Klassengemeinschaft - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 19 Oct 2023 18:40:16 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Klassengemeinschaft - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Wahre Inklusion https://condorcet.ch/2023/10/wahre-inklusion/ https://condorcet.ch/2023/10/wahre-inklusion/#respond Fri, 13 Oct 2023 10:53:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=15104

Die Primarlehrerin mit einem Pädagogikstudium. Die Primarlehrerin, die eine Klasse als Gemeinschaft führt und es kann. Die Primarlehrerin, die die derzeit praktizierte Individualisierung für einen Irrweg hält. BAZ-Journalist Sebstian Briellmann besuchte die Condorcet-Autorin an ihrem Arbeitsort, dem Schulhaus Lysbüchel, St.-Johann-Quartier, kurz vor der französischen Grenze.

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Draussen ist es unwirtlich, der Himmel präsentiert sich in allen Grautönen, die es auf der Farbpalette gibt, es regnet, unaufhörlich, aber was solls, muss man anfügen, denn das Drinnen, das in solchen Situationen normalerweise dann ja herbeigesehnt wird: Es muss erst recht die Hölle sein, zumindest gefühlt.

BAZ-Journalist Sebastian Briellmann: Man ist fast schon überrascht: Sie tut das allein.

Dieser beklemmende Gedanke kann einem zumindest kommen, wenn man sich auf den Weg macht ins Schulhaus Lysbüchel, St.-Johann-Quartier, kurz vor der französischen Grenze. Strukturschwach, hoher Ausländeranteil.

Kann das gut gehen?, fragt man sich, die verstörenden Bilder einer «Reporter»-Dokusendung des Schweizer Fernsehens noch im Kopf, über Basler Primarschulklassen, die nicht mehr unterrichtbar sind – und die Worte des Erziehungsdirektors Conradin Cramer, der in der BaZ durchaus alarmiert gesagt hat: «Wir müssen handeln. Und zwar schnell.» Ein «umfassendes» Massnahmenpaket ist auf dem Weg.

Ein Profi am Werk

Dann klingelt die Uhr im Lysbüchel, es ist kurz vor acht Uhr morgens, in den Gängen ist emsiges Treiben, es wird geschwatzt und gelacht, während die Lehrerinnen in den Klassenzimmern die letzten Vorbereitungen treffen.

Eine von ihnen ist Christine Staehelin, seit 36 Jahren unterrichtet sie an verschiedenen Basler Schulen, sie ist Mitglied des Erziehungsrats, Nationalratskandidatin auf der Liste «Bildung» der Basler Grünliberalen. Kurz: Da ist ein Profi am Werk. Staehelin hat eingeladen zu diesem Unterrichtsbesuch, weil sie natürlich auch mitbekommen hat, wie kontrovers dieser SRF-Film diskutiert worden ist, in der Politik, in der BaZ, in den Kommentarspalten. Und sie will aufzeigen, wie Primarschule funktionieren kann, immer noch, demografischen Veränderungen zum Trotz – ohne dabei verklärend oder sozialromantisch zu wirken.

Loben, korrigieren, ermahnen

So unterrichtet sie auch, ruhig, abgeklärt – und man ist fast schon überrascht: Sie tut das allein. Und es geht problemlos. 22 Kinder gehen in ihre dritte Klasse, alle sind an diesem Montagmorgen da. Zuerst wird geschrieben, dann gerechnet, dann gelesen – alle für sich –, ist ein Auftrag erledigt, kontrolliert Christine Staehelin das Resultat, lobt, korrigiert, motiviert, ermahnt sanft.

Christine Staehelin, Primarlehrerin, Mitglied des Bildungsrates und Condorcet-Autorin: Als Klasse, nicht als 22 Individuen

Nach 25 Minuten gibt es einen kurzen Französisch-Exkurs, da das «Tageskind» an die Tafel schreibt, welcher Wochentag, welches Datum und Jahr wir haben; dann Singen, drei Lieder auf Deutsch und Englisch, und schliesslich beginnt der Sachunterricht im Fach Natur, Mensch, Gesellschaft. Die Drittklässler lernen gerade den menschlichen Körper kennen. Heute: Was passiert eigentlich mit dem Essen nach der Nahrungsaufnahme?

Grosse pädagogische Kunst

Alle bekommen zur Veranschaulichung einen Zwieback, eine Hälfte darf man essen, die andere wird in einem Plastiksäggli so lange zerdrückt, dass veranschaulicht wird, was im Magen denn genau so passiert. So nähert man sich dem Thema «Verdauung» altersgerecht an.

Pädagogisch ist das, von aussen betrachtet, grosse Kunst, die Kinder haben fürs Unruhestiften gar keine Zeit, so sehr sind sie mit ihrer Aufgabe beschäftigt, gleichzeitig stellt ihnen Staehelin immer wieder Sachfragen. Auffällig: Alles passiert miteinander, nichts erinnert an die Super-Separation einzelner Klassenmitglieder, die nicht nur im eigenen Zimmer, sondern nicht selten im ganzen Schulhaus verteilt werden.

Was macht Staehelin anders? Zunächst vielleicht ein Blick ins Klassenzimmer, das durchaus ähnlich ist wie :jenes, das man einst selber besucht hat. Okay, ein Sitzsack, in den man sich fläzen kann, wäre noch nicht : vorstellbar gewesen (gabs das überhaupt schon?) – und ja, dass in einer Ecke auch ein Dutzend Kopfhörer liegen, die man bei grossem Lärm benutzen könnte: Das ist dann wohl tatsächlich eine Folge der oft kritisierten Entwicklung. Immer mehr Kinder sind weniger gut unterrichtbar, brauchen Sondersettings, sprechen weniger gut Deutsch.

Zwischen den Schuljahren 2016/17 und 2022/23 – also ziemlich genau während der Amtszeit von Conradin Cramer – ist die Anzahl von Basler Schülern (ohne Riehen und Bettingen), die sogenannte verstärkte Massnahmen benötigen, massiv angestiegen. Waren es vor sieben Jahren noch 278 Kinder, die ein separatives Angebot in Anspruch genommen haben, verzeichnete man im letzten Schuljahr bereits 620. Zudem hat sich die Zahl der Schüler in Einstiegsgruppen – kleinere Klassen, zumeist für Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse – in dieser Zeitspanne von 88 auf 199 erhöht. Der Anstieg um 95 Schüler im letzten Schuljahr, schreibt das Erziehungsdepartement (ED), «ist auf die 90 Ukraine-Flüchtlinge zurückzuführen, die ein solches Angebot besuchen, um sich Deutschkenntnisse anzueignen».

Das sind riesige Herausforderungen, die aber ziemlich klein wirken, wenn da eine Lehrerin steht, mit all ihrer Erfahrung, die 22 Schüler noch so unterrichtet, wie man sich das eigentlich mal vorgestellt hat: als Klasse, nicht als 22 Individuen. Wahre Inklusion.

Die zunehmende Individualisierung finde ich nicht gut. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische.

Staehelin sagt: «Ich unterrichte eine Klasse, das ist mein Auftrag, und das schätze ich. Die Tendenz, das will ich aber nicht verneinen, geht in Richtung kleinere Gruppen, überall verteilt. Die zunehmende Individualisierung finde ich nicht gut. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische. Das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.»

Hier läuft das anders. Man erhält an diesem Morgen den Eindruck: Vielleicht tut die Individualisierung auch den Kindern nicht gut – weil eine Klasse, die noch wirklich eine ist, sich als wunderbarer Rahmen präsentiert. Es liegt drin, wenn die Gspänli manchmal kichern, da sie eine Aufgabe schon fertig gelöst und etwas freie Zeit haben.

Die sogenannte integrative Schule hat das Gegenteil ihrer Absicht bewirkt.

Und es ist eine erzieherische Massnahme, die von allen registriert wird und so ihre Wirkung entfalten kann, wenn ein Bub eine abschätzige Geste macht, da ein Mädchen sich zu ihm und anderen auf die Sitzbank setzen soll: Er wird von Staehelin, nun streng, zurechtgewiesen. Nachher wird sie mit ihm im Gang über sein Fehlverhalten sprechen. Auch das bekommt die ganze Klasse mit, logisch, wenn die Lehrerin ein paar Minuten nach draussen geht.

Ein bisschen später, für einen Montagmorgen ist das Konzentrationsniveau erstaunlich hoch, wird das anschaulich besprochene Thema «Verdauung» in einer Schreibübung weitergeführt. Alle müssen die wichtigsten Erkenntnisse, zusammengefasst in zehn Sätzen, abschreiben. In Schnürlischrift.

Hier offenbaren sich grosse Unterschiede. Während eine Schülerin (mit Migrationshintergrund!) nach fünf Minuten als Erste fertig ist – wie zuvor schon bei allen anderen Aufgaben –, haben andere noch keinen Satz fertig. Lieber gehen sie nochmals den Bleistift spitzen. Gespitzt wird in dieser Phase auffällig oft und auffällig gern …

War das nicht schon immer so?

Und es wird aufgefangen durch das Gemeinsame, den Klassengeist, wenn man so will.

Dass das die Leistungsfähigkeit weit auseinanderdividiert, ficht auch Staehelin nicht an. Aber war das nicht schon immer so? Und es wird aufgefangen durch das Gemeinsame, den Klassengeist, wenn man so will. Wer auf die Blätter spienzelt und sieht, wer beim Schreiben (oder mit der Konzentrationsfähigkeit) Mühe hat, der erkennt, dass nicht wenige von den schwächeren Schülern zuvor im praxisnahen Unterrichtsgespräch viel gesagt, am aktivsten mitgemacht hat. Das ist viel wert – und nur im Verbund möglich.

Es überrascht deshalb nicht, wenn Staehelin sagt: «Die sogenannte integrative Schule hat das Gegenteil ihrer Absicht bewirkt. Sie ist nicht für alle, sondern sie bringt immer weniger, denn immer mehr Kinder brauchen Unterstützung, um dort zu bestehen.»

Also wird viel Geld für die Sondersettings aufgewendet, um an dieser schönen Idee festhalten zu können. Oder eher an einer Illusion? Staehelin sagt: «Wir schaffen Unterrichtssituationen, die mit ihrer anwachsenden Komplexität, der zunehmenden Unruhe und der steigenden Anzahl von Lehr- und Fachpersonen immer mehr Kinder vor Herausforderungen stellen, die sie nicht mehr meistern können. Die Konzentrations- und Lernprobleme und die Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu.»

Oberflächliche Reformen haben das Selbstverständnis der Schule erschüttert.

Es Ist ein Gang in die Individulisierung, in die Isolierung auch.

Es ist ein Gang in die Individualisierung, in die Isolierung auch. Staehelin sagt, dass die Schüler «alleingelassen werden», wenn sie ihre Lernziele selbst wählen können. Dass das überfordert, kann nicht erstaunen. «Und dann wundert man sich», sagt die erfahrene Lehrerin, «dass immer mehr als förder- und therapiebedürftig eingestuft werden». Staehelin nennt diesen Zustand mittlerweile «tragisch», die «oberflächlichen Reformen», die die heutige Lage verursacht haben, hätten «das Selbstverständnis der Schule erschüttert».

Im Klassenzimmer von Christine Staehelin sind diese systemischen Probleme weit weg, und die (eigene) Gefühlslage aufgehellt, da kann es draussen so stark regnen, wie es will, hier agiert ein Kollektiv mit klaren Hierarchien. Die Lehrerin ist die Chefin, die Schüler haben zu folgen, werden aber für voll genommen.

Heute werde dies als «Frontalunterricht diskreditiert», sagt Staehelin, «die Klasse als Ganzes rückt aus dem Blickfeld, denn es muss auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse jedes Einzelnen eingegangen werden».

Lehrer und Lehrerinnen, die ihren Job gut können

In dieser 3. Klasse ist das anders, und es lässt sich nun wirklich nicht feststellen, dass auch nur ein Kind zu kurz käme, jedes hat in dieser Doppellektion mit der Lehrerin gesprochen, weiss, woran es ist, und macht so Fortschritte. Ob es nun stärker ist oder schwächer, besser Deutsch kann oder schlechter.

Das ist bildungspolitisch nicht die Hölle, sondern dem Himmel ziemlich nah, weil es Lehrerinnen und Lehrer gibt, die ihren Job gut können, die pädagogische Profis sind. Warum will man ihnen Systeme überstülpen, die ihnen das Leben so schwer machen?

Eine Lehrerin wie Christine Staehelin mag das aushalten. Viele weitere auch. Andere verlassen (frühzeitig) den Beruf.

Und den Schaden tragen am Ende sehr oft die Kinder. Unsere Zukunft.

 

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Integration und Individualisierung des Unterrichts passen nicht zusammen https://condorcet.ch/2023/08/integration-und-individualisierung-des-unterrichts-passen-nicht-zusammen/ https://condorcet.ch/2023/08/integration-und-individualisierung-des-unterrichts-passen-nicht-zusammen/#respond Thu, 17 Aug 2023 05:07:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=14827

Dr. Beat Kissling, pens. Gymnasiallehrer , Psychologe und Buchautor, widerspricht der Montessori-Kindergärtnerin, Clarita Kunz Matossi (https://condorcet.ch/2023/08/schulen-vergeuden-zu-viel-potenzial/), wenn sie behauptet, dass die totale Individualisierung sei die Lösung bei der Integrationsproblematik. Er verweist auch auf die Hattie-Studie.

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Mit ihrem Gastkommentar profiliert sich Clarita Kunz Matossi ganz im Sinne des Zeitgeistes mit dem aktuell gängigen Schulmotto der individuellen Selbstoptimierungsideologie (NZZ 7. 8. 23). Sie lobt Lehrer und Schulen, die mit «konsequent individualisierenden Unterrichtsformen wie etwa der Montessori-Methode arbeiten», als besonders innovativ, dies ganz im Gegensatz zu den Vertretern des «veralteten Systems» mit der engagierten Lehrperson als wichtigstem Medium für guten Unterricht und gutes Vorankommen der Schülerinnen und Schüler.

Beat Kissling, Erziehungswissenschaftler, Psychologe, und pens. Gymnasiallehrer: Der Mensch ist ein ultrasoziales Wesen.

Im Brustton der Überzeugung – gänzlich ohne Beleg oder Veranschaulichung – behauptet sie, es sei «schlicht falsch», zu meinen, Lehrpersonen seien wichtiger für den Lernerfolg als die Unterrichtsmethode. Man müsse lediglich den Kindern und Jugendlichen mehr Freiheit und Verantwortung beim Lernen übergeben, dann würden sie gut arbeiten können – da kann man nur staunen.

Arrangeure der Lernumgebung?

Historisch gesehen gab es die romantisierende reformpädagogische Vorstellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Kind würden sich die individuellen kreativen Keime von selbst entfalten, wenn man ihm nur die Gelegenheit dazu gäbe. Schon damals sollten die Erwachsenen ausschliesslich Arrangeure einer funktionalen Lernumgebung zur Selbstbedienung der Kinder sein.

In Wirklichkeit zeigen die heutigen sozial- und humanwissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen bei Kindern und Jugendlichen unmissverständlich auf, dass der Mensch ein «ultrasoziales» Wesen ist.

Dementsprechend ist auch die Beziehung der Schülerinnen und Schüler zur Lehrperson und untereinander wesentlich dafür verantwortlich, wie der Umgang und die emotionale Atmosphäre innerhalb einer Klasse sind und wie sich aufgrund dessen das allgemeine Niveau des Lernens bei jedem Kind positiv entwickeln kann.

Echte Integration ist pädagogisch und psychologisch gesehen im Grunde eben das Gegenteil von der Individualisierung des Unterrichts, weil Letzteres auf ein rein organisatorisches Geschehen, also die Anwendung von Management-Tools, hinausläuft und nichts dazu beiträgt, den Schülerinnen und Schülern Formen gemeinsamen Denkens und menschlicher Zusammenarbeit zu vermitteln.

Gerade die langjährige Erfahrung in den Primarschulen mit den sehr unterschiedlichen Leistungsvermögen und Voraussetzungen innerhalb einer Klasse (im Prinzip handelte es sich bei einer klassischen Volksschulklasse stets um gelebte Integration) hat uns immer veranschaulicht, dass erfolgreicher Unterricht auf Dauer nur dann möglich ist, wenn es der Lehrperson gelingt, die teilweise äusserst heterogen zusammengesetzte Klasse als Gemeinschaft zu fördern, in der ein Klima der Freundschaft, der gegenseitige Rücksichtnahme und des Respekts lebt.

Echte Integration ist pädagogisch und psychologisch gesehen im Grunde eben das Gegenteil von der Individualisierung des Unterrichts, weil Letzteres auf ein rein organisatorisches Geschehen, also die Anwendung von Management-Tools, hinausläuft und nichts dazu beiträgt, den Schülerinnen und Schülern Formen gemeinsamen Denkens und menschlicher Zusammenarbeit zu vermitteln.

Das anregende Unterrichtsgespräch

«Socializing Intelligence Through Academic Talk and Dialogue» als zukunftsweisender Orientierung in der Schulpädagogik.

Mit der Individualisierung des Unterrichts kommen nur die sehr vifen, von zu Hause sehr gut geförderten und begleiteten Schülerinnen und Schüler zurecht, während die meisten Lernenden, ganz besonders die schwachen, zwangsläufig auf sich selbst zurückgeworfen sind und im Lernen resignieren.

Da wir Europäer uns so gerne am grossen Vorbild USA orientieren, sollte man zur Kenntnis nehmen, dass sich in der angelsächsischen Welt in den letzten bald zwanzig Jahren ein wirklich innovativer Forschungszweig zur Unterrichtsgestaltung entwickelt hat, bei dem von «Socializing Intelligence Through Academic Talk and Dialogue» als zukunftsweisender Orientierung in der Schulpädagogik gesprochen wird.

Das anregende Unterrichtsgespräch wird in sehr differenzierter Weise analysiert, stets vertiefend weiterentwickelt und den Lehrpersonen als zentrales Instrumentarium vermittelt. Befasst man sich näher damit, realisiert man, dass sehr vieles an das interpersonale Verständnis jedes Bildungsprozesses erinnert, das viele Pädagogenpersönlichkeiten der europäischen (humanistischen) Bildungstradition aus unterschiedlicher Perspektive schon länger beschrieben haben.

Beat Kissling war Lehrer und später als Erziehungswissenschafter und Psychologe lange Jahre in der Lehrerbildung tätig. Er ist Autor von «Sind Inklusion und Integration in der Schule gescheitert? Eine kritische Auseinandersetzung» (2021).

 

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Kanamori: Schüler auf das Leben vorbereiten https://condorcet.ch/2020/02/kanamori-schueler-auf-das-leben-vorbereiten/ https://condorcet.ch/2020/02/kanamori-schueler-auf-das-leben-vorbereiten/#respond Wed, 05 Feb 2020 10:02:37 +0000 https://condorcet.ch/?p=3785

Das japanische Bildungssystem ist zwar ausserordentlich erfolgreich, geniesst in unseren Landen jedoch einen zwiespältigen Ruf. Drill, unmenschlicher Leistungsdruck und hohe Suizidraten sind hier jeweils die Schlagworte, welche im Zusammenhang mit diesem Land genannt werden. Es gibt aber auch andere Signale und Eigenheiten, von denen hier niemand Kenntnis nimmt. Der japanische Pädagoge Toshiro Kanamori (bekannt geworden durch den Film "Children Full of Life: Learning to Care") hat sich als Primarschullehrer das Ziel gesetzt, seinen Kindern nicht nur das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, sondern sie umfassend auf das Leben vorzubereiten. Peter Aebersold stellt Kanamoris Arbeit vor.

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Toshiro Kanamori, japanischer Pädagoge: Die Klassengemeinschaft im Zentrum

Sie sollten in ihrem Leben glücklich sein und auch schwierige Situationen meistern können. Die Lektionen für das Leben, sind Kanamoris Antwort auf Leistungsdruck, Isolation (Hikikomori), Verbergen von Gefühlen (Tatemae) und Selbstmord (Seppuku) in der traditionellen japanischen Kultur und ihrer Ausrichtung auf die westliche Welt.

Wichtig ist die Klassengemeinschaft

Die Herstellung einer emotionalen Verbundenheit in der Klassengemeinschaft steht dabei im Mittelpunkt. Die Schüler sollen ihre eigenen Gefühle kennen lernen und sich in ihre Mitschüler einfühlen können. Die Klassengemeinschaft soll für die Schüler zum Vorbild für das spätere, verantwortungsvolle und freudige Mittun in der Gemeinschaft werden, sie emotional zur Überwindung von Schwierigkeiten stärken und ihnen Vertrauen geben, dass die Freunde sie dabei unterstützen werden.

“Indem sie ihr Leben miteinander teilen, beginnen die Kinder zu erkennen, wie wichtig es ist, sich um ihre Klassenkameraden zu kümmern”.

Plakat zum Film

Der Dokumentarfilm Children Full of Life von Noboru Kaetsu aus dem Jahre 2003 ist ein intimes Porträt von Kanamori und seinem Klassenzimmer, das auf subtile Weise einen Weg für alle Pädagogen darstellt, die sich der Herausforderung stellen, die Schüler auf das Leben vorzubereiten. Er fängt während eines Schuljahres außergewöhnliche Momente der Dramen und der Emotionen in einem einzelnen japanischen Klassenzimmer ein und zeigt, wie Kanamori die Zukunft seiner 35 Schüler gestaltet: Er ermutigt sie, ihre Gedanken und Gefühle in ein Heft zu schreiben. Jeder Unterrichtstag beginnt damit, dass drei Kinder ihren Klassenkameraden die Notizen vorlesen und die Kinder miteinander darüber reden. Indem sie ihren Freunden offen sagen, was ihnen durch den Kopf geht, über ihre Gefühle und über Ereignisse in ihrem Leben sprechen, fühlen sich die Kinder nicht nur verbunden, sondern gewinnen auch an Kraft, auf ihren eigenen Füssen stehen zu können. Die Schüler suchen gemeinsam nach Wegen, wie sie gestörte Beziehungen, Unglück und den Verlust von geliebten Menschen verstehen und damit umgehen können.

“Wir gehen in die Schule, um glücklich zu sein und glücklich zu machen. Wenn ein einzelner Mensch nicht glücklich ist, ist niemand glücklich.”

Im Film erzählt ein Mädchen, was die Lektion für das Leben von Kanamori bedeutet: “Wir gehen in die Schule, um glücklich zu sein und glücklich zu machen. Wenn ein einzelner Mensch nicht glücklich ist, ist niemand glücklich.”

Im Laufe des Jahres wächst ihr Gemeinschaftsgefühl, wenn sie ihre Erfahrungen teilen und den Wert des Lebens und der Sorge um die Gefühle des anderen verstehen lernen. Das geschieht auch, wenn die Klasse zusammen Flosse baut, sich an einem Bach oder beim Schlitteln vergnügt oder über den Tod eines Vaters oder einer Großmutter gemeinsam trauert, für ein Mädchen, das in eine andere Stadt zieht, ein selbst gedichtetes und komponiertes Abschiedslied singt oder für einen Freund einsteht, der ihrer Meinung nach vom Lehrer zu hart bestraft wurde.

„Ich habe die Sprach- und Denkfähigkeiten kultiviert mit einer direkten Verbindung zu den Lebenskompetenzen. Das führt zu einem hohen Schulniveau“.

Hohes Unterrichtsniveau
Bild: AdobeStock

Die Schulleistung ist für Kanamori ebenso wichtig. Weil sich die Kinder im Klassenzimmer wohler fühlen, sind sie lernfähiger. Das Arbeitstempo ist daher hoch. Er betont, dass seine Art zu arbeiten nicht im Widerspruch zum Erreichen guter Leistungen stehe: „Ich habe die Sprach- und Denkfähigkeiten kultiviert mit einer direkten Verbindung zu den Lebenskompetenzen. Das führt zu einem hohen Schulniveau“.

Kanamori bildet an der Hokuriku-Gakuin-Universität Grundschullehrer aus

Kanamoris Ansatz ist ein sehr gutes Beispiel für John Hatties Meta-Meta-Studien-Befund, dass es in erster Linie „auf den Lehrer ankommt“, wie er die Schüler und die Klassengemeinschaft auf das Leben vorbereitet. „Der erste Lehrer“ ist für spätere Literaten (und nicht nur für diese) wie Tschingis Aitmatow und Albert Camus von besonderer Bedeutung für ihre Erziehung, Bildung und ihr ganzes Leben gewesen. (Albert Camus: „Mr. Bernard, sein Lehrer der letzten Volksschulklasse, hatte in einem bestimmten Moment sein ganzes Gewicht als Mann eingesetzt, um das Schicksal dieses Kindes zu ändern und er hatte es tatsächlich geändert.“) Das gilt nicht nur in Bezug auf die schulischen Leistungen, sondern ebenso für die Entwicklung von Sozialkompetenzen für verantwortungsbewusstes Handeln für Leben und Umwelt mit Hilfe der Sozialform des Klassenunterrichts. Die Erfahrungen aus der Lehrerpraxis zeigen, dass sich Schüler nicht auf das Lernen einstellen können, wenn sie noch mit einem (negativen) Ereignis in der Klassengemeinschaft beschäftigt sind, solange der Lehrer dazu nicht klar Stellung bezogen hat.

Zu Toshirō Kanamori

Kanamori wuchs auf einem Bauernhof in Nanao (früher Nakajima) in der Präfektur Ishikawa auf. Er studierte an der Pädagogischen Fakultät der Universität Kanazawa Philosophie und Pädagogik, wo er auch abschloss. Nach dem Studium unterrichtete er 38 Jahre als Grundschullehrer an verschiedenen japanischen Schulen. Unter seinem pädagogischen Motto „Fühl dich in deine Freunde ein, um glücklich zu sein“ erforscht Kanamori seit den 1980er Jahren verschiedene Wege der Verbindung zwischen Mensch und Natur. Er liess sich von der europäischen Tradition der Bildungsreformer inspirieren, von denen ihn Johann Heinrich Pestalozzi am meisten beeindruckte.

Das Glück kommt aus der Beziehung des Menschen

In seinem 2003 von der Japan Broadcasting Corporation (NHK) produzierten Dokumentarfilm “Children Full of Life” (Kinder voller Leben, glückliche Klasse der Tränen und des Lachens), zeigt er, wie er in einer seiner Klassen die Schüler auf das Leben vorbereitet. Für ihn kommt das Glück aus der Beziehung zwischen den Menschen. Der Dokumentarfilm war sehr erfolgreich, erhielt mehrere Auszeichnungen und fand ein weltweites Echo. Dadurch erhielt seine Bildungsphilosophie und -praxis die Aufmerksamkeit der Bildungsgemeinschaft und anderer Bereiche im Gesundheits- und Sozialwesen. Im März 2007 trat Kanamori als Grundschullehrer in den Ruhestand und lehrte anschliessend bis 2017 als Professor in der Abteilung für frühkindliche Bildung an der Hokuriku Gakuin Universität in Kanazawa.

 

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Toshir%C5%8D_Kanamori

https://de.wikipedia.org/wiki/Children_Full_of_Life

Dokumentarfilm “Children of Life” auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=uJhqdDoBp1w

Nickel van der Vorm: Toshiro Kanamori. In: Improving the Quality of Childhood in Europe, Volume 5, 2014

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