Japan - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 26 Jan 2024 09:14:41 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Japan - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Funktioniert «Kognitive Aktivierung» bei uns? https://condorcet.ch/2024/01/funktioniert-kognitive-aktivierung-bei-uns/ https://condorcet.ch/2024/01/funktioniert-kognitive-aktivierung-bei-uns/#comments Fri, 26 Jan 2024 09:14:41 +0000 https://condorcet.ch/?p=15773

Condorcet-Autor Felix Schmutz reagiert auf den Artikel "Von Japan lernen" (https://condorcet.ch/2024/01/von-japan-lernen-matheunterricht-der-zum-denken-anregt/#comment-1344) und erklärt uns, was es mit dem neuen Zauberbegriff "Kognitive Aktivierung" auf sich hat.

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Der Artikel «Von Japan lernen» weist zu Recht darauf hin, dass organisatorische Formen wie gemeinschaftlicher Unterricht (als Frontalunterricht verunglimpft) oder SOL (als schülerzentrierter Unterricht vergoldet) an und für sich nichts über die kognitive Lerntätigkeit der Klasse aussagen. Allerdings wird dann die Hoffnung geschürt, die Kognition könne durch ein paar Tricks angeregt werden: Anregende Fragestellung, Lösungsansätze diskutieren, Vorwissen einbeziehen, Zusammenhänge herstellen, zu Kooperation anregen, etc. Das ist alles nicht neu und nicht falsch, sondern wird in der Fachdidaktik seit je gelehrt. Z.B hat sich das Math.buch einen solchen Ansatz auf die Fahne geschrieben. Neu ist lediglich der aus der psychologischen Lernforschung stammende Begriff «kognitive Aktivierung», unter dem die längst bekannten methodischen Verfahren nunmehr präsentiert werden. Ein Fall von «altem Wein in neuen Schläuchen».

Felix Schmutz, Baselland: Aufbau des Grundwissens und das beharrliche Üben der Grundfertigkeiten.

Entscheidend für Lehrpersonen ist das, was im Vergleich zu asiatischen Ländern in unseren Schulen anders ist. Der Artikel erwähnt wohl den Aufbau des Grundwissens und das beharrliche Üben der Grundfertigkeiten, das bei uns seit einiger Zeit verpönt ist, z.B das Einüben der Grundrechenarten (Warum, wenn man es am Handy ablesen kann?) oder das Vokabellernen (Warum, wenn man sich im mehrsprachigen Bad irgendwie sonst verständlich machen kann?) oder Sachwissen (Warum, wenn man alles googeln kann und das Wissen ohnehin schnell veraltet?). Kognitive Aktivierung würde Grundwissen und Grundfertigkeiten voraussetzen.

Nicht eingegangen wird auf einen entscheidenden kulturellen Unterschied. Im Band 2 zum Thema «Wirksamer Unterricht» findet sich ein Forschungsbericht von Benjamin Fauth und Timo Leuders unter dem Titel «Kognitive Aktivierung im Unterricht».

Seite 5 enthält einen Abschnitt mit einem entscheidenden «ABER», das die Wirksamkeit der oben erwähnten methodischen Verfahren ebenso einschränkt wie das fehlende Üben und das mangelhafte Sachwissen:

 

«Lehrkräfte können Lernenden Unterricht anbieten, der kognitive Aktivität anregt. Ob dieses Angebot von den Lernenden genutzt wird und sie kognitiv aktiv werden, hängt jedoch von diversen Faktoren ab. Unterricht kann also immer nur ‘Potenzial zur kognitiven Aktivierung’ bieten.»

Genau da liegt die Krux: Unterricht kann auf vielfältige Weise kognitiv anregend sein, die Lernenden müssen jedoch auch bereit und willens sein, sich darauf einzulassen. Sie müssen «Anstrengungsbereitschaft» zeigen, auch wenn es angenehmer wäre, auf Tik Tok zu surfen oder im Internet zu gamen oder während der schulischen Projektwoche für ein Stündchen hinter dem nächsten Hauseingang zu verschwinden und einen Glimmstängel zur Brust zu nehmen. Dazu müsste in der Gesellschaft eine entsprechende Einstellung vorherrschen, die den Verzicht auf ständige Gratifikation durch oberflächlichen Konsum als wünschenswerte Eigenschaft propagiert. Diese Voraussetzung ist aber momentan in unserer Gesellschaft nicht erfüllt.

Benjamin Fauth • Timo Leuders, Kognitive Aktivierung im Unterricht, S.5

file:///C:/Users/7984.190/Downloads/Wirksamer%20Unterricht%20-%20Band%202_Kognitive%20Aktivierung.pdf,

 

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Von Japan lernen: Matheunterricht, der zum Denken anregt https://condorcet.ch/2024/01/von-japan-lernen-matheunterricht-der-zum-denken-anregt/ https://condorcet.ch/2024/01/von-japan-lernen-matheunterricht-der-zum-denken-anregt/#comments Wed, 24 Jan 2024 08:18:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=15760

Im Dezember hat die neue PISA-Studie bestätigt, was viele schon haben kommen sehen: die schlechtesten Ergebnisse aller Zeiten für Deutschland, ein dramatischer Absturz seit 2018 – wie in vielen anderen Ländern auch. Nicht so in Japan; dort sind die Leistungen in Mathematik gestiegen. Seit Jahren belegt das Land Spitzenplätze in den Rankings. Das Schulportal hat sich den Matheunterricht in Japan genauer angesehen – mit überraschenden Befunden. Alexander Brand berichtet.

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Betritt man zum ersten Mal ein japanisches Klassenzimmer, scheinen sich alle Vorurteile über Unterricht in Asien zu bestätigen. Die Schülerinnen und Schüler sitzen getrennt an Einzeltischen und blicken nach vorne. Alle tragen die gleiche Uniform: ein weißes Hemd mit Krawatte, dunkelblauen Blazer und graue Hose oder Rock. Die Haare sind bei den Jungen kurz, bei den Mädchen stets im Pferdeschwanz gebunden. Der Mathelehrer steht vorn an der langen Kreidetafel und referiert.

Alexander Brand, Redakteur Schulportal

Drill, Druck und Nachhilfe – so erklären sich hierzulande viele den PISA-Erfolg von Ländern wie Japan. Diese Klischees kommen nicht von ungefähr. Ein Großteil der japanischen Schülerinnen und Schüler nimmt private Nachhilfe, um sich auf die Aufnahmeprüfung für die Universität vorzubereiten. Diese stressige Zeit beginnt meist im letzten Jahr der Junior High School, also in der neunten Klasse.

Doch die Schuljahre bis dahin sind von deutlich weniger Prüfungsdruck und Nachhilfe geprägt. Die Kinder lernen gemeinsam und ohne frühe Selektion wie in Deutschland. Die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler, die an PISA teilnehmen, haben damit den größten Teil ihrer Schulzeit in einem System ohne besagten Druck und außerschulische Nachhilfe verbracht. Diese Faktoren allein können das gute Abschneiden also nicht erklären.

Entscheidend ist der zweite Blick: Nach zehn Minuten hat der Lehrer seine Einführung zur Wahrscheinlichkeitsberechnung beendet, die Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe sollen mehrstufige Baumdiagramme zeichnen. Zuerst versuchen sie sich allein an den Aufgaben. Und dann, ohne dass der Lehrer ein Zeichen gibt, stehen die Jugendlichen allmählich auf und suchen sich eine Kleingruppe, um ihre Ideen zu besprechen. Es wirkt wuselig, es wird gelacht. Später stellen verschiedene Schülergruppen ihre Lösungswege an der Tafel vor. Der Mathelehrer moderiert die Diskussion.

Japanische Mittelstufenschüler knobeln an einer Matheaufgabe (Bild:
© Alexander Brand)

Greifen die gängigen Stereotypen zu asiatischem Matheunterricht vielleicht doch zu kurz?

Anderer Unterricht, bessere PISA-Ergebnisse?

Was viele nicht wissen: Neben den Leistungen von 15-Jährigen erfasst die PISA-Studie auch bestimmte Unterrichtsmerkmale. Als PISA im Jahr 2012 das letzte Mal einen Schwerpunkt auf Mathematik legte, sollten die teilnehmenden Jugendlichen auch angeben, welche Unterrichtsstrategien sie erlebt hatten.

Mit mehreren Items fragte die Studie ab, wie oft die Jugendlichen einen lehrergesteuerten Unterricht, einen schülerorientierten Unterricht oder einen kognitiv aktivierenden Unterricht wahrgenommen haben. Welche Unterrichtsstrategien erhöhen die Wahrscheinlichkeit, eine Mathematikaufgabe richtig zu lösen? Wo besteht ein negativer Zusammenhang? Ein Forschungsteam der OECD hat diese statistischen Zusammenhänge für jedes Land untersucht und zusammengefasst. Untersucht wurde auch, ob bestimmte Unterrichtsansätze bei schweren oder leichten Matheaufgaben besser funktionieren.

Wie PISA diese Unterrichtsstrategien definiert

Lehrergesteuerter Unterricht

Die Lehrkraft …

  • gibt vor, was gelernt werden soll,
  • setzt klare Ziele,
  • fasst die letzte Unterrichtsstunde kurz zusammen,
  • stellt Fragen, um zu überprüfen, ob das Gelernte verstanden wurde.
Schülerorientierter Unterricht

Die Lehrkraft …

  • stellt unterschiedliche Aufgaben für Lernende mit unterschiedlichem Leistungsniveau,
  • sieht Projekte vor, die mindestens eine Woche dauern,
  • lässt die Lernenden in kleinen Gruppen arbeiten,
  • fordert Lernende auf, sich an der Planung des Unterrichts zu beteiligen.
Kognitive Aktivierung

Die Lehrkraft …

  • stellt Aufgaben, die auf verschiedene Weise gelöst werden können,
  • stellt Aufgaben, bei denen die Lernenden das Gelernte in neuen Situationen anwenden müssen,
  • fordert die Lernenden auf, über ihre eigenen Lösungswege zu entscheiden,
  • fordert die Lernenden auf zu erklären, wie sie ein Problem gelöst haben,
  • stellt Fragen, die zum Nachdenken über ein Problem anregen.

 

Die Ergebnisse überraschen. Auf allen Schwierigkeitsstufen besteht ein negativer Zusammenhang zwischen schülerorientiertem Unterricht und dem erfolgreichen Lösen von Mathematikaufgaben. Je schülerorientierter der Unterricht war – zumindest im Sinne der PISA-Definition –, desto schlechter waren die Leistungen. Bei lehrergesteuertem Unterricht sind die Ergebnisse gemischt: Bei einfachen Aufgaben ist der Zusammenhang leicht positiv, bei mittelschweren und schweren Aufgaben wird er leicht negativ. Nur bei der kognitiven Aktivierung besteht unabhängig vom Schwierigkeitsgrad ein positiver Zusammenhang.

 

 

Dass lehrergesteuerter Unterricht den PISA-Erfolg besser vorhersagt als schülerorientierter Unterricht, bezeichnet PISA-Studienleiter Andreas Schleicher als „eines der am meisten diskutierten Ergebnisse von PISA“. Manche würden es für einen statistischen Zufall halten, so Schleicher, es sei aber ein stabiles Ergebnis. Es liege auch nicht daran, dass lehrergesteuerter Unterricht häufiger in den ostasiatischen Ländern anzutreffen sei, die aus anderen Gründen bei PISA gut abschneiden; das Muster gebe es in Ost und West.

Schleicher widerspricht auch dem Argument, dass lehrergesteuerter Unterricht nur gut auf Tests vorbereite, in denen es um das Abrufen von auswendig Gelerntem gehe. Bei PISA müssten die Schülerinnen und Schüler über Fächergrenzen hinweg denken und ihr Wissen kreativ in neuen Situationen anwenden. Er schreibt: „Vielleicht ist es an der Zeit, damit aufzuhören, den lehrergesteuerten und schülerorientierten Unterricht gegeneinander auszuspielen und zu behaupten, der eine sei altmodisch und erdrückend, der andere zukunftsorientiert und förderlich.“ Beide Ansätze hätten eindeutig ihre Berechtigung.

Vielleicht ist es an der Zeit, damit aufzuhören, den lehrergesteuerten und schülerorientierten Unterricht gegeneinander auszuspielen und zu behaupten, der eine sei altmodisch und erdrückend, der andere zukunftsorientiert und förderlich.

Andreas Schleicher (aus dem Englischen übersetzt)

Die kognitive Aktivierung im Unterricht ist entscheidend

Ein Blick auf die Ergebnisse zeigt aber auch: Wenn es darum geht, bei den mittelschweren und schweren Mathematikaufgaben zu punkten, reicht weder ein lehrergesteuerter noch ein schülerorientierter Unterricht aus. In der Bildungsforschung werden diese Strategien den sogenannten Oberflächenstrukturen von Unterricht zugeordnet – sie sind leicht zu beobachten, aber kaum wirksam für den Lernerfolg. Viel wichtiger sind die Tiefenstrukturen: Was passiert in den Köpfen der Kinder? Unterstützt die Lehrkraft ausreichend? Gibt es ein förderliches Lernklima? Gerade der Punkt der kognitiven Aktivierung scheint zentral zu sein. Sie ist umso wichtiger, je anspruchsvoller die PISA-Aufgabe ist.

Werden im Mathematikunterricht also Aufgaben behandelt, die zum Nachdenken anregen und nicht nach Schema F gelöst werden können? Um solche Fragen zu untersuchen, wurden für die 2020 erschienene TALIS-Videostudie zahlreiche Mathestunden der achten Klasse gefilmt und ausgewertet. Neben Deutschland waren Japan, China, England, Spanien, Chile, Kolumbien und Mexiko beteiligt.

Wie misst die TALIS-Videostudie kognitive Aktivierung im Unterricht?

Die Videostudie beurteilt die kognitive Aktivierung im Unterricht nach sechs Kriterien.

  • Denkweise der Schülerinnen und Schüler ergründen: Vielzahl an Schülerbeiträgen ist sichtbar, Lehrkraft regt zu detaillierten Antworten an
  • Anspruchsvolle Fragen: Fragen zielen auf Begründungen, Zusammenführungen, Analysen oder Vermutungen ab
  • Explizite Verknüpfungen: Verknüpfungen zwischen verschiedenen Aspekten der Mathematik werden hergestellt
  • Mehrere Lösungswege: Lernende nutzen mehrere Lösungsstrategien und Begründungen
  • Mathematisches Verständnis: Lernende erklären, warum ein Verfahren funktioniert oder was dessen Ziele oder Merkmale sind
  • Beschäftigung mit kognitiv anspruchsvollen Inhalten: Aufgaben erfordern ein tieferes analytisches, beurteilendes oder kreatives Denken

 

Für Deutschland sind die Ergebnisse ernüchternd. Japan hingegen liegt bei der kognitiven Aktivierung auch im internationalen Vergleich an der Spitze.

  • In Deutschland wurden nur 12 Prozent der Klassen im Unterricht häufig mit herausfordernden Aufgaben konfrontiert. In Japan war es fast jede zweite Klasse (46 Prozent).
  • Knapp jede vierte Klasse in Deutschland (24 Prozent) wurde überhaupt nicht mit herausfordernden Aufgaben konfrontiert. In Japan war dies in nahezu keiner Klasse der Fall.
  • In Japan ging jede zweite Erklärung der Lehrkraft auf tiefere mathematische Inhalte ein (55 Prozent), in Deutschland nur knapp jede fünfte Erklärung (18 Prozent).

Da es sich bei der deutschen Stichprobe überwiegend um Gymnasien handelt, ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse für Deutschland sogar nach oben verzerrt sind.

Strukturiertes Problemlösen

Solche Befunde sind nicht neu. Bereits in den 90er-Jahren, als im Rahmen der TIMSS-Studie die erste internationale Videostudie zum Mathematikunterricht veröffentlicht wurde, zeichnete sich ein ähnliches Bild ab. Während in Japan in 42 Prozent der Mathestunden verschiedene Lösungswege der Schülerinnen und Schüler diskutiert wurden, waren es in Deutschland nur 14 Prozent.

Die Bildungsforscher James Stigler und James Hiebert analysierten damals die gefilmten Unterrichtsszenen. Dabei fiel ihnen ein typisches Muster für den kognitiv aktivierenden Unterricht in Japan auf: Zuerst fasst die Lehrkraft das Ergebnis der letzten Stunde zusammen. Dann stellt sie ein Problem vor, das die Grundlage der Stunde bildet. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten zunächst allein, dann in Kleingruppen an einer Lösung. Die verschiedenen Lösungen werden anschließend im Plenum vorgestellt und diskutiert. Dabei kommentiert und verknüpft die Lehrkraft die Ideen und fasst am Ende die wichtigsten Punkte zusammen. Stigler und Hiebert bezeichnen diesen Unterrichtsansatz als „strukturiertes Problemlösen“.

Kooperatives Lernen statt Individualisierung

Solche Ansätze sind auch knapp 30 Jahre nach der ersten Videostudie präsent, so beschreibt es ein Mathelehrer für die Oberstufe. „Natürlich haben die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Leistungsniveaus“, sagt er. „Aber ein und dieselbe Frage kann einen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad haben.“ In der Fachdidaktik nennt man solche Aufgaben selbstdifferenzierend. Und nicht jedes Kind müsse alle vorgestellten Lösungswege nachvollziehen können, so der Oberstufenlehrer.

Dieses Prinzip erkannten Stigler und Hiebert auch in den Unterrichtsvideos: Während im Westen die Lehrkräfte den leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern einfache Aufgaben stellten, würden die japanischen Lehrkräfte die Heterogenität in der Klasse als Ressource sehen. Denn gerade die Vielfalt an Lösungsansätzen, die man in einer heterogenen Klasse erhält, ermögliche es den Lernenden, diese zu vergleichen und Verbindungen zwischen ihnen herzustellen. Mit anderen Worten: Lehrkräfte in Japan begegneten der Heterogenität im Klassenzimmer mit kooperativem statt individualisiertem Lernen. 

Natürlich haben die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Leistungsniveaus, aber ein und dieselbe Frage kann einen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad haben.

Mathematiklehrer aus Japan

 

Drill und Problemlösen – wie passt das zusammen?

Wie passt das zu der landläufigen Meinung, Unterricht in Asien bestehe aus Drill und Auswendiglernen? Die Antwort des Mathelehrers: Das Problemlösen ist immer erst der zweite Schritt. Zuerst müssten die Grundlagen erklärt und eingeübt werden – und ja, das bedeute auch, dass die Schülerinnen und Schüler viele Formeln verinnerlicht haben müssen. Auch das konnten Stigler und Hiebert in den Videos von damals beobachten.

Aber diese Formeln seien wie Werkzeuge, sagt der Lehrer. Sie würden kombiniert, um neue Formeln abzuleiten und neue, anspruchsvolle Probleme zu lösen. Erst dann beginne die Mathematik. Das sei ein bisschen wie Vokabeln in einer Fremdsprache. Man muss sie auswendig können, aber dann auch richtig kombinieren.

Jeden Tag ein zehnminütiges Zeitfenster für einen “Rechen-Drill”

Auch ein solides Vorwissen ist wichtig. In der Grundschule gibt es jeden Tag ein zehnminütiges Zeitfenster für einen „Rechen-Drill“. Alle Klassen bekommen ein DIN-A3-Blatt mit 100 einfachen Rechenaufgaben – plus, minus, mal, geteilt. Die Lehrerin steht vorne und stoppt die Zeit, während die Kinder eifrig ihre Antworten aufschreiben. Nach fünf Minuten sind alle fertig, dann wird fünf Minuten lang im Chor korrigiert. Die Idee dahinter: Wenn diese Grundlagen automatisiert werden, schafft das im Gehirn Kapazität für komplexere Aufgaben.

Es fällt schwer, den japanischen Mathematikunterricht in eine Schublade zu stecken. Obwohl die Lehrkraft den Unterricht steuert, dominieren die Denkprozesse der Lernenden. Trotz geringer Individualisierung fordert der Unterricht die Schülerinnen und Schüler auf ihrem jeweiligen Niveau heraus. Formeln müssen zwar auswendig gelernt werden, aber mehr als in Deutschland steht die Kreativität im Vordergrund.

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Kanamori: Schüler auf das Leben vorbereiten https://condorcet.ch/2020/02/kanamori-schueler-auf-das-leben-vorbereiten/ https://condorcet.ch/2020/02/kanamori-schueler-auf-das-leben-vorbereiten/#respond Wed, 05 Feb 2020 10:02:37 +0000 https://condorcet.ch/?p=3785

Das japanische Bildungssystem ist zwar ausserordentlich erfolgreich, geniesst in unseren Landen jedoch einen zwiespältigen Ruf. Drill, unmenschlicher Leistungsdruck und hohe Suizidraten sind hier jeweils die Schlagworte, welche im Zusammenhang mit diesem Land genannt werden. Es gibt aber auch andere Signale und Eigenheiten, von denen hier niemand Kenntnis nimmt. Der japanische Pädagoge Toshiro Kanamori (bekannt geworden durch den Film "Children Full of Life: Learning to Care") hat sich als Primarschullehrer das Ziel gesetzt, seinen Kindern nicht nur das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, sondern sie umfassend auf das Leben vorzubereiten. Peter Aebersold stellt Kanamoris Arbeit vor.

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Toshiro Kanamori, japanischer Pädagoge: Die Klassengemeinschaft im Zentrum

Sie sollten in ihrem Leben glücklich sein und auch schwierige Situationen meistern können. Die Lektionen für das Leben, sind Kanamoris Antwort auf Leistungsdruck, Isolation (Hikikomori), Verbergen von Gefühlen (Tatemae) und Selbstmord (Seppuku) in der traditionellen japanischen Kultur und ihrer Ausrichtung auf die westliche Welt.

Wichtig ist die Klassengemeinschaft

Die Herstellung einer emotionalen Verbundenheit in der Klassengemeinschaft steht dabei im Mittelpunkt. Die Schüler sollen ihre eigenen Gefühle kennen lernen und sich in ihre Mitschüler einfühlen können. Die Klassengemeinschaft soll für die Schüler zum Vorbild für das spätere, verantwortungsvolle und freudige Mittun in der Gemeinschaft werden, sie emotional zur Überwindung von Schwierigkeiten stärken und ihnen Vertrauen geben, dass die Freunde sie dabei unterstützen werden.

“Indem sie ihr Leben miteinander teilen, beginnen die Kinder zu erkennen, wie wichtig es ist, sich um ihre Klassenkameraden zu kümmern”.

Plakat zum Film

Der Dokumentarfilm Children Full of Life von Noboru Kaetsu aus dem Jahre 2003 ist ein intimes Porträt von Kanamori und seinem Klassenzimmer, das auf subtile Weise einen Weg für alle Pädagogen darstellt, die sich der Herausforderung stellen, die Schüler auf das Leben vorzubereiten. Er fängt während eines Schuljahres außergewöhnliche Momente der Dramen und der Emotionen in einem einzelnen japanischen Klassenzimmer ein und zeigt, wie Kanamori die Zukunft seiner 35 Schüler gestaltet: Er ermutigt sie, ihre Gedanken und Gefühle in ein Heft zu schreiben. Jeder Unterrichtstag beginnt damit, dass drei Kinder ihren Klassenkameraden die Notizen vorlesen und die Kinder miteinander darüber reden. Indem sie ihren Freunden offen sagen, was ihnen durch den Kopf geht, über ihre Gefühle und über Ereignisse in ihrem Leben sprechen, fühlen sich die Kinder nicht nur verbunden, sondern gewinnen auch an Kraft, auf ihren eigenen Füssen stehen zu können. Die Schüler suchen gemeinsam nach Wegen, wie sie gestörte Beziehungen, Unglück und den Verlust von geliebten Menschen verstehen und damit umgehen können.

“Wir gehen in die Schule, um glücklich zu sein und glücklich zu machen. Wenn ein einzelner Mensch nicht glücklich ist, ist niemand glücklich.”

Im Film erzählt ein Mädchen, was die Lektion für das Leben von Kanamori bedeutet: “Wir gehen in die Schule, um glücklich zu sein und glücklich zu machen. Wenn ein einzelner Mensch nicht glücklich ist, ist niemand glücklich.”

Im Laufe des Jahres wächst ihr Gemeinschaftsgefühl, wenn sie ihre Erfahrungen teilen und den Wert des Lebens und der Sorge um die Gefühle des anderen verstehen lernen. Das geschieht auch, wenn die Klasse zusammen Flosse baut, sich an einem Bach oder beim Schlitteln vergnügt oder über den Tod eines Vaters oder einer Großmutter gemeinsam trauert, für ein Mädchen, das in eine andere Stadt zieht, ein selbst gedichtetes und komponiertes Abschiedslied singt oder für einen Freund einsteht, der ihrer Meinung nach vom Lehrer zu hart bestraft wurde.

„Ich habe die Sprach- und Denkfähigkeiten kultiviert mit einer direkten Verbindung zu den Lebenskompetenzen. Das führt zu einem hohen Schulniveau“.

Hohes Unterrichtsniveau
Bild: AdobeStock

Die Schulleistung ist für Kanamori ebenso wichtig. Weil sich die Kinder im Klassenzimmer wohler fühlen, sind sie lernfähiger. Das Arbeitstempo ist daher hoch. Er betont, dass seine Art zu arbeiten nicht im Widerspruch zum Erreichen guter Leistungen stehe: „Ich habe die Sprach- und Denkfähigkeiten kultiviert mit einer direkten Verbindung zu den Lebenskompetenzen. Das führt zu einem hohen Schulniveau“.

Kanamori bildet an der Hokuriku-Gakuin-Universität Grundschullehrer aus

Kanamoris Ansatz ist ein sehr gutes Beispiel für John Hatties Meta-Meta-Studien-Befund, dass es in erster Linie „auf den Lehrer ankommt“, wie er die Schüler und die Klassengemeinschaft auf das Leben vorbereitet. „Der erste Lehrer“ ist für spätere Literaten (und nicht nur für diese) wie Tschingis Aitmatow und Albert Camus von besonderer Bedeutung für ihre Erziehung, Bildung und ihr ganzes Leben gewesen. (Albert Camus: „Mr. Bernard, sein Lehrer der letzten Volksschulklasse, hatte in einem bestimmten Moment sein ganzes Gewicht als Mann eingesetzt, um das Schicksal dieses Kindes zu ändern und er hatte es tatsächlich geändert.“) Das gilt nicht nur in Bezug auf die schulischen Leistungen, sondern ebenso für die Entwicklung von Sozialkompetenzen für verantwortungsbewusstes Handeln für Leben und Umwelt mit Hilfe der Sozialform des Klassenunterrichts. Die Erfahrungen aus der Lehrerpraxis zeigen, dass sich Schüler nicht auf das Lernen einstellen können, wenn sie noch mit einem (negativen) Ereignis in der Klassengemeinschaft beschäftigt sind, solange der Lehrer dazu nicht klar Stellung bezogen hat.

Zu Toshirō Kanamori

Kanamori wuchs auf einem Bauernhof in Nanao (früher Nakajima) in der Präfektur Ishikawa auf. Er studierte an der Pädagogischen Fakultät der Universität Kanazawa Philosophie und Pädagogik, wo er auch abschloss. Nach dem Studium unterrichtete er 38 Jahre als Grundschullehrer an verschiedenen japanischen Schulen. Unter seinem pädagogischen Motto „Fühl dich in deine Freunde ein, um glücklich zu sein“ erforscht Kanamori seit den 1980er Jahren verschiedene Wege der Verbindung zwischen Mensch und Natur. Er liess sich von der europäischen Tradition der Bildungsreformer inspirieren, von denen ihn Johann Heinrich Pestalozzi am meisten beeindruckte.

Das Glück kommt aus der Beziehung des Menschen

In seinem 2003 von der Japan Broadcasting Corporation (NHK) produzierten Dokumentarfilm “Children Full of Life” (Kinder voller Leben, glückliche Klasse der Tränen und des Lachens), zeigt er, wie er in einer seiner Klassen die Schüler auf das Leben vorbereitet. Für ihn kommt das Glück aus der Beziehung zwischen den Menschen. Der Dokumentarfilm war sehr erfolgreich, erhielt mehrere Auszeichnungen und fand ein weltweites Echo. Dadurch erhielt seine Bildungsphilosophie und -praxis die Aufmerksamkeit der Bildungsgemeinschaft und anderer Bereiche im Gesundheits- und Sozialwesen. Im März 2007 trat Kanamori als Grundschullehrer in den Ruhestand und lehrte anschliessend bis 2017 als Professor in der Abteilung für frühkindliche Bildung an der Hokuriku Gakuin Universität in Kanazawa.

 

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Toshir%C5%8D_Kanamori

https://de.wikipedia.org/wiki/Children_Full_of_Life

Dokumentarfilm “Children of Life” auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=uJhqdDoBp1w

Nickel van der Vorm: Toshiro Kanamori. In: Improving the Quality of Childhood in Europe, Volume 5, 2014

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