HarmoS - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 30 Nov 2023 13:29:20 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png HarmoS - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 «Es ist besser, etwas gar nicht zu unterrichten, als es schlecht zu tun» https://condorcet.ch/2023/11/es-ist-besser-etwas-gar-nicht-zu-unterrichten-als-es-schlecht-zu-tun/ https://condorcet.ch/2023/11/es-ist-besser-etwas-gar-nicht-zu-unterrichten-als-es-schlecht-zu-tun/#respond Thu, 30 Nov 2023 13:29:20 +0000 https://condorcet.ch/?p=15390

Alain Pichard, der bekannteste Lehrer der Schweiz, ist einer der Autoren eines Weissbuchs, das als «Analyse eines monumentalen Irrtums» daherkommt. Im Gespräch, das Sebastian Briellmann mit unserem Condorcet-Autor geführt hat, spricht er wie immer Klartext – bringt aber auch Lösungsvorschläge.

The post «Es ist besser, etwas gar nicht zu unterrichten, als es schlecht zu tun» first appeared on Condorcet.

]]>

Alain Pichard, werden Sie eigentlich immer noch in vielen E-Mails beschimpft?

Es hat nachgelassen, vor allem seit ich für die GLP in Bern im Kantonsrat sitze. Als Politiker hat man offenbar eine gewisse Aura. (lacht)

Journalist bei der Basler Zeitung BaZ

Ich frage, weil Sie seit Jahrzehnten kritisiert werden, da Sie sich lautstark gegen das Frühfranzösisch einsetzen.

Ja, das war auch lange Zeit so. Aber jetzt sind den Gegnern auch die Argumente ausgegangen. Weil wissenschaftlich erwiesen ist, zum Beispiel vom Institut für Mehrsprachigkeit in Freiburg: Die Schüler können nicht besser Französisch. Sie können es nicht einmal gleich gut – sondern schlechter. Noch schlimmer: Das Französisch hat sich noch mehr zum Hass-Fach – hinter der Mathematik – entwickelt.

Sie haben nun mit vielen Kollegen ein «Weissbuch Frühfranzösisch» geschrieben – und rechnen gnadenlos ab. Was ist denn da schiefgelaufen? Dass Kinder in jungen Jahren besser Sprachen lernen, war lange Zeit die Mehrheitsmeinung. Von dem sollten sie doch profitieren…

Es gibt keine einzige Studie, die das beweist. Man sieht es ja: Die Resultate sind miserabel, vor allem wenn man die Investitionen berücksichtigt. Unser eigentliches Problem sind zurzeit die Leistungen im Deutsch. Rund 20 Prozent der Schüler können nach neun Schuljahren kaum lesen und schreiben, wie die diversen Tests gezeigt haben. Das ist unglaublich.

2005, bereits vor der Einführung in der Schweiz, ist man in Deutschland zu folgendem Schluss gekommen: Frühenglisch ist ein «Murks», ein «Blödsinn». Warum hat man in der Schweiz nicht darauf Rücksicht genommen?

Weil man eben an den «Je-früher-desto-besser-Blödsinn» geglaubt hat. Man blendete alles aus, was dagegen sprach. Nie mehr darf eine solche Reform und dazu noch ohne gründliche Testphase flächendeckend einer ganzen Generation von Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrkräften aufgezwungen werden. Das gilt auch für das Lehrmittel mit einer völlig neuen Sprachdidaktik und Methodik. Das zweite Desaster.

 Aber genau das ist passiert…

Ja. Einmal durchgeboxt, hat eine unheilige und praxisferne Allianz von Verwaltung, Politik und Wissenschaft dann wenig überraschend einen Flop nach dem anderen kreiert.

Welche?

Die Methode des sogenannten Sprachbads zum Beispiel. Man dachte, man könne den Kindern damit ohne Lernen das Französisch «einfliessen lassen». Notabene mit drei Lektionen pro Woche. Ein Mumpitz.

 

    «Die damals verantwortlichen Regierungsräte wie der Basler Christoph Eymann oder der Berner Bernhard Pulver schweigen. »

Frühfranzösisch: Teuer und ineffizient

Auch die neuen Lehrmittel waren katastrophal. Dass «Mille feuilles» ein Debakel ist, hat sich nach einer Dekade nun aber durchgesetzt…

Ja, die Ironie der Geschichte: Nun macht man das vorher hochgelobte «Mille feuilles» für das Debakel verantwortlich. Es wurde soeben umgearbeitet und klammheimlich in ein konventionelles Lehrmittel verwandelt. Fehler gibt niemand zu. Die damals verantwortlichen Regierungsräte wie der Basler Christoph Eymann oder der Berner Bernhard Pulver schweigen.

Was hat das den Steuerzahler gekostet?

Schon allein die sechs Kantone, die das sogenannte «Passepartout»-System eingeführt haben, haben 100 Millionen Franken ausgegeben.

Die Ironie der Geschichte: Nun macht man das vorher hochgelobte «Mille feuilles» für das Debakel verantwortlich. Es wurde soeben umgearbeitet und klammheimlich in ein konventionelles Lehrmittel verwandelt.

Ihr Weissbuch ist eine schonungslose Zusammenfassung der Vergangenheit. Was wäre nun zu tun?

Viel zu lange wurden Energie, Prestige und Geld in dieses Projekt investiert. Einfach wieder zurückzukehren, wird kaum möglich sein. Trotzdem mahne ich an, eine Rückverschiebung zumindest zu prüfen. Und die Prioritäten neu zu setzen. Zuerst sorgfältig Deutsch lernen! Mit der ersten Fremdsprache frühestens im vierten, mit der zweiten frühestens im fünften Jahr anfangen. Es ist nicht wichtig, wann die Schüler mit der Fremdsprache beginnen, wichtig ist, wie gut sie sie am Schluss können. Und man sollte sich den eigentlichen Harmonisierungsgedanken wieder in Erinnerung rufen. Die heutige Lösung – Westschweiz: Frühfranzösisch; Ostschweiz: Frühenglisch – ist ja ein Seldwyla-Scherz. Mit der Streichung von Frühfranzösisch – mindestens in der dritten Klasse – könnten zeitliche und finanzielle Ressourcen freigemacht werden, die uns in Zeiten des Lehrermangels etwas Luft verschaffen – und uns Zeit geben, die Prioritäten neu zu setzen. Es ist besser, etwas gar nicht zu unterrichten, als es schlecht oder ineffizient zu tun. Gerade bei ohnehin schon überfrachteten Stundenplänen.

Alain Pichard, der «bekannteste Lehrer der Schweiz» («SonntagsZeitung»), wirkt seit über 44 Jahren in den Klassenzimmern dieses Landes. Der in Basel aufgewachsene Pädagoge ist einer der schärfsten Kritiker des Lehrplans 21. Er gründete den Bildungspolitik-Blog «Condorcet», dessen Leiter er ist. Mit seinen Kollegen – darunter viele bekannte regionale Gesichter: Roland Stark, Philipp Loretz, Felix Schmutz, Alina Isler – hat er nun ein «Weissbuch Frühfranzösisch – Analyse eines monumentalen Irrtums» herausgegeben. In verschiedenen Kantonen wie Basel-Stadt, Baselland und Bern sind Vorstösse hängig, die eine Veränderung beim Frühfranzösisch anstreben – wie von den Autoren gefordert. Pichard (68), eigentlich längst pensioniert, unterrichtet als Stellvertreter an einer Brennpunktschule in Biel. Immer noch schafft er es einfach nicht, seine Rente zu geniessen, wie er selber zugibt. (sb)

The post «Es ist besser, etwas gar nicht zu unterrichten, als es schlecht zu tun» first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/es-ist-besser-etwas-gar-nicht-zu-unterrichten-als-es-schlecht-zu-tun/feed/ 0
“Mit dauernden Alarmierungen lässt sich kein Bildungssystem steuern” – TEIL 1 https://condorcet.ch/2023/06/mit-dauernden-alarmierungen-laesst-sich-kein-bildungssystem-steuern-teil-1/ https://condorcet.ch/2023/06/mit-dauernden-alarmierungen-laesst-sich-kein-bildungssystem-steuern-teil-1/#respond Wed, 14 Jun 2023 04:42:11 +0000 https://condorcet.ch/?p=14296

Der emeritierte Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers sprach mit dem Nebelspalter-Journalisten Daniel Wahl über die massive Reformwelle der letzten 20 Jahre und deren Wirkung. Wir bringen das Interview in zwei Teilen. Hier Teil 1.

The post “Mit dauernden Alarmierungen lässt sich kein Bildungssystem steuern” – TEIL 1 first appeared on Condorcet.

]]>

Herr Oelkers, im Kanton Bern wurden innerhalb von 20 Jahren gut 20 Schulreformen eingeleitet. In anderen Kantonen dürften es nicht weniger sein. Haben die Reformer damit die Schule überfordert oder waren die Reformen zwingend?

Jürgen Oelkers: Wer definiert schon, was zwingend ist? Es sind alles Vorstösse in bester Absicht und den Nutzen erkennt man nicht, wenn man Reformen fordert und dann in Gang setzt. In gewisser Hinsicht sind Schulreformen auch unvermeidlich. Die Schulen stehen unter Beobachtung der Gesellschaft und die Bildungspolitik reagiert auf öffentliche Kritik. Lanciert werden die Reformen von unterschiedlicher Seite, manche kommen auch aus der Mitte der Schule, aber nicht jede Reform ist dort – je nach Belastungsfolgen – willkommen.

Aber die Menge erstaunt doch …

Juergen Oelkers, emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich

Ja, im Vergleich zu früheren Zuständen in der Schweiz ist das wirklich bemerkenswert. Sehr viele Akteure wollten in den letzten drei Jahrzehnten die Schule neu definieren oder sie für etwas verantwortlich machen, was die Gesellschaft selbst austragen müsste. Das geschah häufig unkoordiniert, aber alle Reformideen wollten es «besser» machen, was mehr oder weniger starke Defizitannahmen voraussetzt. Defizite kennen keine Grenzen, das erklärt die Zahl. Aber man muss auch homogenisierende oder sich selbst bestätigende Expertendiskussionen voraussetzen.

 

Reformitis an den Schulen am Beispiel des Kantons Bern

Eine kurze Chronik der 20 Berner Schulreformen: durchzogene Bilanz

 

Die Frage ist doch, was die Schule daraus macht?

Bei strukturellen Reformen, wie sie die Einführung der Schulharmonisierung (HarmoS) eine ist, kann die Schule nicht viel machen. Das wird von der Politik vorgegeben. Generell gilt aber: Die Lehrpersonen akzeptieren weitgehend nur das, was sich für den Unterricht verwerten lässt und was für den Betrieb unverzichtbar ist. Daher werden Reformen nach dem Masse der Überzeugung der Lehrerinnen und Lehrer praktisch vorangetrieben. Vieles wird auch gar nicht umgesetzt. Ideen versanden oder erscheinen Jahre später wieder unter neuem Gewand.

Welche Reform bringt die Qualität der Schule am besten voran?

Die Art und Weise, wie man Lehrmittel macht. Diese Antwort mutet vielleicht etwas fremd an. Aber: Der Unterricht hängt wesentlich von den Lehrmitteln ab. Sie wurden lange einfach benutzt und irgendwann ersetzt. Wenn man aber die Lehrmittel im Feld erprobt und vor der Einführung testet, hat man gute Chancen, die Qualität des Unterrichts zu verbessern.

Der Ertrag des Fremdsprachenunterrichts gemessen an den Erwartungen ist eher schmal.

Das sehen aber viele Eltern und Lehrer anders. Die neuzeitlichen teuren und kompetenzorientierten Lehrmittel für Französisch “Mille feuilles” und “Clin d’Oeil” und in Englisch “New World” standen derart in der Kritik, dass sie vielerorts entweder abgesetzt oder dass ihnen bewusst Alternativen zur Seite gestellt wurden.

Wenn sie schlecht sind, sollten sie schnell wieder abgeschafft werden. Doch ich bleibe grundsätzlich dabei: Schulreformen sollten heute bei den Lehrmitteln ansetzen, was durch die Digitalisierung nochmal dringlicher werden wird.

Halten Sie denn die Einführung von Frühenglisch und Frühfranzösisch für eine geglückte Reform?

Das waren Lehrplanreformen – Umschichtungen von Stunden. Man verlagerte Lektionen von der Oberstufe in die Mittelstufe und hatte die Erwartung, dass sich der Erwerb der Fremdsprache dadurch verbessern würde. Der Ertrag des Fremdsprachenunterrichts gemessen an den Erwartungen ist eher schmal, doch letztlich kommt es darauf an, welche Ziele im Unterricht verfolgt werden. Am Ende können die Schüler, wenn es hochkommt, Schulenglisch und Schulfranzösisch (oder Schuldeutsch in der Romandie).  Das Welsch-Jahr war lange der Ausweg. Vielleicht sollte man einen Sprachaufenthalt am Ende der Schulzeit zu einem curricularen Angebot machen.

“Schulreformen sollten heute bei den Lehrmitteln ansetzen.”

Würden Sie deswegen eine Sprachreform der Sprachreform ansteuern?

Das Frühfranzösisch und Frühenglisch in der Primarschule wollte man im Kanton Thurgau, wo ich wohne, wieder abschaffen. Das führte zu einem staatspolitischen Aufschrei. Aber die Frage ist, ob damit der Ertrag verbessert werden kann. Wenn man eine solch einschneidende Entscheidung fällen will, muss man ganz genau hinschauen: Mit welchen Lehrmitteln macht man das? Welche Kompetenzen bringen die Lehrer mit, welche müssen sie noch erwerben?

Was halten Sie von dieser Schulreform: Messung der Schulqualität mittels Pisa-Tests und weiteren Checks?

Der Pisa-Test scheint unvermeidlich und irgendwie muss man da mitmachen. Aber solche Tests nutzen sich über die Jahre ab. Wenn sich nach dem zehnten Pisa-Test zeigt, dass man zwar evaluiert wurde, aber das Ergebnis ungefähr immer dasselbe bleibt, kann man das Testen bleiben lassen. Man weiss ja, was kommt. Bei den Pisa-Tests ist die Schweiz in Mathematik ziemlich oben, bei den Sprachkompetenzen tiefer. Das wird sich auch in den nächsten zehn Jahren nicht ändern. So bleiben solche Tests häufig nur für die Datenanalysten in den Behörden oder in der Forschung spannend. Und: Mit dauernden Alarmierungen lässt sich kein Bildungssystem steuern.

Die Einführung der geleiteten Schulen, beziehungsweise die Einsetzung von Schulleitern – bezeichnen Sie das auch als unvermeidlich?

Die Schweizer Schulen haben damit das angelsächsische Modell übernommen. In Südkorea oder in Frankreich, wo die Schulen von Paris aus gesteuert werden, gibt es das nicht. Aber ich bin überzeugter Föderalist und ich glaube, es ist richtig, wenn man den Schulen eine hohe Autonomie und eigene Leitung zugesteht.

“Ich bin überzeugter Föderalist und ich glaube, es ist richtig, wenn man den Schulen eine hohe Autonomie und eigene Leitung zugesteht.”

Sind geleitete Schulen erfolgreicher als zentralistisch organisierte?

Was heisst erfolgreich? In Bezug auf die gemessenen Leistungen sind die asiatischen Schulen erfolgreicher als unsere. Auch Finnland ist spitze. Aber das ist kaum zu erklären, weil Finnland eine komplett andere Leitungskultur hat als die Südkoreaner. In Finnland gibt es beispielsweise keine Nachhilfestunden. Schweden wiederum steuert sehr schülerbezogen …

… mit anderen Worten sagen Sie: Es spielt keine Rolle, wie sich Schulen organisieren.

Nein. Wir haben Studien zur Schulleitung gemacht. Es gibt für die Schweiz keine flächendeckende Lösung. Doch bei Konflikten brauchten sie eine gute Schulleitung und eine erfahrene Moderation nach innen wie nach aussen. Die Schule wird mit Problemen konfrontiert, die Leitung verlangen, etwa im Blick auf die Folgen des Medienkonsums oder falsche Erwartungen der Öffentlichkeit. Zudem: Ohne ausgebildete Schulleitungen gäbe es kaum die Schulentwicklung, die wir heute haben. Und schliesslich braucht jede Schule eine gute Aussendarstellung.

Halten Sie die Einführung der «integrativen Schule» für geglückt?

Die Inklusion ist zunächst einmal die Gegenbewegung zur Separation, also die Auslagerung der ‘schwierigen’ Fälle. Früher hat man gedacht, dass man spezielle Angebote für Behinderte machen muss, aber das ist dann massiv ausgeweitet worden und hat zur Separation geführt. Inklusion ist die Gegenbewegung. Die Idee klingt gut und auch viele betroffene Eltern stehen dahinter. Bei den Lehrpersonen kommt die integrative Schule jedoch zunehmend schlechter an. Man befürchtet, im Unterricht bestimmte Standards nicht mehr halten zu können. Die integrative Schule braucht ausreichend Ressourcen. Schwerstbehinderte etwa benötigen eine Eins-zu-eins-Betreuung. Auch über «Schulinseln» oder kleine Klassen für bestimmte Lernzeiten in der Schule muss man reden, wenn die Massnahmen im Unterricht nicht greifen. Falsch ist es, Inklusion so zu verstehen, dass unter allen Umständen und unabhängig von den praktischen Erfahrungen einfach nur ein Prinzip verwirklicht werden soll. Man muss einfach lernen, was geht und was nicht.

Der Medienkonsum der Kinder ist unkontrollierbar geworden.

Damit kommen wir zu den Killerkriterien von Schulreformen. Sind die fehlenden Finanzen deren erster Todesstoss?

Nicht zwingend, denn die Ausstattung der Schulen und die Lehrergehälter sind in der Schweiz generell top. Aber für die Umsetzung sehr ehrgeiziger Reformen braucht es zusätzliche Mittel und nicht nur Umschichtungen. Anders lässt sich die Idee der Inklusion kaum umsetzen, aber das ist in den Kantonen eine sehr unterschiedliche Praxis. Zudem: Der Wandel der Schulkulturen in den letzten dreissig Jahren hatte auch Erfolg, niemand will zurück in die autoritäre Schule der Vergangenheit.

Was ist denn Ihr Killerkriterium?

Akzeptanz. Fehlt sie, wird das, was politisch gewollt ist, an der Schule nicht umgesetzt oder zum Dauerproblem. Die wesentlichen Probleme der Schule ergeben sich heute aufgrund des Wandels ihrer Umwelt und der Gesellschaft. Die Kinder werden beispielsweise von medialen Angeboten angezogen und sie vernachlässigen die Schreibfähigkeit, die Rechenfähigkeit. Der Medienkonsum der Kinder ist unkontrollierbar geworden. Das stellt die Schule auf eine harte Probe.

Haben Sie darauf eine Antwort.

Ja. Kontrolle, Einschränkung der Freiheit. Kinder zwischen 6 und 12 Jahren sehen heute Dinge, die sie nicht sehen sollten.

“Fehlt Akzeptanz, wird das, was politisch gewollt ist, an der Schule nicht umgesetzt oder zum Dauerproblem.”

Das müsste aber in erster Linie Aufgabe der Eltern und nicht der Schule sein.

Ja, und da sprechen Sie gleich ein weiteres Problemfeld von reellen Schulreformen an: Schulen betrachten Eltern oft als Ressourcen, die sie nur bei Bedarf miteinbeziehen können. Die Eltern berufen sich heute auf erweiterte Mitspracherechte, weshalb Schulen auf die Eltern zugehen und eingehen müssen – nicht in dem Sinne, dass Eltern den Unterricht oder die Notengebung mitbestimmen können. Aber die Schule muss mit ihnen ein Einverständnis erzielen. In Bezug auf den Medienkonsum heisst das: Schule und Eltern sollten eine gemeinsame Einstellung vertreten, welche Medien zulässig sind und wie der Medienkonsum der Kinder stattfinden kann. Es gilt zu klären, was die Eltern tun können und was die Schule dazu beitragen kann. Das ist allerdings leicht gesagt und schwer getan.

Ende Teil 1 des Interviews. 

The post “Mit dauernden Alarmierungen lässt sich kein Bildungssystem steuern” – TEIL 1 first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/06/mit-dauernden-alarmierungen-laesst-sich-kein-bildungssystem-steuern-teil-1/feed/ 0
Lehrstellensuche bereits ab 8. Schuljahr? Oder: Die Folgen eines weiteren Reformflops https://condorcet.ch/2020/12/lehrstellensuche-bereits-ab-8-schuljahr-oder-die-folgen-eines-weiteren-reformflops/ https://condorcet.ch/2020/12/lehrstellensuche-bereits-ab-8-schuljahr-oder-die-folgen-eines-weiteren-reformflops/#comments Wed, 23 Dec 2020 01:03:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=7281

Neu sollen Firmen ihre Lehrstellen anderthalb Jahre vor Lehrbeginn publizieren dürfen. Die Lehrkräfte schütteln den Kopf, die Bildungsbürokratie schweigt vielsagend. Alain Pichard analysiert - wieder einmal - eine unüberlegte Adhoc-Massnahme und zeigt auf, wo der eigentliche Fehler begangen wurde.

The post Lehrstellensuche bereits ab 8. Schuljahr? Oder: Die Folgen eines weiteren Reformflops first appeared on Condorcet.

]]>
Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): Konsequenzen nicht bedacht

Das Alter der Einschulung unserer Kinder wurde in den verschiedenen Staaten sehr unterschiedlich bestimmt. Unser nördliches Nachbarland Deutschland setzte lange auf 7 Jahre, in Frankreich werden die Kinder durch die «école matérnité» bereits mit 3 Jahren erfasst. Die Diskussion um das richtige Alter ist vermutlich so alt wie die Schule selbst. Die Befürworter der frühen Einschulung begründen ihre Position mit der Erwartung, dass Kinder aus sozial benachteiligten Schichten von einer frühen Einschulung profitierten. Damit werde – so der Diktus –  ein wesentlicher Beitrag zur Chancengleichheit geleistet.  Ausserdem entwickelten sich die Kinder – das sollen Ergebnisse der Hirnforschung zeigen – je jünger desto besser.

In der Schweiz schulte vor HarmoS nur der Kanton Tessin seine Kinder früher ein. Dort begann die Primarschule bereits mit 6 Jahren und auch den zweijährigen Kindergarten führte dieser Kanton schon lange vorher ein.

Geht es nach den Ergebnissen der umstrittenen PISA- und TIMMS-Studien, so darf der Bildungseffekt der früheren Einschulung bezweifelt werden.

Stichtag nach HarmoS: 31. Juli

Geht es nach den Ergebnissen der umstrittenen PISA- und TIMMS-Studien, so darf der Bildungseffekt der früheren Einschulung bezweifelt werden. Der Kanton Tessin schliesst bei den regelmässigen PISA-Erhebungen im interkantonalen Vergleich regelmässig sehr schlecht ab und La Grande République ist mittlerweile in den TIMMs-Studien auf den 35. Platz (noch hinter Albanien) abgerutscht. Ausserdem produziert wohl kaum ein Bildungssystem so viel Ungleichheit wie dasjenige von Frankreich.

Früh liegt im Trend

Trotz dieser Befunde ist der Trend europaweit eindeutig. Die Schüler sollen früher eingeschult werden. Früh scheint ein Zauberwort der allgemeinen Schuldebatte zu sein, wie auch die Einführung von Frühfranzösisch oder Frühenglisch belegt.

Mit der Annahme von HarmoS wurde interkantonal der 31. Juli ein einheitlicher Stichtag festgelegt. Alle Kinder, die bis dahin das vierte Altersjahr erreicht haben, müssen obligatorisch den Kindergarten besuchen, ihre Schullaufbahn beginnt.

Margitt Stamm: Stichtag hat nichts mit dem Entwicklungsstand zu tun

Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm stellte dazu richtigerweise fest: «Der Stichtag hat nichts mit der Entwicklung eines Kindes zu tun. Jedes Kind wächst und entwickelt sich in seinem eigenen Tempo, zwischen drei und fünf Jahren sind die Unterschiede enorm und können bei gleichaltrigen Volksschulkindern bis zu einem Jahr betragen.»

Deswegen gab es vor HarmoS in den meisten Kantonen pragmatische Lösungen für Kinder, welche als noch nicht schulreif erachtet wurden.

Skeptische Lehrkräfte

Viele Lehrkräfte sahen diese Vorverlegung des Schuleintritts und auch die Umwandlung des Kindergartens in eine schulische Institution skeptisch. Vor allem die Oberstufenlehrer fragten sich natürlich, was denn während der 8. und 9. Klasse geschieht, wenn die Kinder bis zu einem Jahr jünger sein und zudem noch eine länger strukturierte Schulzeit hinter sich haben würden.

Besonders drastisch wurde mir dies bewusst, als mich einer meiner Schüler in der 8. Klasse fragte, ob es normal sei, dass er mit 13 Jahren schon Bewerbungen schreiben müsse.

Besonders drastisch wurde mir dies bewusst, als mich einer meiner Schüler in der 8. Klasse fragte, ob es normal sei, dass er mit 13 Jahren schon Bewerbungen schreiben müsse. Für eine richtige Berufslaufbahn sind viele Schüler in der 8. Klasse zu jung und einfach nicht reif genug. Ich spreche hier bewusst von Schülern, weil es sich bei diesen «unreifen» Lernenden vor allem um Knaben handelt.

Fünf Jahre vor der HarmoS-Vereinbarung wurde uns von der bernischen Erziehungsdirektion ein Schreiben zugestellt, wonach es zu viele Jugendliche gebe, die ein 10. Schuljahr besuchen wollten. Wir wurden aufgefordert, vermehrt Anstrengungen zur Optimierung des Berufswahlunterrichts zu machen. Natürlich wurde diese Massnahme auch von Stellenschaffungen (Case-Management-Stellen) begleitet.

Ein typisches Merkmal moderner Reformpolitik, welche die langfristigen Konsequenzen zu wenig bedenkt und kaum auf die Praktiker hört.

Eigene Zielsetzung torpediert

Mit der Vorverlegung des Schuleintritts torpedierten die Behörden wieder einmal die eigenen Zielsetzungen. Denn nun steigen die Zahlen derjenigen SchülerInnen wieder, die sich für ein 10. Schuljahr entschliessen. Ein typisches Merkmal moderner Reformpolitik, welche die langfristigen Konsequenzen zu wenig bedenkt und kaum auf die Praktiker hört.

Vorverlegung der Lehrstellenausschreibung ist absurd

Mit der nun neusten Verfügung des Bundesamts für Berufsbildung, wonach es den Lehrbetrieben erlaubt sein soll, bereits Mitte der 8. Klasse Lehrlinge zu rekrutieren, wird der Unsinn der ganzen Reform noch offensichtlicher.  Abgesehen davon, handelt es sich um einen offensichtlichen Diskriminierungsakt. Die fündigen Lehrbetriebe sichern sich die talentierten, reifen und von zu Hause unterstützten Jugendlichen. Wenn die anderen soweit sind, sind die attraktiven Lehrstellen bereits vergeben.

Ein pikantes Detail zum Schluss: Im Bieler Stadtrat wurde vor 6 Jahren das Polizeireglement diskutiert. Ich beantragte damals, den Passus, wonach unter 16-Jährige sich nach 22.00 Uhr nicht ohne Begleitung durch Erwachsene alleine auf der Strasse aufhalten dürften, zu streichen. Das wurde von der Ratslinken zuerst abgelehnt. Das Beispiel meines Ex-Schülers, eines 15-jährigen Kochlehrlings, der um 23.00 Uhr seinen Arbeitsplatz verlässt, um mit seinem Moped nach Hause zu fahren, belehrte sie eines Besseren.

Vielleicht müsste man auch die Artikel, welche die Kinderarbeit regeln, noch einmal überdenken.

Alain Pichard

 

 

The post Lehrstellensuche bereits ab 8. Schuljahr? Oder: Die Folgen eines weiteren Reformflops first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2020/12/lehrstellensuche-bereits-ab-8-schuljahr-oder-die-folgen-eines-weiteren-reformflops/feed/ 1