem Vertreter der von ihm kritisierten Bildungsnomenklatura vor 200 Studis hätte messen können?

Je länger das Referat dauerte, desto mehr hatte man das Gefühl, dass hier vorne eine Person aus dem Vollen schöpft und er dies noch stundenlang tun könne. Allan Guggenbühl aber – ganz der Psychologe – weiss, wann die Aufmerksamkeitsspanne ihre Grenzen erreicht. Das Publikum quittiert seine Ausführungen mit einem warmen Applaus. Dem Moderator Timotheus Bruderer gelingt es in der anschliessenden Fragerunde, die nervigen Co-Referate in Grenzen zu halten und sorgte damit auch für eine gehaltvolle Diskussion.

Dem Berichterstatter hinterlässt der Abend eine kleine Wunschprosa-Frage. Wie wäre diese Veranstaltung wohl abgelaufen, wenn sich Allan Guggenbühl auf einem Podium an einer PH mit einem Vertreter der von ihm kritisierten Bildungsnomenklatura vor 200 Studis hätte messen können? Es ist anzunehmen, dass die Leitungen der PH’s ein solches Risiko scheuen.

 

 

 

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In der Gestaltungsfreiheit der Lehrerinnen und Lehrer liegt der Schlüssel zum Schulerfolg https://condorcet.ch/2023/08/in-der-gestaltungsfreiheit-der-lehrerinnen-und-lehrer-liegt-der-schluessel-zum-schulerfolg/ https://condorcet.ch/2023/08/in-der-gestaltungsfreiheit-der-lehrerinnen-und-lehrer-liegt-der-schluessel-zum-schulerfolg/#respond Mon, 28 Aug 2023 07:11:56 +0000 https://condorcet.ch/?p=14867

Condorcet-Auto Hanspeter Amstutz, mittlerweile pensionierter Volksschullehrer aus dem Kanton Zürich, Mitbegründer der Starken Volksschule Kanton Zürich, arbeitet seit Jahrzehnten daran, die Schule gegen unsinnige Reformen zu verteidigen und sie somit wieder auf die Füsse zu stellen. Alle zwei Wochen geben er und seine Mitstreiter eine Sammlung interessanter Bildungsartikel aus der schweizerischen Presslandschaft heraus. Diese werden jeweils mit einem Newsletter angekündigt. Wir weisen immer auf diesen Newsletter in unserem Lila-Kasten "Unsere Starken" hin. Für einmal aber wollen wir Ihnen, liebe Condorcet-Leserinnen und -Leser, den Newsletter als Condorcet-Beitrag in der ganzen Länge zur Verfügung stellen. Es ist unser Obulus an die einmalige Schaffenskraft dieses Pädagogen und Menschenfreundes, aber auch eine Anerkennung an die Leistung seiner Mitstreiter. Einige der vorgestellten Artikel finden Sie auch auf unserem Blog, die anderen können auf der Webseite der "Starken Schule Zürich" heruntergeladen werden.

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Für Carl Bossard ist das Unterrichten eines Klassenzugs wie eine Fahrt mit einem Segelschiff über einen Ozean mit einem verheissungsvollen Ziel. Erwartungsvoll sind die Schülerinnen und Schüler in diesen Tagen an Bord gegangen. Für viele ist es ein Aufbruch zu neuen Ufern, für andere eine Weiterfahrt auf dem nächsten Abschnitt ihrer abenteuerlichen Reise. Geleitet von einem kundigen Kapitän vertrauen sie darauf, dass man den kommenden Stürmen trotzen und das Ziel erreichen wird. Eine Schulklasse als aktive Mannschaft auf einem Segelschiff, was für ein eindrückliches Bild!

Gastautor Hanspeter Amstutz, Starke Schule Zürich: Da ist alles durchgetaktet wie in einem Eisenbahnfahrplan.

Lehrerinnen und Lehrer wissen, dass eine gute Vorbereitung wichtig ist für das Gelingen des Unternehmens. Sie haben sich mit dem Schulstoff gründlich auseinandergesetzt und nehmen einen reichhaltigen Proviant auf die Fahrt mit. Die Windrichtung und die Windstärke können sie nicht beeinflussen, aber die Navigation müssen sie beherrschen und die Mannschaft durch gezieltes Training auf lebenswichtige Einsätze einspielen. Im Sinnbild des Segelns erkennt Carl Bossard ein erhebliches Spannungsfeld zwischen dem Planbaren und dem Unberechenbaren in der täglichen Unterrichtsarbeit.

Bei einem Blick auf den neuen Lehrplan hat man allerdings nicht den Eindruck, dass in der Pädagogik dem Unwägbaren genug Raum gewährt wird. Da ist alles durchgetaktet wie in einem Eisenbahnfahrplan. Nicht wie ein von der Windstärke und den Strömungen abhängiges Segelschiff, sondern wie ein schienengebundener TGV sollen die Schulklassen ihre Kompetenzziele erreichen. Diese Schnellzugsfahrten zu unzähligen Destinationen mit planmässigen Halten an Teilkompetenz-Stationen erweckt den Eindruck eines von zentralen Stellwerken gesteuerten Bahnsystems. Lehrpersonen sind dabei in den Augen mancher Bildungsplaner eher ausführende Beamte als eigenständig handelnde Persönlichkeiten.

Das überfüllte Bildungsprogramm erzeugt Hektik und untergräbt echte Bildung

Das Verkennen der schulischen Realitäten belastet unsere Schule zusehends. Der neue Lehrplan versagt als Bildungskompass, weil er durch seine Überfülle an Kompetenzzielen und inhaltlicher Beliebigkeit keine Orientierungshilfe bietet.

Die aktuelle Rhetorik von den grossen Freiheiten im Lehrerberuf tönt hohl, solange unter Bildung nur die Vorstellung von einem planmässigen Abarbeiten einer riesigen Zahl von Kompetenzzielen verstanden wird.

Solange der Mut zum Ausmisten fehlt, bleibt bei den meisten Lehrpersonen ein mulmiges Gefühl des Verpassens von Bildungszielen hängen. Es braucht keine zweite Fremdsprache in der Primarschule und viele Kompetenzziele aus dem Bildungs-Wunschbereich könnten gestrichen werden. Unterrichtende sollen sich an wesentlichen Aufträgen orientieren können, die sie auch mit schwierigen Klassen erfüllen werden. Die aktuelle Rhetorik von den grossen Freiheiten im Lehrerberuf tönt hohl, solange unter Bildung nur die Vorstellung von einem planmässigen Abarbeiten einer riesigen Zahl von Kompetenzzielen verstanden wird.

Eine gute pädagogische Beziehung benötigt Zeit

Der Gestaltungsspielraum in der Volksschule ist noch von einer anderen Seite her bedroht. Grund ist die einschneidende Doktrin mit dem Zwang zur Integration aller Schüler in Regelklassen. Wenn sich eine Lehrerin mit einem schwer störenden Schüler immer wieder beschäftigen muss, erschwert dies das Unterrichten in freieren Lernformen erheblich. Aber auch geistig behinderte Kinder, denen eine spezielle Förderung in einer Kleingruppe weit mehr Erfolg brächte, fühlen sich unwohl in Regelklassen und kommen nicht weiter. In gleich zwei Gastbeiträgen und einem Leserbrief wird die aktuelle Integrationspolitik ohne alternative Möglichkeiten scharf kritisiert. Beat Kissling hebt die Rolle der Lehrerin als Bezugsperson für jedes Kind hervor. Der Autor sieht in der verstärkten Zuwendung und der erzieherischen Arbeit den entscheidenden Faktor für den Erfolg der Integration. Das gelingt in einer Kleinklasse oft besser als in Regelklassen mit viel selbständigem Lernen.

Völlig zu Unrecht werde heute die soziale Integrationsleistung von Kleinklassen unterschätzt.

Eliane Perret: Beobachtet seit 30 Jahren Kinder und Jugendliche sehr genau.

Eliane Perret wiederum befasst sich eingehend mit der Geschichte der Sonderpädagogik und weist nach, dass die sonderpädagogische Förderung wesentliche schulische Verbesserungen für benachteiligte Schüler brachte. Völlig zu Unrecht werde heute die soziale Integrationsleistung von Kleinklassen unterschätzt. Eine stark von der Biologie her geprägte Pädagogik habe mit ihrem veränderten Menschenbild die Bedeutung des Erzieherischen abgewertet. In einer Regelklasse einfach anwesend sein und uninteressiert an einem Lernprogramm teilzunehmen, bedeute nicht, dass ein benachteiligter Schüler dabei integriert wird. Manche Kinder würden in den Regelklassen im Stich gelassen, weil keine ausreichenden Betreuungsverhältnisse vorhanden seien. Auch da wäre ein unbefangener Blick auf die Schulrealität dringend nötig.

Ein eindrückliches Bild von den möglichen Freiheiten eines Lehrers zeigt ein Interview in der NZZ mit einem Mathematiklehrer einer Mittelschule. Da wird gründlich aufgeräumt mit der Vorstellung, dass die Menge der abgearbeiteten Kompetenzen ein Massstab für guten Unterricht sei. Der Lehrer betont, bei jedem Thema müsse man sich vergewissern, dass die mathematischen Grundlagen wirklich vorhanden seien. Dafür müsse man sich in jedem Fall Zeit nehmen und die Lernknoten auflösen. Wenn die Schüler dort abgeholt werden, wo sie in ihrem Mathematikverständnis stehen, verschwinden die Blockaden bald einmal und es öffnen sich für alle weite Türen. Dabei soll ein Lehrer den Mut haben, sich beim Schulstoff auf die wesentlichen Themen zu konzentrieren. Schade, dass wir nicht erfahren, was dieser erfolgreiche Mittelschullehrer über den Lehrplan der Volksschule denkt.

Kritische Gedanken zu trendigen Reformen und einem unsinnigen Vorhaben

Wer sich gerne kritisch mit trendigen pädagogischen Strömungen befassen möchte, wird bei zwei weiteren Beiträgen von Eliane Perret auf seine Rechnung kommen. Im ersten setzt sich die Autorin mit internationalen Studien über das digitale Lernen am Bildschirm auseinander.

Aufgrund der vorwiegend negativen Studienergebnisse haben verschiedene europäische Regierungsstellen zur Zurückhaltung bei der schulischen Digitalisierung aufgerufen. Im zweiten Beitrag nimmt Eliane Perret den 400-seitigen Schweizer Bildungsbericht unter die Lupe. Sie stellt fest, dass der Bildungsdampfer Schweiz arge Schäden aufweist. Obwohl diverse gravierende Mängel im Bericht genannt werden, kommen aus dem Kreis untersuchenden Wissenschafter keine überzeugenden Vorschläge zur gründlichen Revision des Dampfers. Vielleicht müsste man einen neuen bauen, meint die Autorin.

Zum Schluss noch ein kleiner Paukenschlag. Offenbar haben gewisse Politiker noch immer nicht gemerkt, dass die Schule keine neuen unsinnigen Reformen mehr braucht. Nur so ist es zu erklären, dass in der Stadt Zürich die Primarschule nach den Zyklen des Lehrplans auch organisatorisch umgekrempelt werden soll. Worum es dabei geht, lesen Sie in einem Bericht des Tages-Anzeigers und in der saftigen Antwort eines Leserbriefschreibers.

Wir von der Starken Volksschule Zürich sind auf jeden Fall interessiert, den Dampfer Volksschule ozeantauglich zu machen und nicht länger orientierungslos auf Fahrt zu schicken.

Für das Redaktionsteam
Hanspeter Amstutz

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Bestellte Wunschprosa aus der Bildungsbürokratie https://condorcet.ch/2023/08/14735/ https://condorcet.ch/2023/08/14735/#comments Thu, 03 Aug 2023 07:07:43 +0000 https://condorcet.ch/?p=14735

Das Basler Schublatt startete kürzlich wieder einmal eine Publi-Reportage in Sachen Kompetenzorientierung. Condorcet-Autor Felix Schmutz zerlegt sie.

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Felix Schmutz, BL:
 Muss man Früheres schlecht reden, wenn man etwas Neues einführen will?

Das Basler Schulblatt widmet seine Juli-Ausgabe (Nr. 3) dem «kompetenzorientierten Unterricht». Auffällig, dass keinerlei Bezug genommen wird auf die kontroverse Diskussion um die schulischen Kompetenzen. Stattdessen sind die stereotypen Begründungen zu lesen, die seit fast 15 Jahren von Bildungsverantwortlichen  unerschütterlich wie ein Mantra wiederholt werden. Sechs Kolleginnen und Kollegen aus allen Schulstufen schildern ihre Glückserlebnisse mit der Umstellung auf den kompetenzorientierten Unterricht. (1)

In der Einleitung schreibt Janine Kern unter anderem:

 Es ist die Geschichte eines tiefgreifenden Wandels in der Schule: von der Orientierung an Inhalten und Wissen zur Orientierung an dem, «was Schülerinnen und Schüler am Ende von Unterrichtszyklen wissen und können sollen». …  Frühere Lehrpläne beschrieben, welche Inhalte und Themen in der Schule vermittelt werden sollten – zum Beispiel die Römer oder der Zweite Weltkrieg. Das Thema war Ausgangspunkt für die Unterrichtsplanung. Heute ist es umgekehrt: Der Lehrplan gibt zu erreichende Kompetenzen vor. Die Lehrperson wählt dann den passenden Unterrichtsinhalt, mit dem sich dieses Ziel am besten erreichen lässt. (Hervorhebungen F.S.)

Und weiter steht da:

Mit der Umstellung auf kompetenzorientierten Unterricht folgen die Schulen in Basel-Stadt und in der ganzen Schweiz einem internationalen Konzept, das in vielen europäischen Ländern seit Längerem eingeführt ist. Es geht davon aus, dass die Menschen im 21. Jahrhundert vor allem die folgenden Kompetenzen brauchen, um mit der wachsenden Komplexität und dem schnellen Wandel umgehen zu können: kritisches Denken, Kommunikation, Kollaboration und Kreativität (4 K). Für die Entwicklung dieser so genannten «21st Century Skills» braucht es in der Schule andere Unterrichtsstrategien als jene, die bis ins späte 20. Jahrhundert galten. (Hervorhebung F.S.)

Kompetenzorientierter Unterricht befähigt die Schülerinnen und Schüler, mit Dingen umzugehen, die sie noch nicht wissen. Sie lernen, Quellen zu suchen und zu bewerten, und entwickeln Strategien, um eine Aufgabe zu lösen und Zusammenhänge zu erkennen. Dafür braucht es wie bisher Unterrichtsinhalte und es wird auch weiterhin Wissen vermittelt. Auch das Üben ist noch immer wichtig. Aber im Zentrum stehen die Anwendung des Gelernten, das eigene Handeln und das Reflektieren des eigenen Lernprozesses. (Hervorhebungen F.S.)

Diffamierung des Bisherigen

 Muss man Früheres schlecht reden, wenn man etwas Neues einführen will? Da wird unterstellt, bis ans Ende des 20. Jahrhunderts hätte der Unterricht keine Kritik- und Kommunikationsfähigkeit zustande gebracht, Lernende hätten nicht kollaboriert und kreativ sei niemand gewesen. Diesem Rundumschlag gegen den Unterricht des 20. Jahrhunderts darf man getrost historische Blindheit vorwerfen, denn die genannten Ziele waren seit der Aufklärung ein Anliegen der Schule.

Punkto Kreativität sei nur das Beispiel von Jean Tinguely erwähnt, der in den Dreissigerjahren die Basler Realschule besuchte und dessen Kunstwerke heute weitherum öffentlich ausgestellt werden. Aber war er kreativ? Schliesslich hat er nur alte Maschinenteile neu zusammengesetzt. Ist das schon Kompetenz?

Vermessen auch die Behauptung, es habe keine Kritikfähigkeit gegeben. Die Schulen und die Universitäten wurden in den Sechzigerjahren vom kritischen Denken erfasst. Arbeitsgruppen bildeten sich, lernten und diskutierten zusammen, politische Gruppierungen probten den Aufstand und schafften es in die Parlamente. Aber natürlich: Hatten sie dazu die nötige «Kompetenz»?

Das Kind soll sich nicht seinen Fähigkeiten gemäss entfalten können, sondern von Anfang an gezielt auf fremdbestimmte Aufgaben hin getrimmt werden.

Auf die Gefahr hin, wie Don Quichotte gegen Windmühlen zu kämpfen, führe ich zum Problem der Kompetenzorientierung einmal mehr folgende Bedenken an:

  1. Widerspruch zum Bildungsartikel in der Verfassung von BS

§17 und §18 der Kantonsverfassung BS von 2005 umschreiben die Ziele des Bildungswesens und der Schulen wie folgt:

  • 17

Das Bildungswesen hat zum Ziel, die geistigen und körperlichen, schöpferischen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten zu fördern, das Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Mitmenschen und der Mitwelt zu stärken sowie das Hineinwachsen in die Gesellschaft vorzubereiten und zu begleiten.

  • 18

Die Kindergärten, Schulen, Tagesbetreuungseinrichtungen, Sonderschulen und Heime fördern und fordern alle Kinder und Jugendlichen gemäss ihren Fähigkeiten und Neigungen.   (Hervorhebungen F.S.) (2)

Das Kind soll sich nicht seinen Fähigkeiten gemäss entfalten können, sondern von Anfang an gezielt auf fremdbestimmte Aufgaben hin getrimmt werden.

Während der Bildungsartikel klar definiert, dass die Schule die vorhandenen kognitiven, physischen, sozialen und kreativen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen entwickeln, also von den jungen Menschen ausgehen soll, so dass diese in die Anforderungen des Lebens hineinwachsen können, zäumt die Kompetenzorientierung das Pferd vom Ende her auf, nämlich von einzelnen Anforderungen des Lebens her. Das Kind soll sich nicht seinen Fähigkeiten gemäss entfalten können, sondern von Anfang an gezielt auf fremdbestimmte Aufgaben hin getrimmt werden. Damit deutet die Kompetenzorientierung den Bildungsbegriff der Verfassung in unzulässiger Weise um: Das Subjekt wird zum Mittel der Aufgabenerledigung umfunktioniert, seine ihm eigentümlichen «Fähigkeiten und Neigungen» spielen nur noch insofern eine Rolle, als sie zur Erfüllung von Aufgaben dienlich sind, die ihm von aussen aufdiktiert werden.

Das Argument, der Bildungsartikel lasse mit dem Fächerkanon ebenfalls eine Fremdbestimmung zu, sticht deshalb nicht, weil die Fächer inhaltlich definiert sind und eine breite Palette von Entwicklungsmöglichkeiten zulassen, während Kompetenzen fachliche Bildungsmöglichkeiten von Anfang auf vorgegebene Leistungsziele hin verzwecken.

  1. Widerspruch zur Lernforschung

Das Schulblatt betont zwar, dass «Wissen» und «Üben» nach wie vor wichtig seien. Nur eine Zeile später relativiert es dies aber, indem nicht das «Thema», «der Inhalt» Ausgangspunkt des Unterrichts sei, sondern die «Kompetenz», zu der die Lehrpersonen beliebige passende Inhalte wählen sollen. Damit wird Wissen klar auf den zweiten Platz verwiesen.

Dahinter steht der ökonomische Gedanke, dass diejenigen, die eine Kompetenz am Inhalt x lernen, diese dann problemlos auf die Inhalte y, z, etc. transferieren können. Kompetenzen sind in diesem Verständnis ein Dietrich, der alle Tore zu irgendwelchen Inhalten aufschliessen kann.

Diese Annahme ist, wie die Lernforschung zeigt, grundfalsch. Kompetenzen sind stets an spezifische Inhalte gebunden. Sie können deshalb jeweils nur immer wieder auf gleiche, sehr ähnliche und als ähnlich erkannte Inhalte übertragen werden:

«Fertigkeiten und Strategien werden in bestimmten Kontexten und je

nach den spezifischen Anforderungen erworben. So sind Kompetenzen in erster

Linie bereichsspezifisch, und ihre Transferierbarkeit ist weit beschränkter, als es

gewünscht wäre.» (3)

 «Das Lernen ist situationsspezifischer als lange gedacht… Wirksam hingegen ist das Durcharbeiten fachlicher Inhalte, das Erwerben von fachspezifischem Wissen, von Konzepten und Begriffen.» (4)

Wenn keine Inhalte mehr verbindlich sind, bzw. nicht mehr von verbindlichen Inhalten ausgegangen werden kann, ist deshalb letztlich auch nicht klar, welche Kompetenzen eigentlich gelehrt werden. Es gibt keine inhaltsleeren, vom Gegenstand ablösbaren Kompetenzen.

Sie müssen somit von Prüfungsaufgaben festgelegt werden, was auf ein «Teaching to the Test» hinausläuft, wobei die Definitionshoheit, wer als kompetent zu gelten hat, bei der prüfenden Instanz liegt, welche die Aufgaben formuliert oder entsprechende Übungsprogramme anbietet (5).

  1. Widerspruch zur Gedächtnisforschung

Angeblich lernen Kinder durch Kompetenzen, «mit Dingen umzugehen, die sie noch nicht wissen. Sie lernen, Quellen zu suchen und zu bewerten, und entwickeln Strategien, um eine Aufgabe zu lösen und Zusammenhänge zu erkennen.»

Genau das bleibt Illusion. Denn um das alles tun zu können, braucht es spezifisches Vorwissen, das in der Auseinandersetzung mit Inhalten erworben und vertieft werden muss. Neues kennen lernen, Quellen bewerten, Strategien anwenden, das alles setzt voraus, dass Bestände aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden können, während gleichzeitig Unbekanntes aufgenommen werden soll, was gedächtnistechnisch nicht möglich ist, wie Kirschner et al. gezeigt haben. (6)

Kompetenz im Sinne von Franz E. Weinert bedeutet nicht Anwendung, sondern Potenzial zum Lösen von Aufgaben analog dem Konstrukt Intelligenz, nur dass es sich bei der Kompetenz um schulisch erworbene Potenziale handelt.

  1. Widerspruch zum psychologischen Kompetenzbegriff

Der Schulblattartikel verwendet Kompetenz im Sinne von Anwendungen. Er folgt hierin dem Lehrplan 21. Das ist allerdings eine starke Reduktion und Umdeutung des von der Psychologie geschaffenen Konstrukts. Kompetenz im Sinne von Franz E. Weinert bedeutet nicht Anwendung, sondern Potenzial zum Lösen von Aufgaben analog dem Konstrukt Intelligenz, nur dass es sich bei der Kompetenz um schulisch erworbene Potenziale handelt.

Basler Schulblatt: Einem grundlegenden Irrtum aufgesessen.

Potenziale sind kognitive Reserven oder Dispositionen, die jemand anlegt und die es ermöglichen, Aufgaben schulischer Fachgebiete zu lösen. So wie es bei der Intelligenz geeichte Tests gibt, nach denen angeborene und im Austausch mit der Umwelt erworbene mathematische oder sprachliche Leistungsfähigkeit auf einem Massstab abgebildet wird, sollen Testaufgaben in Schulfächern die im Verlauf der Schulzeit erworbenen fachspezifischen Potenziale messen. Nicht Lehrpersonen entscheiden, wer kompetent ist, sondern die Psychologen. So jedenfalls war das Konzept ursprünglich gedacht.

Damit ist klar, worin der Grundirrtum des Schulblattartikels besteht:

Die Lernprozesse an den Stoffen der Schulfächer sollen im Laufe der Jahre die Voraussetzung schaffen, dass sich Potenziale entwickeln, die den Schülerinnen und Schülern erlauben, Aufgaben im Zusammenhang mit den behandelten Fachgebieten zu lösen. Damit ist nichts darüber gesagt, wie Lernende im Unterricht diese Potenziale entwickeln. Die Aufschlüsselung in Sub- und Subsubkompetenzen glaubt, Problemlösefähigkeiten im Baukastenprinzip zusammenfügen zu können. was dem Konstrukt des Potenzials widerspricht, das stets ein Bündel von Fähigkeiten vereint, wenn es an die Lösung einzelner Probleme geht.

Das bedeutet: Es müssen Lernprozesse an den Unterrichtsinhalten initiiert werden, also Motivation, Begegnung mit der Sache und den Unterrichtsgegenständen, die Sache muss verstanden werden, mit früheren Inhalten verknüpft und im Gedächtnis verankert werden, Irrtümer müssen erkannt, vielfältige Anwendungen der Sache müssen geübt werden.

Aus der Beschäftigung mit Inhalten ergeben sich Bündel von Kompetenzen, die für Anwendungen zur Verfügung stehen, nicht umgekehrt.  Anwendungen sind und waren schon immer in einem didaktisch-methodisch durchdachten Unterricht Bestandteil des Lernprozesses.

Mit Kompetenzorientierung meint man, diesen Lernprozess abkürzen und auf zeitraubende Teile davon verzichten zu können. Die Tulpe im Garten hat Blütenkompetenz, Blatt- und Stielkompetenz, Wasseraufnahmekompetenz, Energieaufnahmekompetenz und Blütenschliesskompetenz bei Dunkelheit. Das ist jedoch nur zu haben, wenn jemand Monate vorher die Zwiebeln in Erde eingegraben, den Setzling regelmässig gewässert und gewartet hat, bis die Blume aus der Erde hervorkeimt, sich entfaltet und die Blütenblätter sich öffnen. Eine fertige Tulpe ohne diese Vorgeschichte gibt es nicht. Genauso gibt es keine Kompetenzen ohne eingehende Beschäftigung mit Inhalten.

Wenn das Fragen nach Meinungen und Gefühlen jedoch als Unterrichtsbeitrag verlangt und zur Bewertung herangezogen wird, besteht die Gefahr des Übergriffigen.

  1. Reflexionszwang

In den Interviews mit den kompetenzbekehrten Lehrpersonen wird betont, dass schon die Jüngsten ihre Lernschritte beharrlich «reflektieren» sollen. Kompetenzlernen scheint in dieser Vorstellung einhergehen zu müssen mit einer ständigen Selbsterforschung, einer Ausleuchtung der eigenen Erfahrung.

Natürlich gehört es zur Aufgabe des Unterrichts, Lernvorgänge zu thematisieren: Wie lernst du Wörter? Wie gehst du vor, um diese Aufgabe zu lösen? Wo stösst du auf Schwierigkeiten beim Verständnis? Wie bereitest du dich auf den Test vor? etc.

Die Kompetenzbekehrten meinen jedoch etwas anderes:

Baris Figen: Kompetenzorientierung als obsessive Gesinnungsschnüffelei.

«Die Reflexion des eigenen Standpunktes zum Lerngegenstand ist ein bedeutender Bestandteil meines Unterrichts.», sagt der Primarlehrer Baris Figen. «Den Lerndialog … nehme ich als Grundlage für eine spätere Bewertung.»

Figens Fragen zielen auf die Offenlegung von inneren Zuständen, Gefühlen, Positionen. Es gibt nichts einzuwenden, dass Kinder und Jugendliche ihre Eindrücke äussern dürfen, wenn sie sich spontan dazu bereit erklären. Wenn das Fragen nach Meinungen und Gefühlen jedoch als Unterrichtsbeitrag verlangt und zur Bewertung herangezogen wird, besteht die Gefahr des Übergriffigen. Hier rückt die Reflexion in die Nähe der «erbaulichen Selbstbeobachtung vor Gott» des Pietismus, die die Frömmigkeit stärken und in gottgefälliges Handeln umwandeln will. (7) Kompetenzorientierung wird so zur obsessiven Gesinnungsschnüffelei mit totalitärem Beigeschmack.

Fazit

Kompetenzorientierter Unterricht muss von fachlich beispielhaften Themen und Inhalten ausgehen, wenn er ernsthaft gewillt ist, Fähigkeiten und Fertigkeiten aufzubauen, die sich als Dispositionen oder Potenziale für Anwendungen erweisen sollen. Inhaltliches Verständnis, vernetzte Wissensbestände sind wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung von Kompetenzen.

Das Forum Wissenschaft fasst die Erkenntnisse zum kompetenzorientierten Unterricht folgendermassen zusammen:

«Das Kompetenzkonzept kann als wissenschaftlich ungeklärt gelten, es senkt empirisch nachweisbar das Bildungsniveau, widerspricht den Leitzielen eines demokratischen Bildungswesens, zersetzt didaktisches und pädagogisches Denken und Handeln und behindert Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu mündigen Bürgern.» (8)

 

(1) file:///C:/Users/7984.190/Downloads/BSB-23-03.pdf, S.4ff.

(2) Verfassung des Kantons Basel-Stadt, 2005, SG 111.100 und Schulgesetz, 410.100, Stand 2021.

(3) Esther Ziegler, Elsbeth Stern & Aljoscha Neubauer: Kompetenzen aus der Perspektive der Kognitionswissenschaften und der Lehr-Lern-Forschung, in Paechter, Manuela,. Handbuch Kompetenzorientierter Unterricht. Beltz, 2012 (S. 14 – 26)

(4) ebenda

(5) vgl. Mindsteps des IBE, Zürich

(6) Paul A. Kirschner, John Sweller, Richard E. Clark: Why Minimal Guidance During Instruction Does Not Work: An Analysis of the Failure of Constructivist, Discovery, Problem-Based, Experiential, and Inquiry-Based Teaching,  in: EDUCATIONAL PSYCHOLOGIST, 41(2), 75–86

(7) André Knote, Von der geistlichen Seelenkur zur psychologischen Kur, Zur Geschichte der Psychotherapie vor Freud, Laboratorium Aufklärung, Band 21, 2015, S.129f..

(8) Kompetenzen machen unmündig. Eine zusammenfassende Kritik zuhanden der demokratischen Öffentlichkeit, 2018, https://www.bdwi.de/forum/archiv/uebersicht/10702472.html

 

 

 

 

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Toxische Bildungsideologien https://condorcet.ch/2023/06/toxische-bildungsideologien/ https://condorcet.ch/2023/06/toxische-bildungsideologien/#respond Thu, 08 Jun 2023 04:21:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=14250

Das neuste Video von Condorcet-Autor Bernhard Krötz hat für viel Aufsehen gesorgt. Die schonungslose Abrechnung mit dem aktuellen Mathematik-Unterricht wird nun auch in Lehrerforen und in der Bildungsbürokratie diskutiert. In einem späteren Beitrag werden wir eine der vielen Repliken aufschalten, ganz im Sinne unseres Selbstverständnisses: Wir suchen die offene Debatte.

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Verabschiedet euch von der Kompetenz! https://condorcet.ch/2023/03/verabschiedet-euch-von-der-kompetenz/ https://condorcet.ch/2023/03/verabschiedet-euch-von-der-kompetenz/#comments Mon, 06 Mar 2023 13:06:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=13328

Der Diskurs, den der emeretierte Professor Franz Eberle mit seinem Beitrag über die Ideologisierung der Kompetenzorientierung (https://condorcet.ch/2023/02/wissens-versus-kompetenzorientierung-eine-unselige-polarisierung/ ) ausgelöst hat, geht weiter. Condorcet-Autor Felix Schmutz ruft Herrn Eberle die Herkunft des Begriffs in Erinnerung und mahnt einen Verzicht auf diesen an.

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Felix Schmutz, Baselland: Es geht um Messbarkeit.

Franz Eberle rechtfertigt seinen Kompetenzbegriff, fühlt sich missverstanden von Herrn Ladenthins Replik. Dabei vernebelt er die Herkunft des umstrittenen Konzepts und widerspricht sich auch selbst. Der Bildungsdiskurs sollte sich von diesem Schlagwort langsam trennen, denn es zeigt sich wieder einmal, wie beliebig es von verschiedenen Bildungsfachleuten interpretiert wird.

Franz Eberle ist emeritierter Professor für Gymnasial- und Wirtschaftspädagogik an der Universität Zürich: keinen Gegensatz zur Wissens- und Fachorientierung.

Der Philosoph Anton Hügli hat in seiner fundamentalen Analyse Was ist Kompetenz? darauf hingewiesen, dass der Begriff in der heutigen Bedeutung aus der Psychologie stammt. Der amerikanische Psychologe McClelland entwickelte ihn zu Beginn der Siebzigerjahre, um die Eignung von stellenbewerbenden Leuten für bestimmte Berufe zu eruieren, da das relevante Können mit dem bisher üblichen Intelligenztest zu wenig klar antizipiert werden konnte. Dabei ging es wie beim Intelligenztest immer auch um Messbarkeit. Aufgrund des Problemlösetests sollten Menschen berufliche Fähigkeit und Tauglichkeit zugeschrieben werden können. Nicht so sehr die Fähigkeit, eine einzelne Aufgabe zu lösen, als die Erfahrung, mit ähnlich gelagerten Aufgaben in geeigneter Weise umzugehen, was als Disposition bezeichnet wurde. Wichtig: Kompetenz ist ein Konstrukt, eine Qualitätszuschreibung, die von Autoritäten (Psychologen, Testinstituten) mehr oder weniger opportunistisch vergeben wird.

In der Bildungspolitik entstand nun aufgrund der PISA-Resultate eine Panik: Weil die Kompetenzen enttäuschend waren, musste das Bildungsprogramm umgestellt werden.

Einzug in den Bildungsdiskurs hielt der Begriff erst im Zusammenhang mit PISA. Die Vergleichbarkeit der Schulqualität musste mit einem wissenschaftlichen Messverfahren vollzogen werden. Die Stunde von Weinert, Klieme und andern pädagogischen Psychologen war gekommen, also von Leuten, die mehr von psychologischen Tests, aber weniger von Schule und Unterricht verstehen. Ihre Forschungen und Programme zielen deshalb hauptsächlich auf das, was im Unterricht herauskommen soll und wie dieses zuverlässig gemessen werden kann, anders gesagt auf den «Output».

Es entstand Panik

In der Bildungspolitik entstand nun aufgrund der PISA-Resultate eine Panik: Weil die Kompetenzen enttäuschend waren, musste das Bildungsprogramm umgestellt werden, nämlich derart, dass der Fokus in den Schulen von Anfang an auf Eignung und Tauglichkeit für bestimmte Zwecke gelegt werden sollte: die «Outputorientierung» war geboren. Daher der Auftrag, die Lehrpläne nicht mehr auf Inhalte und Lernziele auszurichten, sondern auf die Fähigkeit, Aufgaben zu lösen.

Eberle nimmt Bezug auf die Lernziele (Mager, Bloom) und die entsprechenden Taxonomien in den Lehrplänen der Siebziger- und Achtzigerjahre. Allerdings sind Lernziele und Kompetenzen nicht dasselbe: Lernziele beschreiben das Können, das ein inhaltliches Ziel erfordert, und zwar von der Sache her gedacht. Kompetenzen beschreiben die Dispositionen, personalen Fähigkeiten und Einstellungen, welche zur Lösung einer bestimmten Aufgabe nötig sind. Der Unterschied liegt in der Perspektive: Lernziele sind didaktische Schritte, die zum Ziel führen. Kompetenzen sind mentale, psychisch-soziale und physische Möglichkeiten des Individuums, die als Grundlage für eine Leistung vorhanden sein müssen.

Es liegt deshalb schon in der Anlage des Konstrukts Kompetenz, dass Inhalte in dieser Betrachtungsweise zweitrangig sind. Kompetenzen sollen immer Bündel von Inhalten abdecken. Neben Ladenthin hat auch Konrad Paul Liessmann immer wieder auf diesen Umstand hingewiesen.

Kompetenzen kürzen ab, indem sie nur auf Resultate, Anwendung zielen und die Entwicklung, die diesen «skills» vorangeht, glauben überspringen zu können.

Der Unterschied zwischen Lernzielen und Kompetenzen ist pädagogisch bedeutsam: Inhalte und Lernziele fokussieren in erster Linie auf fachliche Auseinandersetzungen, Problemstellungen, Lernprozesse, Gedächtnis, Verarbeitung und erst in zweiter Linie auf Anwendung. Kompetenzen kürzen ab, indem sie nur auf Resultate, Anwendung zielen und die Entwicklung, die diesen «skills» vorangeht, glauben überspringen zu können.

Die genannten Zusammenhänge lassen sich nicht mit Eberles Argumentation aus der Welt schaffen. Kompetenzen führen zu einer Verengung des Bildungsbegriffs, man mag es biegen und wenden, wie man will.

 

Anton Hügli, Was ist Kompetenz? Begriffsgeschichtliche Perspektiven eines pädagogischen Schlagworts, lvb.inform 2016/2017-03

 Rober F. Mager, Lernziele und Unterricht, Weinheim, Basel, 1978

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Replik zu Franz Eberle: Der Traum der inhaltsneutralen Fähigkeiten https://condorcet.ch/2023/02/replik-zu-franz-eberle-der-traum-der-inhaltsneutralen-faehigkeiten/ https://condorcet.ch/2023/02/replik-zu-franz-eberle-der-traum-der-inhaltsneutralen-faehigkeiten/#respond Wed, 22 Feb 2023 09:35:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=13238

Franz Eberle mahnt in seinem Beitrag zur Kompetenzorientierung (https://condorcet.ch/2023/02/wissens-versus-kompetenzorientierung-eine-unselige-polarisierung/) im Zusammenhang mit der Reform der Matur zu einer "Entideologisierung". Professor Ladenthin (Deutschland) widerspricht.

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Professor Volker Ladenthin: Lernen bereitet auf Wissenschaft vor.

So verständnisvoll, wie Franz Eberle sie beschreibt, wären Kompetenzen nichts als Marketing: Ein modisch aufgehübschtes wording dessen, was Lehrpläne und Fachdidaktiken zuvor die Einheit von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten nannten und immer noch nennen.

Was ist neu am Kompetenzkonzept? Doch nicht das, was Franz Eberle nennt. Nicht die uralte Forderung der Aufklärung, dass schulische Bildung auf die Handlungsfähigkeit im Leben vorbereiten solle? „Allen Angehörigen des Menschengeschlechts die Mittel zugänglich zu machen, daß sie für ihre Bedürfnisse sorgen, ihr Wohlergehen sichern, ihre Rechte erkennen und ausüben, ihre Pflichten begreifen und erfüllen können: das muss das Ziel eines nationalen Unterrichtswesens sein“ schrieb der Marquis de  Condorcet 1792. Neu ist doch nicht die Selbstverständlichkeit, dass das Gymnasium auf das Studium vorbereiten solle (Propädeutik genannt) – was sonst? Neu ist auch nicht, dass es in der Schule um Wissen und Haltung („Motivation“, schreibt Franz Eberle) – nichts anderes war Johann Friedrich Herbarts immer wieder aktualisiertes Grundkonzept vom Erziehenden Unterricht: Die Fähigkeit und Bereitschaft, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen.

Wonach entscheide ich, ob ich meinen Ellbogen brauche (Selbst-Kompetenz) oder die ausgestreckte Hand (Sozial-Kompetenz) reiche? Und genau über dieses alles entscheidende Problem schweigt die Kompetenztheorie sich aus.

Freilich befördern die von Franz Eberle angeführten und gelobten „Sach-, Selbst- und Sozialkompetenzen“, gerade nicht, was Franz Eberle metaphorisch-geheimnisvoll „vertiefte Gesellschaftsreife“ nennt. Dass man den Dreiklang braucht, ist allgemein bekannt. Fraglich aber ist, ob sie beim Handeln gleichwertig sind. Wonach entscheide ich, ob ich meinen Ellbogen brauche (Selbst-Kompetenz) oder die ausgestreckte Hand (Sozial-Kompetenz) reiche? Und genau über dieses alles entscheidende Problem schweigt die Kompetenztheorie sich aus.

Schüler interessieren sich aber zuallererst für die Gefässe, oder besser, deren Inhalte. Sie wollen wissen, warum Tell den Landvogt Gessner hasst und ob es moralisch ist, was Dürrenmatts alte Dame mit den Bewohnern Güllens anstellt.

Franz Eberle ist emeritierter Professor für Gymnasial- und Wirtschaftspädagogik an der Universität Zürich: keinen Gegensatz zur Wissens- und Fachorientierung.

Aufgrund der Kompetenztheorie sei es „nachgelagert“, in welchen „Unterrichtsgefässen“ Kompetenzen vermittelt würden – Schüler interessieren sich aber zuallererst für die Gefässe, oder besser, deren Inhalte. Sie wollen wissen, warum Tell den Landvogt Gessner hasst und ob es moralisch ist, was Dürrenmatts alte Dame mit den Bewohnern Güllens anstellt. Sie lesen Schiller und Dürrenmatt nicht, um Kompetenzen zu schulen. Zudem: Ist es gleich gültig, ob man die chemische Analyse an der Herstellung von militärischen Giftgasen oder an der Herstellung von künstlichem Dünger lernt? Formal betrachtet braucht man für beides die gleichen Kompetenzen. Wie passt ein solche Gleichgültigkeit gegenüber der Humanität zum Ziel der „vertieften Gesellschaftsreife“? Was muten wir unseren Kindern in der Schule zu, wenn es im Unterricht „nachgelagert“ ist, ob man den Dreisatz an der Aufgabe lernt, wie viele Ackerflächen wir brauchen, um alle Menschen vor dem Hunger zu schützen – oder daran, wie viele Bomben man braucht, um eine Großstadt wie Zürich auszulöschen?

Die von Franz Eberle angesprochene Interdisziplinarität meint in der Lebenswelt die Vernetzung von Fachleuten, nicht aber gemeinsame Sitzungen von Generalisten, die zwar „überfachliche“ Kompetenzen vorweisen können, aber von der Sache nichts verstehen.  Der Fortschritt der Wissenschaften liegt in ihrer Spezialisierung, nicht darin, dass alle irgendwie über alles reden. Das war ja gerade die Begrenztheit des mittelalterlichen Universalismus zu glauben, als Philosoph kenne man sich auch mit den Bahnen der Gestirne aus. Kein Sozialwissenschaftler kann einen Staudamm bauen, aber er kann die sozialen Folgen betrachten. Ohne einen Baumeister gäbe es die aber nicht.

Der OECD, die das Konzept verbreitet und finanziert, geht es nicht um Kultur und Bildung, sondern um global vergleichbar qualifizierte und kulturneutral zertifizierbare Arbeitnehmer.

Die Kompetenztheorie träumt in neuen schönen Worten den uralten Traum einer Schulung zu inhaltsneutralen Fähigkeiten, die man auf alles und jedes anwenden kann. Nur hat der Lernpsychologe Franz Weinert, auf den sich die zitierten Kollegen Johannes Hartig und Eckhard Klieme so gerne beziehen möchten, immer darauf hingewiesen, dass Kompetenzen gar nicht ohne Inhalte erworben werden können. Man muss etwas wissen, um mit dem Wissen kompetent umgehen zu können. Zudem hat er empirisch nachgewiesen, dass Kompetenzen nur minimal transferfähig sind: Wer gut Gedichte interpretieren kann, kann nicht deshalb auch mathematische Textaufgaben verstehen. Problemlösung im Geographieunterricht geht anders als im Physikunterricht.

Die Kompetenztheorie ist aber beileibe kein alter Wein in neuen Schläuchen; ihr Ziel ist es, Bildung in formale Qualifikationen umzudeuten und kulturelle Identität als Störfaktor bei der Beschreibung psychischer Dispositionen zu minimieren. Der OECD, die das Konzept verbreitet und finanziert, geht es nicht um Kultur und Bildung, sondern um global vergleichbar qualifizierte und kulturneutral zertifizierbare Arbeitnehmer: Jeder soll überall das Gleiche tun können, damit die Produktion problemlos den Standort wechseln kann, wenn es anderswo billiger zugeht. Kulturelle Identität, traditionelle Inhalte gar stören dabei ebenso wie früher Zölle und Protektionismus.

Der globale Arbeitnehmer soll in Teilkompetenzen zerlegbar sein, damit man ihn immer, überall und immer passend zusammensetzen kann. Er soll überall angepasst funktionieren. Möglichst ohne Skrupel. Werte zählen daher zu den „nichtkognitiven Kompetenzen“, wie Franz Eberle schreibt. Menschenrechte werden so zum diffusen Gefühl, das nicht weiter stört.

Die Psychologisierung des Lernens soll die Schule endlich von Inhalten befreien, die Nationen endlich von ihrer Kultur und die Gesellschaft endlich von der Moral. Austauschbare kognitive und sentimentale nichtkognitive Kompetenzen. Nur das ist der Inhalt des Trojanischen Pferdes mit dem Namen Kompetenz. Das ist kein Geheimnis, sondern es steht so bei der OECD: Die OECD-Direktion „Bildung und Kompetenzen“ sieht „eine ihrer Hauptaufgaben in der Entwicklung und Analyse international vergleichbarer, quantitativer Indikatoren, die dann jährlich in Bildung auf einen Blick veröffentlicht werden.“[1]

 

 

[1] https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/dd19b10a-de.pdf?expires=1676576958&id=id&accname=guest&checksum=67CF3793F477492DC3D841956F26108D

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