Innovation - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 13 Feb 2024 09:38:54 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Innovation - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Der Mensch als Symbiose von Gehirn und Kultur, 1. Teil https://condorcet.ch/2024/02/der-mensch-als-symbiose-von-gehirn-und-kultur-1-teil/ https://condorcet.ch/2024/02/der-mensch-als-symbiose-von-gehirn-und-kultur-1-teil/#respond Tue, 13 Feb 2024 09:38:54 +0000 https://condorcet.ch/?p=15939

Vor einem Jahr veröffentlichte der emer. Professor und Condorcet-Autor Walter Herzog seine Kritik der Neuropädagogik, die im Condorcet-Blog unter dem Titel Lehrende und lernende Gehirne erschienen ist (s. [Condorcet-Blog 30.6.2023, 2.7.2023 und 8.7.2023]). Wie damals angekündigt, erklärt er uns in diesem Folgebeitrag, wie aus den Ergebnissen der Hirnforschung Folgerungen für Erziehung und Unterricht abzuleiten sind. Wir präsentieren Ihnen heute den ersten Teil seiner Schlussfolgerungen.

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In meiner Kritik der Neuropädagogik, die im Condorcet-Blog unter dem Titel Lehrende und lernende Gehirne erschienen ist (s. [Condorcet-Blog 30.6.2023, 2.7.2023 und 8.7.2023]), habe ich als ungelöstes Problem einer neurowissenschaftlichen Fundierung der Pädagogik die Überbrückung des Grabens zwischen der sinnfreien Wirklichkeit des Gehirns und der sinnhaften Wirklichkeit von Erziehung und Unterricht hervorgehoben. Bloss davon überzeugt zu sein, dass geistige und psychische Phänomene durch Vorgänge im Gehirn realisiert werden, genügt nicht, um zwischen den physischen Mechanismen, die von einer naturwissenschaftlichen Analyse des Gehirns aufgedeckt werden, und dem bedeutungshaltigen Geschehen in einer Schulklasse Beziehungen herzustellen oder aus Ergebnissen der Hirnforschung Folgerungen für Erziehung und Unterricht abzuleiten. Wir müssen erklären können, wie das eine aus dem anderen hervorgeht.

Der emeritierte Berner Professor Walter Herzog:

In der Philosophie des Geistes wird häufig zwischen einfachen und schweren Problemen der wissenschaftlichen Erklärung von Bewusstseinsphänomenen unterschieden (vgl. Anderson, 2022). Die einfachen Probleme betreffen Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungs- und Gedächtnisprozesse sowie elementare kognitive Leistungen, von denen angenommen wird, dass sie eine neuronale Grundlage haben. Die schweren Probleme betreffen die Frage, wie sich naturwissenschaftlich erklären lässt, dass unser Bewusstsein eine subjektive Seite aufweist, insofern wir Wahrnehmungen oder Empfindungen auf eine bestimmte Weise erleben. Es ist eine Sache, für ein Angstgefühl oder eine euphorische Gestimmtheit eine neurologische Grundlage zu finden, aber eine ganz andere, das mit der Angst oder Stimmung verbundene subjektive Erleben neurowissenschaftlich zu erklären.

Noch schwieriger wird es allerdings, wenn wir erklären wollen, wie in einer materiellen Welt Sinn und Bedeutung vorkommen können, und zwar nicht als blosses Gefühl von Sinnhaftigkeit, sondern als objektiver Sinn, den wir miteinander teilen, wie zum Beispiel im Falle von politischen Überzeugungen, wissenschaftlichen Erkenntnissen oder sprachlicher Bedeutung. Wie kommt es, dass wir das Gleiche meinen, wenn wir ein gleiches Sprachzeichen verwenden? Durch die Aufsummierung individueller Gehirnzustände lässt sich jedenfalls nicht erklären, dass Menschen in einer Welt leben, über deren Merkmale sie in wesentlicher Hinsicht übereinstimmen.

Ich bilde mir nicht ein, dieses wirklich schwierige Problem lösen zu können, glaube jedoch, dass wir eine Argumentation aufbauen können, die uns einer Lösung näherbringt. Dazu werde ich im 1. Teil meines vierteiligen Beitrags ausführen, weshalb die Mittel der Neurowissenschaften nicht ausreichen, um psychische und geistige Phänomene zu erklären. Im 2. Teil werde ich skizzieren, wie eine Lösung des Problems zumindest denkbar sein könnte. Dazu werde ich einerseits auf entwicklungspsychologische und hirnphysiologische Arbeiten zurückgreifen und andererseits auf neuere Forschung zu Themen wie Theory of Mind, Exekutivfunktionen und Intentionalität eingehen. Im Zentrum des 3. Teils werden die Arbeiten des kanadischen Neuropsychologen Merlin Donald zur Evolutionsgeschichte des Menschen stehen, die meiner Meinung nach eine plausible Erklärungsskizze zur Entstehung der spezifisch menschlichen kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten geben. Im 4. Teil werde ich aus meinen Ausführungen zur «Symbiose von Gehirn und Kultur» – eine Formulierung, die ich von Donald (2008) übernehme – einige Konsequenzen ziehen, die gewisse Denkgewohnheiten, wie sie vor allem in der Didaktik verbreitet sind, radikal infrage stellen.

Wenig Neues unter den Gehirnen

Wollten wir dem Neurophysiologen und Hirnforscher Wolf Singer (2002) folgen, dann hätten unsere Gehirne das Problem der Überbrückung des Grabens zwischen materieller und sozialer Wirklichkeit längst schon aus eigenem Antrieb gelöst. Die Grenze zur mentalen Wirklichkeit sollen sie nämlich überschritten haben, als sie «damit begannen, ihre Umwelt abzubilden» (S. 40) und «Begriffe und Symbole für Erfahrungen zu erfinden» (ebd.). Die Gehirne selbst «fügten der vorgefundenen materiellen Welt eine weitere Ebene hinzu, die aus immateriellen Konstrukten, Beschreibungen und Zitaten besteht» (ebd.). Aber weshalb hätten sie dergleichen tun sollen? Und wie sollten sie dies zustande gebracht haben?

Wolf Singer, Hirnforscher: Unplausible Argumente

Wie unplausibel Singers Annahme ist, zeigt die Tatsache, dass sich das Gehirn des Menschen von den Gehirnen anderer Säugetiere nicht wesentlich unterscheidet. Wenn wir uns an den Hirnforscher Gerhard Roth (1997) halten, dann entspricht das menschliche Gehirn sowohl in seinem Grundaufbau wie in den Einzelheiten nicht nur dem Gehirn anderer Säugetiere, sondern auch anderer Wirbeltiere. «Am menschlichen Gehirn kann im Vergleich zu den ihm stammesgeschichtlich nahestehenden Tieren nichts grundlegend Neues und Anderes festgestellt werden» (S. 76). Mit Ausnahme seiner Grösse ist unser Gehirn von den Gehirnen unserer biologisch nächsten Verwandten kaum zu unterscheiden.

Das menschliche Gehirn ist etwa dreimal so gross wie dasjenige eines Affen derselben Körpergrösse, wobei schon Affen gegenüber anderen Säugetieren über relativ grosse Gehirne verfügen. Das heisst auch, dass das Gehirn des Menschen stammesgeschichtlich schneller an Volumen zugenommen hat als sein übriger Körper. Vor allem der präfrontale Cortex ist beim Menschen volumenmässig stärker ausgebildet als bei anderen Primaten. Das ist für das Verständnis der so genannten Exekutivfunktionen des Gehirns von besonderer Bedeutung. Wir werden im 2. Teil dieses Beitrags näher darauf eingehen.

Aufgrund der Ähnlichkeit des menschlichen Gehirns mit den Gehirnen anderer höherer Lebewesen lassen sich die besonderen Leistungen, zu denen Menschen im kognitiven Bereich fähig sind, durch die Hirnforschung allein nicht erklären. Dem entspricht, dass sich das menschliche Gehirn in den letzten rd. 50’000 Jahren anatomisch kaum verändert hat. Wie kann es sein, dass dasselbe Gehirn, das selbst vor 15’000 Jahren noch nichts von Landwirtschaft, Viehhaltung und phonetischer Schrift wusste, innert kürzester Zeit, nämlich in den letzten rd. 200 Jahren, zu Leistungen wie der Erfindung der Eisenbahn, der Glühbirne, des Penicillins, der Raumfahrt, des Computers und des Internets fähig war?

Im Unterschied zur biologischen Evolution, die nur langsam voranschreitet, da organismische Veränderungen auf genetischer Basis weitergegeben werden müssen, verfügt die kulturelle Evolution über eine beschleunigte Form der Tradierung, da Neuerungen durch individuelles Lehren und Lernen vermittelt werden können.

Die Kultur als Wasserscheide

Die naheliegende Antwort lautet, dass es dem Menschen dank Verknüpfung seines Gehirns mit kulturellen Innovationen möglich war, diese Leistungen zu erbringen. Im Unterschied zur biologischen Evolution, die nur langsam voranschreitet, da organismische Veränderungen auf genetischer Basis weitergegeben werden müssen, verfügt die kulturelle Evolution über eine beschleunigte Form der Tradierung, da Neuerungen durch individuelles Lehren und Lernen vermittelt werden können. Einmal in Gang gesetzt, konnte die kulturelle Entwicklung an Fahrt aufnehmen, ohne dass dazu Veränderungen des Gehirns oder des Genoms notwendig waren.

Jared Diamond, amerikanischer Biologe und Physiologe, Autor: Der rapide Wandel der menschlichen Lebensform setzte aber erst vor 40’000 Jahren ein.

Je nach Strenge der Definition, finden sich Spuren menschlicher Kultur bereits vor rd. 2.5 Millionen Jahren, beginnend mit der Gattung Homo habilis, oder aber erst seit rd. 200’000 Jahren mit dem Erscheinen des anatomisch modernen Menschen, Homo sapiens (vgl. Diamond, 2003, S. 49ff.; Haidle, 2008, S. 155; Tomasello, 2014, S. 84). Der rapide Wandel der menschlichen Lebensform setzte aber erst mit dem von Jared Diamond (2003) so genannten «grossen Sprung nach vorn» ein. Ereignet hat er sich vor ca. 40’000 Jahren, als die letzte Eiszeit allmählich ihrem Ende zuging. Zeichen der beschleunigten Veränderung sind nicht nur verfeinerte Werkzeuge, Schmuck, Höhlenmalereien, Figurinen, Knochenschnitzereien, Musikinstrumente und Grabbeigaben, sondern auch die zunehmende kulturelle Divergenz der menschlichen Gemeinschaften. Auch unsere negativen Seiten, eingeschlossen Gewaltbereitschaft, kriegerische Auseinandersetzungen und Genozid, gehören zu unserem kulturellen Erbe und können nicht aus unserer animalischen Natur abgeleitet werden (vgl. Diamond, 2003, S. 346ff.).

Es spricht viel dafür, dass Homo sapiens über Sprache verfügte, jedoch würde es zu kurz greifen, Kultur auf Sprache zu reduzieren. Eine minimale Definition von Kultur sieht in dieser ein kollektives System von Zeichen und Symbolen, mit denen Wirklichkeit repräsentiert und Wissen tradiert wird. Anders als seinen genetisch nächsten Verwandten, den Schimpansen und Bonobos, ist es dem Menschen gelungen, im Laufe seiner Evolutionsgeschichte den Schritt zur symbolischen Repräsentation von Wirklichkeit zu machen. Symbole ermöglichen es, den Strom des Bewusstseins vorübergehend zu unterbrechen, im Verhalten Zäsuren zu setzen und sich Sachverhalte vor Augen zu führen, die aktuell nicht gegeben sind. Wörtlich genommen meint Repräsentation Vergegenwärtigung. Da der Begriff der Repräsentation für unsere folgenden Überlegungen von zentraler Bedeutung ist, wollen wir ihn etwas genauer untersuchen.

Zum Begriff der Repräsentation

Wie Hans Jörg Sandkühler (2009) ausführt, sind Repräsentationen «das Ergebnis intentionaler Akte, d.h. einer gerichteten Wahrnehmung, Beobachtung, Erfahrung und Erkenntnis» (S. 60). Intentionalität im Sinne der bewussten Fokussierung eines Sachverhalts ist Voraussetzung für Repräsentation. Repräsentationen in Form von Bildern, Zeichen und Symbolen stehen für etwas Abwesendes, das durch die Repräsentation in die Gegenwart bzw. in unser aktuelles Bewusstsein gerufen wird. Insofern können Repräsentationen in Form von Erinnerungen, Gedanken oder Vorstellungen individuellen Charakter haben. Der Begriff der mentalen Repräsentation wird zumeist in diesem Sinn verstanden.

Das Moment der Intentionalität wird allerdings oft unterschlagen. So definieren der Neuropsychologe Dénes Szücs und die Neuropsychologin Usha Goswami (2007) mentale Repräsentation als Codierung von Information in Form von elektrochemischer Aktivität im Gehirn. Die Begriffe Codierung, Information und Repräsentation werden also nicht in einem zeichen- oder symboltheoretischen Sinn verwendet, sondern als rein physische Vorgänge (Feuern von Neuronen) in einem Netzwerk von Nervenzellen. Dieser Begrifflichkeit wollen wir uns nicht anschliessen.

Wenn Repräsentationen geteilt werden und eine gemeinsame Bedeutung haben sollen, dann genügt eine neurowissenschaftliche Sichtweise nicht, um den Begriff zu definieren. Es genügt aber auch nicht, wenn wir unter Intentionalität lediglich individuelle Intentionalität verstehen. Wenn ich mich allein auf eine Sache beziehe, kommt keine geteilte Bedeutung zustande. Wir müssen uns gemeinsam darauf beziehen, wenn wir uns mittels Zeichen oder Symbolen über einen Sachverhalt verständigen wollen. Während individuelle Intentionalität eine dreistellige Relation bildet – etwas bedeutet etwas für mich –, beruht geteilte Intentionalität auf einer vierstelligen Relation – etwas bedeutet etwas für uns, d.h. im Minimum für mich und dich.

Dem entspricht die Definition, die der britische Neurowissenschaftler Inman Harvey (2008) dem Begriff der Repräsentation gibt: «Ein Zeichen P wird von einer Person Q dazu verwendet, um gegenüber einer Person S auf ein Objekt R zu verweisen» (S. 228 – eigene Übersetzung). Wobei er ergänzt, dass die Personen Q und S Angehörige einer Gemeinschaft sind, die sich auf diese Art des Zeichengebrauchs geeinigt hat.

Zu wissen, was ein Zeichen bedeutet, heisst zu wissen, wie man das Zeichen gebraucht. Den Gebrauch lernt man im Austausch mit anderen, die bereits wissen, wie das Zeichen verwendet wird.

Harvey bestätigt damit, dass es ohne geteilte Intentionalität keine Zeichen oder Symbole geben kann. Nichts kann an sich ein Zeichen oder Symbol sein. Keine Repräsentation bezieht sich von sich aus auf einen Gegenstand, den sie repräsentiert. Zu wissen, was ein Zeichen bedeutet, heisst zu wissen, wie man das Zeichen gebraucht. Den Gebrauch lernt man im Austausch mit anderen, die bereits wissen, wie das Zeichen verwendet wird. Einmal gelernt, evoziert das Zeichen eine Vorstellung in unserem Bewusstsein. Das Wort ‹Hund› weckt die Vorstellung oder den Begriff eines Hundes, auch wenn aktuell kein Hund anwesend ist. Die Vorstellung selber ist aber nicht ihrerseits eine Repräsentation. Insofern gibt es keine inneren Repräsentationen im Sinne von neuronalen Repräsentationen im Gehirn, es sei denn, wir verwenden den Begriff in einem metaphorischen Sinn.

Insofern haben Maxwell Bennett und Peter Hacker (2010) recht, wenn sie den Begriff der Repräsentation als «Unkraut im Garten der Neurowissenschaften» (S. 188) bezeichnen, ein Unkraut, das mitsamt seinen Wurzeln ausgerottet werden sollte. Da dies jedoch kaum geschehen wird, müssen wir darauf achten, dieser Begriffsverwendung nicht zum Opfer zu fallen.

Repräsentation in den Neurowissenschaften

In den Neurowissenschaften ist allerdings oft von Repräsentation in genau diesem reduzierten Sinn einer lediglich drei- oder sogar nur zweistelligen Relation die Rede. Wie Szücs und Goswami (2007) spricht auch Singer (2002) von Repräsentation, wenn sensorische Signale aus der Umwelt oder aus dem eigenen Körper neuronal codiert werden. Ausdrücklich ist von einer «Repräsentation des Draussen» (S. 70) im Gehirn und einer «Repräsentation von Wahrnehmungsobjekten im Gehirn» (S. 95) die Rede. Damit wird unterstellt, dass zwischen dem wahrgenommenen Gegenstand und der Aktivierung von Nervenzellen im Gehirn eine (kausale) Entsprechung besteht. Diese kann aber nur physikalisch realisiert sein, womit ihr genau das abgeht, was mit dem Repräsentationsbegriff eingefangen werden soll, nämlich Sinn und Bedeutung.

Insofern haben Maxwell Bennett und Peter Hacker (2010) recht, wenn sie den Begriff der Repräsentation als «Unkraut im Garten der Neurowissenschaften» (S. 188) bezeichnen, ein Unkraut, das mitsamt seinen Wurzeln ausgerottet werden sollte. Da dies jedoch kaum geschehen wird, müssen wir darauf achten, dieser Begriffsverwendung nicht zum Opfer zu fallen. Weder können Sinnesorgane dem Gehirn bedeutungshaltige Informationen übermitteln, noch ist das Gehirn von sich aus in der Lage, Sinnesinformationen Bedeutung zuzuweisen. Die saloppe Rede von einem Wissen, das «ins Gehirn gelangt», die sich wiederum bei Wolf Singer häufig findet, unterschlägt das Problem, dass eine neurowissenschaftliche Beschreibung von Hirnprozessen den Horizont geteilter Bedeutungen nicht erreichen kann.

Da Gehirne auf einer rein syntaktischen Basis funktionieren, müsste die Semantik wie bei einem Computer in das Programm eingeschrieben werden, wobei als ‹Programmierer› die Evolutionsgeschichte in Frage käme.

Da Gehirne auf einer rein syntaktischen Basis funktionieren, müsste die Semantik wie bei einem Computer in das Programm eingeschrieben werden, wobei als ‹Programmierer› die Evolutionsgeschichte in Frage käme. Zwar werden solche Ansichten tatsächlich vertreten, wie zum Beispiel in der so genannten Biosemantik (vgl. Millikan, 1989), jedoch ist es mehr als fraglich, ob die menschliche Fähigkeit zum kreativen Gebrauch von sprachlichen und nicht-sprachlichen Bedeutungen in einem Computerprogramm erschöpfend abgebildet werden kann.

Gemäss dem Philosophen Hilary Putnam (1991), der früher selber eine Computeranalogie des menschlichen Geistes vertreten hat, ist die Verknüpfung zwischen Repräsentationen und ihren Bezugsgegenständen «kontingent und kann sich je nach den Veränderungen in der Kultur oder in der Welt wandeln» (S. 56). Was im Gehirn eines Menschen vor sich geht, wird daher nie ausreichen, um die Bedeutung eines Zeichens oder Symbols festzulegen. Wir müssen die Regeln und Konventionen kennen, durch die eine Gemeinschaft von Menschen deren Gebrauch festgelegt hat. Das geht nur, wenn wir das Gehirn verlassen und anerkennen, dass Repräsentationen nicht zwei- oder dreistellige, sondern vierstellige Relationen bilden.

Ernest Cassierer, Philosoph, 1874 -1945: Der Mensch ist ein “animal symbolicum”

Der Mensch, das symbolgebrauchende Tier

Tiere sind zu Repräsentationen in diesem Sinn nicht fähig. Weder vermögen sie sich mittels Zeichen gemeinsam auf Wirklichkeit zu beziehen, noch sind sie in der Lage, Erinnerungen aktiv in die Gegenwart zu rufen. Das gelegentlich angeführte Beispiel des Bienentanzes kann kaum als Beweis des Gegenteils dienen. Obwohl es verschiedentlich gelungen ist, Schimpansen in Gefangenschaft den Gebrauch von Zeichen beizubringen, sind auch sie nicht in der Lage, grammatikalische Regeln zu lernen und mehr als ein rudimentäres Lexikon aufzubauen. Freilebende Schimpansen bilden spontan keine Zeichen zur Repräsentation von Wirklichkeit. Allein vom Menschen kann man zu Recht sagen, er sei ein animal symbolicum, ein Ausdruck, den Ernst Cassirer (1990) in seinem Essay on Man eingeführt hat.

Aber wie ist es dem Menschen gelungen, zu einem symbolgebrauchenden Lebewesen zu werden? Oder, anders gefragt: Was musste geschehen, damit Gehirne, die per definitionem auf einer sinnfreien Basis funktionieren, Anschluss an kulturelle Errungenschaften gefunden haben, die per definitionem sinnhaft sind? Oder, nochmals anders gefragt: Wie konnte die Kultur Einfluss auf das menschliche Gehirn gewinnen, so dass dieses zu einem «symbolisierenden Organ» (Donald) wurde?

Der Neuropsychologe Merlin Donald (2008), auf den wir im 3. Teil ausführlicher zu sprechen kommen werden, spricht von einer «Symbiose von Gehirn und Kultur» (S. 219) und bestätigt damit, dass es für das Verständnis der kognitiven Leistungen des Menschen unzulänglich ist, sich auf die Erforschung seines Gehirns zu beschränken. Das Problem der Überbrückung von materiellem Gehirn und immaterieller Kultur kann nur gelöst werden, wenn wir in Rechnung stellen, dass kein Gehirn kontextfrei existiert. Ein Gehirn ist in einen Körper eingebunden, der zu einem Lebewesen gehört, das sich mit seiner Umwelt auseinandersetzt und Beziehungen zu anderen Lebewesen pflegt.

Die Neurowissenschaften täten gut daran, sich an der Evolutionsbiologie zu orientieren, die den Organismus und seine Umwelt als Einheit denkt. Wie für den Anthropologen Gregory Bateson (1985, S. 529ff.) die Analyseeinheit der Evolutionstheorie nicht das isolierte Lebewesen, sondern das Lebewesen-in-seiner-Umwelt ist, betonen die Biologen Richard Levins und Richard Lewontin (1985, S. 99), dass es nicht nur keinen Organismus ohne Umwelt, sondern auch keine Umwelt ohne Organismus gibt. Dabei wird der Begriff der Umwelt biologisch verstanden, d.h. nicht als physikalische Umgebung, sondern als ökologische Nische, die gleichermassen als Teil des Lebewesens zu verstehen ist wie dessen Gehirn. Auch die Neurowissenschaften sollten nicht isolierte Hirne erforschen, sondern Hirne in verkörperten Lebewesen, die ihrer natürlichen und sozialen Umwelt angepasst sind.

Kritik der neurowissenschaftlichen Forschungspraxis

Donald (2008) kritisiert die Forschungspraxis der Neurowissenschaften, die aufgrund restringierter Laborbedingungen nur einen engen Ausschnitt an psychischen und geistigen Phänomenen untersuchen können. Vor allem der zeitliche Rahmen neurowissenschaftlicher Studien

Merlin Donald, Kanada, Neuoanthropologe: Aufgrund restringierter Laborbedingungen nur enge Ausschnitte der Realität.

ist so gewählt, dass alltägliche Vorgänge ihrer Aufmerksamkeit entgehen. Bewusstseinsphänomene, die sich auf einer mittleren Zeitebene abspielen (Minuten oder Stunden), werden vom Raster der sich im Zehntel- und Hundertstelsekundenbereich bewegenden neuropsychologischen Studien nicht erfasst. Diese mittlere Zeitebene ist für unser alltägliches Verhalten aber von zentraler Bedeutung. Denken wir an ein Gespräch, das wir führen, oder an eine Tätigkeit, die wir ausüben. In unserem Alltag bewegen wir uns vorwiegend in diesem mittleren Zeithorizont.

Einen Schritt weiter geht Donald (2007a) in seiner Kritik, wenn er über eine dritte Form neuronaler Speicherung spekuliert. Da das menschliche Arbeitsgedächtnis nur relativ kurz nutzbar ist und in das Langzeitgedächtnis Informationen nur selektiv aufgenommen werden, bedarf es für mittelfristige Tätigkeiten wie das genannte Gespräch oder die Austragung eines sportlichen Wettkampfs einer Speicherungsmöglichkeit, die zwischen diesen beiden Gedächtnisformen liegt. Man kann sich dies gut am Beispiel von kontradiktorischen Gesprächen wie der «Rundschau» im Schweizer Fernsehen vor Augen führen. Teilnehmende an solchen Gesprächen machen sich oft Notizen, um der Gefahr zu begegnen, dass ihnen ein Gedanke, auf den sie während eines gegnerischen Votums gekommen sind, entfallen könnte. Sie erweitern ihr biologisches Gedächtnis, indem sie ein technisches Hilfsmittel nutzen.

Obwohl heute kaum noch jemand einen solchen ontologischen Dualismus vertritt, sind die Neurowissenschaften, wie Maxwell Bennett und Peter Hacker (2010) in ihrer gründlichen Analyse nachweisen, «noch immer nicht aus Descartes’ Schatten herausgetreten» (S. 145). An die Stelle des isolierten immateriellen cartesischen Geistes setzen sie das genauso isolierte materielle Gehirn.

René Descartes, Philosoph, Mathematiker, Naturwissenschaftler 1596-1670: Postuliere eine strikte Trennung von geistigen und materiellen Phänomenen.

Die Hirnforschung im Schatten Descartes’

Die Neurowissenschaften werden oft dafür kritisiert, dass sie bei allen Lippenbekenntnissen des Gegenteils, über Descartes nicht hinausgekommen sind. Bekanntlich hatte René Descartes, einer der einflussreichsten Philosophen der europäischen Neuzeit, im Zuge des radikalen Zweifels an der Wahrheit seines Wissens eine strikte Trennung von geistigen und materiellen Phänomenen postuliert. Alles Subjektive und Mentale (eingeschlossen die eigenen Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle) soll einer immateriellen Substanz (res cogitans) zugehören, die vom Rest der Welt (eingeschlossen der eigene Körper), der als materielle Substanz (res extensa) begriffen wird, absolut verschieden ist.

Obwohl heute kaum noch jemand einen solchen ontologischen Dualismus vertritt, sind die Neurowissenschaften, wie Maxwell Bennett und Peter Hacker (2010) in ihrer gründlichen Analyse nachweisen, «noch immer nicht aus Descartes’ Schatten herausgetreten» (S. 145). An die Stelle des isolierten immateriellen cartesischen Geistes setzen sie das genauso isolierte materielle Gehirn. Der Dualismus von Körper und Geist ist zwar ersetzt worden durch einen Dualismus von Körper und Gehirn, das Gehirn erbringt aber praktisch die gleichen Leistungen, die Descartes zuvor dem unstofflichen Geist zugeschrieben hat. «Es fällt auf», schreiben Bennett und Hacker, «dass die Neurowissenschaften dem Gehirn nahezu dasselbe Eigenschaftsspektrum zuschreiben, das Cartesianer dem Geist zuschrieben» (ebd.).

Erste- und Dritte-Person-Perspektive

Ein deutliches Symptom des unbewältigten Cartesianismus der Neurowissenschaften ist die Unterscheidung zweier Perspektiven zur Beschreibung von Wirklichkeit. Die beiden Perspektiven werden der grammatikalisch ersten und der grammatikalisch dritten Person zugeordnet. Die Erste-Person-Perspektive wird mit der Innenperspektive, in der uns Psychisches erlebnismässig gegeben ist, gleichgesetzt, wie zum Beispiel im Falle einer Farbempfindung, dem Geschmack von Schokolade oder der Erinnerung an einen Traum. Die Dritte-Person-Perspektive wird der für eine Naturwissenschaft charakteristischen Aussenperspektive zugeordnet, die sich im Falle der Neurowissenschaften als ‹Blick ins Gehirn› mittels bildgebender und anderer Verfahren realisiert.

Phänomene der materiellen Wirklichkeit lassen sich in der Dritte-Person-Perspektive objektiv erforschen, indem die Ergebnisse eines Experiments mit anderen Forschenden geteilt werden. Wie kompliziert auch immer die Anfertigung eines Gehirnscans sein mag, als Ergebnis eines Messprozesses ist der Scan öffentlich zugänglich, wiederholbar und kritisierbar. Demgegenüber erschliesst die Erste-Person-Perspektive eine Wirklichkeit, die nach Ansicht vieler Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler allein dem erlebenden Subjekt verfügbar ist. Es handelt sich um Phänomene, die – wie Wolf Singer (2002) formuliert – «nur unserer Selbsterfahrung zugänglich […] sind» (S. 176). Nur ich allein habe Zugang zu den Schmerzen, die ich gerade in meinem linken Fuss verspüre, eine andere Person kann davon nichts wissen.

Gepflegt wird damit nicht nur der cartesische Mythos des sozial isolierten Geistes, sondern auch die Fiktion einer psychischen Innenwelt, die öffentlich unzugänglich ist, da nur ich selbst wissen kann, was in mir vorgeht. Die Dualität von grammatikalisch erster und grammatikalisch dritter Person wird der Unterscheidung von materieller und geistiger Wirklichkeit überstülpt. Das Problem, wie sich von der sinnfreien Wirklichkeit des Gehirns eine Brücke zur sinnhaften Wirklichkeit unserer Lebenswelt schlagen lässt, wird in die Dualität der beiden Beschreibungsperspektiven projiziert. Sinn und Bedeutung werden der mentalen ‹Innenwelt› zugeordnet und von der materiellen ‹Aussenwelt› weggeschlossen.

Wie Wolf Singer (2003) explizit schreibt, sind sinnhafte Gegenstände «nur aus der Erste-Person-Perspektive erfassbar» (S. 11). Damit wird das Problem der Überbrückung von sinnfreier und sinnhafter Wirklichkeit unlösbar. Denn wenn Sinn nur subjektiv realisiert werden kann, bleibt unerfindlich, wie eine gemeinsame (objektive) Wirklichkeit sinnhaft sein kann. Der unbewältigte Cartesianismus der Neurowissenschaften verhindert eine plausible Erklärung mentaler Phänomene.

Erste und zweite Person

Wollen wir der Sackgasse des Cartesianismus entkommen, müssen Sinn und Bedeutung als intersubjektive Phänomene begriffen werden. Relevant ist nicht der grammatikalische Gegensatz von erster und dritter Person, da wir auf diese Weise nie zu gemeinsamen Bedeutungen gelangen können, sondern die Unterscheidung von erster und zweiter Person. Wir können in die Position der dritten Person nur wechseln, wenn wir zuvor im Austausch mit einer zweiten Person ein gemeinsames Verständnis von Wirklichkeit erarbeitet haben. Ohne gemeinsames Verständnis wüssten wir gar nicht, worauf wir uns als Drittperson beziehen.

Als erste und zweite Person sind wir Teilnehmende an einem Gespräch, das auf einem permanenten Rollentausch zwischen sprechender und hörender Person beruht. Einmal rede ich und du hörst mir zu, dann redest du und ich höre dir zu. Auf diese Weise finden wir Zugang zu einer gemeinsamen Wirklichkeit, deren Sinn und Bedeutung wir uns im kommunikativen Austausch erarbeiten. Aus der Koordination unserer beiden Perspektiven geht eine geteilte Perspektive hervor, der sich das grammatikalische Wir zuordnen lässt. Aus den Perspektiven von erster und dritter Person lässt sich dagegen keine Wir-Perspektive gewinnen.

Dies wird von Martin Seel (2005) bestätigt, der ein ausschliesslich beobachtendes Verhalten grundsätzlich für unmöglich hält. «Niemand […] kann reiner Beobachter sein» (S. 145). Ohne Rückbindung an ein gemeinsames Verständnis von Wirklichkeit fänden wir keinen Zugang zur Welt. Für Seel ist daher jede Einstellung, und sei sie noch so distanziert und objektiv, «eine Einstellung der Teilnahme» (ebd.). Was wir als Aussenstehende wahrnehmen, muss sich von anderen beglaubigen oder bezweifeln lassen. Mit diesen anderen stehen wir aber nicht in einer Dritte-Person-, sondern in einer Zweite-Person-Beziehung.

Das gilt gerade auch für die Hirnforschung. Wie Michael Pauen (2012) ausführt, brauchen wir die Perspektive der zweiten Person, um aus der Dritte-Person-Perspektive Aussagen über mentale Zustände zu machen. Denn anders könnten wir gar nicht wissen, worauf wir uns mit unseren Aussagen beziehen. «Wenn wir beispielsweise bei einer Versuchsperson die neuronalen Korrelate von Schmerz identifizieren wollen, müssen wir zuerst sicherstellen, dass sich die Versuchsperson tatsächlich in einem Schmerzustand befindet» (S. 45 – eigene Übersetzung). Das können wir nur, wenn wir mit der Person kommunizieren. Wenn nicht mit leblosen anatomischen Präparaten oder narkotisierten Tieren geforscht wird, sondern mit Menschen im Wachzustand, genügt die Dritte-Person-Perspektive nicht, um zu verlässlichen Resultaten zu kommen.

Die Schmerzen in meinem linken Fuss sind keineswegs mir allein zugänglich, sondern werden durch mein Schmerzverhalten angezeigt und meine Schmerzensäusserungen ausgedrückt. Meine Schmerzen empfinden vermag zwar nur ich allein, jedoch können meine Schmerzensäusserungen von anderen wahrgenommen werden.

Verschränkung von Empfindung und Wahrnehmung

Eine Beobachterperspektive, die nicht mit einer Teilnehmerperspektive vermittelt ist, kommt einer Illusion gleich. Das gilt auch im Verhältnis zu uns selbst. Der gemeinsame Blick auf die Wirklichkeit, der aus dem kommunikativen Austausch von erster und zweiter Person hervorgeht, erschliesst nicht nur die physische Aussenwelt, sondern auch die psychische Innenwelt. Psychisches mag zwar phänomenal innen sein, zugänglich ist es aber auch von aussen. Dadurch nämlich, dass sich erste und zweite Person körperlich (gestisch) und lautlich (sprachlich) artikulieren und dem Gegenüber anzeigen, was in ihnen vorgeht, zum Beispiel durch Ausdruck ihrer Gefühle oder durch Äusserung ihrer Gedanken. Psychisches ist nicht in hermetisch abgedichteten Räumen weggeschlossen, in denen wir gleichsam in Einzelhaft sässen. Vielmehr zeigt sich Psychisches in unseren körperlichen Regungen und in unserem Verhalten und kann anhand von Kriterien identifiziert werden.

Die Schmerzen in meinem linken Fuss sind keineswegs mir allein zugänglich, sondern werden durch mein Schmerzverhalten angezeigt und meine Schmerzensäusserungen ausgedrückt. Meine Schmerzen empfinden vermag zwar nur ich allein, jedoch können meine Schmerzensäusserungen von anderen wahrgenommen werden. Für die Sprache, in der wir über Psychisches reden, ist diese doppelte Verankerung im subjektiven Erleben und im objektiven Verhalten charakteristisch. Wir schreiben anderen Menschen psychische oder geistige Zustände nicht aufgrund einer theoretischen Analyse ihres Verhaltens zu und ziehen auch keine Analogieschlüsse über Fremdpsychisches, sondern nutzen unser psychologisches Alltagswissen, das uns anhand von Kriterien erkennen lässt, in welcher Verfassung sich eine andere Person befindet.

Die Person als psychophysische Einheit

Wie für die Sprache, in der wir über Psychisches reden, Inneres und Äusseres ineinander verschränkt sind, ist für den Begriff der Person kennzeichnend, dass Körperliches und Geistiges zusammengehören. In einer scharfsinnigen Analyse weist der britische Philosoph Peter Frederick Strawson (1972) nach, dass wir wahrnehmbare Objekte in zwei Kategorien einteilen, nämlich in materielle Gegenstände und Personen. In beiden Fällen handelt es sich um sprachlich primitive Begriffe, die nicht weiter zerlegt werden können. Für den Begriff der Person heisst dies, dass wir es mit einer unteilbaren Einheit von Körper und Geist zu tun haben.

Wir sagen von einer Person nicht nur, dass sie 83 Kilogramm wiegt und 1.92 Meter gross ist, sondern auch, dass sie beabsichtigt, nach London zu reisen oder sich nicht mehr an den Namen ihrer ehemaligen Nachbarin erinnern kann. Wir sagen dies von ein und derselben Person und nicht das eine von ihrem Körper und das andere von ihrem Geist. Die cartesische Zweiteilung der Welt in Körper und Geist stellt eine Abstraktion dar, die auf der ontologisch grundlegenden Ebene, die Strawson im Blick hat, nicht vorgenommen werden kann. Bewusstseinstatsachen wie Absichten, Gedanken oder Gefühle können nur zugeschrieben werden, wenn sie einem Wesen zugeschrieben werden, das über einen Körper verfügt.

Als Menschen sind wir soziale Wesen, die nicht im Alleingang zu Sinn und Bedeutung finden, sondern nur im kommunikativen Austausch mit anderen Menschen.

Naturwissenschaftliche Forschung am Menschen

Das wird von Neurowissenschaftlern wie Wolf Singer und Gerhard Roth schlichtweg verkannt, obwohl sie ihre Experimente nicht durchführen könnten, wenn sie davon ausgehen müssten, dass die Berichte ihrer Versuchspersonen über ihre Wahrnehmungen oder Empfindungen rein subjektiv wären. Was könnte aus der Aussenperspektive der dritten Person erforscht werden, wenn die Innenperspektive der ersten Person nicht mitteilbar wäre? Wonach wollten Roth und Singer im Gehirn suchen, wenn ihnen nicht vorweg bekannt wäre, was es bedeutet, sich in einem bestimmten kognitiven oder emotionalen Zustand zu befinden? Roth und Singer klammern die Existenz der zweiten Person aus und reduzieren das Problem einer naturalistischen Erklärung von Sinn und Bedeutung auf das Verhältnis von erster und dritter Person, womit es – wie wir bereits festgestellt haben – unlösbar wird.

Anders als in naturwissenschaftlichen Disziplinen, die sich ausschliesslich mit Gegenständen der dinglichen Wirklichkeit befassen, ist naturwissenschaftliche Forschung am Menschen ohne Verständigung zwischen forschender und erforschter Person nicht möglich. Wie Howard Gardner (1985) schon Mitte der 1980er Jahre feststellte, ist es «nicht möglich, als desinteressierter Beobachter, der lediglich Fakten aufzeichnet, in das Nervensystem einzudringen» (S. 287 – eigene Übersetzung). Was Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken sind, können wir als Beobachter in der Dritte-Person-Perspektive nur wissen, wenn wir zuvor als Teilnehmende an einem Dialog zwischen erster und zweiter Person gelernt haben, wie man über Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken kommuniziert. Nur auf diese Weise kommen wir zu einer Wir-Perspektive, die es erlaubt, neuropsychologische Forschung zu betreiben.

Descartes’ Cogito-Argument wird damit vom Kopf auf die Füsse gestellt. Nicht eine mir allein zugängliche subjektive Innenwelt ist das Erste, wovon wir ausgehen müssen, sondern eine intersubjektive Wirklichkeit, die wir miteinander teilen. Psychisches und Geistiges erschliessen sich uns nicht, indem wir nach einem Ort Ausschau halten, zu dem jede und jeder für sich einen privilegierten Zugang hat, sondern indem wir uns Zeichen und Symbole aneignen, die psychischen und mentalen Phänomenen Bedeutung verleihen. Als Menschen sind wir soziale Wesen, die nicht im Alleingang zu Sinn und Bedeutung finden, sondern nur im kommunikativen Austausch mit anderen Menschen.

Ausblick

Damit haben wir das Terrain bereinigt und die Hindernisse, die einem Brückenschlag zwischen der sinnfreien Welt des Gehirns und der sinnhaften Welt unseres Alltags im Wege stehen, aus dem Weg geräumt. Im 2. Teil des Beitrags wird es darum gehen, die vorbereitenden Überlegungen so zu erweitern, dass verständlich werden kann, wie Gehirn und Kultur in der Evolutionsgeschichte des Menschen jene Symbiose eingehen konnten, die wir im Titel des Beitrags als charakteristisch für den Menschen postulieren.

 

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Die Peter-Hans-Frey-Stiftung: Der Preis ist ein Förderpeis! https://condorcet.ch/2021/12/die-peter-hans-frey-stiftung-der-preis-ist-ein-foerderpeis/ https://condorcet.ch/2021/12/die-peter-hans-frey-stiftung-der-preis-ist-ein-foerderpeis/#respond Fri, 10 Dec 2021 12:14:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=10088

Gestern fand die Preisverleihung der Peter-Hans-Frey Stiftung statt, die sich für den Condorcet-Blog entschieden hat. Eine Gelegenheit, unseren Leserinnen und Lesern diese Stiftung einmal vorzustellen.

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In Zürich besteht seit 1989 die Peter-Hans Frey Stiftung mit dem Zweck, einen Preis für eine besondere pädagogische Leistung zu verleihen. Der Preis kann Personen, die ihren ständigen Wohnsitz in der Schweiz haben sowie Schweizerbürgerinnen und Schweizerbürgern, die im Ausland tätig sind, zuerkannt werden.
Es dürfen Preise an Professorinnen/Professoren und Lehrerinnen/Lehrer an Hoch-, Mittel- und Volksschulen, Fachschulen, Anstalten, aber auch private Forscherinnen/Forscher mit praktischer Tätigkeit auf dem Gebiet der Pädagogik verliehen werden. Lehrerinnen/Lehrer an öffentlichen und privaten Schulen und Institutionen werden in gleicher Weise berücksichtigt. Sind pädagogische Leistungen gemeinsam von mehreren Personen erbracht worden, so darf der Preis gemeinsam zuerkannt werden. Er ist in der Regel mit Fr. 10’000.- dotiert.

Seine Geschwister wünschten nicht, ihren Erbanspruch aufgrund dieses Unglücks zu vergrössern.

Warum ein Preis für eine gute pädagogische Leistung? Die Peter-Hans Frey Stiftung wurde errichtet zum Andenken an Dipl. Ing. Peter-Hans Frey, der bei einem Segelflug am 26. August 1962 bei Walenstadt im Alter von 31 Jahren tödlich abstürzte.

Peter Hans Frey entstammte einer ausgesprochenen Lehrerfamilie

Seine Geschwister wünschten nicht, ihren Erbanspruch aufgrund dieses Unglücks zu vergrössern. Dementsprechend wurde ein Stiftungskapital von Fr. 300’000.- ausgeschieden. Es schien wenig sinnvoll, einen Preis für technische Leistungen vorzusehen, denn hierfür bestehen schon zahlreiche Stiftungen, die zudem meistens gut dotiert sind. Andrerseits entstammte Peter-Hans Frey einer ausgesprochenen Lehrerfamilie.
Sein Grossvater war Seminarlehrer, sein Onkel Professor an der ETH, seine Grossmutter und zwei ihrer Schwestern waren Primarlehrerinnen, desgleichen seine Mutter und eine Tante, eine Grosstante war Arbeitsschulinspektorin im Kanton Solothurn, eine Cousine und ein Cousin unterrichteten an zürcherischen Mittelschulen. In diesem Familienkreis wurde fast täglich über pädagogische Probleme gesprochen. Tatsächlich genügt es nicht, Erfindungen zu machen.
Die neuen Erkenntnisse müssen der Allgemeinheit bekanntgemacht werden, und deren Verständnis und Interesse ist zu wecken. Dies ist keine leichte Aufgabe. Grosse Leistungen auf diesem Gebiet verdienen wohl einen Preis. Mit dem Preis möchte die Peter-Hans Frey Stiftung Pädagogen und Pädagoginnen für aussergewöhnliche Anstrengungen belohnen und der Allgemeinheit die Wichtigkeit dieser Berufsgruppe vor Augen führen. Ausserdem ist der Preis nicht eifach nur eine Anerkennung für das Geleistete, es handelt sich hier um einen Förderpreis, der die künftigen Pläne und Aktivitäten unterstützen soll.

Ritta Sophanna und Allan Guggenbühl

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Von den ewig Morgigen https://condorcet.ch/2020/05/von-den-ewig-morgigen/ https://condorcet.ch/2020/05/von-den-ewig-morgigen/#respond Thu, 21 May 2020 12:32:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=4961

Der Angst vor dem Fertigen mit permanentem Umbau steht der Mut zu pädagogischen Konstanten gegenüber. Bildung oszilliert zwischen diesen beiden Polen. Ein Zwischenruf von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard: Kein Entweder-Oder.

„Das haben wir immer so gemacht! Und es hat sich bewährt; das wissen wir. Was wollen wir ändern?“ Sätze wie diese kennt man – und ihre Absender auch. Es sind die ewig Gestrigen – resistent gegen Wandel, immun gegen Kritik. Sie wissen, was richtig ist und wie’s geht. Und zwar ganz genau! Ihre Standardfloskeln gehören ins Repertoire der drei Todesgefahren: „sicher sein, fertig sein, wissen“. Formuliert und ins Logbuch dieser Ewiggestrigen geschrieben hat sie der grosse Germanist, politische Denker und ETH-Rektor Karl Schmid (1907 – 1974).[i]

Die Sprache spiegelt den radikalen Wandel

Doch „es gibt nicht nur die ewig Gestrigen, es gibt auch die ewig Morgigen“, bemerkte der Dresdner Dichter Erich Kästner spitzzüngig. Damit nahm er wohl jene Kräfte aufs Korn, die das Neue unkritisch verherrlichen und das Alte, das Bewährte, mitleidig belächeln, es gar auf den „Müllhaufen der Geschichte“ wünschen, um Leo Trotzkis berühmtes Revolutionswort von 1917 zu zitieren. Auch sie stört kein Zweifel. Sie sind ihrer Sache sicher.

Der pädagogische Kompass kannte nur eine Richtung: Umbau, Innovation und Implementation von Neuem.

Resolute Modernisierer und forsche Veränderer kennt auch die Schule. Das Neue wurde zum Magnet ihres bildungspolitischen Denkens. Der pädagogische Kompass kannte nur eine Richtung: Umbau, Innovation und Implementation von Neuem. Die Sprache spiegelt den radikalen Wandel: Aus Lehrern wurden „Lernbegleiter“ und „Coachs“, aus Schülerinnen und Schülern „Lernpartner“, aus Erziehungswissenschaftlern empirische Bildungsforscher. Aus dem traditionellen Begriffspaar „Wissen und Können“ wurde Kompetenz, aus gemeinsamem Unterricht autonomes und selbstorientiertes Lernen. Pädagogisches Erfahrungswissen wich einer permanenten Evaluation, Gespräche mit Eltern mutierten zum Durchchecken mehrseitiger Kompetenzenraster, aus Bildung wurden messbare Tests.

Aus dem traditionellen Begriffspaar „Wissen und Können“ wurde Kompetenz, aus gemeinsamem Unterricht autonomes und selbstorientiertes Lernen. Pädagogisches Erfahrungswissen wich einer permanenten Evaluation, Gespräche mit Eltern mutierten zum Durchchecken mehrseitiger Kompetenzenraster, aus Bildung wurden messbare Tests.

 

Ohne Fortschritt verödet Tradition

Niemand will einen Aschehaufen hüten.

Stillstand bedeutet Rückschritt. Da sind sich alle einig. Die Wege enden bekanntlich dort, wo ich stehen bleibe. Und alte Pfade öffnen keine neuen Türen. Das will niemand. Das Leben besteht aus Fortschreiten. Schritt für Schritt, Tritt für Tritt – Fortschritt aus dem Bestehenden und meist auch Bewährten heraus. Der Weg in die Zukunft wird so zu einer Resultante aus den Kräften der Tradition und der Innovation. Ohne Fortschritt verödet Tradition. Und niemand möchte einen Aschehaufen hüten. Wo die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Innovation und Tradition durchgetragen wird, da reift die Spannkraft für das Mögliche; da entsteht Fortschritt.

Innovationsrhetorik

Rasante Zivilisationsdynamik

Doch der Fortschritt ist über die rasante Zivilisationsdynamik der vergangenen Jahre in eine bisher nie gekannte exponentielle Beschleunigung geraten – entstanden ist eine Art „Gegenwartsschrumpfung“. Und eine geschrumpfte Gegenwart lässt keine Zeit für eingehende Reflexion. So sieht es der Philosoph Hermann Lübbe.[ii] Die Fortschrittsidee wurde ersetzt durch die Innovationsrhetorik.[iii] Das generierte in den Schulen eine dichte, in gewissen Phasen gar chaotische und unkoordinierte Reformkaskade; die schnelle Abfolge mit immer neuen Projekten führte zu Hektik und Atemnot.

„Kennen Ihre Kaiserliche Hoheit denn das Alte schon?“

Es geht nicht um das Ausspielen von alt und neu, es geht nicht um eine Entweder-Oder-Mentalität. Ein solches Polaritätsdenken verkennt, dass Schulen sich stets erneuert und immer auch pädagogische Impulse von reformorientierten Institutionen aufgenommen haben – als „schola semper reformanda“.

Alt und neu stehen sich als dialektische Gegenkräfte gegenüber, und gleichzeitig bedingen sie sich. Das eine geht nicht ohne das andere. Das meinte wohl der verantwortliche Leiter der Bonner Sternwarte, als ihn der deutsche Kaiser Wilhelm I. bei einem Besuch fragte: „Na, Herr Direktor, was gibt’s denn Neues am Sternenhimmel?“ Worauf der angesprochene Astronom bescheiden meinte: „Kennen Ihre Kaiserliche Hoheit denn das Alte schon?“[iv]

Alterungsresistente Bildungsgehalte vermitteln

Auch die Schule kennt dieses Alte; sie basiert auf diesem Alten. Es sind die klassischen Lehrinhalte, die Grundfähigkeiten, die fürs spätere Leben unverzichtbar sind. Die Schule ist in ihrer alten Aufgabe, zur Lernfähigkeit und damit zur einer klugen lebensweltlichen Orientierungsfähigkeit hinzuführen, so wichtig wie nie zuvor. Darum müssten sich Lehrpläne auf diejenigen Gehalte und formalen Grundfähigkeiten konzentrieren, über die man dauerhaft lernfähig bleibt – und nicht auf Aktualitäten und einen Haufen Dringlichkeiten: Es sind Bildungsgehalte ohne Verfallsdatum.

Sprachfähigkeit ist nicht eine, sondern die Schlüsselkompetenz schlechthin.

In einer kommunikativ verdichteten Dienstleistungsgesellschaft braucht es ein gut entwickeltes muttersprachliches Können in Wort und Schrift. Die internationale PISA-Studie der OECD hat hier klare Daten geliefert: Die Lesefähigkeiten von fast zwanzig Prozent der Schweizer Jugendlichen am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit sind unzureichend. Das erschreckt. Und dabei bestätigen die Biowissenschaften fast täglich neu: Sprachfähigkeit ist nicht eine, sondern die Schlüsselkompetenz schlechthin.

Das Wissen um die eigene Geschichte ist unverzichtbares Bildungselement

Bedeutsam sind elementare mathematische und naturwissenschaftliche Fähigkeiten.

Bedeutsam sind elementare mathematische und naturwissenschaftliche Fähigkeiten sowie als zwingende Bedingung die fremdsprachliche Qualifikation. Wichtiges Bildungselement ist auch das Wissen um die eigene Geschichte und damit die Fähigkeit, Herkunft und Zukunft miteinander zu verbinden. In unserer modernen Zivilisation brauchen wir den historischen Sinn – mehr denn je. Nur so können wir uns zur Fremdheit anderer, die uns nähergekommen sind, und zur Fremdheit eigener Vergangenheiten, von denen wir uns fortschrittsbedingt immer rascher entfernen, in eine Beziehung setzen. Eine solche Haltung macht kooperations- und zukunftsfähig.

Ohne Bildungselemente, die nicht veralten, geht eine offene Gesellschaft an ihrer eigenen Wandelbarkeit zugrunde.

Eine beschleunigte Gesellschaft braucht Bildung

Noch nie war eine Bildung, die über den Tagesbedarf und das berufliche Kerngeschäft hinausgeht, so unentbehrlich wie heute. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich nicht nur als offene (Karl Popper), sondern auch als beschleunigte versteht. Zu ihrem Credo gehören permanente Innovation, grenzenlose Mobilität und hektische Flexibilität – auch wenn die Corona-Krise einen Notstopp nahelegte; der Zwang zum „Change“ als Dogma wird wohl bleiben. Ohne Bildungselemente, die nicht veralten, geht eine offene Gesellschaft an ihrer eigenen Wandelbarkeit zugrunde, mahnt der deutsche Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstrass.[v]

Es gibt eben nicht nur die Angst vor dem Fertigen (Pablo Picasso) und damit den notwendigen Wandel, es braucht auch pädagogische Konstanten. Gerade sie profilieren das Neue. Denn wenn alles neu ist, wird auch alles gleich-gültig. Das scheinen die ewig Morgigen zu vergessen. Notwendig ist das, was Goethe „das alte Wahre“ nennt und was immer gilt. Gerade im Sog der heutigen Zivilisationsdynamik. Denn „die technologischen Fortschritte lassen uns gar keine Wahl, als dass wir uns wieder drauf fokussieren, was uns zu Menschen macht.“[vi]

[i] Karl Schmid (1998), Gesammelte Werke. Bd. VI 1970-1974. Standortmeldungen. Thomas Sprecher, Judith Niederberger (Hg.). Zürich: Verlag NZZ, S. 305.

[ii] Hermann Lübbe (1998), Gegenwartsschrumpfung, in: Klaus Backhaus & Holger Bonus (Hg.), Die Beschleunigungsfalle oder der Triumph der Schildkröte. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, S. 129ff.

[iii] Roland Reichenbach (2018), Ethik der Bildung und Erziehung. Essays zur Pädagogischen Ethik. Paderborn: Ferdinand Schöningh, S. 82.

[iv] In: Gelzer Heinrich (1900), Jacob Burckhardt als Mensch und Lehrer, in: Zeitschrift für Kulturgeschichte Bd. VIII, S. 31f.

[v] Jürgen Mittelstrass (2004), Bildung, Wissenschaft und Humanität – vom Auftrag einer Pädagogischen Hochschule. Vortrag an der PH Zug. Msc. S. 3; vgl. ders. (1997), Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 45f.

[vi] Manu Kapur (2019), Lehren und Technologie: Neue Sicht- und Handlungsweisen, in: NZZ-Verlagsbeilage, 31.10.2019, S. 8.

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Bildungspolitische Plauderstunde beim ECHO der Zeit – Ein Protokoll https://condorcet.ch/2020/04/bildungspolitische-plauderstunde-beim-echo-der-zeit-ein-protokoll/ https://condorcet.ch/2020/04/bildungspolitische-plauderstunde-beim-echo-der-zeit-ein-protokoll/#comments Tue, 14 Apr 2020 10:40:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=4686

Gestern noch Kontrahenten spannen Felix Schmutz und Alain Pichard bei der Analyse des ECHO-Interviews "Chinesen kommen am besten durch die Krise" zusammen. Dabei entlarven die beiden Condorcet-Autoren die Substanzlosigkeit und die völlige Absenz kritischer Nachfragen. Der intelligente, aber keineswegs neutrale Bildungsexperte und PISA-Verantwortliche Andreas Schleicher wird in diesem Interview kaum gefordert und setzt sein "Framing" souverän um. Lesen Sie den Kommentar zu dieser bildungspolitischen Plauderei.

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Selbstporträt

«Echo der Zeit» ist die weltoffene, politische Abendsendung von Radio SRF. Wir vertiefen täglich die wichtigsten Ereignisse im In- und Ausland. Wir bringen globales Geschehen zu Ohren mit Reportagen, Interviews und Analysen – klug und pointiert.

Sehr geehrte Echo-Macherinnen und -macher,

Ihr Kaminfeuergespräch mit Andreas Schleicher im Echo der Zeit hat unsere Herzen erwärmt. Und auch seine fundierte Erklärung, an wem wir uns bezüglich Homeschooling zu orientieren haben, haben wir notiert.
Gestatten Sie uns, Ihnen noch einige Fragen nachzusenden, pointiert und so klug wie möglich.

OECD-Bildungsexperte und oberster PISA-Verantwortlicher Andreas Schleicher: Es hapert bei den Fähigkeiten der Lehrkräfte.

Interview mit Andreas Schleicher zum Fernunterricht während der Corona-Krise

(6. April, Echo der Zeit, Radio SRF 1)

Zur Erinnerung: Die Sendung Kulturplatz Schweiz vom 13. März 2019 (Digitaler Unterricht auf dem Vormarsch) bestach durch Falschinformationen, Weglassungen und Verkürzungen. Sie wurde so zu einem propagandistischen Dokument für den Digitalunterricht. In einem Brief an die Macher kritisierte ich diese Sendung in 7 Punkten und lieferte die entsprechenden Quellen nach. Dies hatte eine Einladung der Redaktion zur Folge, an der auch Professor Ralf Lankau teilnahm. Die zwei Redakteure hörten uns zu und versprachen, das Thema beizeiten gezielt und unter Berücksichtigung unserer Argumente weiterzubearbeiten.

 

Roger Brändlin, Journalist. ECHO der Zeit. Keine kritischen Nachfragen.
Copyright: SRF/Oscar Alessio

Das Interview des Journalisten Brändlin im Echo der Zeit fällt in eine andere Kategorie. Hier geht es um fehlende Substanz, einen vermutlich schlecht vorbereiteten Interviewer und ein falsches Format.

 

In der Folge versuche ich, die Lücken dieses Interviews aufzuzeigen, die offenen Fragen zu stellen und die Widersprüche aufzudecken. Ich beende es mit einem Fazit. (Die Transkription des Interviews erstellte Condorcet-Autor Felix Schmutz)

 

Brändlin, SRF: Wo steht die Schweiz im digitalen Fernunterricht?

Schleicher: Technologisch sind die Schulen in der Schweiz gut ausgestattet. Noch mehr zu tun ist bei den Lehrkräften. Zumindest nach Aussagen der Schulleiter fehlen ihnen noch die technischen und pädagogischen Fähigkeiten, um die Technologie auch wirklich in innovative Unterrichtskonzepte zu integrieren.

Was ist nach Schleicher genau «innovativ»? Der Gebrauch der Tools oder die transportierten Lerninhalte?

Kommentar Condorcet:

Schleichers Aussage enthält zwei Elemente, über die man gerne mehr erfahren hätte:

  1. Gibt es eine validierte Umfrage unter Schweizer SchulleiterInnen, welche die Apodiktik dieser pauschalisierenden Aussage unterstreichen? (Immerhin lieferte sie den ersten Titel dieses Beitrags).
  2. Was versteht Herr Schleicher unter «Technologie, die es in innovative Unterrichtskonzepte» zu integrieren gelte!
  3. Was sind nach Schleicher «innovative Unterrichtskonzepte»?
  4. Welche Fähigkeiten fehlen den Schweizer Lehrkräften im Digitalen Unterricht (Gebrauch von Zoom, Facetime, WhatsApp, Google Brain – Deep-Learning-Projects, YouTube-Kenntnisse, Videos produzieren?)?
  5. Was ist nach Schleicher genau «innovativ»? Der Gebrauch der Tools oder die transportierten Lerninhalte?

 

Brändlin: Mit Fernunterricht ist nicht nur die Videokonferenz gemeint?

Schleicher: Es ist auch wichtig, dass die Schüler die Motivation und die Fähigkeiten haben, selbstwirksam zu lernen, eigene Lernprozesse auch zu begleiten, Lernziele selbst zu setzen, über längere Zeiträume unabhängig zu arbeiten, das erfordert eine wirklich neue Pädagogik.

Kommentar Condorcet

Sehr interessant. Was genau heisst «eigene Lernprozesse auch zu begleiten»? Und, welche Lernziele sollen sich Schüler selber setzen? Sollen sie die Menge der Wörtli im Französischunterricht, die sie in einer Unterrichtseinheit lernen sollten, selber bestimmen? Sollen sie selber bestimmen zu lernen, wie die Chemie den Aufbau der Materie erklärt? Dass SchülerInnen eine Motivation haben sollen, selbstwirksam zu lernen, ist ja eine Binsenwahrheit, die wir auch im Normalunterricht einüben wollen. Die Frage ist, kann man Motivation mit E-Learning lernen?

Brändlin: Gibt es Länder, die das besser können?

China als Vorbild?

Schleicher: China ist am besten durchgekommen. Da waren nach einem Monat 50 Millionen Kinder online, und dort ist es vor allem gelungen, wirklich auch die sozialen Bedingungen gut zu erhalten zwischen Schülern und Lehrkräften. In China haben natürlich Kräfte wie die künstliche Intelligenz eine ganz andere Bedeutung. In Europa ist Estland sehr weit in der technologischen Ausstattung, Unterrichtskonzepte sind dort sehr stark digitalisiert. Aber insgesamt stehen wir am Anfang.

Chinas Unterrichtskonzepte: Frontalunterricht, eine Unmenge an Lernstoff, knallhartes Üben, harte Selektion. Ist das innovativ?

Kommentar Condorcet

Um welche Art sozialer Betreuung handelt es sich in China?

Welchen Unterricht meint Schleicher, wenn er von China spricht? Schleicher ist ein kluger Mann, der viele Bildungssysteme kennt. Er weiss bestimmt, dass in China ein stark lehrerzentrierter Frontalunterricht gepflegt wird. Natürlich lernen die chinesischen SchülerInnen wesentlich früher und auch umfassender an digitalen Geräten. Ist dies bereits «innovativ»? Die darin enthaltenen Unterrichtskonzepte und die Lernprogramme sind bei uns arg in Misskredit geraten. Stichwort: Frontalunterricht, eine Unmenge an Lernstoff, härteste Selektion und knallhartes Üben. Was ist hier «innovativ»? Die Tatsache, dass alle Kinder einen Laptop zu Hause haben und Lernprogramme abarbeiten? Und wie machen es die chinesischen Lehrkräfte mit Kindern, die da nicht mithalten? Rufen sie diese an? Reden sie ihnen ins Gewissen? Machen sie ihnen Mut? Zumindest würde ich das unter «die sozialen Bedingungen gut erhalten» verstehen. Oder geschieht dies mittels PUSH-Nachrichten. Der Lehrer schickt ein zu bearbeitendes PDF-Dokument, das nach einer gewissen Zeit sofort verschwindet. Wer es verpasst, hat keine Chance mehr. Auch totale Überwachung ist soziale Betreuung.

Brändlin: Besteht nicht die Gefahr, dass Kinder aus weniger begüterten Familien benachteiligt werden?

Schleicher: Doch, die Schere zwischen Kindern der gut verdienenden Eltern und der ärmeren öffnet sich weiter. Lernen ist ein sozialer Vorgang. Diejenigen, denen die Eltern nicht helfen können, sind im Nachteil.

Brändlin: Wie kann die Schule in der Schweiz dem entgegenwirken?

Schleicher: Die technologische Voraussetzung sind gegeben. Wo es mehr hapert, ist wirklich die Vorbereitung der Lehrkräfte, die Integration in die Pädagogik, da hat die Schweiz noch mehr zu tun.

Kommentar Condorcet

Auch hier: Was meint Schleicher mit dem Satz «die Integration in die Pädagogik»? Welche Pädagogik schwebt ihm vor?

Brändlin: Was muss die Schule tun, um den Kindern trotz Corona möglichst viel Chancengleichheit mitzugeben?

Schleicher: Zunächst geht es darum Online-Plattformen gut zu nutzen, dass einfach die besten Instrumente überall zur Verfügung stehen, die Lehrkräfte zu unterstützen, mehr Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften zu schaffen. Das Thema ist oft, dass Lehrkräfte sehr als Einzelkämpfer arbeiten, die sind jetzt ganz auf sich allein gestellt. Da für mehr Austausch und Zusammenarbeit zu sorgen, wird allen helfen.

Kommentar Condorcet

Online-Plattform für den Deutschunterricht: Toll verpackte Herkömmlichkeit.

Von welchen Online-Plattformen spricht Schleicher? Weiss er, wie viele Schulen Online-Plattformen nutzen? Und wie sieht er es bei den 1. KlässlerInnen? Dort gibt es ja auch Online-Plattformen … Kennt der Journalist diese? Er sollte sie sich doch einmal anschauen und uns anschliessend das Innovative an dieser Pädagogik erklären! Und schliesslich noch der Griff in die Mottenkiste der Lehrervorwurfsskala: die Lehrkräfte als Einzelkämpfer! Herr Schleicher weiss genau, wovon er spricht. Er vermittelt dem Zuhörer das Bild der 60er-70er-Jahre. Er unterschlägt die strukturellen Änderungen in den Schweizer Schulhäusern: Geleitete Schulen, pädagogische Konferenzen, gemeinsame Vorbereitungen während der Ferien, Mitarbeitergespräche usw. Warum? Und wie evident ist die Aussage? Worauf basiert sie?

Brändlin: Das ist mittelfristig gedacht. Manche sagen, man solle das laufende Schuljahr abschreiben. Was halten Sie von der Idee, dass man das ganze Schuljahr wiederholt oder ein Semester anhängt?

Schleicher: Schüler sind resilienter als wir das oft glauben. Ich denke, von dem, was die Schüler auch online lernen, bleibt sehr viel hängen, und ich denke, alles einfach nochmal machen, das wird dann wirklich ein verlorenes Jahr. Die Frage ist, wie lange das jetzt weitergeht. Wenn es bei ein paar Monaten bleibt, ist das zu bewältigen.

Kommentar Condorcet

Ich habe meinen SchülerInnen folgenden Rechenauftrag gegeben. Wie viel Prozent des regulären Unterrichts würden in einer 11-jährigen Schulkarriere in der Volksschule ausfallen, wenn die Schulschliessungen bis Juni dauerten? Es sind knapp 4%!

Brändlin: Was überwiegt bei Ihnen: die Sorge um die Bildung der Schülerschaft oder die Freude über die Fortschritte im digitalen Unterricht?

Schleicher: Sicherlich die Sorge um die Schülerschaft, denn nicht alle Lehrer sind darauf vorbereitet, nicht alle Schüler haben zu Hause das entsprechende Umfeld, um wirklich selbstwirksam, selbstständig zu lernen, da habe ich sehr grosse Sorge. Anderseits finden grosse Veränderungen in Zeiten tiefgreifender Krisen statt. Vieles, was wir heute entwickeln, dass Schüler einfach mehr Raum bekommen, innovativ zu lernen, dass Lehrkräfte mehr Verantwortung für die Gestaltung von innovativen Unterrichtskonzepten haben und übernehmen. Ich hoffe, davon wird einiges hängen bleiben. Das schlimmste Szenario ist, dass alles nach der Krise wieder so ist wie vor der Krise.

Diese Aussage suggeriert, dass die Schulen vor dem Lockdown in einem «schlimmen» Zustand sein mussten.

Kommentar Condorcet

Das ist interessant! Am schlimmsten wäre es, wenn die Schule wieder so wäre, wie sie vor der Corona-Krise war. Ja, wie war sie denn vor der Corona-Krise? Diese Aussage suggeriert, dass die Schulen vor dem Lockdown in einem «schlimmen» Zustand sein mussten. Vermutlich ist der digitale Unterricht gemeint. Und wiederum muss der Staunende sich angesichts solcher Rhetorik fragen: Was ist ein digitaler Unterricht? Ist da die Verwendung der digitalen Geräte als Tool gemeint oder ist es die Übergabe eines Unterrichts der direkten Instruktion durch die Lehrkraft an Softwarepakete von Google, die Verwaltung eines G Suite for Education-Kontos für jede Schülerin und jeden Schüler, die Beschulung unserer Kinder durch von Konzernen vorgefertigte Unterrichtsprogramme mit allen datentechnischen Problemen? Man erhält keine Antwort!

Brändlin: Könnte das sein?

Bei den Schülern bin ich optimistisch. Wer einmal gemerkt hat, dass man selbstständig lernen kann, dass man nicht nur einem Lehrer zuhören muss, man sich die Lehrkräfte aussuchen kann, mit denen man digital arbeitet, wenn man in ein virtuelles Laboratorium geht, anstelle irgendwo in der Schule zuzuhören. Wer das einmal mitgemacht hat, der wird später ein anspruchsvollerer Schüler sein, der auch auf die Lehrer zugeht und sagt, wie man am besten selber lernt. Die Schüler werden das einfordern, hoffe ich.

Kommentar Condorcet

Innovative Tools oder fragwürdige Datensammlung?

Das sind ja grosse Ankündigungen. Man kann selbständig lernen, die Lehrkräfte aussuchen und das in einem virtuellen Laboratorium. Wie funktioniert ein solches «virtuelles Laboratorium»? Kann man sich das auch aussuchen? Und welche Lerninhalte werden dort vermittelt? Welche Unterrichtsprogramme kommen zum Zuge? Google? Google brain speichert aber auch Geräte- und Hardwareinformationen, Geräteerkennungen und Betriebssystemversionen, IP-Adressen und Standortinformationen, setzt akivitätsprotokollierende Cookies ein, nutzt Sensoren der Geräte und deren Daten. Ist das ein Problem? Herr Schleicher weiss natürlich, wovon er redet. Weiss es aber der fragende Journalist?

Soll dieser Beitrag von Echo der Zeit informieren, aufklären, eine bestimmte Sicht propagieren oder einfach nur werben?

Fazit Condorcet:

Alain Pichard
Das Format taugt nichts.

Um was für eine Art von Beitrag handelt es sich? Soll er informieren, aufklären, eine bestimmte Sicht der Dinge propagieren oder einfach nur werben? Welche Frames (Wissensrahmen) kommen hier vor? Welche Rolle spielen die so aufgerufenen Frames für die Schlussfolgerungen der Zuhörerschaft? Welche Mechanismen können identifiziert werden, die darauf abzielen, Bewusstseinszustände von Lesern zu verändern? Wie immunisieren sich die Aussagen gegen Widerlegung oder Widerstand?

Ich möchte dem fragenden Journalisten nicht zu nahe treten. Aber dieses Interview ist kein erkundender Dialog, es ist ein Kamingespräch, eine Thesenplattform. Der Journalist wird sagen, das Format lasse nicht mehr zu. Das mag stimmen. Warum führt er es dann so durch? Das Echo der Zeit rühmt sich, sorgfältig recherchierte Hintergrundberichte zu liefern, seriöse Informationen zusammenzustellen und faktenbasiert zu kommentieren.

Gespräche mit «Experten» können dabei ein Element sein. Herr Schleicher ist zweifellos ein Experte. Er weiss viel mehr, als er geäussert hat, und er hätte bei entsprechenden Nachfragen auch nachgeliefert. Er ist aber auch ein Vertreter einer Bildungspolitik, die eine Agenda verfolgt. Er ist kein neutraler Bildungsforscher. Auch das hätte ein seriös arbeitender Journalist feststellen müssen. Und Herr Schleicher weiss bestens mit dem gewählten Format

Herr Schleicher ist kein neutraler Bildungsforscher. Er ist ein intelligenter Vertreter einer Bildungspolititk, die eine Agenda verfolgt, die wir skeptisch beurteilen (müssen).

umzugehen. Er setzt souverän auf die Frames, benützt die Innovationsrhetorik, ohne diese zu präzisieren. Herr Brändlin verfällt in die Rolle des Stichwortgebers. Eine ketzerische Zwischenfrage: Hätte es sich um einen AFD-Bildungssprecher oder einen Trump-Sympathisanten gehandelt, wäre dann die Befragung auch so devot geblieben?

Für einen intelligenten Mann wie Schleicher stellt diese Form des Interviews eine Unterforderung dar. Für uns kritisch denkende Bildungsinteressierte ist es nutzlos. Für die Mehrheit der Zuhörerschaft vermutlich durchaus prägend,  ja propagandistisch.

Am Schluss noch der Treppenwitz der Titeländerung

Und am Schluss noch ein Treppenwitz der ganzen Geschichte: Auf Hinweis unseres Codorcet-Autors Carl Bossard wurde der pauschalisierende und von vielen als diffamierend empfundene Titel der Sendung «Fehlende digitale Fähigkeiten bei Schweizer Lehrkräften» zu «Chinesische Schulen kommen am besten durch die Krise». Wieder eine Behauptung von Andreas Schleicher; empirische Daten legt er keine vor. Und was heisst «am besten»? Ich jedenfalls weiss es: Am besten hört man sich solche Sendungen einfach nicht an.

 

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Chinesische Schüler kommen am besten durch die Krise https://condorcet.ch/2020/04/chinesische-schueler-kommen-am-besten-durch-die-krise/ https://condorcet.ch/2020/04/chinesische-schueler-kommen-am-besten-durch-die-krise/#respond Tue, 14 Apr 2020 08:44:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=4682

Das für seine seriösen Hintegrundberichte gelobte Sendegefäss Echo der Zeit interviewte den PISA-Chef Andreas Schleicher. Eine spannende Lektion in Pauschalisierung, Framing, Lehrerbashing und Chinalob. Hören Sie die Sendung!

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OECD-Bildungsexperte und oberster PISA-Verantwortlicher Andreas Schleicher: Es hapert bei den Fähigkeiten der Lehrkräfte.

https://www.srf.ch/play/radio/popupaudioplayer?id=2b5535fc-0f9c-4ad8-ae05-44ca957dc914&startTime=5.109

 

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Vom verführerischen Zaubertrunk des Vielen https://condorcet.ch/2020/01/vom-verfuehrerischen-zaubertrunk-des-vielen/ https://condorcet.ch/2020/01/vom-verfuehrerischen-zaubertrunk-des-vielen/#respond Fri, 17 Jan 2020 22:14:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=3641 Wer die Politik des Schweizer Lehrerverbandes LCH verfolgt, könnte sich leicht verlieren. Sie ruft nach Einzelteilen, justiert im Partikularen und verlangt mehr Geld. Wo bleibt der pädagogische Blick aufs Ganze, fragt Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard

„Weisheit entsteht, wenn wir das Ganze sehen.“ Mit dieser Mäuse-Moral schliesst das kleine Bilderbuch „7 blinde Mäuse“.[1] Wer die Bildungspolitik des Schweizer Lehrerverbandes LCH betrachtet, wird unwillkürlich an die Geschichte vom Elefanten und den blinden Mäusen erinnert. Sie ertasten nacheinander die verschiedenen Teile des mächtigen Dickhäuters. Das berührte Ding sei eine Säule; es sei eine Schlange, ein Speer, ein Seil, melden die blinden Tiere. Sie verheddern sich in Einzelaspekte. Erst die siebte Maus, die weise, erkennt das Ganze und verkündet: „Es ist ein Elefant!“

Die Reformära war durch das Prinzip der Addition geprägt,

 

Taugt das Allzuviele zum Ideal?

Die Teile und das Ganze! Der Blick in eine Schulklasse, die Konsultation eines Stundenplanes oder Jahresberichts, die Lektüre des Lehrplans 21: Das alles zeigt, aus wie vielen Teilen der kleine Kosmos einer Schule besteht. Doch wie gehören sie zusammen? Und wie viele Segmente sind zu viel? Wie viele Partikel sind Gift fürs Ganze? Diese Fragen stellte sich kaum jemand. Der Fokus galt einzig der Addition; so hiess das Zauberwort der vergangenen hektischen Reformära.

Konkret: zwei frühe Fremdsprachen, Lehrplan 21 mit zusätzlichen Fächern und Kompetenzen, Integration lernschwacher Schüler in die Regelklasse, zusätzliche sozialpädagogische Aufgaben. Dazu kommen die Digitalisierung und der Umgang mit Laptop und Tablet. Das alles bringt die Schulen vielerorts in Atemnot und an ihre Belastungsgrenzen. Das Boot ist schwer beladen.

Kein Gegenhalten des Lehrerverbandes

Der Schweizer Lehrerverband wirkte im Mainstream munter mit – immer im Gleichschritt mit der offiziellen Bildungs- und Reformpolitik der EDK, der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren – systemkonform. Wortreich drückte er sich um eine Position. Kaum ein Wort des Widerstandes, kaum ein bildungspolitisches Bedenken oder pädagogisches Gegenhalten, kaum eine Resistenz gegenüber einer Bildungspolitik, die sich von den pädagogischen Notwendigkeiten emanzipiert.

Der Schweizer Lehrerverband wirkte im Mainstream munter mit – immer im Gleichschritt mit der offiziellen Bildungs- und Reformpolitik der EDK, der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren – systemkonform.

Nur eines hörte man vom Lehrerverbandpräsidenten Beat W. Zemp mantramässig: „gute Gelingensbedinungen!“, sprich mehr Geld.

Im Gegenteil! Der Lehrer-Dachverband „profilierte“ sich in den letzten Jahren mit vielen Ansagen und Postulaten: Albanisch statt Frühfranzösisch, Hausaufgaben streichen, Fächer abschaffen in den oberen Klassen und stattdessen interdisziplinäre Projekte, alles eventartig organisiert und von den Schülern selbstverantwortet durchgeführt. Auf jede methodische „Innovation“ sprang der LCH auf, hechelte konzeptlos neuen pädagogischen Chimären hinterher, eilte von einer Hochzeit zur andern; so nahm man es als Aussenstehender wahr. Dass diese Fülle viele Kinder überfordere und die Zeit des Übens minimiere: Fehlanzeige! Nur eines hörte man vom Lehrerverbandpräsidenten Beat W. Zemp mantramässig: „gute Gelingensbedinungen!“, sprich mehr Geld.

Additive Fülle neuer Dringlichkeiten

Von der neuen LCH-Führung mit Dagmar Rösler hat man sich eine Konzentration auf das Wesentliche erhofft, ein pädagogisches Hinsteuern zum Individuum und Subjekt, die Fokussierung auf einen lernwirksamen Unterricht. Es wäre das Hineinzoomen in die Grundfrage, welche Kriterien schulische Bildung erfüllen soll. Es wäre der Blick aufs Ganze.

Doch kommt da nicht weiterhin vieles auf die Schulen zu? Einzelpostulat reiht sich an Einzelpostulat; formuliert hat die neue LCH-Präsidentin eine Fülle angeblicher Dringlichkeiten: Reduktion der Klassengrösse, Abschaffen der Noten in der Primarschule, Masterabschluss für Primarlehrerinnen und -lehrer statt Bachelor.

Offene Baustellen schliessen – mit Taten, nicht mit Worten

Statt einzelnen neuen Reformen nachzulaufen, wäre es für den LCH wohl lösungsorientierter, vorerst die eine oder andere Baustelle zu schliessen: Es ist ein deprimierendes Faktum, dass fast ein Viertel der Schweizer Jugendlichen nach der obligatorischen Schulzeit kaum lesen kann. „Diesen Jugendlichen fällt es schwer, eine berufliche Grundbildung abzuschliessen und sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren“, schreibt Prof. Urs Moser, Institut für Bildungsevaluation der Universität Zürich. Sprachförderung müsste oberste Priorität haben. Der Deutschunterricht ist zu intensivieren.

Der LCH hüllt sich in begriffliche Nebelschwaden.

Der LCH hüllt sich in begriffliche Nebelschwaden. Wenn jemand die entscheidende Frage stellen müsste, dann wäre es doch der Lehrerverband: Wie können wir das Ziel, verstehendes Lesen von Grund auf zu fördern und alle Kinder zu einem guten Leseverständnis zu bringen, mit den heutigen sehr heterogenen Klassen erreichen? Gelingt das überhaupt? Was ist zu tun? Niemand wagt die Frage.

Passepartout, die ewige Baustelle

Was fehlt: Eine Vista vom Wohin

Eine Baustelle bleibt auch das Frühfranzösisch. Die sechs Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Solothurn, Bern, Freiburg und Wallis unterrichten ab der dritten Klasse Französisch. Doch nur knapp 11 Prozent der Schülerinnen und Schüler erfüllen nach vier Jahren beim interaktiven Sprechen das Lernziel. Und dies im wohl wichtigsten Bereich einer Fremdsprache! Auch in den anderen Bereichen kommt ein beachtlicher Teil der Kinder kommt nicht einmal auf ein „elementares Niveau“. Der LCH schweigt auch hier und macht einen grossen Bogen um das heisse Eisen der beiden frühen Fremdsprachen.

Man hat die Schulen einem radikalen Reformprozess unterzogen. Doch schulisch macht Wandel nur Sinn, wenn eine Vista vom Wohin mitspielt. Innovationsrhetorik und Reformvorhaben allein reichen nicht; eine realistische Fortschrittsidee, eine Bildungsidee müsste den Wandel leiten. Der LCH wäre gefordert. Es ist der Blick aufs Ganze. Denn der Sinn kommt aus dem Ganzen; das Handeln erfolgt in den Teilen.

Das Hineinzoomen ins Detail versperrt den Blick aufs Ganze

Schulbildung entsteht nicht einfach aus einzelnen Teilen – So wie es in der Welt der Sprache nicht mit der Addition von Vokabeln getan ist, so wie in Musik und Malerei die Werke nicht aus dem blossen Zusammenfügen von Tönen und Farben entstehen. Das Ganze im aristotelischen Sinne ist eben mehr als die Summe seiner Teile. Darum ist Bildung nicht einfach die Addition einer Vielzahl einzelner Inhalte: Viele Bäume ergeben noch keinen Wald, viele Steine noch kein Haus.

Darüber wäre in der Fülle heutiger Einzelteile nachzudenken. Denn „Wissen in Teilen macht [zwar] eine schöne Geschichte, aber Weisheit entsteht, wenn wir das Ganze sehen.“ So heisst es bei den sieben blinden Mäusen.

 

[1] Ed Young (2007), 7 blinde Mäuse. Aus dem Amerikanischen von Katrin Schulz. Weinheim – Basel: Beltz & Gelberg.

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