Klassenführung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 19 Oct 2023 18:40:16 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Klassenführung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Wahre Inklusion https://condorcet.ch/2023/10/wahre-inklusion/ https://condorcet.ch/2023/10/wahre-inklusion/#respond Fri, 13 Oct 2023 10:53:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=15104

Die Primarlehrerin mit einem Pädagogikstudium. Die Primarlehrerin, die eine Klasse als Gemeinschaft führt und es kann. Die Primarlehrerin, die die derzeit praktizierte Individualisierung für einen Irrweg hält. BAZ-Journalist Sebstian Briellmann besuchte die Condorcet-Autorin an ihrem Arbeitsort, dem Schulhaus Lysbüchel, St.-Johann-Quartier, kurz vor der französischen Grenze.

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Draussen ist es unwirtlich, der Himmel präsentiert sich in allen Grautönen, die es auf der Farbpalette gibt, es regnet, unaufhörlich, aber was solls, muss man anfügen, denn das Drinnen, das in solchen Situationen normalerweise dann ja herbeigesehnt wird: Es muss erst recht die Hölle sein, zumindest gefühlt.

BAZ-Journalist Sebastian Briellmann: Man ist fast schon überrascht: Sie tut das allein.

Dieser beklemmende Gedanke kann einem zumindest kommen, wenn man sich auf den Weg macht ins Schulhaus Lysbüchel, St.-Johann-Quartier, kurz vor der französischen Grenze. Strukturschwach, hoher Ausländeranteil.

Kann das gut gehen?, fragt man sich, die verstörenden Bilder einer «Reporter»-Dokusendung des Schweizer Fernsehens noch im Kopf, über Basler Primarschulklassen, die nicht mehr unterrichtbar sind – und die Worte des Erziehungsdirektors Conradin Cramer, der in der BaZ durchaus alarmiert gesagt hat: «Wir müssen handeln. Und zwar schnell.» Ein «umfassendes» Massnahmenpaket ist auf dem Weg.

Ein Profi am Werk

Dann klingelt die Uhr im Lysbüchel, es ist kurz vor acht Uhr morgens, in den Gängen ist emsiges Treiben, es wird geschwatzt und gelacht, während die Lehrerinnen in den Klassenzimmern die letzten Vorbereitungen treffen.

Eine von ihnen ist Christine Staehelin, seit 36 Jahren unterrichtet sie an verschiedenen Basler Schulen, sie ist Mitglied des Erziehungsrats, Nationalratskandidatin auf der Liste «Bildung» der Basler Grünliberalen. Kurz: Da ist ein Profi am Werk. Staehelin hat eingeladen zu diesem Unterrichtsbesuch, weil sie natürlich auch mitbekommen hat, wie kontrovers dieser SRF-Film diskutiert worden ist, in der Politik, in der BaZ, in den Kommentarspalten. Und sie will aufzeigen, wie Primarschule funktionieren kann, immer noch, demografischen Veränderungen zum Trotz – ohne dabei verklärend oder sozialromantisch zu wirken.

Loben, korrigieren, ermahnen

So unterrichtet sie auch, ruhig, abgeklärt – und man ist fast schon überrascht: Sie tut das allein. Und es geht problemlos. 22 Kinder gehen in ihre dritte Klasse, alle sind an diesem Montagmorgen da. Zuerst wird geschrieben, dann gerechnet, dann gelesen – alle für sich –, ist ein Auftrag erledigt, kontrolliert Christine Staehelin das Resultat, lobt, korrigiert, motiviert, ermahnt sanft.

Christine Staehelin, Primarlehrerin, Mitglied des Bildungsrates und Condorcet-Autorin: Als Klasse, nicht als 22 Individuen

Nach 25 Minuten gibt es einen kurzen Französisch-Exkurs, da das «Tageskind» an die Tafel schreibt, welcher Wochentag, welches Datum und Jahr wir haben; dann Singen, drei Lieder auf Deutsch und Englisch, und schliesslich beginnt der Sachunterricht im Fach Natur, Mensch, Gesellschaft. Die Drittklässler lernen gerade den menschlichen Körper kennen. Heute: Was passiert eigentlich mit dem Essen nach der Nahrungsaufnahme?

Grosse pädagogische Kunst

Alle bekommen zur Veranschaulichung einen Zwieback, eine Hälfte darf man essen, die andere wird in einem Plastiksäggli so lange zerdrückt, dass veranschaulicht wird, was im Magen denn genau so passiert. So nähert man sich dem Thema «Verdauung» altersgerecht an.

Pädagogisch ist das, von aussen betrachtet, grosse Kunst, die Kinder haben fürs Unruhestiften gar keine Zeit, so sehr sind sie mit ihrer Aufgabe beschäftigt, gleichzeitig stellt ihnen Staehelin immer wieder Sachfragen. Auffällig: Alles passiert miteinander, nichts erinnert an die Super-Separation einzelner Klassenmitglieder, die nicht nur im eigenen Zimmer, sondern nicht selten im ganzen Schulhaus verteilt werden.

Was macht Staehelin anders? Zunächst vielleicht ein Blick ins Klassenzimmer, das durchaus ähnlich ist wie :jenes, das man einst selber besucht hat. Okay, ein Sitzsack, in den man sich fläzen kann, wäre noch nicht : vorstellbar gewesen (gabs das überhaupt schon?) – und ja, dass in einer Ecke auch ein Dutzend Kopfhörer liegen, die man bei grossem Lärm benutzen könnte: Das ist dann wohl tatsächlich eine Folge der oft kritisierten Entwicklung. Immer mehr Kinder sind weniger gut unterrichtbar, brauchen Sondersettings, sprechen weniger gut Deutsch.

Zwischen den Schuljahren 2016/17 und 2022/23 – also ziemlich genau während der Amtszeit von Conradin Cramer – ist die Anzahl von Basler Schülern (ohne Riehen und Bettingen), die sogenannte verstärkte Massnahmen benötigen, massiv angestiegen. Waren es vor sieben Jahren noch 278 Kinder, die ein separatives Angebot in Anspruch genommen haben, verzeichnete man im letzten Schuljahr bereits 620. Zudem hat sich die Zahl der Schüler in Einstiegsgruppen – kleinere Klassen, zumeist für Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse – in dieser Zeitspanne von 88 auf 199 erhöht. Der Anstieg um 95 Schüler im letzten Schuljahr, schreibt das Erziehungsdepartement (ED), «ist auf die 90 Ukraine-Flüchtlinge zurückzuführen, die ein solches Angebot besuchen, um sich Deutschkenntnisse anzueignen».

Das sind riesige Herausforderungen, die aber ziemlich klein wirken, wenn da eine Lehrerin steht, mit all ihrer Erfahrung, die 22 Schüler noch so unterrichtet, wie man sich das eigentlich mal vorgestellt hat: als Klasse, nicht als 22 Individuen. Wahre Inklusion.

Die zunehmende Individualisierung finde ich nicht gut. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische.

Staehelin sagt: «Ich unterrichte eine Klasse, das ist mein Auftrag, und das schätze ich. Die Tendenz, das will ich aber nicht verneinen, geht in Richtung kleinere Gruppen, überall verteilt. Die zunehmende Individualisierung finde ich nicht gut. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische. Das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.»

Hier läuft das anders. Man erhält an diesem Morgen den Eindruck: Vielleicht tut die Individualisierung auch den Kindern nicht gut – weil eine Klasse, die noch wirklich eine ist, sich als wunderbarer Rahmen präsentiert. Es liegt drin, wenn die Gspänli manchmal kichern, da sie eine Aufgabe schon fertig gelöst und etwas freie Zeit haben.

Die sogenannte integrative Schule hat das Gegenteil ihrer Absicht bewirkt.

Und es ist eine erzieherische Massnahme, die von allen registriert wird und so ihre Wirkung entfalten kann, wenn ein Bub eine abschätzige Geste macht, da ein Mädchen sich zu ihm und anderen auf die Sitzbank setzen soll: Er wird von Staehelin, nun streng, zurechtgewiesen. Nachher wird sie mit ihm im Gang über sein Fehlverhalten sprechen. Auch das bekommt die ganze Klasse mit, logisch, wenn die Lehrerin ein paar Minuten nach draussen geht.

Ein bisschen später, für einen Montagmorgen ist das Konzentrationsniveau erstaunlich hoch, wird das anschaulich besprochene Thema «Verdauung» in einer Schreibübung weitergeführt. Alle müssen die wichtigsten Erkenntnisse, zusammengefasst in zehn Sätzen, abschreiben. In Schnürlischrift.

Hier offenbaren sich grosse Unterschiede. Während eine Schülerin (mit Migrationshintergrund!) nach fünf Minuten als Erste fertig ist – wie zuvor schon bei allen anderen Aufgaben –, haben andere noch keinen Satz fertig. Lieber gehen sie nochmals den Bleistift spitzen. Gespitzt wird in dieser Phase auffällig oft und auffällig gern …

War das nicht schon immer so?

Und es wird aufgefangen durch das Gemeinsame, den Klassengeist, wenn man so will.

Dass das die Leistungsfähigkeit weit auseinanderdividiert, ficht auch Staehelin nicht an. Aber war das nicht schon immer so? Und es wird aufgefangen durch das Gemeinsame, den Klassengeist, wenn man so will. Wer auf die Blätter spienzelt und sieht, wer beim Schreiben (oder mit der Konzentrationsfähigkeit) Mühe hat, der erkennt, dass nicht wenige von den schwächeren Schülern zuvor im praxisnahen Unterrichtsgespräch viel gesagt, am aktivsten mitgemacht hat. Das ist viel wert – und nur im Verbund möglich.

Es überrascht deshalb nicht, wenn Staehelin sagt: «Die sogenannte integrative Schule hat das Gegenteil ihrer Absicht bewirkt. Sie ist nicht für alle, sondern sie bringt immer weniger, denn immer mehr Kinder brauchen Unterstützung, um dort zu bestehen.»

Also wird viel Geld für die Sondersettings aufgewendet, um an dieser schönen Idee festhalten zu können. Oder eher an einer Illusion? Staehelin sagt: «Wir schaffen Unterrichtssituationen, die mit ihrer anwachsenden Komplexität, der zunehmenden Unruhe und der steigenden Anzahl von Lehr- und Fachpersonen immer mehr Kinder vor Herausforderungen stellen, die sie nicht mehr meistern können. Die Konzentrations- und Lernprobleme und die Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu.»

Oberflächliche Reformen haben das Selbstverständnis der Schule erschüttert.

Es Ist ein Gang in die Individulisierung, in die Isolierung auch.

Es ist ein Gang in die Individualisierung, in die Isolierung auch. Staehelin sagt, dass die Schüler «alleingelassen werden», wenn sie ihre Lernziele selbst wählen können. Dass das überfordert, kann nicht erstaunen. «Und dann wundert man sich», sagt die erfahrene Lehrerin, «dass immer mehr als förder- und therapiebedürftig eingestuft werden». Staehelin nennt diesen Zustand mittlerweile «tragisch», die «oberflächlichen Reformen», die die heutige Lage verursacht haben, hätten «das Selbstverständnis der Schule erschüttert».

Im Klassenzimmer von Christine Staehelin sind diese systemischen Probleme weit weg, und die (eigene) Gefühlslage aufgehellt, da kann es draussen so stark regnen, wie es will, hier agiert ein Kollektiv mit klaren Hierarchien. Die Lehrerin ist die Chefin, die Schüler haben zu folgen, werden aber für voll genommen.

Heute werde dies als «Frontalunterricht diskreditiert», sagt Staehelin, «die Klasse als Ganzes rückt aus dem Blickfeld, denn es muss auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse jedes Einzelnen eingegangen werden».

Lehrer und Lehrerinnen, die ihren Job gut können

In dieser 3. Klasse ist das anders, und es lässt sich nun wirklich nicht feststellen, dass auch nur ein Kind zu kurz käme, jedes hat in dieser Doppellektion mit der Lehrerin gesprochen, weiss, woran es ist, und macht so Fortschritte. Ob es nun stärker ist oder schwächer, besser Deutsch kann oder schlechter.

Das ist bildungspolitisch nicht die Hölle, sondern dem Himmel ziemlich nah, weil es Lehrerinnen und Lehrer gibt, die ihren Job gut können, die pädagogische Profis sind. Warum will man ihnen Systeme überstülpen, die ihnen das Leben so schwer machen?

Eine Lehrerin wie Christine Staehelin mag das aushalten. Viele weitere auch. Andere verlassen (frühzeitig) den Beruf.

Und den Schaden tragen am Ende sehr oft die Kinder. Unsere Zukunft.

 

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Leistungsdruck im Schulzimmer – Klüger, aber müder: Wie stressig ist unser Schulsystem? https://condorcet.ch/2022/11/leistungsdruck-im-schulzimmer-klueger-aber-mueder-wie-stressig-ist-unser-schulsystem/ https://condorcet.ch/2022/11/leistungsdruck-im-schulzimmer-klueger-aber-mueder-wie-stressig-ist-unser-schulsystem/#comments Sun, 13 Nov 2022 12:54:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=12303

Rund jedes dritte Kind klagt über Stress. Was steckt dahinter? Und wie viel trägt die Schule dazu bei? Wir schalten hier einen Bericht auf über einen Podcast von Daniel Bodenmann, der im SRF erschienen ist. Darin kommt auch unser Condorcet-Autor Alain Pichard zu Wort.

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Daniel Bodenmann, Produzent: Viele Schülerinnen und Schüler fühlen sich von der Schule gestresst.

«Du musst ins Schulzimmer kommen und heulen wie ein Wolf, wenn er zum Rudel kommt.» Das sagt Martin Hänzi, einer meiner ehemaligen Lehrer an der Sekundarschule in Pieterlen in den 1990er-Jahren. Wie viel Wahrheit in dieser Aussage steckt, wurde mir bewusst, als ich zum Thema Stresspegel in der Schule recherchierte.

Hänzis Aussage ist dabei nicht autoritär gemeint, wie der Lehrer erklärt: «Nicht im Stile von ‹wenn du nicht machst, was ich will, dann beisse ich›‚ sondern von ‹nur zusammen sind wir ein Rudel.›»

Es geht also um ein Miteinander mit einem Leitwolf oder einer Leitwölfin, kein Gegeneinander. Im Unterricht von Lehrer Hänzi kam damals kein Stress auf. Logisch, man musste arbeiten, lernen und stillsitzen. Mehr, als uns oft lieb war. Aber man kam sich dabei nicht wie ein Lernsoldat vor.

 

Die Schule ist ein grosser Stressfaktor.

Lulzana Musliu Shana, Leiterin Medien und Politik bei Pro Juventute: Viele Kinder fühlen sich in und von der Schule gestresst.

Heutzutage scheint das anders: Viele Kinder fühlen sich in und von der Schule gestresst. Eine Studie von Pro Juventute vom letzten Jahr hat ergeben, dass eines von drei Kindern übermässig unter dem Leistungsdruck und der Stressbelastung leidet. Bei den 14-Jährigen sind die Zahlen sogar noch höher.

«Die Schule ist ein grosser Stressfaktor», erklärt Lulzana Musliu-Shahin, Leiterin Politik und Medien bei Pro Juventute. «Prüfungen und Hausaufgaben, aber auch Streit in der Klasse und Mobbing, führen bei den Schülerinnen und Schülern zu erhöhtem Stress.»

Vergleichbare Studien – zum Teil auch internationale – gehen zum Teil davon aus, dass sogar mehr als jedes dritte Kind gestresst ist. Das ist viel, um nicht zu sagen: zu viel.

Die neue Volkskrankheit

Stress ist so etwas wie die neue Volkskrankheit. Im jährlichen Arbeitsbarometer von Travail Suisse wird der Stress als Nummer 1 bei den belastenden Faktoren angegeben. Tendenz steigend.

Auch bei der Gesundheitsförderung Schweiz ist man alarmiert. Laut Erhebung sind die 16- bis 24-Jährigen am meisten gestresst. 40 Prozent klagen darüber. Und 30 Prozent fühlen sich sogar emotional erschöpft. Die Schule ist in diesem Sinne ein Spiegelbild der Gesellschaft.

Die Lehrer zählen

Es gibt viele Stressfaktoren, welche die Kinder und Jugendlichen belasten. Dazu gehören auch die Lehrerinnen und Lehrer selbst – etwa, wenn sie den Kindern gegenüber nicht genug Verständnis aufbringen. «Ein negatives Bild der Lehrpersonen von ihren Schülerinnen und Schülern ist in hohem Masse korreliert mit der Stressbelastung ebendieser», heisst es in der Studie von Pro Juventute dazu. Das gelte umso mehr, wenn auch noch ein schlechtes Schulklima hinzukomme.

Mann im Sakko steht mit verschränkten Armen vor Wandtafel

Alain Pichard: Wer richtigen Stress erleben will, soll mal nach Südkorea gehen.

Dabei muss man festhalten, dass das Schulklima heute deutlich angenehmer ist als früher: Es fliegen keine Schlüsselbunde mehr herum, und das Lineal wird ausschliesslich zum Zeichnen gebraucht und nicht als Schlagstock. «Es gibt zahllose Stützangebote, Mobbingpräventionen, Nachteilsausgleiche und individualisierende Lehrmethoden», findet der Lehrer und Bildungspolitiker Alain Pichard.

«Hausaufgaben werden abgeschafft, Vokabeln sollen spielerisch und ohne Anstrengung eingeübt werden», sagt Pichard. «Wer Leistungsstress erleben will, soll nach Südkorea, Singapur, Taiwan oder China gehen.»

Wenn Eltern drängen

Dennoch scheint der subjektive Stress der Schüler und Schülerinnen nicht kleiner geworden zu sein. Ob man heute besser hinschaut und mehr sieht als früher, sei dahingestellt. Was aber klar sein sollte: Wenn Kinder in diesem Ausmass unter Stress leiden, läuft etwas schief. Immer wieder werden die Noten als grosser Druckfaktor aufgeführt. Dazu kommt ein weiterer Faktor, wie die Pro Juventute-Studie zeigt: Eine gewichtige Ursache der Stressbelastung von Kindern und Jugendlichen sei das Gefühl, dass die Eltern zu hohe Erwartungen an sie stellen, welche die Kinder nicht erfüllen können, heisst es dort.

Es lebe die Lehre

Die duale Ausbildung ist erfolgversprechend.

Die Eltern sind also oft ein grosser Teil des Problems, etwa mit ihrer Hoffnung auf gute Noten. Vielfach treibt sie der Irrglaube an, ein Kind müsse in die Sekundarschule oder ans Gymnasium, weil nur so ‹etwas› aus ihm wird.

Dabei ist unser duales Bildungssystem mit der Berufslehre ein Erfolgsmodell. Immer noch. Das bestätigen auch zahlreiche Studien, etwa vom Staatssekretariat für Wirtschaft SECO. Das geht des Öfteren vergessen. Es sei hier zur Stressminderung erwähnt.

«Trotz der starken Zunahme von Tertiärabschlüssen, die oft über eine gymnasiale Matura erreicht werden, hat die berufliche Grundbildung in der Schweiz ihre im internationalen Vergleich herausragende Stellung als Erstausbildung in den vergangenen zwanzig Jahren behalten», heisst es in der SECO-Studie. Es zeige sich dabei, dass die Jugendliche, die eine Lehre absolvieren, sich über erfreuliche Berufsaussichten freuen können. Ihre Erwerbsquoten seien hoch, die Arbeitslosigkeit niedrig.

«Ein furchtbares Hamsterrad»

Margritt Stamm: Viel zu viel Freizeitorganisation.

Es nimmt manchmal schon fast absurde Züge an, wenn man vernimmt, dass es einen Trend zur Nachhilfe für Kinder gibt, die gar keine Nachhilfe bräuchten. Also jene, die schulisch nicht gefährdet sind, sondern einfach von ihren Eltern in der Freizeit noch weiter angeschoben werden, um in der Konkurrenzsituation in der Klasse besser dazustehen.

«Das ist zum Teil ein furchtbares Hamsterrad, in dem die Kinder sind», sagt Margrit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaften. «Die umfassenden Freizeitprogramme, die viele haben, die durchgetakteten Wochenpläne. Deshalb reden wir in der Forschung von Terminkindheiten.»

Zusammenspiel ist zentral

Die Eltern und ihre Erwartungen und Haltungen kann man nur bedingt ändern. Auch die Weiterentwicklung des Schulsystems ist ein träger, politischer Prozess. Weder die 45-Minuten Struktur, der frühe Schulbeginn noch die langen Präsenzzeiten werden so schnell verschwinden. Das gilt auch für die wechselnden Fachlehrkräfte, die ebenfalls Stress bedeuten.

Wer keine entspannte Rudelführerin oder einen empathischen Leitwolf vor sich hat, ist deutlich gestresster. Das Zusammenspiel von Lehrpersonen und SchülerInnen ist zentral.

Alexander Wettstein, PH-Bern, forscht schon lange zum Thema “Stress”.

«Innerhalb der Schule entsteht der grösste Stress, wenn die soziale Interaktion nicht funktioniert», weiss Alexander Wettstein. Er ist Leiter des Forschungsschwerpunktes Soziale Interaktion an der PH Bern. «Zum Beispiel, wenn eine Schülerin verweigert oder es aggressives Verhalten gibt.»

Wettstein hat im Rahmen einer noch nicht erschienenen Studie während zwei Jahren insgesamt 42 Lehrpersonen im Raum Bern intensiv begleitet. Herzschlag messen, Stresshormon im Speichel, und das über ganze Tage hinweg.

Mann mit kurzen blauen Haaren und blau gestreiftem Hemd

Das Resultat: Rund ein Drittel der Lehrpersonen hat einen zu hohen Stresspegel und sollte etwas dagegen unternehmen. Wenn bezüglich Stressregulation nichts passiert, wird nämlich der Unterricht schlechter und die Schülerinnen und Schüler unruhiger. Das wiederum steigert den Stress bei der Lehrperson.

Klimawandel im Klassenzimmer

«In der Schule müsste man ein Klima hinkriegen, in dem es allen wohl ist», sagt Wettsein. «Denn nur in einer Atmosphäre, in der es mir gut geht und in der auch einmal miteinander gelacht werden kann, kann ich auch lernen. Wenn ich gestresst bin, bin ich blockiert. Dann geht nichts mehr in den Kopf.»

Es komme übrigens nicht darauf an, ob die Lehrperson jung oder alt, Mann oder Frau, sei. Stress ist individuell. Fühle man sich unterstützt und sehe den Sinn der Arbeit ein, wirke das präventiv gegen Stress. Steht eine Lehrperson an einem Arbeitstag auf, dann ist der Stresspegel doppelt so hoch wie normalerweise. Der antizipative Stress, bevor man vor die Klasse tritt, ist hoch. Kein Wunder, gilt es doch viele Anforderungen zu erfüllen. Der Stress ist dabei aber ein schlechter Ratgeber.

Leiten ohne beissen

«Das Lernklima ist wie ein Fundament. Wenn das nicht gut ist, ist Hopfen und Malz verloren», sagt Wettstein. In Anbetracht des Lehrkräftemangels beruhigt diese Erkenntnis nicht. Aber um im System einen gesunden Hebel zu haben, braucht es gute Lehrpersonen. Solche, die ein Rudel leiten können, ohne zu beissen und die den Kindern entspannt und mit emotionaler Wärme begegnen. Trotz all den äusseren Stressfaktoren, die auch – oder besonders – auf die Lehrpersonen täglich einprasseln. Keine einfache Aufgabe.

Sport statt Stress

Klar ist zumindest, was bezüglich Stressabbau und Prävention empfohlen wird: Für Lehrpersonen – also eigentlich für die ganze Gesellschaft – gilt: Abschalten und sich ein Hobby suchen, einen Ausgleich. Das gilt ebenso für Kinder.

«So geben Kinder und Jugendliche mit niedrigeren Stresswerten eher an, Zeit zu haben, um sich zu erholen. Gleichzeitig investieren diese Kinder und Jugendlichen ihre freie Zeit häufig in Aktivitäten wie Sporttraining, Musiküben oder Treffen mit Freundinnen und Freunden», schreibt die Pro Juventute in ihrer Studie.

Die Gesellschaft muss hier mit gutem Beispiel vorangehen. Denn die Kinder eifern den Erwachsenen nach.

 

https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/leistungsdruck-im-schulzimmer-klueger-aber-mueder-wie-stressig-ist-unser-schulsystem

 

 

 

 

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Classroom Management https://condorcet.ch/2022/07/classroom-management/ https://condorcet.ch/2022/07/classroom-management/#comments Tue, 26 Jul 2022 14:48:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=11105

In seiner zweiten Folge der Beitragsreihe über die Rolle der Klassenlehrkraft nimmt uns Alain Pichard mit auf eine dreijährige Reise. Er schildert die anfallenden Aufgaben auf der Sekundarstufe 1.

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Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Die Elternzusammenarbeit nimmt zu.

In den nun folgenden Zeilen möchte ich Ihnen – liebe Leserinnen und Leser – die verschiedenen Aufgaben einer Klassenlehrkraft schildern, die ihre 7. Klasse übernimmt und sie drei Jahre später entlässt. Es handelt sich dabei um eine Durchschnittsklasse in einer Agglomerationsgemeinde mit 20 Schülerinnen und Schüler.

  1. Klasse

Die Vorbereitungen beginnen bereits im alten Schuljahr. Es gibt Übertrittsgespräche mit den abgebenden 6.-Klasslehrerinnen. Dort werden über die Schülerinnen und Schüler wichtige Informationen ausgetauscht. Über ein Drittel der Schülerinnen und Schüler gibt es Dossiers (Förderbedarf, Betreuungsstand, Leistungsvermögen, Nachteilsausgleich, beanspruchte Institutionen). Diese Sitzung findet in der Regel an einem Nachmittag statt und dauert ca. zwei Stunden.

Die Dossiers müssen archiviert werden. Die zukünftige Klasse kommt an einem Morgen im alten Jahr zu einem Schnuppermorgen in die Schule. Für das Programm ist die zukünftige Klassenlehrkraft verantwortlich.

In den Ferien wird neben den fachlichen Vorbereitungen das Klassenzimmer neu eingerichtet, das Absenzenbuch mit Daten beschriftet, ein erster Schulausflug für die drei Kennenlerntage und der Elternabend vorbereitet.  Ausserdem fallen jede Menge administrative Arbeiten an. Die Dossiers müssen gelesen und entsprechende Infos an das Klassenteam geliefert werden. Stundenpläne und Klassenlisten müssen mit Raster vorbereitet werden. Der erste Morgen ist Klassenlehrermorgen. Nach der Anfangszeremonie übernimmt die Klassenlehrkraft ihre neue Klasse. Der Beginn ist sehr wichtig. Ich beginne den Tag jeweils mit einer einstündigen Teamarbeit (mit Farben und Formen). Vorbereitung am Sonntag zuvor ca. 1 Stunde.

Die Zeugnisse und Zahnkarten müssen eingesammelt und archiviert werden. Es beginnt die Materialausgabe.

In den Sommerferien wird das Klassenzimmer vorbereitet.

Wichtig ist die Kennenlernwoche in der zweiten Woche des ersten Quartals. Hier gilt es, eine dreitägige Schulverlegung zu planen. Die Klassenlehrkraft muss schauen, dass sie aus dem Klassenteam eine Begleitperson findet. Sie muss Nahrungsmittel einkaufen, Menuepläne erstellen, den Transport organisieren, Elternbriefe schreiben und ein Programm für die zwei Tage entwerfen. Natürlich muss sie ein Budget erstellen und das Geld einsammeln. Die Klassenkasse ist nach einer aufwändigen Abrechnung auf Null und wird mit Gemeindebeiträgen (Exkursionsgeld) neu gespiesen. Die Führung des Klassenkontos obliegt der Klassenlehrkraft. Ausserdem muss eine Materialkiste mit Spielen, Papierblöcken und Filzstiften gefüllt werden.

Bis Ende Woche müssen Adressen, Handynummern und Mailadressen kontrolliert bzw. erhoben werden, eine immer komplizierter werdende Aufgabe. Ein Klassenchat wird eingerichtet. Die Schüler müssen wissen, welches Angebot der Schule sie wann und wo belegen wollen.

Adressen, Telefonnummern Email… nichts geht mehr ohne Computer.

Der erste Teil des ersten Elternabends wird von der Schulleitung bestritten, der zweite Teil obliegt der Klassenlehrkraft. Das Klassenzimmer muss für diesen Anlass umgestellt werden. In der Regel nehmen 30 Personen an dem Anlass teil. Am Elternabend müssen die beiden Elternvertreter bestimmt werden.

Die Klassenlehrkraft plant und organisiert die Sitzordnung in der Klasse, diskutiert die Regeln und Umgangsformen und lässt in einem Wahlprozedere die Klassensprecher durch die Klasse bestimmen. Sobald die Schülerinnen und Schüler ihren Account haben (sehr oft Aufgabe des Informatikbeauftragten), ist die Klasse startklar. Die Kennenlernwoche wird mit einem Teamevent der neuen 7. Klassen abgeschlossen. Auch hier sind die Klassenlehrkräfte zuständig.

Nach diesen aufwändigen Vorarbeiten kann der Unterricht beginnen.

Weitere Aufgabenbereiche bis zu den Elterngesprächen im Winter sind Gruppeneinteilungen für den Sporttag, die Hauswahl für das Skilager im März und die Koordination des Informationsaustauschs im Klassen- und Jahrgangsteam.

Die immer aufwändigeren Anmeldungen bei unseren Kooperationspartnern – wie der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder der Erziehungsberatung – auch eine Folge des Integrationsartikels – nehmen zu.

Disziplinarverstösse verursachen viel Aufwand.

Eine sehr wichtige und zeitintensive Tätigkeit der Klassenlehrperson ist ihre Präsenz bei disziplinarischen und psychischen Problemen. Sämtliche Disziplinlosigkeiten, die von den Fachlehrkräften nicht geregelt werden können, landen bei der Klassenlehrperson. Verstösse gegen Schulhausregeln (z. B. in den Pausen) werden ihr gemeldet. Daraus ergeben sich Briefwechsel mit Eltern, Standortgespräche und ab und zu grössere Sitzungen mit Schulleitung und Behörden. Die immer aufwändigeren Anmeldungen bei unseren Kooperationspartnern – wie der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder der Erziehungsberatung – auch eine Folge des Integrationsartikels – nehmen zu. Sämtliche Umteilungsentscheide müssen mit Klassenteam, Schulleitung und Institutionen genauestens dokumentiert werden. Zentrale Stelle hier: die Klassenlehrperson. Es folgen Netzgespräche, die in schwierigen Klassen einen enormen zeitlichen Aufwand verlangen. Eltern müssen aber auch bei disziplinarischen Konflikten aufgeboten werden. Die Gespräche müssen protokolliert und archiviert werden. Wenn es in gewissen Fächern zu chaotischen Verhältnissen kommt, ist es nicht selten die Klassenlehrperson, die den Unterricht hospitiert, damit er möglich bleibt.

Immer häufiger werden in den privaten Chats der Schülerinnen und Schüler unzulässige Hetzjagden auf Aussenseiter oder sexistische Bemerkungen herumgeschickt, welche dann das Klassenklima stark belasten.

Sämtliche Adressänderungen und wechselnde Telefonnummern und Mailadressen, die nicht immer gemeldet werden, müssen jeweils aktualisiert und an die Schulleitung und das Klassenteam weitergeleitet werden.

Die Klassenlehrkraft muss bei allen Betreuungsangeboten die Übersicht behalten, die da sind: Nachteilsausgleich, logopädische  Betreuung, reduzierte Lernziele, KBF-Status usw. Hier ist es dringend notwendig, ein gutes Computerprogramm zu beherrschen und Ordnung zu halten.

Sämtliche Adressänderungen und wechselnde Telefonnummern und Mailadressen, die nicht immer gemeldet werden, müssen jeweils aktualisiert und an die Schulleitung und dedasm Klassenteam weitergeleitet werden.

Die Elternarbeit nimmt immer mehr Zeit in Anspruch. Und dort, wo das Elternhaus kein Partner mehr sein kann, folgt die Kooperation mit den Institutionen, wie den Sozialbehörden oder der Berner Gesundheit.

Die Elternarbeit nimmt immer mehr Zeit in Anspruch. Und dort, wo das Elternhaus kein Partner mehr sein kann, folgt die Kooperation mit den Institutionen, wie den Sozialbehörden oder der Berner Gesundheit.

Sämtliche von der Schulleitung und den Lehrerkonferenzen beschlossenen schulischen Anlässe landen bei den Klassenlehrpersonen, die zwar diese Events nicht organisiert, aber dafür sorgt, dass die Schülerinnen und Schüler wissen, was sie zu tun haben, in welchen Gruppen sie sind und wann sie wo sein müssen.

Standortgespräch: im Schnitt eine Stunde

Die 20 Elterngespräche sind obligatorisch, man nennt sie Standortgespräche. Sie müssen gut vorbereitet sein und anschliessend protokolliert und archiviert werden. Es geht um Leistung, Arbeitsverhalten und Sozialverhalten, es geht um Einteilungen in Niveaufächern, um Probleme in der Klasse, Lernschwierigkeiten, Mobbingvorwürfe. Für Gespräche mit fremdsprachigen Eltern müssen Dolmetscher organisiert werden, was die zeitliche Planung erschwert. Und es geht auch um eine erste Nachfrage bezüglich Laufbahnplanung, z. B., ob ein Kind beabsichtigt, das Gymnasium zu besuchen. Im Schnitt rechnet man eine Stunde für ein Gespräch.

Im Kanton Bern wurden die Semesterzeugnisse abgeschafft. Trotzdem müssen die Leistungen der Schülerinnen und Schüler immer abrufbar sein. Vorbereitet werden diese Zwischenstände durch Mittelsemesterkonferenzen. Dort tauschen sich die Klassenteams über die Schülerinnen und Schüler aus. Einladung, Leitung der Gespräche und Festhalten der Beschlüsse obliegt der Klassenlehrkraft.

Neu eintretende Schülerinnen und Schüler erfordern ein Standortgespräch und Eingliederungshilfen.

An Weihnachten ist oft «Wichteln» angesagt. Die Schülerinnen und Schüler wollen spezielle Events wie gemeinsames Frühstück, Filmnächte oder Ausflüge. Bei Theater- und Museumsbesuchen ist neben der Fachkraft oft die Klassenlehrperson dabei. Nachtaktivitäten sind zurzeit in.

Skilager: ein diverses Mammutprogramm

Das Skilager bringt der Klassenlehrperson einen enormen organisatorischen Aufwand. Elterninfos, Reisebusbestellungen, Lebensmittelbestellungen, Zimmerzuteilung, die Rekrutierung von Skilehrern und Begleitpersonen, der Einzug der Elternbeträge gemäss eines Budgets, die Verwaltung des Klassenkontos, wohin Eltern- und Gemeindebeträge überwiesen werden, die Organisation der Abende, die Notfallzettel, die Platzierung der abgemeldeten Schülerinnen und Schüler. Es gilt, die Haushaltsgruppen zusammenzustellen. Die Durchführung mündet natürlich in dem berühmten 24-Stunden-Betrieb. Die Klassenlehrkraft hat die Abgabe der Handys in der Nacht durchzuführen und auch massgeblich für die Nachtruhe zu sorgen. Unfälle sind stets Klassenlehrerangelegenheit, ebenso wie die Lösung disziplinarischer Vorfälle.  Am Schluss ist die Klassenlehrkraft für eine geordnete Abrechnung, die Verwahrung der Belege und die Zusendung an Eltern und Finanzkontrolle zuständig.

Beurteilungsberichte: Intensive Vorarbeiten

Gegen Ende des Quartals müssen die Zeugnisse erstellt werden. Die zeitliche Belastung der Klassenlehrkräfte in diesem Bereich ist je nach Schule unterschiedlich, aber durchgehend intensiv. Es folgt eine weitere Notenkonferenz. Die Klassenlehrkraft sammelt vor allem im Bereich des Arbeitsverhaltens die «Kreuzchen»-Beurteilungen der Fachlehrkräfte, sie nimmt an allen Notenkonferenzen teil und trägt schliesslich sämtliche Infos sorgsam in das Portfolio ein. Dazu gehören immer mehr auch die Hinweise auf eine spezielle Förderung, auf eine Teilnahme am Angebot der Schule sowie die Sammlung der Zusatzberichte oder Hinweise auf Nachteilsausgleiche. Nicht zu unterschätzen ist auch die Dokumentation der Absenzen. Das ist eine permanente Jahresaufgabe, in welcher das Klassenbuch eine wichtige Rolle spielt. Hier müssen die Entschuldigungen kontrolliert und die freien Halbtage festgehalten werden.

Alle Zeugnisse werden durch die Klassenlehrkraft unterschrieben und am letzten Schultag ausgeteilt. Sämtliche Reklamationen landen bei den Klassenlehrkräften. Sie koordinieren deren Behandlung, fügen nicht selten die Korrekturen eigenhändig ein.

Es folgen die Schulschlussfeste, in welcher der Klassenlehrperson eine aufwändige Koordination zukommt, und die Organisation und Durchführung von Schulreisen, Letztere ergeben wieder einen nicht unerheblichen Vorbereitungsaufwand. Dazu kommt die Semesterabrechnung des Klassenkontos zuhanden der Finanzkontrolle.

Das erste Schuljahr ist zu Ende.

  1. Schuljahr

Über den Aufwand im 8. Schuljahr müssen Sie nicht so viel lesen. Alles, was Sie in der 7. Klasse an Klassenlehrer-Arbeit aufgezählt erhielten, wiederholt sich in den beiden kommenden Schuljahren. Das Grundgerüst der administrativen Arbeiten bleibt, einiges kann aber übernommen werden. Es gilt wieder ein Skilager, zwei Schulreisen und einige Events zu organisieren. Der Belastungsaufwand liegt in etwa im Rahmen des vorherigen Schuljahres. Wenn es der Klassenlehrkraft gelingt, eine gut funktionierende Einheit zu schmieden, können viele Aufgaben delegiert werden.

Die im Lehrplan vorgesehene Verschiebung des Berufswahlunterrichts in das Fach WAH (Wirtschaft, Arbeit, Haushalt) erweist sich als wenig sinnvoll.

Hingegen muss die Klassenlehrkraft sich nun intensiv der Laufbahnplanung widmen, will heissen, die Berufswahl steht an. Die im Lehrplan vorgesehene Verschiebung des Berufswahlunterrichts in das Fach WAH (Wirtschaft, Arbeit, Haushalt) erweist sich als wenig sinnvoll. Natürlich können einzelne Bereiche der Berufswahl in andere Fächer verlagert werden (z. B: Lebenslauf und Bewerbung in den

Berufswahl ist Klassenlehrperson-Aufgabe.

Deutschunterricht). Die Entwicklung des Selbstkonzepts ist aber Sache der Klassenlehrperson. Es gilt, in der zweiten Woche eine sogenannte Berufswahlwoche zu organisieren. Themen wie «Wer bin ich?» «Stärken und Schwächen», «Nachdenken über die Zukunft» liegt in den Händen der Klassenlehrperson. Die Organisation der Berufswahlwoche ist ebenfalls ihre Aufgabe zusammen mit dem Klassenteam und den anderen Klassenlehrkräften. Es kommt ein neuer Player hinzu: das Berufsinformationszentrum. Hier müssen die Klassenlehrerinnen und -lehrer den Besuch im BIZ mit der Klasse organisieren (Busfahrt, Material und Aufträge), den gemeinsamen Elternabend mit dem zugeteilten Berufsberater vorbereiten, den Besuch der Swiss Skills, also der Berufswahlmesse in Bern, vorbereiten und durchführen. Danach gibt es noch diverse Anlässe, die die Klassenlehrkraft nicht vergessen darf, weil es frühzeitiger Anmeldungen bedarf, wie zum Beispiel die Berner Gesundheitstage, die Uhrenindustrieführung und vieles mehr. Ausserdem veranlasst und kontrolliert sie, dass die Schülerinnen und Schüler ihr persönliches Dossier, eine Art Portfolio führen.

Natürlich erkennen die Klassenlehrkräfte zuerst, welche Jugendlichen besonderen Bedarf an Unterstützung haben.

Es folgt die Organisation einer begleiteten Schnupperwoche. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich ein Praktikum organisieren. Die Klassenlehrperson hilft dabei, ist sehr oft am Mittwochmittag im Computerraum und unterstützt ihre Schülerinnen und Schüler bei der Suche nach einem Praktikum. Ist das Praktikum gefunden, müssen die Schülerinnen und Schüler einen Vertrag unterschreiben lassen, ein Dossier vorbereiten, in welchem sie Rückmeldungen des Praktikumsverantwortlichen eintragen lassen und ihr eigenes Tagebuch führen. Einsammeln und Kontrolle obliegt der Klassenlehrkraft. Während des Praktikums besucht sie zusammen mit den Fachlehrkräften die Schülerinnen und Schüler in den jeweiligen Betrieben. Sie spricht mit den Lehrlingsverantwortlichen und den Schülerinnen und Schülern und hält die wesentlichen Erkenntnisse auf einem speziellen Gesprächsprotokoll fest. Natürlich erkennen die Klassenlehrkräfte zuerst, welche Jugendlichen einen besonderen Bedarf an Unterstützung haben. Sie melden diese beim Berufswahlberater und holen dessen Einschätzung ein. Das fliesst in ein Dossier, das dann wiederum an den Standortgesprächen Gegenstand der Diskussion sein wird.

Viele Bewerbungen werden der Klassenlehrperson zur Kontrolle vorgelegt. Sie sieht sie durch, korrigiert, wo nötig, und schickt sie zurück. Sie plant Bewerbungsgespräche und lädt ehemalige Schülerinnen und Schüler in die Schule ein, die den zukünftigen Lehrlingen von ihren Erfahrungen berichten.

Bei den Standortgesprächen im November/Dezember geht es nun konkret auch um die Laufbahnplanung. Die Gymnasialanwärterinnen müssen einen Vorschlag erhalten. Das Ausfüllen der Empfehlungen und die Kommunikation mit den Eltern ist Sache der Klassenlehrperson. Die Anmeldeformulare umfassen inzwischen 4 Seiten.

Am Schulschlussfest organisieren die 8. Klassen die Festwirtschaft. Das ist eine enorm intensive zeitliche Belastung, die viel Organisationsgeschick und die Fähigkeit zu delegieren erfordern.

 

  1. Schuljahr

Wieder gilt die Vorbemerkung: Die Grundaufgaben, die in der 7. Klasse beschrieben worden sind, bleiben erhalten. In der 9. Klasse kommen noch einige Dinge hinzu. Das 9. Schuljahr beginnt mit einem Sozialeinsatz. Die Schülerinnen und Schüler reisen in ein Berggebiet und helfen dort den Bauern, die Weiden zu säubern. Die Klassenlehrkraft organisiert Begleitpersonen, bereitet den Einsatz mit den örtlichen Bauern vor, erstellt einen Menueplan und arbeitet mit den Schülerinnen und Schüler mit. Sie sorgt mit der Begleitperson für die Verpflegung und eine solide Abrechnung.

Sozialeinsatz: eine von drei Schulverlegungen

Überhaupt ist das 9. Schuljahr mit drei Verlegungen (Sozialeinsatz, Skilager und Abschlussreise) für die Klassenlehrkraft anstrengend. In allen drei Lagern müssen Vor- und Nachbearbeitungen geleistet werden, deren Umfang durch all die Auflagen (Essensgewohnheiten, Sicherheitsvorkehrungen) aufwändiger wird.

Die Unterstützung der Jugendlichen bei der Lehrstellensuche nimmt die volle Konzentration der Klassenlehrkraft in Anspruch. Schülerinnen und Schüler müssen angetrieben, ermutigt und getröstet werden. Es folgen Gespräche mit Lehrmeistern betr. Referenzauskünften, die Telefonate besorgter Eltern am Abend häufen sich. Schülerinnen und Schüler, die keine Lehrstelle gefunden haben, müssen für ein Zwischenjahr angemeldet werden. Die Anmeldungen sind eine immer grösser werdende Prozedur. Für die 10. Schuljahre müssen Schülerin und Klassenlehrer digital je 4 Seiten ausfüllen.

Die abnehmende Motivation der Schüler nach unterschriebenen Lehrverträgen ist eine grosse Herausforderung für die Klassenlehrkräfte. Hier gilt es, im Klassenteam mit interessanten Projekten und eigenständigen Schülerarbeiten das Interesse und den Lernwillen aufrecht zu erhalten.

Die Theateraufführung ist ein Höhepunkt.

Wir organisieren jeweils ein sogenanntes PUSA-Projekt (Projektunterricht – Selbständige Schülerarbeit) mit einer Ausstellung. Die Klassenlehrkräfte spielen hier eine zentrale Rolle. Dies gilt namentlich auch für den Schulabschluss, der bei uns jeweils in eine grosse Theaterproduktion mündet. Dem Klassenlehrer obliegt hier die Federführung, die Eingaben für die kantonalen Kulturgutscheine, die Anstellung eines Theaterpädagogen und die Erstellung des Übungsplans etc.

Die letzten Zeugnisse werden verteilt, in einer Schlussfeier werden die Schülerinnen verabschiedet, es fliessen Tränen, auch beim Klassenlehrer.

Die Abschlussreise ist dann einerseits der Höhepunkt der dreijährigen Klassenbegleitung, andererseits aber auch wegen der Gefahr des übermässigen Alkoholkonsums eine Belastung.

Die letzten Zeugnisse werden verteilt, in einer Schlussfeier werden die Schülerinnen verabschiedet, es fliessen Tränen, auch beim Klassenlehrer.

Es gilt noch der Hinweis, dass die zeitliche Zusatzbelastung für die Klassenlehrperson je nach Schulort schwankt. In den sogenannten städtischen Brennpunktschulen (in einer arbeitet der Schreiber dieses Beitrags zurzeit) ist sie höher, in gutsituierten oder ländlichen Gebieten kann sie geringer sein. Ebenso gibt es Schulen, die weniger Schulverlegungen und Skilager durchführen. Die Zusammenarbeit in den jeweiligen Jahrgangteams können entlasten, ergeben aber auch eine zeitliche Mehrbelastung.

Jede Leserin, jeder Leser wird erkennen, dass die Belastung einer Klassenlehrperson Ausmasse angenommen hat, die mit der Abgeltung einer Lektion bei weitem nicht kompensiert wird. Andererseits halte ich die Arbeit des Klassenlehrers für eine befriedigende, erfüllende, vor allem aber für eine eminent wichtige Tätigkeit. In der PH und den Weiterbildungsinstitutionen werden dazu Module mit dem Übertitel «Classroom-Management» angeboten.

Im nächsten Artikel erkläre ich, wie die Arbeit der Klassenlehrperson attraktiver gemacht werden könnte.

 

 

 

 

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Was ist eine gute Lehrperson? https://condorcet.ch/2022/01/was-ist-eine-gute-lehrperson/ https://condorcet.ch/2022/01/was-ist-eine-gute-lehrperson/#respond Mon, 10 Jan 2022 14:34:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=10310

Das Interview, das Chefredakteur des Nebelspalters mit Alain Pichard führte, veranlasste unseren Condorcet-Autor Felix Schmutz zu einem Beitrag über die ewige Frage: "Was ist eine gute Lehrerin oder ein guter Lehrer? Er plädiert letztendlich auf einen Mix, befürchtet allerdings, dass im Zeitgeist der Kompetenzraster die Fachkompetenz der Lehrperson auf der Strecke bleibt.

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Felix Schmutz, BL:
Eine starre Rezeptologie, Gebote und Verbote sind der falsche Weg.

In seinem Nebelspalter-Interview stellt Markus Somm Alain Pichard die Frage, was eine gute Lehrperson sei. Nach Somms eigener Auffassung sind gute Lehrer solche, die charismatisch und begeisternd auf Schüler wirken. Alain Pichard entgegnet, es sei nicht nachgewiesen, dass solche Lehrerinnen oder Lehrer nachhaltigeres Lernen auslösten als andere.

Die Frage nach dem «guten Lehrer» ist eng mit einer anderen verknüpft: Was ist guter Unterricht? Oder neudeutsch: Was genau ist «best practice»? Seit Jahren beschäftigen sich Pädagogik und Instruktionspsychologie mit dem Problem. Nach A. Helmke (2003) kennzeichnen folgende Merkmale den guten Unterricht:

  1. eine effiziente Klassenführung
  2. ein lernförderliches Unterrichtsklima
  3. vielfältige Motivierung
  4. Strukturiertheit und Klarheit
  5. Wirkungs- und Kompetenzorientierung
  6. Orientierung an den Schülern
  7. Förderung des aktiven, selbstständigen Lernens
  8. Variation von Methoden und Sozialformen
  9. Konsolidierung, Sicherung, intelligentes Üben
  10. Umgang mit Heterogenität und gute Passung

Damit wäre auch gesagt, über welche Fähigkeiten ein «guter» Lehrer verfügen müsste, nämlich solche, die diesen Anforderungen gerecht werden können. Ähnliche Merkmalskataloge finden sich auch bei Jere Brophy (2002), Hilbert Meyer (2004), John Hattie (2011) und Andreas Gold (2015). Es scheint einigermassen Konsens zu herrschen.

Psychologisch orientierte Betrachter werden der Lehrperson offener begegnen bezüglich der Verfahren, der Interaktionen, die sie wählt. Hauptsache, die Klasse wird effizient geführt, das Unterrichtsklima regt zum Lernen an, die Erklärungen werden verstanden, die erwünschte Leistung wird erbracht.

Allerdings ergeben sich bei genauerem Hinsehen einige Probleme:

  1. Qualitätskriterien

Die Aufzählung ist aus empirischen Daten gewonnen. Diese abstrahieren die Beobachtungen von Unterricht, die Erhebungen von Schülerleistungen und Rückmeldungen. Das Resultat sind mehr oder weniger ausformulierte Kompetenzbeschreibungen. Was genau eine «effiziente Klassenführung», «ein lernförderliches Unterrichtsklima» etc. ist, bleibt jedoch verhältnismässig offen bzw. kann auf unterschiedlichste Arten umgesetzt oder konkretisiert worden sein. Die unterrichtlichen Massnahmen können erst anhand der Wirkung, die sie entfalten, beurteilt werden. Das Urteil unterliegt dabei einer gewissen Bandbreite der Interpretation, je nach Einstellung der Evaluierenden.

Psychologisch orientierte Betrachter werden der Lehrperson offener begegnen bezüglich der Verfahren, der Interaktionen, die sie wählt. Hauptsache, die Klasse wird effizient geführt, das Unterrichtsklima regt zum Lernen an, die Erklärungen werden verstanden, die erwünschte Leistung wird erbracht. Die Wirkung des Lehrerhandelns steht im Zentrum des Interesses, wobei der Begriff Wirksamkeit durch die momentan vorherrschenden psychologischen Theorien beeinflusst sein mag, aktuell z.B. durch den Konstruktivismus, den überprüfbaren Kompetenzerwerb.

Hauptsache, die Lehrperson unterrichtet nicht frontal, korrigiert die Fehler nicht, setzt die Schüler an Gruppentische, lässt ein Thema an Stationen abarbeiten, setzt Tablets mit Unterrichtsprogrammen ein, etc.

Psychologische oder pädagogische Sicht des Unterrichtens?

Pädagogisch orientierte Betrachter hingegen werden Unterricht und Lehrperson unter dem Aspekt beurteilen, der vom Zeitgeist favorisiert wird: Hauptsache, die Lehrperson unterrichtet nicht frontal, korrigiert die Fehler nicht, setzt die Schüler an Gruppentische, lässt ein Thema an Stationen abarbeiten, setzt Tablets mit Unterrichtsprogrammen ein, etc. Wer diese Verfahren einhält, gilt als «gut», die erzielte Wirkung bleibt für die Beurteilung zweitrangig.

Die Gefahr besteht, dass in der pädagogischen Ausbildung Rezepte vermittelt werden, von denen man annimmt, sie erfüllten die gewünschten Qualitätskriterien, nicht aber der Geist, der die Qualitätskriterien eigentlich ausmacht. Dieser Geist kann auf vielfältigste Weise verwirklicht werden, eine starre Rezeptologie, Gebote und Verbote sind der falsche Weg. Vielmehr müsste die Ausbildung den ganzen Schatz möglicher Methoden und Handlungsweisen aufzeigen und je nach Thema und Situation auf die Erreichung der Qualitätsmerkmale hin befragen.

Qualitätskriterien fliessen auch in Leistungsmanuale zur Beurteilung von Lehrkräften und Schulen ein. Dort werden die Merkmale zu ausführlichen Kompetenzbeschreibungen ausdifferenziert, die in der Fülle einengend oder in ihrer Unbedingtheit überfordernd sein können, so zum Beispiel Norbert Landwehrs Prozessqualitäten Unterricht (Landwehr 2003/2007).  «Gut» gilt ein Lehrer nicht, weil seine Schüler etwas gelernt haben, sondern weil er die Handlungsvorschriften pflichtschuldigst abgearbeitet hat.

«Orientierung an den Schülern» und «Umgang mit Heterogenität» sind nicht ohne nachsichtige Toleranz und Abwesenheit von Leistungsdruck möglich, während «Wirkungs- und Kompetenzorientierung» im Gegensatz dazu auf äussere Vorgaben und Effizienzsteigerung pochen.

  1. Widersprüche

Die Qualitätsliste für «guten Unterricht» ist in sich nicht widerspruchsfrei. So verbindet man eine «effiziente Klassenführung» mit einer Lehrperson, die das Geschehen klar dominiert, während die Förderung des «aktiven, selbstständigen Lernens» die Rolle der Lehrperson auf diejenige eines «Lernbegleiters» zurückstutzt. «Orientierung an den Schülern» und «Umgang mit Heterogenität» sind nicht ohne nachsichtige Toleranz und Abwesenheit von Leistungsdruck möglich, während «Wirkungs- und Kompetenzorientierung» im Gegensatz dazu auf äussere Vorgaben und Effizienzsteigerung pochen.

Natürlich ergeben sich die Widersprüche aus der Verknüpfung von Theorien unterschiedlicher Herkunft, die in Qualitätsrastern in akribischer Vollständigkeit erscheinen. Die Parameter suggerieren dann eine idealtypische Lehrperson, die alle aktuellen pädagogisch opportunen Vorstellungen und gleichzeitig alle gesellschaftlichen Erwartungen an erfolgreich beschulte Kinder und Jugendliche erfüllt, die Lehrperson ist die sprichwörtliche «eierlegende Wollmilchsau».

  1. Machbarkeit
Löst eine Lehrerhandlung X bei den Schülern den Effekt Y aus?

Qualitätskriterien gehen grundsätzlich von der «Machbarkeit» aus. Es herrscht die Vorstellung, dass eine Lehrerhandlung X bei den Schülern den Effekt Y auslösen muss. Diese Idee rührt daher, dass empirische Unterrichtsforschung die komplexe Unterrichtssituation vereinfacht und systematisiert sowie einzelne Komponenten isoliert erfasst, um valide Aussagen machen zu können. Damit bildet sie jedoch nicht die ganze Wirklichkeit, sondern nur einen Ausschnitt daraus ab. In der Unterrichtspraxis bestehen viele Variablen, welche sich zwischen Lehrer-Input und Schüler-Response mischen können. Daraus folgt, dass die Rahmenbedingungen und die menschlichen Faktoren in die Qualitätsdiskussion miteinbezogen werden müssten, was jedoch meist nicht vorgesehen ist. Wenn das Qualitätsmanagement die ganze Schule erfasst, wie im Bericht Q2E vorexerziert, entsteht ein gewaltiges Räderwerk an Parametern, das an der Kontingenz des realen Schulbetriebs scheitern muss und zu einem bürokratischen Monster verkommt. (Landwehr 2003/2007)

Selbst wenn davon die Rede ist, mit Heterogenität «umzugehen» und individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen, sind damit lediglich Varianten von Schülermaterial gemeint, die mit angepassten Werkzeugen zu bearbeiten sind.

  1. Schülerbild

Qualitätskriterien gehen von einem tatsächlich unrealistischen Schülerbild aus. Letztlich sehen sie die Kinder und Jugendlichen als «Rohmaterial», das in der Schule «veredelt» werden soll. Schüler werden als Objekte des pädagogischen Handelns betrachtet. Selbst wenn davon die Rede ist, mit Heterogenität «umzugehen» und individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen, sind damit lediglich Varianten von Schülermaterial gemeint, die mit angepassten Werkzeugen zu bearbeiten sind.

Schüler sind eigenständige Akteure.

In Wirklichkeit sind Kinder und Jugendliche jedoch menschlich eigenständige Akteure, die das Unterrichtsgeschehen als Subjekte mit ihrer Persönlichkeit, ihrem Willen und ihren Launen mitprägen. Ohne mehr oder weniger gutwillige Mitwirkung der Lernenden läuft in der Schule nichts. Eine Schulklasse ist ausserdem ein dynamisches Sozialgefüge, das je nach Charakteren unterschiedlich auf dieselben pädagogischen Massnahmen ansprechen mag. Was in der einen Klasse funktioniert, muss nicht immer auch in andern funktionieren.

 

Um vergleichbare Wirkungen zu erzielen muss die Lehrperson deshalb unterschiedliche Strategien anwenden können, je nachdem, wie Klassen agieren und reagieren. Dazu braucht es methodische Freiheit. Nicht förderlich ist ein Kriterienkorsett aus Rezepten. Zwingend ist ferner, dass die Lehrperson mit jeder Klasse das Grundeinverständnis aushandelt, gemeinsam am Lernstoff zu arbeiten und die Führung der Lehrperson anzuerkennen.

  1. Abgewertetes Fachwissen

Ein wichtiger Punkt kommt bei den Qualitätskatalogen zu kurz: das fachliche Wissen und Können der Lehrperson. Die Merkmale beziehen sich auf die Interaktion, die Diagnostik und die Vermittlung. Hingegen scheint die Wissensbasis der Lehrperson, die eigentliche Quelle, aus der sie ihre vermittelnde Tätigkeit, aber auch die sozialen und psychologischen Anteile ihrer Arbeit schöpft, stillschweigend vorausgesetzt zu werden. Ob dies der Tatsache geschuldet ist, dass bei Hattie die fachliche Qualifikation der Lehrkräfte nur eine geringe Effektstärke aufweist, bleibe dahingestellt.

Didaktisches Handeln ist jedoch nur möglich, wenn strukturiertes fachliches Wissen und Können zur Verfügung steht. Das leuchtet sofort ein, wenn man folgendes Gespräch im Lehrerzimmer überhört: «Wie erklärst du den Schülern das Rechnen mit Proportionen?» Antwort des Angesprochenen: «Das mache ich gar nicht. Da komme ich selbst nicht draus.»

Was einst als wichtigstes Kriterium für den «guten Lehrer» galt, das Fachwissen und die Begeisterung für Inhalte, ist in Qualitätsrastern kaum mehr der Rede wert. Ein Blick in die heutige Schule zeigt jedoch schnell, dass mangelhaftes Fachwissen bei Lehrpersonen leider ziemlich oft zu beklagen ist. Das Fachwissen einfach IT-gestützten Lernprogrammen zu überlassen, darf im Übrigen nicht der Ausweg aus dem Malaise sein. Jedenfalls wird eine Verbesserung der Schülerleistungen nicht ohne Aufwertung des fachlichen Wissens und Könnens der Lehrkräfte zu haben sein.

Fazit:

Was wäre aus der vorangehenden Dekonstruktion der gängigen Qualitätsparameter zu folgern? Hier der Versuch zu formulieren, was für erfolgreiches Unterrichten als Basis dienen könnte:

  1. die Klasse für die gemeinsame Arbeit am Lernstoff gewinnen können
  2. Durchsetzungsfähigkeit, ohne in Autoritarismus oder Zynismus abzugleiten, Aushalten von frustrierenden Episoden
  3. eine wohlwollende, humorvolle und ermutigende Einstellung den Schülern gegenüber, ohne mit ihnen zu fraternisieren, ohne ihnen mit Vorurteilen zu begegnen und ohne übergriffig zu werden
  4. solides fachliches Wissen und Können, lernpsychologisches Wissen, zuverlässige Vorbereitung, Eingeständnis von Wissenslücken und eigenen Fehlern
  5. Ausstrahlen von Interesse am Stoff
  6. schauspielerische Fähigkeiten, die dosiert eingesetzt werden, ohne jedoch narzisstischen Neigungen zu frönen
  7. Fähigkeit zu erklären, Stoff didaktisch zu gliedern, für die jeweilige Klasse aufzubereiten und, wo nötig, zu improvisieren
  8. Interesse am fortschreitenden Lernen der Kinder und Jugendlichen, diagnostische Begleitung des Lernens der einzelnen Schüler
  9. ein breites Repertoire an methodischen Möglichkeiten, ein reflektierter Einsatz von Medien
  10. ein ausgeprägter Gestaltungswille, ein kritisch-kreativer Umgang mit behördlichen Vorschriften und pädagogischen Gängelungen

 

Literatur zur Unterrichtsqualität:

Brophy, Jere: Gelingensbedingungen von Lernprozessen, International Bureau of Education (UNESCO), Übersetzung Soest, 2002

https://uol.de/f/1/inst/paedagogik/personen/hilbert.meyer/brophy.pdf

Gold, Andreas: Guter Unterricht. Was wir wirklich darüber wissen. Göttingen 2015

Hattie, John: Visible Learning. Routledge 2009.

Helmke, Andreas: Unterrichtsqualität. Erfassen. Bewerten. Verbessern.
Seelze: Kallmeyer 2003

Helmke, A., & Brühwiler, C. (2018): Unterrichtsqualität. In D. H. Rost, J. R. Sparfeldt, & S. R. Buch (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (5. überarb. u. erw. Aufl., S. 860-869). Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union.

Landwehr, Norbert: Prozessqualitäten Unterricht. Q2E Qualitätsbereich Unterricht. In: Basisinstrument zur Schulqualität. Systematische Darstellung wichtiger Qualitätsansprüche an Schule und Unterricht. Nordwestschweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz NW EDK, 2003/2007

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Meyer, Hilbert:  Was ist guter Unterricht? Berlin 2004

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